Titel der englischen Originalausgabe:
Amazing Grace. John Newton, slavery and the world’s most enduring song
© 2002 Steve Turner
Aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Zellmer
Deutsche Ausgabe:
© 2007 Brunnen Verlag Gießen
www.brunnen-verlag.de
Lektorat: Eva-Maria Busch
Umschlagmotive: shutterstock
Umschlaggestaltung: Jonathan Maul
Satz: Die Feder GmbH, Wetzlar
ISBN Buch 978-3-7655-4071-4
ISBN E-Book 978-3-7655-7187-9
Es begann 1991 mit einer beiläufigen Bemerkung von Bono, dem Leadsänger der irischen Rockgruppe U2. Wir diskutierten über die Verdienste katholischer und protestantischer Künstler im westlichen Kulturkreis, und Bono sagte, seiner Meinung nach gehörten die Lieder von Charles Wesley zu den bedeutendsten Kunstwerken englischer Protestanten.
Ich erwähnte die faszinierenden Geschichten einiger dieser Lieder und dachte dabei besonders an »When Peace like a River« (deutsch: Wenn Friede mit Gott meine Seele durchdringt) von Horatio Gates Spafford. Ich wusste, dass dieses Lied entstanden war, als der Autor von Liverpool nach New York segelte. Unterwegs erfuhr er, dass seine vier Töchter, die zusammen mit seiner Frau auf einem anderen Schiff vor ihm reisten, ertrunken waren. Das Schiff war vor der Küste Neufundlands mit einem anderen kollidiert. Als Spafford in die Gegend kam, wo seine Kinder den Tod gefunden hatten, waren ihm angeblich die Anfangszeilen des Liedes in den Sinn gekommen. Solche Geschichten erzählten Prediger manchmal, und als Kind erschienen mir dann Kirchenlieder, die ich sonst als langweilig empfunden hätte, als etwas ganz Besonderes.
Daraufhin erwähnte Bono »Amazing Grace«. »Kennst du das?« Natürlich kannte ich das Lied und ein wenig auch seine Geschichte. Der Verfasser war John Newton, ein Sklavenhändler, der nach einem schrecklichen Sturm auf See eine Bekehrung erlebt hatte. Er wurde Pfarrer, schrieb diese Hymne, die 1971 zu den Top Ten gehörte. Ich besaß sogar eine Taschenbuchausgabe von Newtons Autobiografie, die ich wohl von meinem Vater ausgeliehen und nie gelesen hatte. In der modernen Ausgabe hieß das Buch Out of the Depths (Aus den Tiefen). Auf dem grellen Titelbild war ein rotgesichtiger Seemann abgebildet, der am Steuer eines sinkenden Schiffes stand. An seinen Füßen brachen sich die Wellen, und die zerfledderten Segel flatterten im Wind.
Drei Jahre später suchte ich nach Ideen für einen Film. Auf einem Flug von London nach Los Angeles begann ich Out of the Depths zu lesen, das ich als mögliches Quellenmaterial mitgenommen hatte. Ich fand die Geschichte dieses Seemanns und Sklavenhändlers faszinierend. Sie besaß alle Elemente eines großen Dramas: einen Helden und Rebellen, eine Liebesgeschichte, Suche und Streben, Flucht, Hindernisse, Konflikte, Prüfungen, Wendepunkte, eine Krise, einen Höhepunkt, eine Auflösung und persönliche Veränderung.
Als ich nach London zurückkam, rief ich Bono an und erzählte ihm, auf was für eine tolle Idee er mich gebracht hatte. »Tatsächlich?«, sagte er. »Die Geschichte des Liedes kannte ich gar nicht. Hab’mir nur gedacht, dass sie sicher gut ist.« So fasste ich ihm kurz den Inhalt zusammen. Er hörte schweigend zu. »Das ist ja ne tolle Story«, meinte er. »Muss ich unbedingt lesen.«
In den folgenden Jahren spürte ich Newtons Lebensgeschichte immer mehr nach und beschloss dann, lieber ein Buch zu schreiben statt einen Film zu drehen. Meine Aufmerksamkeit galt dabei eher dem Lied als seinem Verfasser.
Am 11. September 2001 war ich mitten in der Schreibarbeit, aber nach diesem Tag war »Amazing Grace« plötzlich das Lied, das die Menschen überall sangen, um ihrem Glauben, ihrer Hoffnung und ihrer Solidarität Ausdruck zu verleihen. Dass Menschen aller Altersgruppen sich an den Händen fassten und leise die bewegenden Worte sangen, war eines der ergreifendsten Bilder in Zeiten des Schocks und der Trauer. »Amazing Grace« wurde in Gottesdiensten, bei Gedenkfeiern, Benefizkonzerten und Beerdigungen gesungen. Es wurde in Manhattan von einer Kapelle der Heilsarmee gespielt, während Freiwillige die Lastwagen mit Hilfsgütern für die Helfer von Ground Zero beluden. Dudelsackbläser der New Yorker Polizei spielten es am Beginn des Prayer-for-America-Gottesdienstes im Yankee Stadion. Mitarbeiter des Roten Kreuzes sangen das Lied in Shanksville, Pennsylvania, wo die Maschine der United Airlines, Flug 93, auf ein Feld gestürzt war.
