»Kannst du mir einen riesigen Gefallen tun?«, fragt Matty, der den Kopf in mein Zimmer steckt. Er hat sich einen Magen- und Darmvirus eingefangen und ist bleicher als LaToya Jackson.
Matty ist nicht gerade zurückhaltend, wenn es darum geht, mich um einen Gefallen zu bitten. So ist das eben, wenn man seit vier Jahren mit seinem besten Freund in einer WG wohnt – es ist wie mit einem festen Freund, auf den man sich verlassen kann, bloß ohne den Sex, die Nähe oder die teuren Geburtstagsgeschenke. Die Gefallen, die ich Matty getan habe, reichen von Fahrten zum Flughafen um vier Uhr morgens bis hin zur Entfernung von unschönem Haarwuchs auf dem Rücken vor dem Besuch der ›Gay Days‹ in Disneyworld. Dort kam es dann zu einem weiteren seltsamen Freundschaftsdienst: Ich sollte Matty und den Darsteller von Peter Pan, der mit seinen fünfunddreißig Jahren auf gruselige Weise jugendlich wirkte, zu dem übelsten Date fahren, das Matty je hatte. Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, mit dem Schlimmsten zu rechnen, wenn diese Worte aus Mattys Mund kommen: ›Kannst du mir einen riesigen Gefallen tun?‹
Ich stelle die Folge von The Real Housewives auf Pause (ich weiß nicht mal, wo sie eigentlich spielt) und antworte mit einem zögerlichen »Klar doch«.
»Es hat mit der Arbeit zu tun, ich gebe dir dafür vierzig Dollar.«
Das erleichtert mich, und zwar nicht nur wegen der vierzig Mäuse – obwohl ich sie ehrlich gesagt gut gebrauchen könnte: Ich lebe derzeit von einem Job als Kellner bei einem Partyservice. Wichtiger finde ich aber die Tatsache, dass Matty als Reporter bei einer ziemlich angesagten Unterhaltungssendung arbeitet, dem Star Report. Die Show ist ein bisschen so wie Entertainment Tonight, bloß beliebter und ohne die unangenehme Energie von Billy Bush.
Ich selbst bin ein aufstrebender Schriftsteller, und es wäre nicht das erste Mal, dass ich für Matty einspringe. Ich schrieb mal eine gute Kritik zu dem Film Happy New Year, die sich wie ein Lauffeuer verbreitete, weil es quasi die einzige gute Kritik zu diesem Film war. Was soll ich sagen? Ich habe nun mal eine Schwäche für Filme, die an Feiertagen spielen und in denen Robert De Niro im Krankenbett liegt. Davon mal abgesehen beschränkt sich meine Karriere als Autor bislang auf einen Blog im Internet, den ich während meines ersten Jahres hier in Los Angeles führte und der bis heute nur zwanzig Aufrufe hat. Aber irgendwann werde ich ein Buch schreiben.
»Worum geht’s denn?«, frage ich in der Hoffnung, die zwei Worte zu hören, auf die ich schon so lange warte: Meryl Streep.
»Ich soll zum Pressetermin für den neuen Streifen mit Taylor Grayson. Er heißt Der letzte …« Er redet weiter, aber ich höre nicht mehr zu. Taylor Grayson ist der schönste männliche Filmstar in der Geschichte der schönen männlichen Filmstars. Seit ich Erstsemester war und er einen solchen in einer Fernsehserie spielte, wird er vom People Magazine alljährlich zum ›Sexiest Man Alive‹ gewählt. Matty erklärt immer noch, worin mein Gefallen bestehen soll, aber ich bin in meinen Gedanken versunken und erinnere mich an eine Szene aus Der Hof – in diesem Film spielt er einen begabten Football-Spieler auf dem College, der irgendwas Bedeutsames macht, das mir aber nicht einfallen will. Was mir allerdings einfällt, ist die vierminütige Duschszene, die ich mir immer wieder angesehen habe – Nahaufnahmen der winzigen Tropfen heißen Wassers auf einem perfekt gebräunten Sixpack, das Michelangelo nicht besser hinbekommen hätte, sowie eine halbminütige Aufnahme seines niedlichen Apfelhinterns, die einen Großteil des Jahres 2009 Standbild auf meinem DVD-Player war.
