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Die Monatstugenden

Zwölf Meditationen

herausgegeben von Jean-Claude Lin

Verlag Freies Geistesleben

Inhalt

Vorwort

Januar: Mut wird zu Erlöserkraft

Februar: Diskretion wird zu Meditationskraft

März: Großmut wird zu Liebe

April: Devotion wird zu Opferkraft

Mai: Inneres Gleichgewicht wird zu Fortschritt

Juni: Ausdauer wird zu Treue

Juli: Selbstlosigkeit wird zu Katharsis

August: Mitleid wird zu Freiheit

September: Höflichkeit wird zu Herzenstakt

Oktober: Zufriedenheit wird zu Gelassenheit

November: Geduld wird zu Einsicht

Dezember: Gedankenkontrolle wird zu Wahrheitsempfinden

Vorwort

Als eine Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben erschien 1996 die deutsche Ausgabe eines «kleinen Breviers der Tugenden und Werte». Die ursprünglich in französischer Sprache verfassten Ausführungen des Philosophen André Comte-Sponville tragen den Titel Petit traité des grandes vertus (also Kleine Abhandlung über die großen Tugenden). Sollte für den deutschen Leser durch die Wendung des Titels der als allzu groß empfundene Ernst des Unternehmens, über achtzehn Tugenden nachzudenken, entschärft werden? Oder drückt sich darin die Überzeugung aus, dass ein «tugendhaftes» Leben heute unzeitgemäß sei? Dass ein wachsendes Bedürfnis nach einer erneuten Besinnung auf Tugenden und andere ethische Kategorien seit einigen Jahren besteht, ist nicht zu leugnen. Fraglich ist nur, ob dieses Bedürfnis dahin führen kann, dass die Fähigkeiten, die mit den Tugenden angesprochen sind, tatsächlich ausgebildet und gepflegt werden können. Jeder, der dieses Bedürfnis empfindet, wird sich früher oder später eine vertiefte Einsicht in das Wesen der Tugend und Tugenden verschaffen wollen. Denn er wird, wie es vielleicht der niederländische Philosoph Spinoza in seiner Ethik am prägnantesten formuliert hat, empfinden, dass die Tugend zu dem Eigentlichsten seiner Existenz als Mensch gehört:

«Unter Tugend und Vermögen verstehe ich ein und dasselbe. Das heißt, die Tugend, insofern sie auf den Menschen bezogen wird, ist das eigentliche Wesen oder die eigentliche Natur des Menschen, insofern er die Macht hat, etwas zu bewirken, was durch die Gesetze seiner eigenen Natur allein begriffen werden kann.» (IV. Teil, 8. Definition)

Über die Tugenden im einzelnen wie auch allgemeinen ist über die Jahrhunderte und Jahrtausende, je nach religiösem oder philosophischem Hintergrund, eine weitgefächerte Literatur entstanden. Das Neue, das von anthroposophischer Seite hinzugefügt werden kann, ist eine vertiefte Einsicht in den Zusammenhang der Tugenden mit dem werdenden, sich entwickelnden Menschen, auch in die Art, wie sie selbst als seelische und geistige Fähigkeiten sich wandeln.

Es ist auf den folgenden Seiten versucht worden, eine Anregung Rudolf Steiners in dieser Richtung aufzugreifen. Er selbst hat die zwölf behandelten Tugenden und ihre Metamorphosen nicht systematisch dargestellt. Die Autoren waren auf ihre eigenen Erfahrungen und Überlegungen angewiesen. Diese haben sie zunächst in den vorliegenden «Meditationen» zusammengefasst. Ausführlicher haben sie ihre Gedanken und Einsichten in den Vorträgen dargestellt, die in dem Band Die Tugenden im Jahreslauf — Wandlungskräfte der Seele enthalten sind.

Die Kürze und Dichte der hier dargebotenen Ausführungen können aber gerade für den willkommen sein, der sich regelmäßig mit den Tugenden beschäftigen möchte. Denn jede Fähigkeit braucht zu ihrer Ausbildung Übung, und zu einer solchen besonnenen Übung möchten die hier wiedergegebenen Betrachtungen anregen. So mag es berechtigt sein, sie als «Meditationen» aufzufassen. Sie geben durch die in ihnen gewählten individuellen Ansätze sehr verschiedene Zugänge wieder. Diese weiter zu entwikkeln, zu ergänzen und im eigenen Leben zu prüfen und fruchtbar zu machen bleibt vornehmlich Aufgabe des interessierten Lesers — wie auch weiterhin der Autoren selbst! —

Dass diesem Band auch die Aufnahmen des amerikanischen Fotografen Richard C. Crisler beigefügt werden können, empfindet der Herausgeber als besonders befriedigend.

Stuttgart, im Juli 1999

Jean-Claude Lin

Januar

Mut
wird zu
Erlöserkraft

21. Dezember bis 1. Februar

Mut muss der Mensch entwickeln, um in den himmlischen Garten eintreten zu dürfen. –

Mut wird zu Erlöserkraft

Jean-Claude Lin

Eine Betrachtung zu Drei Könige

Als der Mensch vom Baum der Erkenntnis des Bösen und des Guten genossen hatte und des Paradieses verwiesen wurde, bestellte Gott der Herr den Cherub mit dem bloßen Flammenschwert, dem Menschen den Eingang zu verwehren. Seitdem muss der Mensch im Schweiß seines Angesichts sein Brot essen, «Bis das du wider zu Erden werdest / da von du genomen bist / Denn du bist Erden / vnd solt zu Erden werden» (I. Buch Mose III,19 nach Martin Luther, Die gantze Heilige Schrift. Deudsch 1545), da der Weg zum Baum des Lebens ihm versperrt ist.

