Die Schere
Mit Adnoten
von Detlev Schöttker
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Klett-Cotta
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Der Text dieser Ausgabe folgt Ernst Jüngers Fassung letzter Hand in den Sämtlichen Werken in 22 Bänden, erschienen bei Klett-Cotta.
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Printausgabe: ISBN 978-3-608-96078-5
E-Book: ISBN 978-3-608-10784-5
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DIE SCHERE
ERSTAUSGABE 1990
Jedermann hat, wie immer sie gerate und gelinge, seine eigene Kunst. Der Trieb dazu, etwa zum Singen und zum Tanzen, ist ihm angeboren und befriedigt sich im Spiel.
Es wäre müßig, zu fragen, ob dieser Trieb dem religiösen vorausgeht oder ihm folgt. Beide sind untrennbar verbunden wie Ein- und Ausatmen – als Empfangen und Dank.
In dieser Hinsicht betrachtet, sind Religionen mehr oder minder gelungene Kunstwerke. Im Kunstwerk bestätigt sich die Zeit auf hoher Stufe, obwohl Vollkommenes, das außerhalb der Zeit geahnt wird, unerreichbar bleibt. Daher erschöpfen sich im Alltäglichen die Mode, in den Jahrhunderten der Stil.
Wo Bilder fallen, müssen sie durch Bilder ersetzt werden, sonst droht Verlust.
Die Kulte können nicht ohne Bilder bestehen. Selbst in der Wüste muß zum mindesten ein Stein gesetzt werden. Dort ist etwas geschehen, dessen wird gedacht. Vielleicht fiel ein Meteor vom Himmel, oder es ist nur ein Gerücht. Dann wirkt das Gerücht stärker als die Tatsache.
Die Bilder sind das Urgestein der Kulte; sie leben länger als die Götter, zu deren Ehren sie errichtet worden sind. Wir stehen vor einer Statue, die aus dem Schutt geborgen wurde, und fühlen: Hier muß ein Gott gewesen sein. Obwohl wir weder das Heiligtum noch seinen Namen kennen, berührt uns ein verborgener Sinn, der auch dem Künstler selbst verschlossen war. Im Kunstwerk lebt ein Glaube, der jedes Dogma überwährt.
Jedermann ist auch der Autor seines eigenen Lebenslaufes, sein Autobiograph. Er ist sein Romancier und ist sich dieser Aufgabe bewußt. Daraus erklärt sich, daß fast jeder einen Roman zu schreiben zum mindesten einmal begonnen hat.
Die Frage bleibt, wie dem Einzelnen diese Darstellung gelingt. Das hat nichts mit seinen äußeren Umständen zu tun, und auch nicht damit, ob sein Roman zu einem glücklichen Ende führt. Zu fragen ist vielmehr, wie er mit seinem Pfund gewuchert hat – und dieses Pfund ist vorgegeben, schon ehe er das Licht der Welt erblickt.
»So mußt du sein« – diese Qualität des Menschen zu treffen, sein Verhängnis, sei es tragisch, heroisch, komisch oder widerwärtig, ist Aufgabe des Autors; sein Stoff ist die Welt schlechthin.
Shakespeares Falstaff, Dostojewskis Raskolnikow, Büchners Woyzeck sind in diesem Sinn gelungen, obwohl der eine ein Säufer war, der andere ein Mörder, der dritte ein Idiot. Selbst das Banale kann, wie im »Oblomow«, in diesem Spektrum aufglänzen.
Würden wir nun sagen, die Charaktere seien dank der Kunst gelungen, so wäre das nur eine halbe Aussage. Der Autor hat vielmehr an einem beliebigen Punkte das Genie der Welt entdeckt. Das fordert unsere Teilnahme, unser Mitleid, auch Furcht und Schrecken in der Tragödie.
Der Autor hat eine Berufung, nicht einen Beruf. Daher ist ihm zu Werten wie Schuld und Unschuld oder Schön und Häßlich ein umfassenderer Blick zu eigen, als er im Alltag üblich ist. Das kann zu Konflikten führen wie für den Richter, der dem Gesetz auch dort zu folgen hat, wo es ihm im Innersten widerstrebt.
Zeus nimmt an der Schlacht der Götter und Menschen teil als an einem Schauspiel; es erregt ihn, und er wägt ab: das Schicksal ist stärker als selbst er.
