Barış Uygur
Flucht aus dem Höllenhof
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel
Cehennem Çiftliğinden Kaçış
© İletişim Yayıncılık, 2011
Mit Unterstützung des Programms
»Kultur 2007-2013« der Europäischen Union
Deutsche Erstausgabe
© 2015 binooki OHG, Berlin
www.binooki.com
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2015
Lektorat: Erhard Waldner
Satz: Erhard Waldner
Umschlaggestaltung: Josephine Rank
ISBN 978-3-943562-48-4
Zur Aussprache des Türkischen
c |
wie dsch in Dschungel |
ç |
wie tsch in Kutsche |
ğ |
weiches, nicht hörbares g; |
ı |
kurzes i wie das e in Katze |
s |
stimmloses s wie in Maus |
ş |
wie sch in Schmaus |
z |
stimmhaftes s wie in Hase |
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Kapitel XV
Kapitel XVI
Kapitel XVII
Kapitel XVIII
Kapitel XIX
Kapitel XX
Kapitel XXI
Kapitel XXII
Kapitel XXIII
Kapitel XXIV
Kapitel XXV
Kapitel XXVI
Kapitel XXVII
Kapitel XXVIII
Kapitel XXIX
Kapitel XXX
Kapitel XXXI
Kapitel XXXII
Glossar
Das Telefon klingelte. Normalerweise ist das keine Sache, auf der man lange herumreiten muss, aber für mich war das etwas völlig Neues. Ich selbst telefoniere nur, um beim Krämer etwas zu bestellen, und angerufen werde ich auch nicht öfter als Süleyman Demirel nach der Beendigung seiner politischen Laufbahn. Obendrein habe ich auch keinen Getreuen wie den Journalisten Yavuz Donat, der mich permanent angerufen hätte.
Dennoch bekomme ich immerhin einen oder zwei Anrufe pro Monat, und jedes Mal bin ich rechtschaffen erstaunt. Diesmal gab es allerdings einen zusätzlichen Grund zum Staunen. Einige Tage zuvor hatte ich den Hörer abgehoben, um beim Krämer eine Bestellung aufzugeben, da eröffnete mir die Frauenstimme, die ich am häufigsten an der Strippe hatte, mein Anschluss sei wegen einer nicht bezahlten Rechnung gesperrt und ich müsste mich für die Freischaltung an die Telekom in Bakırköy wenden. Eine Sperrung wegen offener Rechnung bedeutete, dass ich kein Geld hatte. Natürlich hatte ich Geld für schlechte Zeiten zurückgelegt, aber das Leben hatte mich gelehrt, dass es weitaus schlechtere Zeiten gab als solche mit gesperrtem Telefon. Meinen Notgroschen rühre ich wirklich nur in Notzeiten an.
Ich merke schon, ich schweife vom Thema ab. Aber was will man machen – Leute, die nichts Interessantes zu erzählen haben, sind immer ein wenig redselig. Wo waren wir stehengeblieben? Das Telefon klingelte, und ich hob ab.
»Süreyya?«
»Ja?«
»Ich bin’s, Cemil. Wie geht’s, mein Jahrgangskamerad?«
Cemil. Manchmal lesen wir doch in einem Roman, dass eine Stimme oder ein Bild einen in die Vergangenheit führt oder darüber nachdenken lässt, was aus einem geworden ist. Genauso war das. Mein Jahrgangskamerad! So sprach man einen Mitschüler aus der Polizei- oder Militärakademie an. Ich schwöre, dass ich kein einziges Mal in meinem ganzen Leben einen Mitschüler mein Jahrgangskamerad genannt habe. Mich stört es zwar nicht, wenn man mich so betitelt, aber für mich ist es jedes Mal eine sinnlose Betonung von Nähe. Eine Gemeinschaft, die man sich nicht ausgesucht hat. Klar, mit manchen Mitschülern versteht man sich gut, aber Jahrgangskameraden sind eben weitaus mehr. Bislang habe ich niemanden mehr gemocht, nur weil er mit mir in dieselbe Klasse ging. Aber wie es aussah, verwendete Cemil diesen schönen Ausdruck noch immer.
Zum Glück gehörte Cemil zu der Handvoll Leute, mit denen ich mich gut verstand. Zwar hatte ich seit Jahren nichts von ihm gehört, und ich hatte auch schon die eine oder andere Vorstellung, warum das so war. Als er seine Anrufe einstellte, machte ich mir aber nicht sonderlich viel Gedanken. Ich mache mir ohnehin über nichts sonderlich viel Gedanken. Aber natürlich konnte ich auch nicht einfach den Hörer aufknallen.
»Cemil? Hallo, eigentlich sollte ich fragen, wie’s dir geht. Wie viele Jahre ist es her?«
»Schon einige. Nimm’s mir nicht übel, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Aber du bist selbst eine treulose Tomate; seit du weg bist, hast du kein einziges Mal von dir hören lassen!«
»So ist das Leben! In der Hektik kommt man einfach zu nichts. Und ihr werdet andauernd versetzt, da kann man nie wissen, wo ihr gerade seid. Ich bin immer noch da, wo ich war.«
»Ich weiß schon, dass es meine Schuld ist. Wobei – als du von der Polizei weggingst, hattest du nicht mal Telefon, und auch jetzt war es schwer, dich zu finden. Gottlob stehst du im Telefonverzeichnis.«
»Das wusste ich gar nicht. Gibt es immer noch Telefonbücher?«
»Natürlich nicht mehr in gedruckter Form, zumindest nicht, dass ich wüsste. Mann, du bist vielleicht ein Typ! Nun ja, mittlerweile geht man ins Internet. Aber wer weiß, vielleicht hast du auch kein Internet zu Hause. Zuerst hab ich dich auf Facebook gesucht, und als ich dich dort nicht finden konnte, kam ich auf die Idee, in der Telefonauskunft nachzusehen.«
»Ich besitze keinen Computer und wüsste auch nicht, was ich damit anfangen sollte.«
»Du musst dir einen kaufen, Jahrgangskamerad. In unserem Zeitalter …«
»Ehm, wahrscheinlich sollte ich mir einen kaufen. An einem der nächsten Tage.«
»Wie auch immer. Es ist nicht leicht, so abrupt zum Thema zu kommen, aber in Anbetracht unserer Freundschaft verzeih mir bitte, denn ich muss etwas mit dir besprechen.«
»Schieß los, ich höre.«
»Eigentlich … Kannst du heute Abend zu uns kommen? Wenn du nichts anderes vorhast, natürlich.«
»Nein. Also, ich habe nichts vor, aber können wir das nicht am Telefon erledigen?«
»Abi, wie soll ich sagen? Ich weiß nicht, erinnerst du dich noch? Und raus bist du.«
Ich hielt inne und versuchte zu verstehen, was Cemil meinte.