»Und, machst du’s?«, fragt Matty, der mit seinen Erläuterungen offenbar fertig ist. Obwohl ich kein Wort davon mitbekommen habe, sehe ich ihn an und sage: »Na klar.«
Matty mustert mich genau, wie immer, wenn er weiß, dass ich ihm gar nicht zugehört habe. Es wirkt so, als wolle er in die Tiefen meiner Seele blicken, aber in Wirklichkeit denkt er bloß: ›Warum hört mir dieser Arsch nie zu?‹
»Okay, cool. Du brauchst also ein Paar Gummistiefel, eine Machete und ungefähr einen Meter Strickgarn«, sagt Matty seelenruhig.
»Sorry. Ich hab’ nicht genau zugehört. Ich war abgelenkt.«
Matty verdreht die Augen und erklärt es mir erneut. Der Star Report soll Taylor Grayson bei einem Pressetermin im ›Beverly Hills Hotel‹ über seinen neuen Film Der letzte Held interviewen. Die übliche Routine: Reporter kommt rein, hat vier Minuten, um ein paar im Vorfeld abgesegnete Standardfragen zu stellen, und verschwindet dann wieder. Eigentlich soll Matty hin, aber jetzt hat er diesen Magen- und Darminfekt und sucht nach einem Ersatz, und von seinen Kollegen hat keiner Zeit.
Ich erinnere Matty daran, dass ich noch nie ein Interview vor der Kamera geführt habe – eigentlich habe ich noch nie etwas vor der Kamera gemacht, wenn man den Videomitschnitt meiner wenig überzeugenden Darstellung des Tewje in einer Highschool-Aufführung von Anatevka nicht mitzählt, und das tue ich nicht.
Wie immer hat Matty weitaus größeres Vertrauen in meine Fähigkeiten als ich selbst. Er hat eine Art, anderen Menschen derart viel zuzutrauen, dass es schon fast beleidigend ist: »Wie kannst du nur glauben, dass ich so clever sein könnte? Hast du mir denn nie zugehört? Kennst du mich denn überhaupt nicht?!«
»Du schaffst das schon. Du musst einfach nur so tun, als wärst du aufgeregt, mit dem großen Star über seinen neuen Film zu reden. Es geht hier immerhin um Taylor Grayson. Da kannst du doch bestimmt ein bisschen Begeisterung aufbringen, oder?«
Matty hat nicht ganz unrecht. Das dürfte nicht allzu schwer sein. Zum einen wäre Grayson die größte Berühmtheit, der ich bislang begegnet bin, und zum anderen werde ich schon beim bloßen Gedanken an ihn geil.
»Was soll ich ihn denn fragen?« Ich muss mich von der Vorstellung ablenken, wie der Bizeps von Taylor Grayson jeden Hemdsärmel, den er trägt, an den Rand des Berstens bringt.
»Das Übliche halt … Was war das Schwierigste an diesem Film? Was hat Sie an der Rolle gereizt? Wer hat Sie bei der Darstellung inspiriert? Ach, übrigens spielt er einen Feuerwehrmann.«
Ich nicke, als würde ich das zum ersten Mal hören. Ich bin zwar kein psychopathischer Taylor-Grayson-Stalker, wirklich nicht – aber es wäre gelogen, wollte ich behaupten, dass ich mir nicht schon mehrmals auf den Trailer zu seinem neuen Film einen runtergeholt hätte – auf die Szene, wo er ungefähr vierzig Klimmzüge am Stück macht. Taylor Grayson hat viele Facetten – international erfolgreicher Filmstar, Covermodel zahlloser Zeitschriften, Liebling der Klatschpresse –, aber vor allem ist er eine Wichsvorlage für so ungefähr jeden schwulen Mann und jede heterosexuelle Frau.
»Machst du’s?«, fragt Matty mit einem Blick, der die Augen eines traurigen Hündchens mit dem Gesichtsausdruck von jemandem mischt, der seine Arbeit auf einen anderen abwälzen will.
Wie oft, frage ich mich, hat man schon Gelegenheit, seiner ultimativen erotischen Fantasie leibhaftig gegenüberzustehen? Klar, ich lebe in Los Angeles, aber trotzdem ist das nichts Alltägliches. Ich habe mal Brad Pitt in einem Supermarkt gesehen, und das erzähle ich immer noch auf Partys – dabei bin ich mir nicht mal hundertprozentig sicher, dass er es auch wirklich war. Zumindest wäre diese Begegnung unter vier Augen mit Taylor Grayson eine wundervolle Anekdote für Partys, so wie das neuste Album von Pink oder was Sherri Shepherd in ihrer Talkshow wieder für verrücktes Zeug gelabert hat.