Ich erwähnte schon einmal den Pastor, der aus der Kirche kommt, nachdem er über die Güte Gottes gepredigt hat, und von einem Buckligen angesprochen wird:
»Sehen Sie mich an, Herr Pastor.«
»Ich finde, daß Er für einen Buckligen nicht schlecht geraten ist.«
Wenn ich mich recht entsinne, strich ich die Stelle bei Karl Julius Weber an, fand sie aber bei Diderot und anderen wieder; sie könnte auch bei Montaigne stehen. Offenbar eine Wanderanekdote mit solidem Kern.
Der Bescheid trifft die Sache, doch ist er wenig tröstlich für die Person. Er würde einem Anatomen oder einem Maler wie etwa Breughel, auch einem Lama besser anstehen als einem Geistlichen christlicher Konfession.
Ein Schnitt kann auch heilen; der Verweis auf die Sache ist bei den Zynikern beliebt. Er konfrontiert den Betroffenen ohne Umschweif mit dem Schicksal; und irgendeinen Buckel trägt jeder mit sich herum. Es fragt sich, wie er sich damit abfindet oder sogar zum Besten wendet, was ihn drückt. Weber meint, »Bucklichte ersetzen meist durch Geist, was dem Körper abgeht oder zu viel aufgelegt ist«, und er zählt eine Reihe von Genies auf, die dieses Kreuz trugen, darunter auch Lichtenberg.
Es trifft sich, daß ich heut morgen, am 3. September 1987, in der Zeitung eine Maxime las, die mich nachdenken ließ. Dazu nebenbei: Im Maß, in dem ein Thema uns beschäftigt, nimmt das Bezügliche zu, als hätten wir an eine Tür geklopft, die in ein Ideen-Panorama führt.
Diese Maxime wird einem Zeitgenossen zugeschrieben, der als unser bedeutendster Galerist bezeichnet wird und dessen achtzigsten Geburtstag man gestern feierte. Sie lautet: »Wenn wir glaubten, die Kunst müsse moralisch sein, so wäre dies das Ende der Kunst.«
Darüber kann man, wie gesagt, nachdenken. Was mit dem Satz gemeint ist, leuchtet ein; dem läßt sich zustimmen. Er nimmt Stellung in dem nie endenden Streit, bei dem Kunst als Geschmackssache gilt, und in Anspruch genommen wird, sie müsse überhaupt »etwas« sein. Das unterschätzt ihren Rang.
Wenn Wilhelm II. bei der Einweihung des neuen Hannoverschen Rathauses vor einem Hodler-Bilde sagte: »Die ganze Richtung paßt mir nicht«, so entsprang sein Urteil eher dem Willen als der Anschauung. Sie war weniger ästhetisch fundiert als politisch, und insofern nicht ohne Instinkt.
Als Oswald Spengler zehn Jahre später notierte, Hodler stemme mit Papphanteln, traf er den Kern der Sache näher, und zwar in einer den Maler, und nicht nur ihn, berührenden Kardinalfrage: wo die Kunst aufhört und die Karikatur beginnt. Das ist keine bloße Geschmacksfrage. Sie betrifft den modus in rebus bis in die belebte und die unbelebte Natur. Wo das Maß leidet, wird das Auge verletzt.
Auch die Natur kann sich keine Giraffe mit beliebig langem Hals leisten. Nicht erst Darwin hat ihr die Grenzen gesetzt. Wenn einfache Menschen in zoologischen Gärten beim Anblick gewisser Tiere zu lachen beginnen, so ist das verständlich: sie haben den Eindruck, daß Proteus hier ein wenig zu weit ging, daß er zu balancieren begann.
Das Komische ist eine der Klippen auch im Alltag – bis in die Hut- und Bartmoden. Das Verhältnis verkehrt sich, wo es selbst, etwa in der Arena oder im Theater, als Kunst behandelt wird. Es gibt zahllose Spaßvögel, doch ist nichts seltener als ein genialer Clown.
Zur Maxime zurück. Sie ließe sich auch umkehren: »Wenn wir glaubten, die Kunst müsse unmoralisch sein, so wäre dies das Ende der Kunst.«
Ein Streit in den Vorhöfen. Dem Wort »Kunst« lassen sich beliebig viele Adjektiva voranstellen, ohne daß damit eine bestimmte Aufgabe getroffen würde – vorausgesetzt, daß überhaupt eine Aufgabe oder selbst eine Tätigkeit besteht. Ein Maler hat Sicht, doch keine Absichten.