»Früher sagten wir doch immer: ›Und raus bist du.‹ Das meine ich.«
Wie es aussah, hatte ich keine andere Wahl, als mich mit Cemil zu treffen.
»Okay, dann komme ich. Wo wohnst du?«
»Ganz in der Nähe. Laut Telefonauskunft ist deine Adresse in Zeytinburnu, und da wohnst du immer noch, nicht wahr?«
»Ja.«
»Na prima. Und ich wohne in Yeşilköy. Ich beschreibe dir den Weg. Wie kommst du? Hast du ein Auto?«
»Ich habe kein Auto, ich brauche auch keins, ich spring in den Zug, drei Stationen, und schon bin ich da.«
»Vier Stationen.«
»Zähl Yenimahalle nicht mit. Wenn es ein langer Zug ist, steht die Lok in Yenimahalle und der letzte Waggon in Bakırköy.«
Er lachte. Das leicht gezwungene Lachen eines sorgenvollen Mannes, der meinte, lachen zu müssen, obwohl ihm gar nicht danach zumute war.
»Okay, du steigst in Yeşilköy aus, dann gehst du Richtung Migros und biegst gleich ab in die erste, das ist die Mahmut Şevket Paşa-Straße. Ach was, egal, ruf an, wenn du aussteigst, dann hole ich dich ab. Warte, ich gebe dir meine Handynummer.«
»Nee, es reicht, wenn du mir die Hausnummer gibst, ich besitze kein Handy.«
»Süreyya, was bist du für ein Typ! Kein Handy, kein Internet. Okay, schreib auf.«
Ich notierte die Adresse auf einen Zettel, den ich in der Unordnung neben dem Telefon fand, und fragte ihn, wann ich kommen sollte.
»Am Abend eben. So gegen halb neun.«
»Okay, ich komme nach dem Abendessen.«
»Nein, nein, komm zum Essen. Oder hast du etwa geheiratet?«
»Nee, was hat das denn damit zu tun?«
»Na, weil du nach dem Essen gesagt hast. Iss bloß nichts vorher. Gülseren weiß, dass ich dich einladen werde, sie kocht bestimmt gerade was Schönes für dich. Dann kannst du mal was Gutes, Hausgemachtes genießen, mein Jahrgangskamerad.«
Ich bin Wie-geht’s-wie-steht’s-Anrufe nach jahrelanger Funkstille nicht gewöhnt. Gleich nachdem ich aufgelegt hatte, befiel mich eine innere Unruhe. Am Abend war ich zu Gast bei einer Familie. Ein unglückseliger Fremder betrat jenen heiligen Tempel aus Mutter, Vater und Kindern, und nachdem er wieder weg war, konnte man ihn den Kindern als abschreckendes Beispiel vor Augen führen. Gülseren und Cemil hatten eine Tochter, die mittlerweile mit der Schule fertig sein musste und die ich natürlich auch seit Jahren nicht gesehen hatte.
Ich hätte Cemils Problem, was immer es auch war, zu gern am Telefon gelöst, aber er hatte den magischen Satz aus unserer Zeit an der Polizeiakademie gesagt: Und raus bist du.
Damals benutzten wir diesen Satz als eine Art Geheimparole, wenn wir Probleme unter uns besprechen wollten, über deren Unwichtigkeit ich heute nur noch erstaunt schmunzeln würde, oder wenn sich jemand in unserer Nähe befand, der unser Gespräch nicht mitkriegen sollte. Sobald einer »Und raus bist du!« sagte, wussten alle sofort, dass sie zu verstummen hatten, und wechselten elegant das Thema. Und raus bist du … Es musste sich tatsächlich um eine Angelegenheit handeln, die man nicht am Telefon besprechen konnte. Mir wäre lieber gewesen, wenn Cemil mich irgendwo anders hingebeten hätte, aber es hatte keinen Sinn, zu insistieren. Allem Anschein nach war sein Zuhause der einzige Ort, an dem er über das Problem reden konnte. Ich glaubte nämlich nicht, dass Cemil daraufbrannte, mich daheim zu bewirten.
Während ich in den Spiegel des Flurschranks blickte, um zu entscheiden, ob es für das Abendessen einer Rasur bedurfte, dachte ich an Gülseren, Cemil und ihre kleine Tochter. Ich versuchte mich an ihren Namen zu erinnern, aber er fiel mir nicht ein. Mit einem Mal kam ich mir im Spiegel noch älter vor. Auch ich hätte ein Kind in ihrem Alter haben können. Aber es hatte nicht sollen sein. Wie anders wäre alles gelaufen, hätten nicht Lethargie und Verdruss oder wie immer man es nennen will mich davon abgehalten, ein halbwegs vernünftiger Mann zu werden. Dann fiel mir ein, dass ich mich mit dem, was ich war, zufrieden geben musste, weil ich ohnehin nichts anderes mehr werden konnte, und ging ins Bad, um mich zu rasieren.
Offen gestanden war ich neugierig, was Cemil von mir wollte. Selbst wenn es nötig gewesen wäre, hätte er sich von mir wohl kaum die Wohnung frisch streichen lassen, denn er gehörte zu den vielen alten Bekannten, die meinten, ein solches Angebot verletzte meinen Stolz. Wenn sie wüssten, dass sie mich mehr als glücklich machen würden, würden meine Geschäfte besser florieren, aber die Leute schämen sich eben davor, mich das machen zu lassen, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene.
Ich musste zu ihm, wenn auch gegen meinen Willen. Die Lage war offensichtlich ernst. Cemil war noch immer im aktiven Polizeidienst, mittlerweile musste er Hauptkommissar und Revierleiter sein. Es sei denn, er hätte eine steile Karriere hingelegt. Ich glaubte allerdings nicht, dass Cemil sich in Bezug auf Beförderungen allzu stark von mir unterschied. Karrieristen erkennt man auf den ersten Blick. Spätzünder brauchten andere Verbindungen, und weder Cemil noch ich waren intelligent genug, um über solche Verbindungen zu verfügen.