Später hörte man »Amazing Grace« nicht nur überall in Amerika, sondern auf der ganzen Welt. Ein Schulchor sang das Lied im Nationalstadion in Singapur vor 15.000 Menschen. Mica Paris, die bekannte britische Soulsängerin, sang eine A-capella-Version in einem Gedenkgottesdienst in der Westminster Abbey in London; 200.000 Berliner summten die Melodie am Brandenburger Tor; kanadische Abgeordnete sangen es gemeinsam im Parlamentsgebäude in Ottawa, und in Lakenheath, dem größten amerikanischen Luftwaffenstützpunkt in Europa, wo F-15 Bomber darauf warteten, in den Mittleren Osten geschickt zu werden, spielte es ein einzelner Dudelsackbläser als Zeichen, dass das dreiminütige Schweigen zu Ende war.
Und natürlich war es bereits die Lieblingshymne von Präsident George W. Bush. In seiner 1999 erschienenen Autobiografie A Charge to Keep beschrieb er seinen christlichen Glauben mit Worten aus diesem Lied. »Ich durfte erfahren, dass Gott seinen Sohn für einen Sünder wie mich in den Tod geschickt hat«, schrieb er. »Mein Trost wurde, dass ich durch den Sohn Gottes unglaubliche Gnade erleben durfte, eine Gnade, die jede Grenze, jede Hürde übersteigt und jedem offensteht.« Während seiner Amtseinführung in Washington wurde das Lied dreimal von Tiffany Ameen gesungen, einer Schülerin aus New Orleans.
Mein persönliches Schlüsselerlebnis mit »Amazing Grace« hatte ich jedoch an einem ganz normalen Sonntag, als ich mit meinem sechzehnjährigen Sohn einen Gottesdienst in der Londoner All Souls Church besuchte. An dieser Stelle muss ich hinzufügen, dass mein Sohn sich wunderte, warum sein Vater sich so ausgiebig mit einem Lied beschäftigte, das so … nun … so uralt war. Viel lieber wäre es ihm gewesen, ich hätte ein Lied unter die Lupe genommen, das gerade in den Charts stand. Das eben wirklich wichtig war.
An diesem Sonntagmorgen trat ein Mann vor der Predigt ans Rednerpult, um kurz zu erzählen, wie er Christ geworden war. Sein Name war Sherman Whitfield. Er war ein großer, muskulöser Schwarzamerikaner mit rasiertem Schädel, einem breiten Grinsen und einer Stimme, um die ihn jeder Schauspieler beneidet hätte. Er war mir schon früher aufgefallen, und ich war immer beeindruckt, wenn er die Kanzellesungen hielt. Er trug einen Bibeltext so dramatisch vor, dass ich hinterher das Gefühl hatte, ich hätte dieses Buch noch nie gelesen.
Sherman Whitfield kam aus Arkansas und arbeitete für ein Chemiewerk in England. Nun erzählte er also seine Geschichte. Er stammte aus einer Familie mit sechs Kindern, und sein Vater hatte die Familie verlassen, als er noch klein war. Keiner aus seiner Familie ging in die Kirche, obwohl seine Großmutter eine gläubige Christin war. Er hatte sich durch Schule und College gekämpft, einen guten Abschluss gemacht und dann eine gut bezahlte Stelle bekommen. Und so war er stolz auf das, was er erreicht hatte. »Ich dachte, dass Sherman Whitfield schon ein toller Kerl ist«, sagte er. »Ich hatte mich selbst an den Haaren aus dem Sumpf gezogen, ich war Herr über meine Seele, ich war der Boss.«
Zwei Jahre nach Abschluss der Universität heiratete er und war sehr erfolgreich im Beruf. Aber dann geriet sein Leben ins Wanken. Mit seiner Ehe ging es bergab, und seine Frau holte sich Rat bei einem Pastor. Als Sherman an einem Nachmittag früher nach Hause kam, ertappte er die beiden in flagranti. Der Pastor sprang auf und rannte aus dem Haus; Sherman folgte ihm auf den Fersen. »Ich hatte schon von den Seelsorgegesprächen dieses Pastors gehört«, kommentierte er spöttisch, »aber ich hatte nicht gewusst, wie persönlich sie waren.«
Nach dieser Entdeckung ging es mit seinem Leben stetig bergab. Seine Ehe zerbrach, er begann zu trinken, und natürlich ließ auch die Qualität seiner Arbeit nach. Die Selbstsicherheit, die sich über die Jahre aufgebaut hatte, wurde immer stärker unterhöhlt. »Ich hatte keine Kontrolle mehr über das Schiff. Ich hatte keine Kontrolle mehr über mein Leben. Ich war am Boden zerstört. Ich war verletzt. Ich war ein gebrochener Mann.«
In dieser Situation erinnerte er sich an Dinge, die seine Großmutter ihm von einem Jesus erzählt hatte, der Kranke heilen, Tote auferwecken und den Blinden das Augenlicht wiedergeben konnte. Ob dieser Jesus auch etwas für Sherman Whitfield tun konnte? »Ich sagte meinen Freunden, die mit mir joggten, dass ich daran dachte, in die Kirche zu gehen. Aber sie meinten nur: Steht es schon so schlimm mit dir, Sherman?«
Trotzdem machte er sich auf den Weg zur Kirche, immer noch unsicher, ob das nun das Richtige sei. »Eine innere Stimme sagte mir: Sherman, du brauchst doch nicht gerade heute Abend zu gehen. Tu’s nicht. Geh nach Hause zurück. Und eine andere Stimme sagte: Nein, du musst gehen. – So ging ich also an diesem Abend in die Kirche und hörte das Wort Gottes, und nach der Predigt stand der Chor auf und sie sangen:
Amazing grace! (how sweet the sound)
that saved a wretch like me!