Einen Moment lang denke ich an die uralte Weisheit, dass man seine Idole besser nie kennenlernen sollte. Aber Taylor Grayson ist nicht mein Idol, er ist bloß jemand, den ich scharf finde. So überaus wahnsinnig scharf, dass ich einen Ständer kriege, wenn ich nur an ihn denke. Ohne zu zögern antworte ich laut und deutlich: »Ja.«
Erst als ich im Auto sitze und auf dem Weg zum ›Beverly Hills Hotel‹ bin, geht mir auf, wie abgefahren diese Sache eigentlich ist. Es gehört nicht gerade zu meinem Alltag, den Mittwochnachmittag im ›Beverly Hills Hotel‹ zu verbringen – oder sonst wo in Beverly Hills. Ich war bislang nur zweimal dort – einmal, als ich nach meinem Umzug nach Kalifornien den Rodeo Drive sehen wollte, und das zweite Mal, als ich mich auf dem Weg zum ›Beverly Center‹ verfuhr und fast die Hauptdarstellerin aus Hör mal, wer da hämmert angefahren hätte.
Ich werde immer nervöser, ich weiß auch nicht warum. Das kann nicht nur an dem überwältigenden Druck liegen, den man verspürt, wenn man das Postleitzahlengebiet 90210 betritt. Das hier ist eine andere Art von Nervosität, eine, die mir den Magen so zuschnürt, dass ich nicht mal mein Müsli zu Ende essen konnte. Da ist auch noch etwas, das ich nicht so leicht einordnen kann. Eine Art Aufregung, ein Gefühl, als würde mir ein großes Abenteuer bevorstehen. Ich versuche, mich zu beruhigen und nicht zu viel zu erwarten. Ich drehe das Autoradio voll auf. Katy Perry singt Firework, und wie jeder anständige Homosexuelle muss ich einfach mitsingen. Ich fühle mich gut. Vielleicht nicht ganz wie ein Feuerwerk, aber doch vielleicht wie eine Duftkerze?
Das Gefühl hält nicht lange vor, denn ich biege auf den Sunset Boulevard ab und sehe ein riesiges Plakat mit niemand anderem darauf als Taylor Grayson persönlich. Er trägt einen dunkel karierten Anzug und ein perfekt sitzendes weißes Hemd, das fast unanständig weit aufgeknöpft ist, und er starrt mit einem glühenden, geheimnisvollen, merkwürdig ernsten und mehr als sexy Blick in die Kamera. Die Hose umschmeichelt seine Schenkel, wie noch nie zuvor eine Hose einen Schenkel umschmeichelt hat. Meistens falle ich nicht auf derart plumpe Versuche rein, ein Produkt mit Hilfe attraktiver Werbeträger zu verkaufen. Ich bin keiner von denen, die sich mit etwas nackter Haut um den Finger wickeln lassen – aber dieses riesige Bild von Taylor Grayson löst ein Kribbeln von meinem Bauch bis zwischen meine Beine aus. Ich fange plötzlich an zu schwitzen.
Ich öffne das Fenster, und die Frau im Wagen neben mir wirft mir einen verächtlichen Blick zu. Ich habe ganz vergessen, wie laut ich das Radio geschaltet habe, und noch ehe ich den Lautstärkeregler zu fassen kriege, schreit die Frau: »Ja, wir wissen es. Du bist ein Feuerwerk!« Dann zeigt sie mir den Vogel. Willkommen in Los Angeles.
Vier Minuten, sage ich mir wieder und wieder, vier Minuten – mehr habe ich nicht, um das Interview im Kasten zu haben. Ich bin so nervös wie seit meinem letzten Blind Date nicht mehr, und wann war das noch mal, vor drei Jahren? Das hat Spaß gemacht. Oder sagen wir lieber: Die Idee dahinter war super, die praktische Ausführung eher deprimierend.