Im Polizeidienst hatte ich mich bei den Lobbyarbeiten im Vorfeld der Beförderungen immer wie ein Kind gefühlt, das irgendwie zwischen die Erwachsenen geraten war. Die Gerüchteküche brodelte, und ich begriff nicht einmal, welche Süppchen zu welchem Zweck da gekocht wurden. »Was kapierst du daran nicht? Der Typ gehörte zu Hauptkommissar Hamdis Team, und um sich jetzt beim neuen Team einzuschleimen, verrät er seinen alten Teamkollegen Kommissar Kemal.« Solche und ähnliche Erklärungen gab mir hin und wieder ein Kollege, aber mir wollte es trotzdem nicht in den Kopf. Ich gehörte zu niemandes Team, weswegen jedes Team meinte, ich gehörte zu dem jeweils anderen, und man sich mir dementsprechend mit Vorsicht näherte.
Der eine oder andere vermochte auch Karriere zu machen, indem er sich mal in diesem, mal in jenem Team einschmeichelte, ohne sich ihnen anzuschließen. Mich aber interessierte das Ganze gar nicht. Weder liebte ich meine Arbeit noch floss einem nach einer Beförderung wesentlich mehr Gehalt in die Taschen. Natürlich kamen einem manche Anteile zugute und eröffneten einem andere Einkommensquellen, aber auch wenn ich diese Anteile niemals ablehnte, so mochte ich sie nicht. Ich nahm immer nur das, was man mir anbot, will heißen, ich war gezwungen, es zu nehmen.
Nimmst du das Angebot nicht an, giltst du bei allen als potentieller Denunziant, und deine Tage sind gezählt. Deshalb hatte ich auch keine Chance, abzulehnen. Ich leistete meinen Pflichtdienst ab, und als ich ausscheiden konnte, ohne eine Entschädigung zahlen zu müssen, ging ich durch die Hintertür nach Hause. Ich hatte weder Geld auf dem Konto noch unter dem Kopfkissen. Ich hätte den Dienst vielleicht ein oder zwei Jahre früher quittieren können, denn mit jedem Jahr sank die Entschädigungssumme, aber ich wollte eben nicht draufzahlen.
Hätte ich bloß bezahlt, sage ich mir manchmal, aber dann denke ich wieder, was es denn an meinem Leben geändert hätte. Wahrscheinlich gar nichts, denn seit meinem Ausscheiden lebe ich einfach so vor mich hin. Ich gehe keiner geregelten Arbeit nach. Jahrelang missfiel es mir, eine geregelte Arbeit zu haben, und auch jetzt will ich keine. Ich mag es, aufzustehen, wenn ich wach werde, und tun zu können, was und wann ich will. Ob ich viel tue? Leider nicht. Aber es gefällt mir, zu Hause zwei Eier in die Pfanne zu hauen, danach rauszugehen und beim Spaziergang am Ufer meine Zigarette zu rauchen oder im Teegarten zu sitzen und das Meer, die Umgebung und die Menschen zu betrachten.
Manchmal, insbesondere wenn es für den Spaziergang zu kalt ist, gehe ich in die Volksbücherei. Ich begebe mich direkt ins Zeitungsarchiv, greife aufs Geratewohl nach einem Band und vertiefe mich in die Seiten. Obwohl ich normalerweise keine aktuellen Zeitungen lese, mag ich alte Ausgaben. An manche Ereignisse erinnere ich mich dann, als wären sie gestern passiert, andere scheinen mir ewig lange her. Das Gedächtnis ist ein merkwürdiges Ding. Manche Erinnerungen behält es irgendwie in der Nähe, andere wiederum hält es von sich fern. Man bekommt das Gefühl, das Gelesene gehörte in eine andere Welt. Wie der erste Satz eines Romans, der mir in der Bücherei zufällig in die Hände fällt, ist es, als berichteten alte Zeitungen über eine ferne Welt.
Neben Spaziergängen am Meer und dem Durchblättern alter Zeitungsbände sehe ich wie alle jede Menge fern. Sollte der Fernseher nicht ohnehin noch von letzter Nacht laufen, schalte ich ihn gleich nach dem Aufstehen ein. Ein Mann oder eine Frau redet über in der Regel banale Dinge. Beim Zusehen spüre ich, wie sich mein Kopf leert und ich mich entspanne.
Natürlich besteht mein Leben nicht nur aus dolce far niente. Von irgendetwas muss der Mensch leben. Da ich vor dem Erreichen meiner Pensionsberechtigung aus dem Dienst ausgeschieden bin, bekomme ich keine Pension. Hätte ich mich irgendwo sozialversichert oder die Prämien selbst eingezahlt, könnte ich inzwischen vielleicht eine Rente beziehen, aber ich bin keiner, der in einem Brief an den Zeitungs-Fachexperten Ali Tezel fragt, wie das funktioniert.
Allzu schlecht geht es mir übrigens nicht. Wenigstens zahle ich keine Miete; meine Keller- oder im Makler-Sprech Souterrainwohnung habe ich von meinen Eltern geerbt. Ich liebe den unverbesserlichen Optimismus der Immobilienmakler. Menschen wie jene Makler, die eine Wohnung wie die meine als »Gepflegtes Objekt mit ebenerdigem Eingang in vornehmem Appartmenthaus« annoncieren, erkennen wohl in allem etwas Schönes. Andernfalls wäre es ihnen kaum möglich, eine Zweieinhalbzimmer-Kellerwohnung zu verkaufen, die zu allen Jahreszeiten feucht ist und deren Wände Risse vom großen Erdbeben des 17. August 1999 aufweisen.
Beim Krämer unseres Viertels hatte ich jede Menge anschreiben lassen. Zwar begleiche ich hin und wieder meine Schulden, aber meistens schwellen meine Außenstände auf ein Niveau an, als könnte ich sie niemals zurückzahlen. Und auch wenn der Krämer befürchtet, dass ich mein Schuldenkonto nie schließen werde, hält er sich bedeckt, weil er vor Jahren während eines Disputs mit mir körperliche Schäden einstecken musste. Ohnehin hat er immer weniger Kunden, denn jeder besitzt eine Kreditkarte und kauft im Supermarkt ein.