I once was lost, but now am found;
was blind, but now I see.
Unglaubliche Gnade, (wie süß der Klang)
die einen Elenden wie mich gerettet hat!
Einst war ich verloren, nun bin ich gefunden;
war blind, nun kann ich seh’n.
Als ich von dem Elenden hörte, sagte ich: Moment mal! Er rettet die Elenden? Das bin ja ich! Ich ging normalerweise nicht in die Kirche, und so verstand ich nicht das ganze Drum und Dran, wie man gerettet wird. Ich saß ganz hinten, und als sie mit dem Lied fertig waren, stand ich auf und streckte die Hand hoch. Der Prediger sah mich an. Ich weiß nicht, ob er gedacht hat, dass die Kirche brennt oder so was, aber er sagte: Bitte, kann ich Ihnen helfen? Ich sagte: Ich will diesen Jesus, von dem ihr hier redet. Ich will den, der einen Elenden retten kann. Da bat er mich niederzuknien. Ich gab dem Prediger die Hand, und ich gab Gott mein Herz.
Seit dieser Zeit ist alles neu geworden. Gott hat mir ein neues Leben geschenkt – und eine neue Frau dazu. Ein paar Jahre später habe ich übrigens diesen Prediger wiedergetroffen, den ich mit meiner Frau erwischt hatte, und all der Hass, all die Wut, alles, was ich ihm immer schon antun wollte, schmolz einfach dahin. Ich ging auf ihn zu und reichte ihm die Hand. So etwas kann nur Jesus bewirken.«
Shermans Geschichte war für mich wie eine Bestätigung. Es war, als hätte Gott mir seine Hand auf die Schulter gelegt. Diese Worte, die am Ende des 18. Jahrhunderts an einem frostigen Dezembertag im Dachzimmer eines englischen Pfarrhauses geschrieben worden waren, besaßen auch heute noch eine lebensverändernde Wirkung. Es waren Worte, die auch im 21. Jahrhundert ermutigten, herausforderten, trösteten – ja sogar Menschen zur Umkehr riefen.
Ein paar Wochen später stand ich in diesem Pfarrhaus in jenem kleinen Zimmer, wo Newton zum ersten Mal die Worte erstaunlich und Gnade nebeneinandergesetzt und ein Lied verfasst hatte, das die Höhen und Tiefen seines Lebens beschrieb. Das Haus gehört heute nicht mehr der Kirche, aber es ist vertraglich festgelegt, dass kein gegenwärtiger oder zukünftiger Eigentümer den Raum verändern darf, der einmal Newtons Studierzimmer war.
Von einem Fenster aus sieht man das Grundstück, auf dem das schon vor langer Zeit abgerissene Great House stand, in dem Newton seine neu komponierten Lieder bei den Abendversammlungen vorstellte. Aus dem gegenüberliegenden Fenster blickt man auf die Kirche St. Peter and St. Paul aus dem 14. Jahrhundert, in der Newton sechzehn Jahre lang Pfarrer war. Hinter der Kirche befindet sich sein Grab. Über dem Kamin sind zwei alttestamentliche Verse direkt auf die Wand geschrieben, die Newton ständig vor Augen haben wollte. Sie sollten ihn an die Gnade erinnern, die in sein Leben gekommen war.
Weil du in meinen Augen so wertgeachtet
und auch herrlich bist …
JESAJA 43,4
ABER
Du sollst daran denken, dass du auch Knecht warst
in Ägyptenland und der Herr, dein Gott, dich erlöst hat.
5. MOSE 15,15
Der erste Vers erinnerte ihn daran, wie weit er gekommen war, dass sich seine Lebensumstände und sein Verhalten von Grund auf verändert hatten. Der zweite Vers ließ ihn daran denken, woher er gekommen war, und das wollte er nie vergessen. Niemals vergaß er die Zeit, die er als Sklave auf einer afrikanischen Insel verbracht hatte; die Zeit, als er erkannte, dass er nicht der Kapitän seiner Seele, nicht sein eigener Boss war. Dass die beiden Verse nach über zwei Jahrhunderten immer noch an dieser Wand zu sehen sind und all die vielen Bewohner überlebt haben, zeigt den Respekt, den man John Newton und seiner Geschichte entgegenbringt.