Erst im aufdämmernden Bewusstsein dieses Ausgeworfenseins des Menschen scheint das Wort «Erlösung» seinen angemessenen Zusammenhang gefunden zu haben. Immer wieder muss der Mensch diesen Weg von Staub zu Staub durchwandeln, bis er vom wachenden, ernsten Hüter-Engel zurückgerufen wird. Und erst dann – nach wie vielen Schritten der Wandlung und der Reife? – darf er vom Baum des ewigen Lebens essen.

«Mut wird zu Erlöserkraft», notierte Rudolf Steiner lapidar (abgedruckt in seinen Anweisungen für eine esoterische Schulung). Mut muss der Mensch entwickeln, um in den himmlischen Garten wieder eintreten zu dürfen. – Wie ist das zu verstehen?

Ich stelle mir ein neugeborenes Kind vor. Welche Kraft muss eigentlich in dem Kind vorhanden sein, damit es sein grenzenloses Ausgeliefertsein an seine Mitmenschen in Frieden hinnehmen kann? Wäre das Kind mit dem späteren Bewusstsein des Erwachsenen begabt, müsste es mit etwas wie grenzenlosem Mut erfüllt sein.

Dieser hilflosen, aber unendlich vertrauenden Hingabe des Kindes bringen die drei Könige ihre Gaben dar:

die aufrichtende Kraft der Myrrhe,
die mitteilende Wärme des Weihrauchs,
das erleuchtende Licht des Goldes.

Durch das Vertrauen wird es begabt mit den drei Grundfähigkeiten des Menschen: des Sich-Aufrichtens, des Sprechens und des Denkens.

Dieser Blick auf das neugeborene und heranwachsende kleine Kind lässt erst wirklich ermessen, wie unerschütterlich der Mut noch werden muss, um die Erlöserkraft wachsen zu lassen, die notwendig ist, um an dem mit flammendem Schwert abweisenden Cherub vorbeizukommen.

Eine «hohe Schule des Mutes» könnte die gelebte Anthroposophie für den Menschen werden, äußerte einmal Rudolf Steiner (in einer Jugendansprache in Arnheim am 20. Juli 1924).

Was das Kind an grenzenlosem Vertrauen seiner menschlichen Umwelt gegenüber darlebt, wandelt sich im sich selbst ergreifenden und seine Angst überwindenden Menschen in Mut.

Wie im kleinen Kind dem heranwachsenden Erdenmenschen drei Begabungen nachgereicht werden, muss der an dem Flammenschwert-führenden Engel vorbeidringen wollende Mensch drei Gaben dem in ihm neu entstehenden Himmelsmenschen vorreichen:

das Gold seines mit dem Weltensein zusammenwachsenden Ich,
den Weihrauch seiner mit den Geisteszielen lebenden Seele,
die Myrrhe seines im Tun Gottes wurzelnden Geistes.
Im Wort des dem Menschen voranschreitenden und mit ihm einswerdenden Christus, «Wahrlich ich sage euch / Es sey denn / das jr euch vmbkeret / vnd werdet wie die Kinder / so werdet jr nicht ins Himmelreich komen» (Matteus XVIII,5), lässt sich erleben:

Mut wird zu Erlöserkraft.

Februar

Diskretion
wird zu
Meditationskraft

21. Januar bis 1. März

Mit dem Schweigen beginnt die Verantwortung für das, was man sagt. –

Diskretion wird zu Meditationskraft

Ernst-Michael Kranich

Ein deutscher Philosoph des vergangenen Jahrhunderts hat einmal gesagt, das Kind lerne sprechen, im Laufe des Lebens lerne der Mensch aber das Schweigen. Gemeint ist nicht das Verschweigen, sondern die besonnene Kraft der Zurückhaltung. Im gewöhnlichen Sprechen, das dem natürlichen Drang des Sich-Mitteilens entspringt, wirkt manche allzu persönliche Seeleneigenschaft. Man redet, ohne es zu bemerken, mehr als man wirklich zu sagen hat. Das Bedeutsame sind einzelne Perlen unter der Fülle des Beliebigen, bloß Unterhaltsamen. Wenn man dieses bemerkt, kann das eine Wende im Leben bewirken.

Schweigen ist nicht Verstummen. Mit dem Schweigen beginnt die Verantwortung für das, was man sagt. – Was hier geschieht, ist eine Verwandlung, in der die ungeläuterten Seelenkräfte, die bisher mit der Sprache verbunden waren, aus dem Sprechen herausgesondert werden. So kommt die Sprache in den Zusammenhang mit höheren Kräften. Es entsteht das Bewusstsein, dass man reif werden muss, um über eine Sache sprechen zu können. Man erlebt, dass es ein Sprechen gibt, das seine Worte aus innerer Hinwendung zu dem Wesenhaften nimmt. Das Aussprechen einer geistigen Wahrheit entspringt immer aus der Läuterung der Sprache und einem langen Schweigen. So wirkt im Schweigen eine doppelte Diskretion. Man bedenkt die Wirkungen dessen, was man anderen über Menschen und Lebenstatsachen mitteilt. Man weiß auch, dass man nicht unangemessen oder oberflächlich über etwas Bedeutsames Aussagen machen sollte. Beides widerspricht den Bedingungen einer inneren, spirituellen Entwicklung.