Wenn ich sage, dass jeder eine Kreditkarte besitzt, so zähle ich mich dabei nicht mit. Obwohl die Banken eine Zeit lang ihren Verstand so weit verloren hatten, sogar mir eine zu geben. Die Garanti Bankası hatte vor ein paar Jahren begonnen, jedem Dahergelaufenen eine Kreditkarte in die Hand zu drücken, und, weil ich dort ein Konto besaß, auch mir eine zugeschickt, wobei ich gar keine beantragt hatte. Klar hatte ich das Limit schnell erreicht, und als ich eines Tages einkaufen wollte, bat mich die Kassiererin, doch bitte bar zu bezahlen. Beschämt ließ ich meine Einkäufe dort liegen, weil ich nicht genügend Geld dabei hatte, rannte aus dem Laden, zerbrach die Karte und warf sie weg. Später suchte ich die Bank auf und kündigte die Karte, wobei es Stunden dauern dürfte zu erzählen, wie mir das gelang. Seitdem besaß ich nie wieder eine Kreditkarte und werde wohl auch in Zukunft keine besitzen.
Wie ich meine Außenstände beim Krämer, wenn auch nur gelegentlich, begleiche? Oder in einer Kneipe sitzen kann, an deren Wand geschrieben steht: Nur Bares ist Wahres? Natürlich, indem ich arbeite. Aber eben nur gerade so viel, dass es reicht. Putz- und Malerarbeiten, Reparaturen, Umbauten, was immer einem in den Sinn kommt. Früher half ich meinem Freund Ömer Umutlu ab und an bei Stuckarbeiten, aber leider verstarb er vor vier Jahren. Da ich mich außerdem ein wenig in der Bürokratie auskenne, kümmere ich mich für einige Bekannte um ihre Angelegenheiten beim Grundbuchamt oder bei der Stadtverwaltung.
Dass ich mich gekonnt auf dem bürokratischen Parkett bewege, rührt natürlich von meiner langjährigen Tätigkeit bei der Polizei her. Will heißen, dass man zur rechten Zeit der richtigen Person den korrekten Betrag zu geben versteht. Dank meiner bescheidenen Kenntnisse bezüglich der Verhandel- beziehungsweise Nichtverhandelbarkeit von Schmier- oder Bestechungsgeldern und der maximal zu zahlenden Summe für jede einzelne Dienstleistung kann ich die Vorgänge für meine Auftraggeber weitaus günstiger erledigen. Dankenswerterweise versäumen sie wiederum nicht, mir einen Teil der gesparten Summe zukommen zu lassen. Da ich immer wieder in den selben Ämtern zu tun habe, gewähren mir die Beamten, das muss ich hinzufügen, einen »Mengenrabatt«. Von jemandem, der alle Schaltjahre vorbeikommt, verlangen sie fünfhundert Lira, aber für einen Stammkunden erledigen sie dieselbe Arbeit für hundert, manchmal sogar für fünfzig oder für ein Mittagessen im Kebaphaus an der Ecke. Das meine ich mit Sich gekonnt auf dem bürokratischen Parkett bewegen. Ein Schritt weiter, und ich wäre Politiker.
Auch wenn das Geld nicht in Strömen fließt, so verhindern diese tröpfchenweise eingehenden Beträge ein allzu heftiges Anwachsen meiner Außenstände. Zum Glück bin ich nicht auf Hilfe angewiesen, und Gott muss sein demütiges Schäfchen schon sehr lieben, denn nie wurde ich ernsthaft krank. In dem Fall wäre ich wirklich erledigt. So begabt ich in handwerklichen Dingen auch bin, so unfähig bin ich, mein Leben zu ordnen, frei nach dem Sprichwort: Die Schuster tragen die schlechtesten Schuhe. Eine Sozialkarte für Mittellose etwa würde ich wahrscheinlich bekommen, denn bestimmt kann man irgendwie verheimlichen, dass man Wohnungsbesitzer ist, aber ob Sie es glauben oder nicht, ich bringe es einfach nicht über mich. Anstatt mich darum zu bemühen, sehe ich lieber zu, dass ich nicht krank werde. Nach dem Duschen verlasse ich das Haus nicht, und falls ich nicht gerade unter Leute muss, etwas zu erledigen habe oder in die Bibliothek gehe, vertage ich sogar das Duschen.
Meinen Notgroschen habe ich ja schon erwähnt. Ich besitze einen Betrag unter dem Kopfkissen, den ich nie anrühre und, falls doch, sofort wieder ersetze. Das Geld liegt tatsächlich unter den Kissen, im Schrank. Mir ist es egal, dass ein Einbrecher zuallererst dort nachsehen würde. Mir wäre ohnehin lieber, wenn der Typ, der auf die Idee kommt, mich auszurauben, die Sache erledigt und gleich wieder verschwindet, ohne die Wohnung sonderlich auseinanderzunehmen.
Neben all dem – wobei all dem den größten Teil meines Lebens ausmacht – verrichte ich das, was manche gern Detektivarbeit nennen. Natürlich stelle ich mich bei niemandem als Detektiv vor, denn ich möchte nicht, dass sich das herumspricht. In der Türkei sind private Detekteien nämlich illegal, und auch wenn ein paar Armleuchter behaupten, sie betrieben Privatdetekteien unter dem Deckmantel von Büros für Personenschutz und Observation, so darf eigentlich niemand dieser Profession nachgehen.
Zunächst einmal ist jeder, der in eine Polizeiermittlung involviert ist, automatisch ein Verdächtiger. Einer, der Fragen stellt, hat in der Regel etwas mit der Sache zu tun und kann, ohne der Täter zu sein, für die Tätersuche nützliche Informationen liefern. Auch wenn er sich dessen selbst nicht bewusst ist. Von dieser Warte aus wurde uns angeraten, in jedem, der sich in eine Ermittlung einmischt, einen Verdächtigen zu sehen. Beispielsweise überprüft man jede einzelne Telefonnummer, die ein Mordopfer bei sich führt. In einem Mordfall ist jeder verdächtig, und man holt so viele Aussagen ein wie möglich. Ich weiß nicht, wie es heute läuft, aber diese Aussagen werden nicht, wie man im Fernsehen immer sieht, eingeholt, während eine Reihe von Leuten hinter verspiegelten Scheiben zuschauen. Man ist allein mit dem Verdächtigen; manchmal muss man ihn ein wenig bearbeiten. Manchmal genügt es sogar, wenn man diese Möglichkeit nur andeutet.
Ich erzähle das nicht, um mich zu verteidigen, sondern damit Sie wissen, wie es – zumindest zu meiner Zeit – bei der Polizei ablief. Nie bereitete es mir wie manch anderen Vergnügen, und ich kann mit Stolz behaupten, dass ich auch nie jemanden bearbeiten musste. Angedeutet habe ich es allerdings schon. Eine der einfachsten Methoden, den Täter zu fassen, besteht darin, auf Unschuldige Druck auszuüben und sie so zum Reden zu bringen.