Daß die Kunst spezifisch nicht faßbar ist, beweist ihre Autarkie, sogar ihre Souveränität – um nicht noch weiter zu gehen. Götter, Titanen, Heroen, Bettler, Cäsaren, Unholde, Spießbürger sind Motive, durch die sie hindurchgeht, Großes bewirkend, doch ohne sich selbst zu ändern – sie gleicht der Welle, die Schiffe hebt und vernichtet, gleichviel ob sie dem Handel, dem Krieg, dem Raub oder der Lust dienen.
Die Kunst hat Horizonte, doch keinen Horizont. Sie gleicht darin dem Universum, ist universal. Die Betrachtung kann zur Andacht führen, zur Fernsicht auf Gebirge; die Formen schmelzen ein. Kaum läßt sich noch sondern, was Himmel und Wolke, was Fels und Gletscher ist. Die Sonne macht Feierabend; sie schenkt uns ein Nachglühen. Das Museum wird geschlossen; das Konzert ist aus.
Ein Pergament wurde beschrieben, eine Leinwand bemalt. Die Zeit wird Lettern und Bilder löschen, dennoch ist etwas Unauslöschliches geschehen. Der Einzelne kann vergessen, daß ihn ein großes Gedicht oder die Mona Lisa begeisterte. Verändert hat es ihn trotzdem, auch wenn die Geisteskräfte abnehmen oder wenn schon die Mutter es dem Ungeborenen im Blutstrom übertrug.
Vielleicht vergaß er sogar den eigenen Namen – das Altern ist nicht nur ein Ab-, es ist auch ein Aufräumen.
Zwischen dem Horizont des Meisters und dem des Kritikers bestehen Entsprechungen. Die höchste ist Kongenialität. Eine schwache Kritik wird selbst dort nicht genügen, wo sie verehrt. Lob kann auch schädigen. Das beste Urteil fällt die Zeit, indem sie die Sterne ihrem Range nach verblassen läßt. Sie treten in die Herrlichkeit zurück.
Die Zahl der dunklen Sterne ist unendlich größer als die jener, die verehrt werden. Die Alten hielten die Fixsterne für Nadelstiche im Firmament, das uns von einer blendenden Lichtflut abschirmt – so betrachtet, ist jeder genial.
Die Welle teilt Kraft mit, die sie empfangen hat, als ein Sturm oder ein Beben sie aufwarf oder als ein Schiff zum Hafen fuhr. Sie leitet die Bewegung, ohne daß das Wasser sich vom Ort bewegt. Ein Seil behält die gleiche Länge, nachdem ein Schwung hindurchgeglitten ist. Es diente als Medium, ähnlich wie der Kupferdraht, der Impulse über Länder und Meere trägt.
Die Kraft gewinnt erst Qualität, wo sie auf einen Empfänger trifft. Die Welle wird Brandung erst am Riff. Der Steuermann hört sie vor dem Schiffbruch in der Nacht.
»Qualitätlos« meint einen Zustand, in dem Eigenschaften noch nicht entwickelt worden sind. Die Kraft, wie immer man sie nennen mag, behielt ihre Reserven für sich. Schon die Benennung ist eine Minderung. Das Schweigen ist tiefer als das Wort.
Die Kardinalfragen, wie etwa jene nach der Willensfreiheit, zeichnen sich dadurch aus, daß sie nie gelöst werden. Sie werden immer wieder aufgegriffen – mit Pausen, während deren der Zeitgeist sich anderen Problemen zuwendet.
Erwogen wird auch immer wieder, ob der Weg wichtiger ist als das Ziel. Gegenwärtig beginnt eine Wendung sich abzuzeichnen, die es bejaht. Einer der Hinweise darauf ist die Tatsache, daß der Fortschritt, also die intelligente Bezwingung des Weges, an Zustimmung verliert. Die »Umwelt« wird wichtiger.
Offenbar hat der Fortschritt den Punkt erreicht, an dem der Schuh zu drücken beginnt. Zugleich wird der Weg abschüssig. Dabei stellt sich dies Wort ein, das schwer zu bestimmen ist und als ein Erisapfel neue Konflikte bringt. Die Umwelt ist kein Weg, doch birgt sie viele Wege, die schon begangen, und mehr noch solche, die möglich sind.