Als ich allein in diesem Zimmer stand, wünschte ich mir, die Dielenbretter und der Kamin würden ihre Geheimnisse preisgeben und mir genau berichten, was an dem Tag geschah, als Newton die berühmten Zeilen schrieb. Saß er dabei an einem Schreibtisch oder auf dem Sofa? Da zu jener Zeit Winter war, und ein kalter dazu, brannte sicher ein Feuer im Kamin. Vielleicht hat seine lange Pfeife geraucht, mit der er sich zu entspannen pflegte. Haben sich ihm die Verse förmlich aufgedrängt, oder hat er die verschiedendsten Versionen zusammengeknüllt in die Flammen geworfen, bevor er die richtigen Worte fand?
Der Gedanke der Gnade beeinflusste auch Bono, während ich noch an dem Buch arbeitete. Als er auf der Tournee durch Amerika den U2-Klassiker »I Will Follow« sang, fügte er die folgenden Zeilen hinzu: »I was cased in amazing grace / I was lost but now am found«. Und dann schrieb er für das Album All That You Can’t Leave Behind sein eigenes Lied »Grace«. Als Sänger ist ihm die Verbindung zwischen dem angenehmen Klang der Musik und der Gnade wichtig, zwischen der Musik und der geistlichen Erneuerung.
»Gnade – das ist wahrhaftig eine ungeheuerliche Vorstellung«, sagte Bono einmal zu launch.com. »Wir hören so viel von Karma und so wenig von der Gnade. Jede Religion spricht vom Karma und dass man nur das zurückerhält, was man investiert. Sogar das Christentum, in dem es ja um die Gnade gehen sollte, hat anstelle der Erlösung das angemessene Verhalten oder die richtige Aussprache oder gute Werke oder was auch immer gesetzt. Aber für mich ist allein die Vorstellung der Gnade faszinierend.«
Steve Turner
Ich breche von England auf mit der guten Aussicht, mein Glück zu machen und gebe mich der Hoffnung hin, eines Tages in der Lage zu sein, Ihnen einen Heiratsantrag zu machen, wenn Sie bei meiner Rückkehr noch nicht anderweitig gebunden sind.
JOHN NEWTON, BRIEF AN MARY CATLETT, 1744
John Newton, ein siebzehnjähriger Seemann, stand im Frühjahr 1743 an Deck eines Schiffs, das vor der Küste Venedigs vor Anker lag. Soeben versank die Sonne hinter dem Horizont. Eine Gestalt trat aus dem Schatten, stellte sich vor ihn hin, hielt ihm einen Ring entgegen und drängte ihn, diesen anzunehmen. Wenn er ihn nähme und in Ehren hielt, würde er Glück und Erfolg im Leben haben. Sollte er den Ring jedoch verweigern oder verlieren, würde er von Unglück und Elend verfolgt werden. Newton nahm die Herausforderung an. Die Vorstellung, Herr über sein Schicksal zu sein, hatte ihn schon immer fasziniert.
Als der Überbringer des Rings in den Schatten zurücktrat, kam eine zweite unbekannte Gestalt auf ihn zu. Voller Verachtung sprach sie über die soeben gemachten Versprechungen und beschuldigte Newton, er sei unwissend und naiv. Wie sollte etwas, das so klein und unbedeutend war, Segen hervorbringen? Wie konnte er nur jemandem Vertrauen schenken, der keinerlei Beweise lieferte, dass seine Aussagen der Wahrheit entsprachen? Er gab Newton den Rat, solchem Aberglauben abzuschwören und sich von dem Ring zu trennen. Newton verteidigte sich, doch seine Argumente waren nicht tragfähig, und so zog er den goldenen Ring vom Finger und warf ihn in den Golf von Venedig.
In dem Augenblick, als der Ring im Wasser versank, schoss eine Feuerwand um die Stadt herum nach oben und erhellte den nächtlichen Himmel. Es war, als sei ein Mechanismus ausgelöst worden, der eine furchtbare Macht entfesselte. Als er den Ausdruck des Entsetzens auf Newtons schweißüberströmtem Gesicht sah, verriet ihm sein Ankläger mit selbstzufriedenem Grinsen, dass er nicht einfach einen Goldring weggeworfen hatte, der leicht ersetzt werden konnte, sondern all die Gnade, die Gott für ihn bereitgehalten hatte. Nun konnten seine Sünden niemals vergeben werden. John Newton hatte soeben seine einzige Chance zur Erlösung weggeworfen.
Als ihm aufging, was er getan hatte, erschien ein dritter Besucher. Sein Gesicht lag im Schatten, sodass Newton nicht erkennen konnte, ob es wieder ein anderer war oder, wie er vermutete, der ursprüngliche Ringträger. Newton bekannte aus freien Stücken, was er getan hatte und dass er auch um die schrecklichen Folgen seines Handelns wusste. Doch der Besucher war überraschenderweise verständnisvoll und fragte ihn, ob er anders handeln würde, wenn er noch einmal die Gelegenheit dazu erhielte.