Einer, der zu Unrecht beschuldigt wird, sagt alles, was ihm in den Sinn kommt, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Er redet pausenlos. Er gerät immer mehr außer Fassung. Auch wenn er jemanden zu schützen versucht, verrät er ihn. Wahre Täter verlieren nicht so leicht die Beherrschung, sondern wiederholen mit Geduld und Nachdruck immer dieselbe Geschichte. Ein Profi weiß, dass er sich an manche Details erinnern und andere wiederum vergessen muss, aber in Gottes Namen, keiner hat die Schauspielschule absolviert, und genau deshalb verraten sie sich so oft. Wenn man jahrelang Verhören beigewohnt hat, begreift man besser, dass die Schauspielkunst eine Gabe ist, die wirklich nur wenigen Menschen in die Wiege gelegt wird. Natürlich werden uns auch ein paar Robert De Niros durch die Lappen gegangen sein, aber es werden nicht viele die Karriere eines Berufskriminellen dem Schauspielerberuf vorgezogen haben.
Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass jemand, der in einem nicht abgeschlossenen Fall recherchiert, recht bald als Täter verhört wird. Journalisten natürlich ausgenommen. Wobei Journalisten ihre Recherchen dank mancher Schwergewichte machen, und es ist ein Rätsel, inwieweit sie Journalisten sind und inwieweit Polizisten. Ich weiß nicht, ob es Reporter wie Tim gibt. Falls ja, weiß ich auch nicht, inwieweit Tim Reporter ist und inwieweit Polizist. Mit seinem netten Hund hat er nichts mit den Polizeireportern gemein, die ich so kenne, aber selbst in Tims Fall ist und bleibt ein Polizeireporter für mich ein Polizeireporter, und was das bedeutet, wissen Polizisten am besten.
Ohnehin werden fast alle Morde noch vor ihrer Entdeckung dadurch gelöst, dass der Täter sich stellt. Die restlichen Morde werden größtenteils von Nachbarn, Freunden oder Menschen aus der näheren Umgebung begangen, und die Aufdeckung lässt nicht lange auf sich warten. Fälle wie in Kriminalfilmen, bei denen die Polizei den Mörder jagt, sind selten. Und Polizisten mögen es gar nicht, wenn Neugierige von außen sich in Fälle einmischen, die alle Jubeljahre einmal dafür sorgen, sich wie ein Polizist zu fühlen.
Dann gibt es natürlich noch die als ungelöst deklarierten Mordfälle. Ein einziger Blick auf die Identität des Opfers genügt, und sofort kann man sich eine Vorstellung vom Täter machen, bis hin zu seiner Schuhgröße. Das ist es, was man in der Türkei unter dem Begriff ungelöste Mordfälle versteht. Und nicht etwa Fälle, die tatsächlich ungelöst sind.
Was ich sagen möchte, ist, dass ich hin und wieder Aufträge erledige, die der Arbeit eines Detektivs ähneln, was aber nicht etwa bedeutet, dass ich Mordfälle aufkläre oder Schmuggelringe auffliegen lasse. Vielmehr kümmere ich mich um Bereiche, die für die Polizei unwichtig sind oder deren Untersuchung unnötig erscheint. Um Kinder, die von zu Hause abhauen und bei denen die Polizei nichts tut, weil sie volljährig sind, oder deren Verschwinden, obwohl sie minderjährig sind, von den Familien aus unterschiedlichen Gründen nicht bei der Polizei angezeigt wird; um Ehepartner, die von der Bildfläche verschwunden sind, und um Menschen, deren Tod die Polizei nicht die Bohne interessiert.
Deswegen schlug ich mir den Gedanken aus dem Kopf, mein Jahrgangskamerad Cemil könnte mir einen Job anbieten. Ein langjähriger Kommissar würde eine polizeiliche Angelegenheit, die er selbst nicht lösen konnte, doch sicher nicht mit einem alten Kollegen besprechen wollen.
Abends gegen acht zog ich mich an, schloss die Tür hinter mir und ging los. Es war nur ein Besuch bei einem alten Freund, was denn sonst?
Yeşilköy ist einer meiner Lieblingsstadtteile. Zunächst einmal macht er seinem Namen, der ein grünes Dorf verheißt, alle Ehre, woran man in Istanbul eher nicht gewöhnt ist. Das Cennet-Viertel gleicht einer Hölle, und Sie finden weder Licht in Nurtepe noch in Gültepe Rosen. Manche dieser Namen mögen in der Vergangenheit die Realität widergespiegelt haben, doch inzwischen wird weder am Taksim die Verteilung des Leitungswassers vorgenommen noch beginnen in Tarlabaşı die Felder, ganz zu schweigen von Sıraselviler, das Reihen von Zypressen verspricht, obwohl keine einzige mehr existiert.
Ich kann verstehen, dass die alten Namen ihre Gültigkeit verlieren. Okay, einst gab es in Incirli Feigenbäume und in Bağlarbaşı Obstgärten, aber die neuen Namen zu begreifen ist schlichtweg unmöglich. Um Gottes willen, welche Idee war schon in Fikirtepe, dem Ideenhügel, entstanden, oder wer hatte in Güngören schöne Tage erlebt? Wer hätte gedacht, dass an einem Ort wie Sefaköy, der Lust verheißt, eher Frust herrscht? Oder in einem Viertel wie Ferahevler nicht Leichtigkeit, sondern vielmehr Verdruss?
Yeşilköy macht seinem Namen alle Ehre, und das, obwohl ihm der Name erst im Nachhinein gegeben wurde. Wenigstens ließ man sich bei der Namensänderung nicht zu phonetisch ähnlich klingenden Erfindungen hinreißen, sondern richtete sich nach der Optik des Stadtteils. So wie aus Makrihori Bakırköy wurde, wäre am Ende aus Ayastefanos, Yeşilköys altem Namen, womöglich Ayvalısonstwas geworden. Gleichwohl ist es ein Viertel, in dem ich so wie in allen meinen übrigen Lieblingsvierteln nicht wohnen kann. Auch wenn die Preise nach dem Erdbeben vom 17. August 1999 ein wenig fielen, blieben sie immer hoch. Wenn ich Miete zahlen müsste, hätte man mich längst vor den Kadi gezerrt, deshalb fällt es mir nicht im Traum ein, hierherzuziehen. Manchmal steige ich in Zeytinburnu mit Kindern, die zum Schwimmen im Meer nach Yeşilköy fahren, in den Zug, gehe am Strand spazieren, gönne mir gelegentlich etwas in der winzigen Kneipe der Fischerkooperative oder, wenn ich mehr Kleingeld dabei habe, in einer der Kneipen in der Straße neben der Kirche und fahre dann wieder nach Hause.