Ein vieldeutiges Wort, ein Übergangszeichen – – – »ein Ruf von Jägern, im Dickicht des Waldes verirrt« (Baudelaire).
Wenn ein Wort beunruhigt, ist es eher ein Signal als ein Wegweiser. Ein Signal breitet sich kreisförmig aus wie der Ring um einen ins Wasser geworfenen Stein. Wo es Gefahr ankündet, etwa am Kreuzweg als rote Ampel oder als leichtes Unbehagen in den Organen, wird alles möglich, steht viel zu erwarten und zu befürchten, letzthin der Tod.
Jedem Wandel gehen Signale voran. Vor dem Sturz der Lawine haben sich Steine gelöst. Der Wetterfühlige hat das nahende Unheil empfunden, bevor etwas zu sehen oder zu hören war. Vielleicht war die Klarsicht ein wenig schärfer und der Ton trug weiter als sonst. Aber das waren nur Beiträge zur klimatischen Einstimmung oder Folgen von ihr.
Die Voraussage ist noch keine Prophezeiung, da sie sich durch Messung bestätigen oder widerlegen läßt. Sie bewegt sich innerhalb des Kalenders und der meßbaren Zeit, während der Prophet sich nicht nach Daten richtet, sondern Daten setzt. Das geschieht ohne oder gegen seinen Willen – es geschieht.
Jede historische Wandlung wird musikalisch nicht nur instrumentiert, sondern auch im Kern erfaßt – im Augenblick der Empfängnis, längst vor den Geburtswehen. Wo die Musik auf den Willen einwirkt, hat sie schon einen langen Weg zurückgelegt. Dem müssen Signale vorausgegangen sein, die sich der Metrik entziehen, als prophetischer Teil sogar dem Gehör. Die Musik als »reine, vom Dinglichen befreite Bewegung« hat als solche kein Ziel.
Wir begegnen uns an den Kreuzwegen. Wir trafen uns dort schon oft. Dort wird jeder Punkt bedeutend – ob er bemerkt wird oder nicht. Gemeinsame Erinnerungen reichen bis in die unbelebte Welt zurück – ja über sie hinaus.
Der Schmerz ist ihre Schwelle, der Augenblick des Glückes ihre Vorstufe. Sollte es dort einen Text geben, so lasen wir bislang nur die Löschblätter.
»Der Weg ist wichtiger als das Ziel.« Das will nicht sagen, daß das Ziel belanglos sei, sondern nur, daß der Weg vom Ziel her nicht beurteilt werden kann. Der Weg enthält mehr als das Erreichte – so das Mögliche. Ein Erdenrest bleibt. Daher sowohl die fruchtlosen Nachrechnungen der Historiker (der Treppenwitz der Weltgeschichte) als auch der Rückblick des Einzelnen auf die versäumte Gelegenheit.
Der Lebenslauf, als Kunstwerk betrachtet, bedarf solcher Berichtigungen und Rechtfertigungen nicht. Insofern gilt auch die Maxime, daß die moralische Wertung nicht ausreiche. Sie zählt zum pädagogischen Ethos der weltlichen und der geistlichen Mächte und die Reue zum autodidaktischen Teil der Existenz. Davon abgesehen, ist die Moral der Mode unterworfen; Epochen und Klimate wirken auf sie ein. Die Absolution dagegen ist, wie es dem Ganzen zukommt, vollkommen und gewiß.
Der Weg birgt ein Ganzes, an welchem Punkte er auch beendet wird. »Unterbrochen« ist ein besseres Wort dafür.
In der Welle schlummert die namenlose Kraft. Sie artikuliert sich, wo sie strandet und brandet: auf Widerstand stößt. Funkströme setzen sich in Laut und Farbe, in Romane und Melodien um. Das sind Gleichnisse.
Die Fabel wendet sich mit Vorliebe dem Tierreich, das Gleichnis den Pflanzen zu – dem Senfkorn, dem Lotos, dem Feigenbaum, der Lilie. Das sind Verwandte, ja Vorbilder des Menschen in der belebten Welt. Beispiele aus dem Unbelebten finden sich in den Sprichwörtern. »Der Krug geht so lang zum Brunnen, bis er bricht.« »Steter Tropfen höhlt den Stein.« Wir nähern uns der Märchenwelt. Das Kind schlägt den Tisch, an dem es sich gestoßen hat.