Bevor Newton antworten konnte, sprang der Mann ins Wasser und tauchte mit dem Ring in der Hand wieder auf. Sogleich erloschen die Flammen rund um die Stadt. Der Ankläger, der die ganze Zeit im Hintergrund gelauert hatte, schlich geschlagen davon. Newton fiel ein Stein vom Herzen. Er trat zu dem Mann und wollte den Ring wieder an sich nehmen. Doch dieser zog ihn mit einer raschen Bewegung zurück. »Wenn ich dir diesen Ring wieder anvertraue, würdest du dich sehr bald wieder in dieselbe Bedrängnis bringen. Du schaffst es nicht, den Ring zu behalten, aber ich werde ihn für dich aufbewahren. Wann immer du ihn brauchst, werde ich ihn für dich hervorholen.«
Als Newton viele Jahre später über diesen eindrucksvollen Traum nachdachte, erkannte er die geistliche Allegorie darin. Es handelte sich um die Geschichte seines Lebens – die goldene Gabe des Evangeliums, die er als Kind empfangen, aber angesichts von Spott und verlockenden Argumenten aufgegeben hatte, die zerstörerischen Folgen dieser Entscheidung und schließlich die Möglichkeit eines Neubeginns. Dieser Traum war so etwas wie eine letzte Warnung gewesen, das erkannte er im Rückblick. Damals jedoch hatte er ihn nur als eine beunruhigende und anschauliche Vision angesehen. Immerhin war sie so eindrucksvoll gewesen, dass er ein paar Tage lang nicht schlafen und essen konnte; aber sie hatte nicht die Macht, seinen moralischen und geistlichen Niedergang aufzuhalten.
Dieses Traumerlebnis hatte Newton tatsächlich, als er auf einem Schiff im Mittelmeer war, das erst vor kurzem in Venedig vor Anker gelegen hatte. Das Bild des Rings, der ins Wasser geworfen wurde, hatte höchstwahrscheinlich mit einer Zeremonie zu tun, die alljährlich in Venedig stattfand, die sposalizio del mare. Geschmückte Barkassen voller Edelleute stachen in See, um einen geweihten Ring ins Wasser zu werfen. Es war die symbolische Ehe von Stadt und Meer, denn die Bewohner Venedigs wussten um die Abhängigkeit ihrer Stadt von der umgebenden See. Es war dringend notwendig, auf gutem Fuß mit dem Element zu stehen, das der Stadt Reichtum bringen, sie aber auch fortspülen konnte.
Newton hat niemals erwähnt, ob er diese Zeremonie, die regelmäßig am Himmelfahrtstag stattfand, selbst beobachtet hat. Vielleicht hat er auch nur in Venedig davon gehört, oder er kannte Canalettos Gemälde Der Buzentaur kehrt am Himmelfahrtstag zur Mole zurück, das erst dreizehn Jahre zuvor fertiggestellt worden war. Auf jeden Fall kannte er das Ritual, denn er erwähnte es später in einem Brief, wobei er von einer »törichten Zeremonie oder Hochzeit zwischen der Republik und der Adria« sprach.
Newton war am 24. Juli 1725 im Londoner Stadtteil Wapping in der Nähe des Towers zur Welt gekommen. Jene Gegend am Nordufer der Themse wurde von der damals florierenden britischen Schiffsindustrie beherrscht. Fünf Jahre zuvor beschrieb Stows überarbeiteter Survey of London Wapping als eine Gegend, in der »hauptsächlich Seeleute und Händler wohnen, die mit Waren für die Ausstattung von Schiffen und Seeleuten handeln. Die Häuser stehen dicht an dicht, und es leben viele Menschen dort, denn die Gegend hat dank des menschlichen Fleißes sehr gewonnen.«
Newtons Vater, der ebenfalls mit Vornamen John hieß, war einer dieser Seeleute. Er arbeitete als Kapitän auf verschiedenen Handelsschiffen, die in den Mittelmeerländern Geschäfte machten. Solche Reisen dauerten bis zu drei Jahren. Obwohl er von Jesuiten in Spanien erzogen worden war, war er nach Aussage seines Sohnes nicht von der Religion beeinflusst und gab sich ziemlich aufgeblasen und unnahbar. Newtons Mutter Elisabeth schien das genaue Gegenteil gewesen zu sein. Sie war zart und introvertiert, eine gläubige Christin, die zu nonkonformistischen Versammlungen in der nahegelegenen Grave Lane ging.
Kapitän Newton war so oft unterwegs, dass Johns frühe Erziehung fast ausschließlich in den Händen seiner Mutter lag. Aufgrund ihrer christlichen Überzeugung hatte seine moralische und geistliche Förderung für sie oberste Priorität. Im Alter von vier Jahren konnte er bereits Englisch lesen, und ein Jahr später lernte er auch noch Latein. Sie träumte davon, dass ihr Sohn einmal ein Prediger wie ihr Pastor werden sollte, Dr. David Jennings. Weil sie aber nicht der anglikanischen Kirche, der »Kirche von England«, angehörte, wusste sie, dass ihr Sohn sich nicht an einer englischen Universität einschreiben konnte. So sollte er wie Dr. Jennings die Universität in St. Andrews in Schottland besuchen.