Ich lernte ein paar nette Kerle und ein paar süße Kerle kennen, aber keiner davon war beides. Los Angeles ist wahrscheinlich die schlechteste Stadt in ganz Amerika, um es mit Blind Dates zu versuchen. Die Typen sind entweder viel zu ehrgeizig, um sich auch nur deinen Namen zu merken, wenn man nicht gerade für eine große Agentur arbeitet, oder aber sie sind so faul, dass ihre Hauptbeschäftigung darin besteht, Gras zu rauchen und sich alte Folgen von Roseanne anzuschauen. Im Großen und Ganzen gehöre ich selbst eher zur zweiten Gruppe.
Es ist nicht so, dass ich an Männern nicht interessiert wäre. Ich bin sehr an ihnen interessiert. Männer nehmen ungefähr siebzig Prozent meiner Gedanken ein, während die restlichen dreißig von Pinkberry-Eiscreme und einer Reise nach Paris beherrscht werden (in dieser Reihenfolge). Es ist nur so, dass Los Angeles in puncto Dating nicht gerade in meiner Wohlfühlzone liegt. Ich liebe die Stadt, aber egal, wie lange ich schon hier wohne, bringe ich einfach nicht den Mut auf, richtig zu … leben.
Soll heißen, dass ich noch Jungfrau bin. Jepp. Ich heiße Alex Kirby, und ich bin die letzte vierundzwanzig Jahre alte schwule Jungfrau der Welt. Ich hatte mein Coming-out ziemlich spät, zumindest für meine Generation. Ich war zwanzig. Und selbst da wurde ich quasi dazu gezwungen – von Matty, der laut eigener Aussage schon schwul ist, seit Jennifer Aniston ihre erste Nasen-OP hatte. Ich habe kein Problem mit dem Schwulsein, wirklich nicht. Ich wuchs einfach in einer Familie auf, in der man nicht gern über Gefühle redete und vor allem niemals das Wort ›Sex‹ in den Mund nahm.
Wir waren Zeugen Jehovas. Ich weiß bis heute nicht, was das eigentlich bedeuten soll, außer dass wir keine Feiertage begingen und ich schon als Fünfjähriger einen dreiteiligen Anzug hatte. Meine Familie brachte uns bei, dass alle auch nur entfernt sexuellen Gedanken nicht in Ordnung seien. Schwule Gedanken kamen ihnen gar nicht erst in den Sinn, mir dafür umso mehr.
Mein bester Freund im Kirchenferienlager war ein Junge namens Cody. Als ich fünfzehn war, zog er mit seiner Familie weg; ich weiß bis heute nicht, wohin. Cody und ich kannten uns schon ein paar Jahre, ehe wir Zimmergenossen im Ferienlager wurden. Es war unser letztes Jahr, wir waren siebzehn. Ich hatte die obere Koje, Cody die untere. Es gab noch drei weitere Etagenbetten im Zimmer, in denen andere Jungs unseres Alters lagen und uns die ganze Nacht mit widerlichen Furzgeräuschen und darauffolgendem wilden Gelächter wachhielten. Cody und ich hatten nie viel miteinander gesprochen, aber im Laufe dieser Sinfonie von Armbeugenfürzen verband uns beide der Wunsch, einfach nach Hause zu fahren.
Während unserer letzten Nacht im Lager gab es einen der Sommerstürme, dank derer der Mittlere Westen noch nicht zur Wüste geworden ist, und durch eine undichte Stelle im Dach der Hütte tropfte Wasser. Irgendwann wurde aus dem Tropfen ein richtiger Guss, der mir direkt auf den Kopf plätscherte. Ich stand auf und baute mir eine Pritsche auf dem Boden. Ich fand unter dem Waschbecken im Bad einen rostigen alten Eimer und stellte ihn auf die obere Koje, was dieses beruhigende Regengeräusch erzeugte, das man auf Meditations-CDs hören kann. Dann versuchte ich zu schlafen.
Ich wälzte mich auf dem kalten, harten Boden hin und her. Er bestand aus Holz und roch nach Jahrzehnten von käsigen Teenager-Füßen, die jeden Sommer darauf herumgetrampelt waren. Cody flüsterte mir in der Finsternis etwas zu.
»Pssst. Hey. Pssst.« Das Geräusch schien aus dem Nichts zu kommen.
»Ja?«, antwortete ich der Finsternis, die ganz nach einem Jungen meines Alters klang.