Inzwischen haben wir eine Station erreicht, in der auch die Physik Gleichnisse anbietet. Das hängt damit zusammen, daß sie in die Lücke eindringt, die der Rückzug der Götter hinterlassen hat. Dazu verfügt sie über Vorweisungen, die alles überbieten, was einst als Wunder galt. Freilich ist anzumerken, daß auch die Wunder der Bibel nur Gleichnisse sind, also mehr als Tatsachen.
Daß Lazarus als Individuum auferweckt wird, ist unbedeutend, vielleicht auch ärgerlich. Dagegen steht der Hinweis auf eine Hoffnung, die jeden angeht, und ihre Erfüllung durch ein Einzelschicksal auf einem anderen Blatt – als Ansporn zu einem Sprunge, der über Berg und Tal hinweghebt, als Ausblick durch die Kerkerwand.
Nebensächlich bleibt dabei die Frage, ob jene Erweckung auch stattgefunden hat.
Es hieße die Großtaten der Physik unterschätzen, wenn man sie der Mechanik oder gar der Ökonomie zuordnete. Hier geht es um mehr als um Tatsachen. Das gilt besonders für den prometheischen Rang der Neuen Welt mit ihren Raum und Zeit überwindenden Entfaltungen.
Dagegen ist einzuräumen, daß die Einrichtungen, selbst dort, wo sie Wohlstand bringen, nicht befriedigen, ja zunehmend beängstigen. Sie können nicht bieten, was die Götter gewährt haben. Sie reichen nicht über das Vergängliche, ja zielen nicht einmal darüber hinaus.
In dieser Hinsicht sind auch ihre Wunder nicht mehr als Gleichnisse – doch hochbedeutend, wenn sie als solche erkannt werden. Der Raub am Universum wird zum Geschenk, zum Darlehen. Neue Gebete, neue Mysterien.
Wird eine Wanderung abgeschlossen, so erreicht sie ihr Ziel, wenngleich nicht immer am geplanten Ort. Sie kann auch abgebrochen werden; es gibt Zeiten, in denen unvorhergesehene Umstände sogar die Regel sind. Das Ziel ist immer und überall möglich; der Wanderer führt es mit sich wie seine Uhr. Wird der Weg als Passion begriffen, so ist das Kreuz von Anfang an dabei.
Keiner stirbt vor der Erfüllung seiner Aufgabe. Meist wird sie verkannt. Cecil Rhodes, nach Spengler »ein Gigant in Lackschuhen«, auf dem Sterbebette: »And so much to do!« Da erhebt sich die Frage: »Und wo ist heut Rhodesien?«
»Wo ist der Pauken und Trompeten Gruß?« (Omar, der Zeltmacher).
Spengler ordnete Cecil Rhodes den Figuren des 21. Jahrhunderts zu. Das war eher ein Rückblick als die Vorschau auf einen Zeitgeist, dem Imperialismus nicht genügt.
Wenn der Weg sehr lang ist, etwa vom Mars zur Erde, so ist er doch in jedem Moment trächtig – das ließe sich darstellen, wenn man ihn durch einen Bildschirm abfinge. Damit wäre eine seiner Möglichkeiten, nämlich die seiner Dauer, erfüllt. Es wäre eine, an Bedeutung vielleicht überschätzte, Möglichkeit unter zahllosen anderen. Nur wenige konnten ergriffen (qualifiziert) werden. Daß viele verfehlt wurden, ist ein pädagogisches Urteil – der Weg, ob kurz oder lang, wurde abgeschritten, die Aufgabe erfüllt.
Signale strahlen nicht nur linear, sondern auch kreis- und kugelförmig aus. Gehörte der Bildschirm zur Ausrüstung eines Satelliten, so würde sich auf anderen Satelliten die zurückgelegte Strecke als länger oder kürzer darstellen.
Der Empfang ist überall im Universum möglich – wir wissen nicht, was geschieht, wenn wir ein Signal geben. Nur Ort und Datum der Sendung sind zu konstatieren – etwa die Explosion einer Sonne nach Millionen von Lichtjahren. Die Nachricht erreicht die Sterne zu verschiedenen Zeiten – manche verheerend, andere bleiben unberührt. Selbst bei uns ist die Wirkung verschieden, je nachdem, ob das Ereignis in Babylon, Altchina oder auf unseren Warten registriert wurde.