Elisabeth Newton vertraute auf den Vers in den Sprüchen Salomos: »Gewöhne einen Knaben an seinen Weg, so lässt er auch nicht davon, wenn er alt wird.« Bevor John Newton sprechen konnte, predigte Dr. Jennings über diesen Vers aus 1. Chronik 29: »Und meinem Sohn Salomo gib ein rechtschaffenes Herz.«
»Habt ihr jemals von ganzem Herzen dieses Gebet für eure Kinder gebetet?«, fragte er die Gemeinde. »Herr, schenk ihnen ein rechtschaffenes Herz. Welchen Mühen habt ihr euch unterzogen, um sie in den guten Wegen der Heiligung zu unterweisen und zu lehren …? Seid ernsthaft und beharrlich, fleht Gott täglich an um die Seelen eurer lieben Kinder. Erbittet von ihm, dem Gott der Gnade, dass er euren Kindern ein rechtschaffenes Herz schenkt.«
Elisabeth las ihrem Sohn Geschichten aus der Bibel vor, bis sie ihm so vertraut waren wie die Geschichten, die sein Vater von seinen Seereisen erzählte. Um ihm die darin enthaltenen Lehren einzuprägen, prüfte sie sein Wissen mit den 107 Fragen und Antworten des Kleinen Westminster Katechismus.
Frage 1: Was ist das höchste Ziel des Menschen?
Antwort: Das höchste Ziel des Menschen ist, Gott zu verherrlichen und sich für immer an ihm zu erfreuen.
Frage 2: Welche Regel hat Gott uns gegeben, um uns darin zu leiten, ihn zu verherrlichen und uns an ihm zu erfreuen?
Antwort: Das Wort Gottes, das aus den Schriften des Alten und Neuen Testaments besteht, ist die einzige Regel, die uns darin leitet, wie wir ihn verherrlichen und uns an ihm erfreuen können.
Sie brachte dem Jungen auch Kinderverse von Isaak Watts bei, der zufällig ein Freund von Dr. Jennings war. Wie jeder, der neue geistliche Lieder schreibt, hatte auch Watts das Gefühl, dass die bereits vorhandene Kirchenmusik nicht genügte. Die gängige Überzeugung, dass nur bearbeitete Psalmen für den Gesang in der Gemeinde angemessen waren, bedeutete natürlich eine starke Einschränkung. Watts wollte Lieder schreiben, die sich »den gesunden Menschenverstand und die Sprache des Christen« zunutze machten. Doch war er sich sehr wohl bewusst, dass eine solche Sprache abgedroschen oder banal klingen konnte. Es war schwierig, gab er zu, »jede Zeile einer ganzen Gemeinde anzupassen und doch ein gewisses Niveau zu bewahren«.
John Newtons häusliche Erziehung war damals nichts Ungewöhnliches – auch Watts lernte schon mit vier Jahren Latein – aber vermutlich wurde er dadurch nachdenklicher und weltfremder als andere Kinder. Später beschrieb er sich als einen Jungen mit »viel Sitzfleisch«, der nicht viel spielte. Stattdessen vergnügte er sich mit Lesen, Beobachten und Nachdenken.
Kurz vor Johns siebtem Geburtstag im Jahr 1732 erkrankte seine Mutter an Tuberkulose (damals Schwindsucht genannt), eine der verheerendsten Krankheiten früherer Jahrhunderte. In den unbelüfteten Häusern übertrug sich die Infektion rasch, und es gab keine medizinische Heilung. Als die Mutter sich nicht mehr selbst versorgen konnte, brachte man sie in das Haus einer langjährigen Freundin, Elisabeth Catlett, und ihrer Familie, die in Chatham in Kent wohnte. Die Catletts hatten zwei Kinder, die dreijährige Mary und den einjährigen John. Die Mütter sagten manchmal im Scherz zueinander, dass ihre Erstgeborenen, die altersmäßig nur vier Jahre auseinanderlagen, eines Tages vielleicht Mann und Frau werden würden.
Im Haus der Catletts wurde die kranke Elisabeth Newton wahrscheinlich in einen Raum gebettet, dessen Fenster und Ritzen versiegelt worden waren, damit die gefürchtete Krankheit sich nicht noch weiter ausbreitete. Vielleicht hat man ihr zweimal täglich einen Löffel Brühe eingeflößt, die aus Schnecken, Ysop und Zucker hergestellt wurde, wie es in einem alten Buch über Hausmittel empfohlen wurde. Aber all das half nicht, und sie starb am 11. Juli 1732.