Wenn Cemil sich nur mit seinen Beamtenbezügen begnügen müsste, könnte er sich die Miete einer Wohnung in Yeşilköy nicht leisten. Aber ich sagte ja bereits, dass es immer einen Weg gibt. Als ich ihn kennenlernte, arbeitete Gülseren in einer Werbeagentur und tat es vielleicht auch noch nach ihrer Heirat. Sollte sie weiter dort arbeiten, so ist ihr rechtmäßiges Einkommen mit Sicherheit höher als das von Cemil.
Ich fand Cemils Appartmenthaus ohne große Mühe und drückte auf die Klingel. Gülseren öffnete. Gülseren, die ich das letzte Mal vor Jahren beim Spaziergang mit ihrer kleinen Tochter gesehen hatte. Sie hatte ein vorne geknöpftes schulterfreies Kleid an, das direkt über dem Knie endete. Neben einer Halskette und einem breiten Gürtel, der ihre schmale Taille eng schnürte, trug sie als einziges Accessoir lange, in ihrem Haar verschwindende Ohrgehänge. Die Jahre hatten sie nicht verändert. Dasselbe ins Rötliche spielende kastanienbraune Haar, dieselben riesigen honigfarbenen Augen, auf der linken Wange dieselbe kleine Narbe, ein Überbleibsel aus der Kindheit. Die Unrast und Müdigkeit in jenen riesigen Augen aber hatte ich nicht erwartet. Schweigend standen wir eine kurze Weile da. Vielleicht nur eine Sekunde lang, aber in dieser einen Sekunde schienen Gülserens Augen mir etwas sagen zu wollen. Ich begriff sofort, dass etwas nicht stimmte. Und dass ich an diesem Abend erfahren würde, was es war.
»Hallo. Schön, dass du da bist. Komm rein.«
»Vielen Dank.«
»Cemil«, rief Gülseren nach drinnen und sah mich immer noch an. »Süreyya ist da.«
Bemüht, meinen Blick von Gülserens Körper abzuwenden, trat ich in den Flur und bückte mich, um mir die Schuhe auszuziehen. Da stand Cemil vor mir.
»Bin ja schon da. So früh hab ich dich gar nicht erwartet, Süreyya, sorry. Komm rein.«
»Reiner Zufall, ich kam zum Bahnhof, hab den Jeton eingeworfen, da fuhr auch schon der Zug ein. Dabei hatte ich damit gerechnet, so zehn bis fünfzehn Minuten warten zu müssen.«
»Ist doch egal, so ist es sogar besser«, erwiderte Cemil.
Nachdem ich mir die Schuhe ausgezogen hatte, umarmte ich zunächst Cemil und dann Gülseren flüchtig, als hätten wir uns gestern erst gesehen.
»Schatz, nimmst du den Rakı aus dem Kühlschrank, ich möchte vor dem Essen ein Glas mit Süreyya trinken«, bat Cemil Gülseren und zog mich am Arm ins Wohnzimmer.
Ich glaubte nicht, dass er mir den Grund für die Einladung vor dem Essen nennen würde, denn ich spürte, dass es einem den Appetit verderben würde. Man würde nicht sagen: Und raus bist du, wenn es sich um eine belanglose Geschichte handelte. Cemils Stimme und Verhalten strahlten eine unmerkliche Ungeduld aus, als wägte er seine Worte ab. Unterwegs hatte ich beunruhigt überlegt, ob die Angelegenheit etwas mit mir zu tun haben könnte. Aber offensichtlich war dem nicht so. Sowohl in Cemils als auch in Gülserens Augen stand jener flatternde, flehentliche Blick der Hilflosen, die nur noch eine einzige letzte Hoffnung haben.
Wir setzten uns gegenüber dem Fernseher. Gülseren mixte uns in der Küche unseren Rakı. Ich zog meine Zigaretten aus der Tasche und legte sie auf den Couchtisch. Ich hatte mich umgesehen und nirgendwo einen Aschenbecher entdecken können, weswegen ich zögerte. Da die Frage, ob ich rauchen dürfte, nur eine Formalität gewesen wäre, begnügte ich mich damit, die Schachtel offen hinzulegen. Offensichtlich wurde in der Wohnung nicht geraucht, und falls Cemil es mir anbot, würde ich mir eine anstecken, andernfalls läge das Päckchen dort, bis ich wieder ging. Während ich diesen Gedanken nachhing, eröffnete Cemil das Gespräch auf die unliebsamste Weise.
»Äh, erzähl, Süreyya, was hast du die ganzen Jahre getrieben? Du bist weg von der Polizei, Hut ab, wer dich danach zu Gesicht gekriegt hat.«
»Nichts Besonderes. Du weißt ja, dass ich nicht allzu begeistert war. Jeden Tag zur Arbeit, sich von morgens bis abends mit tausend Problemen abmühen, der Stress, die Anspannung.«
»Stimmt. Aber es nimmt einen in Besitz, Süreyya. Hast du erst mal angefangen, ist es schwer, wieder aufzuhören. Ich schaffe es eben auch nicht.«
»Wie lange hast du noch bis zur Pensionierung?«
»Nicht mehr lange, aber was mache ich danach? Ein Rentner spielt den Hausverwalter, hat nix zu tun und kümmert sich den ganzen Tag ums Appartmenthaus. Und fragt wegen jedem Mist. ›Lasst uns einen Spiegel in den Eingang hängen, dann kann man beim Rein- und Rausgehen die Kleidung zurechtrücken, was meinen Sie?‹ ›Äh, mach das‹, sage ich, dann kommt er am nächsten Tag. ›Na, wie ist der Spiegel, gefällt er Ihnen?‹ Die ganze Zeit beschwert er sich, bei der Arbeit hätten sie ihn seiner Rechte beraubt, eigentlich hätte er Direktor werden müssen und so weiter und so fort. Wegen einem Spiegel fragst du zehn Leute, würde man so einen zum Direktor machen? Habe ich nicht recht, Süreyya?«
»Doch, klar«, antwortete ich. Mehr hatte ich auch nicht zu erwidern. Cemil redete ohne Punkt und Komma, erleichtert, ein Thema gefunden zu haben, mit dem er die Zeit bis zum Essen überbrücken konnte. Dabei ging die Rede vom Hausverwalter zum Nachbarn unter ihm und von dort auf wundersame Weise zur AKP-Regierung, um dann wieder bei der Polizei zu landen.