Der Beginn des Weges läßt sich bestimmen; Länge und Dauer bleiben ungewiß. Der Weg läßt sich verkürzen, das Ziel hinausrücken; so das des Lebens durch ärztliche Kunst. Auch das kann dem Schicksal unterstellt werden.
Einer Betrachtung, die den Weg für wichtiger hält als das Ziel und die das Ziel als einen der möglichen Abschnitte des Weges erachtet, werden sich weitere Fragen aufdrängen – vor allem diese: ob der Weg über das Ziel hinausführt oder nicht.
Erschöpft sich die Welle in der Brandung, oder gibt diese nur eine Summa, die freilich hochbedeutend ist? Um beim Bildschirm zu bleiben, der Wellen in Ton und Farbe, ja in Romane umsetzt – ist er vielleicht nur ein Filter der Strahlung, der das entbehrlich Gewordene vom Unentbehrlichen trennt? Die Fahrt ist beendet; das Schiff wird verlassen, das Gepäck bleibt zurück.
Es spricht für Schopenhauers geistige Unbefangenheit, daß er sich eingehend mit dem Grenzproblem des Zweiten Gesichts beschäftigt hat. Er rechnet es dem »transzendenten Fatalismus« zu – der Überzeugung von der Vorausbestimmung künftiger Dinge, die auf persönlicher Erfahrung beruht.
Für Schopenhauer ist die Weltgeschichte eigentlich nur die Abfolge zufälliger Konstellationen – real dagegen ist der Einzelne. Ihm allein kommt eine unmittelbare metaphysische Beziehung zu. »Daher ist sein Lebenslauf, so verworren er auch scheinen mag, ein in sich übereinstimmendes, bestimmte Tendenz und belehrenden Sinn habendes Ganzes, so gut wie das durchdachteste Epos.«
Das Zweite Gesicht ist, besonders auf keltischen Böden, eine nicht seltene Erscheinung; Spuren davon finden sich, gewissermaßen als Stammwürze, bei irischen Romanciers. Es auf einen zerebralen Vorgang zu reduzieren, dürfte schwierig sein. Als Vorschau ist es der Prophezeiung ähnlich, obwohl das Erhabene keine Rolle spielt. Absenz, Entrückung geht hier wie dort voraus. Näher liegt die Verwandtschaft mit epileptischen Anfällen.
Die Entrückung kommt unvermutet; sie zeigt Nebendinge, auch Unfälle, Begräbnisse, »Vorbrände«. Soldaten in fremden Uniformen werden nicht als Feinde wahrgenommen, sondern wie sie ein Kind am Wegrand sieht. Die Visionen reichen nur über einige Jahre hinaus, sind bodenständig, die Bestätigung kann schon am nächsten Morgen eintreten. Französische Kürassiere ritten durch Westfalen, als Napoleon noch Kriegsschüler war.
Wer auf Grund familiärer und persönlicher Erfahrung davon überzeugt ist, daß ein Feuer, das erst nach Jahren ausbricht, bis in die Einzelheiten als »Vorbrand« gesehen werden kann, dem stellen sich verschiedene Fragen – zunächst als Gedankenspiel.
Zeit und Ort der Wahrnehmung haftet ein vexierbildhafter Charakter an. Sie gilt als Vorschau, doch läßt sie sich nicht minder als Rückblende auffassen – als Signal eines Ereignisses, das in der Zukunft liegt. Somit werden bei der Vorschau von derselben Person zwei örtlich und zeitlich verschiedene Stellen besetzt. Ihr Weg hat in der Gegenwart ein bestimmtes Ziel erreicht, doch führt er auch über sie hinaus. Das erinnert an Träume – der Träumer liegt im Bett und nimmt zugleich auf dem Friedhof an einer Beerdigung teil.
Allerdings gibt es Unterschiede; der Vorschauer schläft nicht, sondern er wacht und starrt zum Fenster hinaus. Zudem muß das Begräbnis mehr als ein Traum sein, da es genau so, wie er es gesehen, wenngleich erst nach Jahren, tatsächlich stattfindet.