Der Tod der Mutter muss eine traumatische Wirkung auf den empfindsamen Jungen gehabt haben, zumal überhaupt keine Verwandten in der Nähe lebten. Sein Vater ging weiterhin viel auf Reisen, und nach kurzer Zeit heiratete er wieder. Zusammen mit seiner Frau, die nur als Thomasina bekannt ist, zog er nach Aveley in Essex und gründete eine neue Familie. Während dieser Zeit wurde John zwei Jahre lang in ein Internat in der Nähe von Stratford geschickt. Diese beiden Jahre sollten die unglücklichsten seines bisherigen Lebens werden. Die sanfte, liebevolle Erziehung seiner Mutter wurde ersetzt durch die »unbesonnene Strenge« eines Schulmeisters, der am Ende nicht nur seine Seele zerbrach, sondern ihm auch die Liebe zu Büchern raubte. Sein Gedächtnis ließ nach, er vergaß sogar die Grundregeln der Arithmetik, die er zuvor sicher beherrscht hatte, und fühlte sich wie in einen »Tölpel« verwandelt.
Im zweiten Jahr wurde es etwas besser, denn er bekam einen neuen Lehrer, der seine Veranlagung bemerkte und ihr gerecht wurde. Der Lehrer erkannte Johns Feinfühligkeit und förderte seine Liebe zu Sprache und Literatur. Er machte ihn auch mit den Schriften Ciceros und den Gedichten Vergils bekannt, die beide auf Latein gelehrt wurden. Die Schulferien verbrachte der Junge in Aveley bei seiner neuen Stiefmutter. Und hier nun »durfte ich mit sorglosen und weltlichen Kindern Umgang pflegen und passte mich bald ihren Gewohnheiten an«.
Diese Einschätzung spiegelte die religiösen Werte wider, die John von seiner Mutter mitbekommen hatte. Nach Isaak Watts’ Katechismus bedeutete Weltlichkeit, »das zu missbrauchen und zu verachten, was heilig ist oder zu Gott gehört«. Damit waren nicht nur gotteslästerliche Reden gemeint, sondern auch die Nichteinhaltung des Sabbats oder die Verspottung des christlichen Glaubens, eine Lehre, die später eine tiefe Wirkung auf Newton haben sollte, da sie seine Vorstellung von einem sündigen Leben prägte.
Mit Sicherheit war für so einen zartbesaiteten Jungen kaum ein Beruf weniger geeignet als der eines Seemanns. Aber als John die Schule verließ, gab es für ihn gar keine andere Wahl; und so fuhr er mit seinem Vater zur See. »Am Tag meines elften Geburtstags«, berichtete er seinem ersten Biografen Richard Cecil, »ging ich in Longreach auf meines Vaters Schiff an Bord.« Das war in der Nähe von Purfleet in Essex.
Das Buch über Fahrten im Mittelmeer, das im Londoner Public Record Office (Nationalarchiv) aufbewahrt wird, bestätigt die Angabe. Am 22. Juli 1736 kam sein Vater nach London, um seine bevorstehende Reise auf der Valentia Pacquet mit einer zwanzigköpfigen Mannschaft einzutragen. Das Datum der Rückkehr, am rechten Rand notiert, sollte der 6. Oktober 1738 sein. Wenn wir annehmen, dass Newton nicht auf einem anderen Schiff zurückgekehrt ist, bedeutet das, dass er dreizehn Jahre alt war, bevor er England wiedersah.
Da er auf einem relativ kleinen Schiff fuhr und die Kabine des Kapitäns teilte, fiel dem Jungen der Wechsel vom Landleben zur Seefahrt, von der Schule zum Schiff nicht allzu schwer. Doch sein Vater blieb ihm fremd. John Newton lobte den »gesunden Menschenverstand« des Vaters und sein »großes Wissen über die Welt«, fügte jedoch hinzu, dass er »in seinem Auftreten distanziert und streng war, was mich einschüchterte und entmutigte. Ich hatte immer Angst vor ihm …«
Newtons Einstellung zur Religion wurde nun reichlich konfus. Während etlicher Seereisen mit seinem Vater schwankte er zwischen intensiver Frömmigkeit und völliger Interesselosigkeit. Seine Gottesfurcht war in der Regel eine Reaktion auf eine Zeit der Exzesse. Er versuchte, Gottes Anerkennung zurückzugewinnen, indem er ihm bewies, dass er seine Begierden kontrollieren konnte. Wenn jedoch die Selbstdisziplin nachließ, was sie unweigerlich tat, bekam er erst Schuldgefühle und wurde dann von Furcht gepackt. Der Kreislauf begann von neuem.
Einige Male entging Newton nur knapp dem Tod, und das hatte jedes Mal eine ernüchternde Wirkung auf ihn. Einmal wurde er in hohem Bogen von einem Pferd abgeworfen und landete gefährlich nahe neben einer Reihe von zugespitzten Pfählen in einer Hecke. Der glückliche Ausgang dieses Unfalls führte dazu, dass er sein Leben änderte, und doch »dauerte es nicht lange, bevor ich wieder in meinen Bemühungen nachließ. Solche Kämpfe zwischen Sünde und schlechtem Gewissen wiederholten sich oft, und jeder Rückfall ließ mich in noch größere Verderbtheit sinken.«
Einmal hatte man ihm und einem Freund die Besichtigung eines Kriegsschiffs versprochen, das in der Nähe von Purfleet auf der Themse vor Anker lag. Newton kam zu spät und verpasste das Beiboot, das sie über den Fluss bringen sollte. Er ärgerte sich maßlos, dass er nicht auf die Zeit geachtet hatte. Doch als er näher ans Ufer kam, sah er, dass das Boot, das bereits seinen Freund und einige andere Jungen an Bord genommen hatte, gekentert war. Alle Passagiere waren ertrunken.