»Du kannst es dir nicht vorstellen, Süreyya. Alles hat sich total verändert. Blutige Anfänger hören nicht auf ihre Vorgesetzten. Als hätten sie andere Chefs als wir. Du drehst dich um, und der Lackaffe von gestern ist plötzlich erster Hauptkommissar. Man staunt nur noch, in welch kurzer Zeit jemand so oft befördert wird. Das macht einem schon zu schaffen.«
»War es denn früher anders?«
»Na klar, früher gab es das auch, aber doch nicht so. In unserer Generation, du weißt es doch selbst, herrschte noch mehr oder weniger Disziplin. Und man war auch mit etwas mehr Leidenschaft bei der Sache. Denk nicht, dass die Neuen irgendetwas leisten. Stolzieren wie Pfauen durch die Gegend und tun nichts, solange nicht die Kameras laufen.«
»Kann schon sein.«
»Kann schon sein, Abi, aber da laufen Sachen … Da kommt ein Schreiben vom Staatsanwalt, wir begreifen gar nichts, die Grünschnäbel aber stürzen sich sofort darauf. Stell dir vor, heute haben sie sogar Uni-Rektoren festgenommen. Der Leiter der Operation weiß nicht, was da abläuft; die aber, die die Operation durchführen, wissen von Anfang an Bescheid.«
»Mach dir nichts draus, warum denkst du so viel darüber nach?«
»Nicht nur ich, das ganze Land macht sich Gedanken, Abi. Aber was sage ich, du hast dich ja nie für Politik interessiert.«
»Warum sollte ich? Was würde das ändern?«
»Das stimmt auch wieder. Du hast sicher wieder nicht gewählt?«
Damit meinte Cemil die unlängst abgehaltenen Kommunalwahlen. Zum zweiten Mal war die AKP, und diesmal mit erdrückender Mehrheit, als stärkste Partei hervorgegangen und hatte so über die Kommunalwahlen ihre Macht gefestigt. Was Festigung bedeutete und was in dem Fall passierte, wusste ich natürlich nicht. Letztlich sind das nur die Sprüche, die ich aus dem Fernsehen kenne. Ich hatte keiner Partei meine Stimme gegeben. Aber bei den Wahlen für die Stadtteilverwalter kandidierte der Schwiegervater unseres Barbiers Recep, und auf Receps Druck hin gab ich dem Mann meine Stimme. Doch auch diese einzige Stimme, die ich in meinem Leben abgegeben hatte, entpuppte sich als wertlos, denn er verlor die Wahl, wodurch ich ein weiteres Mal begriff, wie gut ich daran tat, Wahlen fernzubleiben. Das Cemil zu erzählen, hielt ich nicht für notwendig.
»Nein, hab ich nicht.«
»Wäre doch gut gewesen, wenn dieser Kılıçdaroğlu gewonnen hätte. Ist ein ehrlicher Mann.«
Ein ehrlicher Mann. Mein alter Freund, den ich seit Jahren kannte und mit dem ich mir häufig das Schmiergeld geteilt hatte, war betrübt, dass ein ehrlicher Mann nicht zum Oberbürgermeister von Istanbul hatte gewählt werden können.
»Das Volk mag keine ehrlichen Männer, es denkt immer: ›Vielleicht fällt auch etwas für uns ab.‹ Aber dein Kılıçdaroğlu hat doch eine Menge Stimmen kassiert, ich war überrascht. Mir ist das Ganze wohl zu hoch.«
»Muss doch sehr bitten. Bei mir ist es auch nur Gewohnheit, du weißt ja, unsere Familie hat immer die Sozialdemokraten gewählt.«
Das hatte ich nicht gewusst. Es interessierte mich auch nicht. Ich langweile mich, wenn über Politik geredet wird, und ich höre ehrlich gesagt auch nicht zu. Daher ist es auch normal, dass ich mich nicht daran erinnere, selbst wenn Cemil so etwas erzählt hatte. In dem Moment bemerkte Cemil meine Schachtel Samsun.
»Oh, du rauchst immer noch?«
»Du hast wohl aufgehört?«
»Ja, das haben wir. Gülseren, wie du weißt, hat ja nur ab und zu mal eine geraucht, aber bei mir war es ganz schlimm. Du erinnerst dich bestimmt, wie du und ich um die Wette gequalmt haben. Ich habe wirklich geraucht wie ein Schlot. Aber kümmere dich nicht um mich, du kannst dir gern eine anstecken.«
»Ach was, muss doch nicht sein.«
»Komm schon, Süreyya, rauch nur. Vielleicht schnorre ich mir heute Abend eine bei dir.«
»Ich rauche, wenn ich wieder weg bin.«
»Los, mach schon. Ich weiß doch, dass du es ohne Zigarette nicht aushalten kannst«, meinte er und rief Gülseren. Gülseren kam mit einem Aschenbecher, der offensichtlich nur selten aus dem Schrank geholt wurde. Ohne weiter zu protestieren, steckte ich mir eine an.
Unsere Plauderei geriet ins Stocken, als Gülseren zu Hilfe eilte. Das Essen war fertig. Ich drückte meine Zigarette aus, die ich erst halb aufgeraucht hatte, und stand gemeinsam mit Cemil auf.
Wir begaben uns an den Esstisch, der in der anderen Hälfte des Wohnzimmers stand. Gülseren hatte Linsensuppe, Seebarsch in Weinblättern und jenes leckerste Gericht zubereitet, das man aus Zucchini kochen konnte, dessen Namen ich leider nicht kannte und das mir vor Jahren nur ein einziges Mal vergönnt gewesen war. Ein bekanntes Menü …
Auch während des Essens redete Cemil über Banalitäten, aber weder ich noch Gülseren konnten uns sonderlich erwärmen für das, was er sagte. Gülseren sagte, dass sie seit Langem nicht mehr arbeitete und die Werbung eine Branche sei, in der man früh in Rente ging. Mit einem verstohlenen Seitenblick zu Cemil erzählte sie, dass sie mit einem Kollegen eine eigene Agentur hatte gründen wollen, dann aber Abstand von der Idee genommen hatte. Aus Cemils Gesicht konnte ich ablesen, dass er von diesem Projekt nicht begeistert gewesen war.