Wenn ein »Gesicht« sich bestätigt, ergreift den Betroffenen das vage Gefühl eines Menschen, der von einem Ausflug zurückkehrt, über den er nicht Rechenschaft geben kann. Bislang konnte die Schau als Traum passieren – ihre Verwirklichung läßt ahnen, daß mehr im Spiele war. Die Schere, vorerst als Bild erschienen, kann schneiden – das ist unheimlich.
Die Erinnerung behielt vielleicht nur eine Nebensache wie die Randnote auf einem Blatt, dessen Text gelöscht worden ist. Doch was geschah außerdem? Eine ähnliche Stimmung kann einem Tieftrunk folgen; der Trinker weiß nicht, was er getrieben hat. Immerhin hat sich ein Knoten geschürzt; er fand in seine Person und in deren Normen zurück.
Der Trunk aus Mimers Brunnen ist tabu.
Zu meditieren ist folgendes: Was geschieht, wenn die Schleife sich nicht zum Knoten schürzt – das heißt, wenn der Ausflug in die Zukunft, ohne zur Gegenwart zurückzukehren, im Unvermessenen bleibt? Das wäre denkbar, wenn der Vorschauer stürbe, ehe sich ihm sein Gesicht verwirklicht hat.
Zu den Einzelheiten des zukünftigen Erlebens hat auch seine Gegenwart, seine Teilnahme gezählt. Demnach müßte, falls sich die Schau in der Zeit bestätigt, seine Gegenwart unumgänglich sein.
Nicht selten wird das eigene Begräbnis in der Vorschau erlebt. Mit dem Tode des Vorschauers verschränkt sich das Verhältnis: damals entsandte er seine geistige Person zu einem zukünftigen Ereignis, nun kehrt sie zur physischen Gegenwart zurück. Die Teilnahme verstärkt sich zur doppelten Präsenz, vielleicht der üblichen.
Zwei Begräbnisse. Das erste lag in der Zukunft: an ihm nahm der Vorschauer als Lebender teil. Das zweite ist gegenwärtig; es wiederholt sich in den Einzelheiten – zu denen auch die Anwesenheit des Vorschauers gehört. Sie kündet sich durch ein tieferes Schweigen an. Nun wird es nicht mehr ihm, sondern den Umstehenden unheimlich. Beide Mal ist es, als ob er von irgendwoher auf Urlaub zurückkehrte.
Der Vorschauer nahm also zwei Mal an seinem Begräbnis teil: zunächst in der Schau, als er am Fenster stand, dann in der Wirklichkeit. Das Verhältnis hat sich verschränkt: die Schere der Atropos, vorerst in der Potenz gesehen, wirkte nun in actu – sie schnitt zu. Doch das tut dem Vorschauer nicht mehr weh.
In der Vorschau hat ein Zeitsprung stattgefunden; eine Vorhut wurde vorausgeschickt. Insofern wird in der Schau nicht Zukünftiges, sondern Vergangenes gesehen. Der Vorschauer hat die Gegenwart überholt. So kam es zur verblüffenden Identität des Geschauten und seiner Wiederholung in der Zeit.
Für Schopenhauer galt das Zweite Gesicht als Bestätigung seiner These, »daß alles, was geschieht, mit strenger Notwendigkeit eintritt«. Den jungen Grillparzer hat solch »unentrinnbares Verhängnis« bestürzt. Sein Schicksalsdrama »Die Ahnfrau« wird von der Kritik als »vorübergehende Irrung« eingestuft.
Da es sich aber beim Zweiten Gesicht um eine Rückschau handelt, ist auch dessen Notwendigkeit normal. Absolut notwendig und nicht zu verändern ist alles Vergangene. Schiller:
Was man von der Minute ausgeschlagen,
Gibt keine Ewigkeit zurück.
Ein Begräbnis, das sich noch nicht ereignet hatte, aber ereignen würde, wurde »geschaut«. Damit bekam dieses Begräbnis eine Vergangenheit. Wenn nun die Uhrzeit vorrückt, wird diese Vergangenheit nicht mehr geschaut, sondern erlebt. Das in der Schau Vorgegangene wird von der Gegenwart eingeholt. Daß sich Schau und Wirklichkeit bis in die Einzelheiten decken, ruft sowohl Erstaunen wie Betroffenheit hervor.