»Ich bin’s. Cody aus der unteren Koje.« Wir kannten uns einigermaßen. Wir waren keineswegs enge Freunde, aber doch vertraut genug, um einander an der Stimme und am Namen zu erkennen. »Wieso liegst du auf dem Boden?«
Ich erklärte ihm die Sache mit der undichten Stelle, und Cody bot mir an, in seinem Bett zu schlafen. Er schien keine Hintergedanken zu haben, weil ich nicht glaube, dass wir damals überhaupt wussten, was Hintergedanken sind. Ich nahm das Angebot sehr gerne an, da mir klar war, dass auf dem Boden eh nicht an Schlaf zu denken war.
Ich kroch in Codys Koje, die so klein und eng war, dass wir uns ein Kissen teilen mussten. Das war das erste Mal, dass ich mit einem anderen Menschen im selben Bett schlief, seit ich als Kleinkind unter Albträumen litt. Sein Atem klang schwer und sonderbar beruhigend, und er roch nach der Seife, die wir zu Hause in der Küche hatten. Sein sandblondes Haar war noch nass vom Duschen und das Kissen etwas feucht, aber das war mir egal – ich kam schließlich gerade aus dem schlimmsten Wasserbett der Geschichte.
Er sagte mir nicht gute Nacht, und ich merkte, dass er noch wach war. Ich konnte ihn zwar nicht sehen, doch ich spürte, dass er nicht schlief. Er drehte sich auf die Seite, und dabei streifte er meinen Rücken mit – wie sich später herausstellte – seinem erigierten Penis. Ohne weiter darüber nachzudenken, war auch mein Penis auf einmal erigiert. Und nun?
Nach ein oder zwei Augenblicken drehte er sich wieder um, und dieses Mal schien sein Penis noch steifer zu sein. Auch meiner wuchs, ich konnte spüren, wie er in meiner Unterhose das Gummiband dehnte. Ich rückte eine Spur näher an ihn ran, und unsere Schwänze berührten sich. Sie waren zwar durch die Unterwäsche und die Schlafanzüge voneinander getrennt, aber trotzdem – zwei harte Schwänze berührten sich, streckten sich nacheinander in der Dunkelheit. Er sagte kein Wort, ebenso wie ich, aber auf einmal führte er mich ins Bad.
Ich folgte ihm, und in der pechschwarzen Finsternis küssten wir uns. Erst ganz langsam und zart, dann immer fester, härter, leidenschaftlicher, ganz wie in den Filmen, die ich mir ohne Wissen meiner Eltern ansah. Er berührte meinen Penis nicht, und ich berührte seinen nicht. Wir standen bloß da, betasteten uns mit den Händen, entdeckten zum ersten Mal unsere Körper und fanden heraus, was Sex ist. Irgendwann legten wir uns auf die kalten, harten Kacheln des dunklen Badezimmers in einem Ferienlager irgendwo in Michigan – zwei Jungs, die sich küssten.
Am nächsten Tag redeten wir kein Wort über die Sache, und das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe.
Mir jagte dieser Augenblick keine Angst ein, ganz und gar nicht. Ich zog daraus eine Menge Selbstvertrauen, die endgültige Antwort auf eine Frage, die seit ich denken konnte in meinem Hinterkopf schwirrte. Ja, sagte ich mir, ich bin schwul. Ich zog aber keine Konsequenzen daraus, wenn man meinen Umzug nach Los Angeles im Jahr darauf nicht mitzählt. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, war das schon ziemlich schwul. Selbst nach drei Jahren in Los Angeles habe ich immer noch nichts anderes getan. Ich weiß auch nicht, worauf ich eigentlich warte; vielleicht habe ich Angst. So oder so, das Warten geht mir allmählich auf die Nerven.
Warum, frage ich mich, während ich auf die makellose Einfahrt des ›Beverly Hills Hotel‹ zusteuere, denke ich ausgerechnet jetzt an Cody, an jene Nacht und an unsere steifen Schwänze? Was hat all das mit meinem Interview mit Taylor Grayson zu tun? Und wieso, frage ich mich und schaue mir in den Schritt, habe ich gerade einen Mordsständer?
Das ›Beverly Hills Hotel‹ ist innen genauso prachtvoll wie außen. Das Innere kenne ich bislang nur deshalb, weil ich mir die DVD von Die Wilde von Beverly Hills mit Shelley Long gekauft habe … ich bin mir sicher, dass ich die meiner Freundin Melissa geliehen und nie zurückbekommen habe.