Wie bei dem Reitunfall war seine unmittelbare Reaktion Erleichterung, gefolgt von dem Gefühl, dass Gott ihn wohl in besonderer Weise bewahrt hatte. Vielleicht hatte er ihn ja für einen wichtigen Auftrag ausersehen? Solche Gedanken und der Anblick der trauernden Familie seines Freundes bei der Beerdigung stimmten ihn nachdenklich. »Aber«, so schrieb er später, »auch dieses Erlebnis war bald vergessen.«
Bücher hatten zuweilen eine ähnliche Wirkung auf ihn. The Familiy Instructor, 1715 von Daniel Defoe als Leitfaden zur Besserung des sittlichen Verhaltens verfasst, ließ ihn »erkennen, dass die Religion notwendig war, um der Hölle zu entrinnen«, wie er schrieb. »Aber ich liebte die Sünde und wollte ihr nicht den Rücken kehren.« The Christian Oratory von Benjamin Bennett berührte ihn noch tiefer. Nachdem er das Werk gelesen hatte, begann er die Bibel zu studieren und ein diszipliniertes Gebetsleben zu organisieren. Darüber hinaus führte er ein Tagebuch, in dem er seine geistliche Entwicklung verfolgte. Aber auch diese Übungen »verflüchtigten sich wie eine Wolke am Morgen«.
Die tiefgreifendste Veränderung hielt zwei Jahre an. Newton wurde zum Asketen. Den größten Teil des Tages verbrachte er mit Gebet, Meditation und Bibellese, er wurde Vegetarier, hielt Fastenzeiten ein und ging jeglichen Gesprächen aus dem Weg, damit bloß kein törichtes oder sündiges Wort aus seinem Mund kam. Durch diese strenge Askese fühlte er sich außerordentlich religiös, doch sie brachte ihm weder Liebe, noch Freude und Frieden. »Es war eine armselige Religion«, beschrieb er später diese Zeit. »Sie ließ mich in vieler Hinsicht in der Macht der Sünde gefangen. Ich wurde trübsinnig, töricht, ungesellig und nutzlos.«
Doch dann nahm er im Alter von siebzehn Jahren – während sein Schiff bei der holländischen Hafenstadt Middleburg vor Anker lag – ein Buch zur Hand, das eine entscheidende Wirkung auf sein weiteres Leben hatte, indem es den Teufelskreis von Genuss und Askese durchbrach. Es handelte sich um den zweiten Band der Characteristicks, das der dritte Earl of Shaftesbury verfasst hatte, eine Sammlung philosophischer Aufsätze.
In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren Shaftesburys Gedanken kurze Zeit populär, weil er die Lehren der Kirche in Frage stellte und sich über die religiösen »Eiferer« lustig machte, wie die Frommen genannt wurden. Er war kein Atheist, sondern Deist, das heißt, er akzeptierte die Möglichkeit der Existenz Gottes, lehnte aber die meisten christlichen Lehren ab. Vor allem widersprach er der allgemein üblichen Auffassung, dass hohe moralische Maßstäbe vom christlichen Glauben abhängig seien. Deswegen wurde er natürlich von der Kirche angegriffen.
Für Newton, der bisher nur wenige philosophische oder theologische Werke gelesen hatte, schien die Vorstellung, an Gott zu glauben und ein tugendhaftes Leben zu führen, ohne sich dabei von den Lehren Jesu leiten zu lassen, befreiend. Characteristicks setzte sich mit »Frömmigkeit« und »wahrer Religion« auseinander, kam aber zu unerwarteten Schlussfolgerungen. Shaftesbury argumentierte, dass wahre Moral nicht in göttlichen Gesetzen, sondern im menschlichen Instinkt verwurzelt sein müsse. Wenn man das Rechte nur aus Angst vor der Strafe Gottes tue, sei das nicht Gerechtigkeit, sondern Eigensucht, da der Beweggrund Selbsterhaltung sei und nicht Liebe.
Das kleine, handtellergroße Büchlein wurde Newtons neuer Katechismus. Er trug es immer bei sich und lernte den zweiten Abschnitt, eine 178 Seiten umfassende »philosophische Dichtung«, fast auswendig. Er fühlte sich befreit von den Forderungen des orthodoxen Glaubens und ohne die Furcht vor dem Gericht. Weil er Shaftesburys anspruchsvolle Gedanken verstand, fühlte er sich denen überlegen, die demütig die Lehren der Kirche akzeptierten.