Ein Schotte, dessen Bruder vermißt wurde, sah ihn als Leichnam in einem Weiher liegen und versuchte, ihn herauszuziehen. Dabei fiel ihm eine Forelle auf, die neben dem Toten schwamm. Das war im Wahrtraum gewesen; als er am nächsten Morgen den Teich aufsuchte, wiederholte sich das Bild, selbst die Forelle stand an ihrem Ort.
So Schopenhauer nach einem Zeitungsbericht. Es wäre nun irrig, anzunehmen, daß die Forelle zum Leichnam geschwommen wäre – gewissermaßen, um die Vorschau zu bestätigen. Es war vielmehr dieselbe Forelle, die in der Schau und dann in der Wirklichkeit gegenwärtig geworden war. Es war auch derselbe Schotte, der sie gesehen hatte – jetzt tätig, wie zuvor in der Potenz.
Aus einer Familienchronik: Anna Determann wurde geboren am 27. September 1812. Aus ihrer Jugendzeit erzählte ihre Tochter Hermine folgendes:
»Als Mädchen von zwölf Jahren steht die Mutter einmal in Ueffeln, wo ihr Vater Kantor war, vor der Haustür und sieht über den Kirchhof einen Leichenzug gehen. Voran ihr Vater mit den Schulkindern, dann eine Kindsleiche und einige Männer und Frauen als Gefolge. Der Zug kommt nicht durch das Tor des Kirchhofes ihrem Hause gegenüber, durch das alle Leichen getragen werden, sondern durch das Tor an der anderen Ecke, das nur für die Kirchgänger bestimmt ist.
Da meine Mutter ihren Vater in der Wohnstube weiß, erschrickt sie heftig und schreit: ›Vater, Vater!‹ Der kommt aus der Stube, und da erzählt sie ihm, was sie gesehen. Er will es ihr ausreden und sagt: ›Sieh mal, Kind, schon deshalb kannst du es nicht gesehen haben, weil durch dieses Tor niemals eine Leiche getragen wird.‹
Einige Tage später stirbt das Kind eines Heuermanns, und in der Nacht vor der Beerdigung stürzt das Tor ein, durch welches alle Leichen getragen werden. Das Kind muß durch das andere Tor getragen werden – gerade so, wie meine Mutter es gesehen hat.«
Daß das große Tor durch ein Unwetter eingestürzt war, erfuhr die Ahne erst später, doch schon in der Vorschau war es geschehen, war es unumstößliche Vergangenheit.
Das Vexierende solcher Berichte ruft eine Gleichgewichtsstörung hervor. Wenn wir die Zeit als Gefährt, etwa als Schiff, betrachten, scheint sie plötzlich stille zu stehen; das ist umwerfend. Jetzt heißt es umsteigen. Der Wechsel von meßbarer und Schicksalszeit verwirrt den Betroffenen. Beide sind schwer unter einen Hut zu bringen, wie im Großen Astronomie und Astrologie, auch Naturwissenschaft und Theologie. Und doch ist das seit jeher möglich gewesen und wird immer wieder möglich sein.
Geologisch gesehen gibt es Böden, in denen sich eine seismische Unruhe erhalten hat. Spalten zwischen Kontinenten, die sich in der Vorzeit getrennt haben, sind als Erdbebenherde bekannt.
Ähnlich verhalten sich, geomantisch gesehen, Regionen, in denen der Mythos noch nicht erkaltet, noch nicht historisch geworden ist. Würden wir dort mit einem dem Geigerzähler ähnlichen Gerät auf Suche gehen, so gäbe es besonders kräftige Ausschläge. Günstig sind Gründe, wo Völker herrschten, die, wie die Kelten, Etrusker und Azteken, zwar politisch verschwunden, doch heimatlich noch gegenwärtig sind.
Und dann Kleinasien – vor Alexander, selbst vor Herodot. Halikarnassos, der Libanon mit dem Blut des Adonis, das alte Persien.
Die Vorschau widerspricht der Erfahrung; sie ruft selbst bei dem Betroffenen Befremden hervor. Meist sucht er sie zu verdrängen, sie zum Traum zu degradieren – doch war es, wie Shakespeare sagt, »kein gewöhnlicher Traum«. Ein Bild wurde empfangen, nicht in der eigenen Werkstatt erzeugt.