»Wie sind die Zucchini?«, fragte Gülseren. Ich wusste nicht, ob die Frage Cemil oder mir galt, aber Cemil antwortete.
»Sehr lecker, ich mag Zucchini sowieso gern. Aber ich kenne den Namen des Gerichts nicht. Wie heißt es?«
»Es hat keinen Namen. Ich habe es selbst erfunden.«
»So ist Gülseren«, meinte Cemil. »Ich hab das auch vorher noch nie gegessen. Sie mixt das zusammen, was da ist, und kocht daraus etwas Neues. Das hast du doch zum ersten Mal gemacht, stimmt’s?«
Gülseren meinte, sie könne sich nicht erinnern, ich aber entsinne mich. Vor genau zwanzig Jahren hatten wir uns in einem Kino in Beyoğlu zwei türkische Filme angesehen. Die Filme sind mir, wenn auch nur dunkel, im Gedächtnis geblieben. Der eine war Karagözlüm mit Türkan Şoray und Kadir İnanır in den Hauptrollen, wobei Şoray die schöne Fischerstochter Azize spielte und İnanır den unbekannten Komponisten Chopin Kadir. Ich erinnere mich, dass ich über eine Frau lachte, die zu ihrem Freund meinte: »Du würdest sogar einer Hündin hinterherstarren, wenn man ihr nur einen Rock anzieht.« Der andere hieß Aşk Mabudesi mit Cüneyt Arkın und Türkan Şoray, die Liebesgeschichte zwischen einem berühmten Schriftsteller und einer armen jungen Frau von der Straße. Es lief gerade die Filmwoche mit türkischen Klassikern, und da wir keine Karten für Ah Belinda bekamen, sahen wir uns die zwei anderen an. Heute sind es zweifelsfrei Klassiker, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie es auch damals waren. Trotzdem fühlten wir uns nicht übers Ohr gehauen. Nachdem der zweite Film zu Ende war, aßen wir ebendieses Zucchinigericht. Während ich den letzten Löffel aus der Auflaufform auf meinen Teller nahm, dachte ich an jenen Abend.
Der Rakı in der Flasche ging zur Neige, als Gülseren den Tisch abzuräumen begann. Ich vermied es, sie anzusehen, dennoch trafen sich unsere Blicke. Mir war, als zerbräche Glas in mir.
Wir gossen uns einen letzten Rakı ein und setzten uns wieder in die Sessel. Gülseren brachte Obst und nahm ebenfalls Platz. Cemil trank einen Schluck von seinem Rakı, ich zündete mir eine Zigarette an. Auch wenn ich mich schämte, nahm ich einen tiefen Zug. Ich begann mich unwohl zu fühlen.
»Was machst du so, Süreyya?«
»Kleinkram eben. Hin und wieder Putz- und Malerarbeiten, oder Stuck …«
»Wie Ömer Umutlu also.«
»Äh, ja. Wie der selige Ömer.«
»Ich hab gehört, was passiert ist. Dass Ömer Umutlu gestorben ist und was du danach gemacht hast. Ich weiß, wie du es hingekriegt hast, dass Kommissar Ziya eingelocht wurde, alle wissen es.«
»Du übertreibst.«
»Nein, nein, ich übertreibe nicht. Ich sagte doch, dass es einen in Besitz nimmt, und du hast eben auch nicht stillhalten können.«
Die Rede war von einer vier Jahre zurückliegenden Geschichte. Ein Fall, bei dem es keinen Auftraggeber gab, den ich aber einfach übernehmen musste. Ein schwarzes Schaf bei der Polizei war in ein schmutziges Geschäft verwickelt gewesen, und dieses Geschäft hatte den einzigen Freund, den ich regelmäßig sah, das Leben gekostet. Als niemand irgendetwas Befremdliches an Ömer Umutlus Tod entdeckte, war es an mir, die Sache aufzuklären.
»Du bist also auch gelegentlich als Detektiv unterwegs.«
»Ach was, Cemil, nicht als Detektiv. Ich versuche nur, der einen oder anderen Familie zu helfen, deren Sohn oder Tochter von zu Hause abgehauen ist, oder Leuten, die jemanden suchen.«
»Genau das ist auch unser Problem.«
Bei meinem Eintreffen hatte es auf meine Frage nach Zeynep geheißen, sie sei nicht zu Hause. Ich trank einen Schluck von meinem Rakı und sah Gülseren an. Ihre Augen waren auf den Boden gerichtet.
»Was jetzt«, sagte ich. »Ist Zeynep abgehauen?«
Eine Zeit lang schwiegen beide. Es war Cemil, der die Stille unterbrach.
»Uns ist etwas Schreckliches passiert, Süreyya. Unsere Tochter ist weg, auf und davon.«
Weinend ging Gülseren aus dem Zimmer. Offensichtlich gab es ein ernstes Problem. Fragend blickte ich Cemil an.
»Es gibt doch diesen falschen Prediger, diesen verfickten Hurensohn, dieses Arschloch.«
Nun standen auch in Cemils Augen Tränen. In der Hoffnung, sie würden nicht fließen, drückte ich meine Zigarette aus.
»Zeynep ist in die Fänge dieses Wichsers geraten, dieses Reis Efendi. Seit geraumer Zeit haben wir nichts von ihr gehört, wir wissen nicht, wo sie ist und was sie macht, Süreyya.«
»Wie ist das passiert, Cemil? Erzähl doch mal von Anfang an.«
»Ende letzten Jahres haben sie ihre Fühler nach Zeynep ausgestreckt. Zuerst hatte sie seltsame neue Freunde. Du siehst sie aus der Ferne und suchst gleich nach etwas, das du ihnen anhängen könntest, Berufskrankheit eben. Typen in Zuhälter-Outfit, Weiber, die aussehen wie Nutten. Weil sie noch so jung ist, wollte ich nicht allzu viel Wirbel machen. Eines Tages kam sie, wieder mit einer dieser Nutten, und sagte: ›Papa, Eda und ich haben uns eine Wohnung genommen, ich ziehe aus.‹ Woraufhin ich zu ihr sagte: ›Kind, mach das nicht – wovon willst du denn leben?‹ Damals arbeitete sie in einer lausigen Firma als Sekretärin, und ihr Gehalt reichte weder für die Miete noch für das Essen.