Die Anlage gleicht einem Garten voller Palmen und Blumen, die so hell und bunt sind wie die Kapuzenpullis von American Apparel – alles strahlt diesen Hollywood-Glamour aus, den man sonst nur im Kino erlebt. Überall schwirren Reporter, Fotografen, Kameraleute und Pressesprecherinnen herum – letztere meistens mit dicken blonden Zöpfen und der Art Blazer, die Glenn Close in der Serie Damages – Im Netz der Macht trägt. Ich finde das alles ziemlich einschüchternd, da ich keinen Schimmer habe, was ich hier eigentlich soll – und außerdem meine Erektion mit meiner Laptop-Tasche zu verbergen versuche.
Ich gehe zur Anmeldung. Eine sachliche Frau Mitte vierzig mit einer scheußlich hippen Katzenaugenbrille fragt, ohne von ihren Unterlagen aufzusehen: »Name?«
Ich gebe ihr alle relevanten Informationen und den Namen von Mattys Redakteur. Sie seufzt, als hätte ich sie um einen Karamell-Macchiato ohne Sahne gebeten, und trägt mich in eine Liste ein. Dann gibt sie mir meinen Presseausweis und sagt mir, ich solle im Ballsaal links warten.
Ich gehe in den Ballsaal, und sämtliche Augen im Raum richten sich auf mich. Für den Bruchteil einer Sekunde überlege ich, auf dem Absatz kehrtzumachen, aber stattdessen erspähe ich einen leeren Platz neben ein paar Fernsehreporterinnen, die viel zu viel Make-up und Kleider tragen, die offensichtlich wie wild gebügelt wurden. Als ich mich umschaue, merke ich, dass ich nicht nur der Jüngste im Saal bin (und zwar mit einem Abstand von mindestens anderthalb Jahrzehnten), sondern auch der am lässigsten Gekleidete. Die anderen sehen alle aus, als wollten sie sich bei einer Casting-Show vorstellen. Lauter Profireporter, die in mehr als einer Weise auf dieses Ereignis vorbereitet sind – etwa, indem sie eine Vorabpremiere des Films besucht haben oder nicht krampfhaft versuchen, unter ihrem MacBook einen Ständer zu verbergen. Ich gebe mein Bestes, mich nicht einschüchtern zu lassen, aber das ist schwer. Ich schlage eine gute Viertelstunde auf der Wikipedia-Seite von Taylor Grayson tot, ehe eine zierliche Frau, kaum älter als ich, auf mich zukommt und fragt: »Sind Sie vom Star Report?«
Sie reißt mich aus meiner Taylor-Grayson-Träumerei. Erst starre ich sie nur mit leeren Augen an, bis mir einfällt, dass ich in der Tat vom Star Report bin. Sie weist mich an, ihr und ein paar anderen, die sie versammelt hat, ins siebte Stockwerk zu folgen. Ich trabe einer Herde blonder Reporterinnen und Typen mit riesigen falschen Zähnen und orangerotem Teint hinterher. Wir zwängen uns in den Fahrstuhl, und ich halte den Mund, während die anderen über diverse Kollegen und Promis lästern. Jemand fragt jemanden was über die Schönheits-OP von jemandem, die von jemandes Ehemann gemacht worden ist, und jeder in diesem Aufzug scheint zu wissen, worum es geht – oder sie sind alle sehr gut darin, so zu tun, als ob.
Die Tür öffnet sich, wir sind im siebten Stock und gehen in den Flur. Man sagt mir, dass ich nach dem Mann vor mir an der Reihe sei, und ich solle mich bereithalten, jeden Moment aufgerufen zu werden. Seit ich in Hollywood lebe, weiß ich, dass niemand Hollywood so ernst nimmt wie Hollywood selbst. Die Reporter, Fotografen und Pressesprecher in diesem Hotel strahlen eine Nervosität und Anspannung aus, die eher bei einer Hirnoperation angebracht wäre. Ein Teil von mir will den Zappelphilipp von einem Nachrichtensprecher neben mir packen und sagen: »Hey, das ist doch bloß ein Filmstar.« Aber das tue ich nicht, weil ich selbst viel zu nervös bin. Ein bisschen Hollywood hat wohl schon auf mich abgefärbt.
Genau in diesem Moment öffnet eine sehr große, bedrohlich wirkende Frau mit pechschwarzem Haar, einem schwarzen Hosenanzug und einem Gesicht, das so oft überarbeitet wurde, dass man sie für alles zwischen fünfunddreißig und postapokalyptischem Zombie halten könnte, die schimmernde Eichentür zum Hotelzimmer. Sie zeigt mit einem langen, dürren Finger auf mich, und ich sehe mich um.
»Ich?«, frage ich.
Sie verdreht die Augen. »Ja, Sie. Kommen Sie rein.«
Sie führt mich im Eiltempo in die prächtige Hotelsuite. Verschnörkelte Möbel und Kunstwerke verleihen dem Raum etwas von einem Museum. Neben zwei Stühlen, die sich gegenüberstehen, befinden sich riesige grelle Scheinwerfer und Kameras zu jeder Seite. Für den unbeteiligten Zuschauer sieht es mehr nach einem extrem förmlichen Polizeiverhör als nach einem Promi-Interview aus.
Die Stühle sind leer. Die Frau weist mich an, auf einem davon Platz zu nehmen. Sofort wird ein Mikrofon an meiner Jacke befestigt, und ein Mann, der wie mein Chemielehrer in der siebten Klasse riecht, greift mir ohne zu fragen ins Hemd, um das Kabel zu verbergen. Das passiert alles so schnell, dass ich nicht mal merke, wie Taylor Grayson sich mir gegenüber hinsetzt, bis ich mich umdrehe.
Ich war noch nie in Europa. Ich habe einen Reisepass, den ich bislang aber nur für Kanada gebraucht habe. Und selbst das waren bloß vierundzwanzig Stunden, um meiner Cousine beim Umzug ins Studentenwohnheim zu helfen, und drei Stunden davon gingen dafür drauf, in einem Walmart Lebensmittel für sie zu kaufen. Ich kenne eine Menge Leute, die schon in Europa waren, und sie waren danach immer ganz hin und weg von der Aura, den prächtigen, riesigen Bauwerken, den malerischen Straßen voller wunderschöner Statuen, Menschen, Kathedralen und Denkmäler. Sie sagen alle dasselbe: Es hat mir den Atem verschlagen, und seitdem sehe ich die Welt mit anderen Augen.
Ich habe noch nie so etwas erlebt – bis jetzt.
Taylor Grayson ist makellos. Wirklich. Weder die Magazine noch die Filme werden ihm gerecht. Er hat eines dieser Gesichter, mit denen man fünfzehn Millionen pro Film verdient, und Brustmuskeln, die mindestens zwanzig wert sind. Er ist viel größer und breiter, als ich es erwartet hatte, aber das liegt allein an den Muskeln – das einzige, was an Taylor Grayson fett ist, ist die schwere Silberuhr an seinem rechten Handgelenk, die wahrscheinlich mehr kostet als meine gesamte Jahresmiete. Sein Gesicht sieht aus wie gemalt, die Kieferpartie wie von einem Meisterbildhauer gemeißelt. Und sein Kinn. Oh, sein Kinn! Es sticht ein wenig hervor, absolut perfekt, und es hat ein Grübchen, ein kleines, niedliches Grübchen genau in der Mitte. Zwei weitere Grübchen umrahmen sein vollkommenes Lächeln, und wenn ich vollkommenes Lächeln sage, dann meine ich auch vollkommenes Lächeln. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Zähne derart gerade und weiß sein können. Sie funkeln buchstäblich, wie bei einem Prinzen in einem Disney-Film oder in einer Kaugummiwerbung, und einen Moment lang überlege ich, ob Taylor Grayson nicht mal einem Disney-Prinzen die Stimme geliehen oder in einer Kaugummiwerbung mitgewirkt hat. Ich gehe eine Liste von Zeichentrickprinzen in meinem Kopf durch, und ehe ich weiter als Aladdin gekommen bin, spricht er.
»Hi, ich bin Taylor. Freut mich.« Er nimmt meine Hand und schüttelt sie mit einem Griff, der fest ist, aber nicht auf eine ›Ich bin ein echter Kerl‹-Art. Ein fester, souveräner Griff, aber nicht überwältigend. Er wirkt – wie so ziemlich alles an Taylor Grayson – einfach nur sexy. Ich begegne seinem Blick und schlucke hörbar, überspiele das aber sofort mit einem Husten.