Fragmente
Aus dem Türkischen von Selma Wels
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
Hikâyem Paramparça
© İletişim Yayıncılık, 2012
Mit der Unterstützung des Programms »Kultur 2007-2013« der Europäischen Union
Deutsche Erstausgabe
© 2015 binooki OHG, Berlin
www.binooki.com
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2015
Lektorat: Ulrike Gramann
Satz: Erhard Waldner
Titelillustration: Kai Wels
Umschlaggestaltung: Josephine Rank
Fotografien: Ümit Bektaş
ISBN 978-3-943562-45-3
Die meisten Texte in diesem Buch sind eine überarbeitete Auswahl der Beiträge, die ich für den Blog Afilli Filintalar geschrieben habe. Die Fragmente 53-54-55-56-57 und 58 sind in der Juni-Ausgabe 2009 der Zeitschrift Birkim erschienen.
Die Erzählung Galip İşhanı wird erstmalig in diesem Buch veröffentlicht.
Fragmente
Galip İşhanı
Keine Angst, Türkisch lernen müssen Sie für die Lektüre dieses Buches nicht. Aber ein paar Worte sollten Sie schon kennen, um sich zurechtzufinden:
Abi
Das ist der ältere Bruder, aber auch das höfliche Beiwort für Männer, die älter sind als man selbst.
Abla
Das ist die ältere Schwester, aber auch das höfliche Beiwort für Frauen, die älter sind als man selbst.
Amca und Teyze bedeutet Onkel beziehungsweise Tante und ist auch jeweils höfliches Beiwort für Herren oder Damen, die deutlich älter sind als man selbst.
Eyvallah
Das bedeutet: klar, natürlich, danke, auf Wiedersehen
An dem Tag, an dem mein Vater starb, habe ich mich verliebt. Manchmal passiert alles auf einmal. Ich fuhr U-Bahn. Es gab zwar freie Sitzplätze, aber ich stand lieber. Hinten in der Ecke. Ich habe an sie gedacht. Nichts Romantisches, eher so praktische Dinge, wie ich mich mit ihr verabreden könnte oder so. Gleichzeitig dachte ich auch darüber nach, wie viele Stationen ich noch zu fahren hatte. Ich war 21 Jahre alt. Das Rad des Schicksals dreht sich immer weiter, egal wie alt man ist. Wenn du in einer Großstadt lebst, musst du viele unnötige Dinge wissen, damit du dich nicht wie ein ausgemachter Idiot fühlst. Wie dem auch sei, schlussendlich bin ich in der Station ausgestiegen, in der ich aussteigen musste. Ich ging nach Hause. Alle hatten denselben Ausdruck im Gesicht: die süße Scham, am Leben zu sein, während man eine Todesnachricht überbringt. Ein Ausdruck wie ein offener Beweis, der in den Gesichtern hängt. Seit der Zeit der Urmenschen bis heute haben sich diese Gesichtsausdrücke immer mehr verfeinert. Irgendwann wird sich so eine Sprache entwickeln, in der es nicht mehr nötig sein wird, auch nur ein Wort zu wechseln. Es wird dann im Gesicht jedes Menschen zu sehen sein, was er eigentlich sagen will. »Warum?«, fragte ich. Also nach dem Grund seines Todes. Sie haben es mir gesagt. Wenn ihr wirkliche Lebensfreude kennenlernen wollt, geht auf Friedhöfe, spaziert dort ein wenig herum und schaut in die Gesichter der Friedhofsbesucher.
Ich erinnere mich an den alten Leichenwäscher vor der Marmorplatte, auf der er meinen Vater gewaschen hat. Er hatte einen weißen Bart. Nicht wie die alten Opas mit den vollweißen Bärten, die einem im Traum erscheinen. Mehr so wie Hemingway. Er liebte seine Arbeit und redete viel. Männer, die so einer Arbeit nachgehen, sollten schweigen. Aber das interessierte ihn nicht. Er hat eine Reihe von Fragen gestellt. Ich habe keine einzige beantwortet. Nach jeder Antwort, die ich ihm schuldig blieb, war er mehr überrascht. Und er war mit einer tiefen Aufrichtigkeit überrascht. Es gibt Orte, da sollte das Reden wirklich verboten werden. Nun erzähl das mal Kindern und alten Menschen. Die sind von Natur aus Anarchisten.
Der Tag der Beerdigung war sehr kalt. Und danach wollte ich nur noch schlafen. Schlaf, ein natürliches Beruhigungsmittel sozusagen. Wenn ein Mensch, den wir lieben, stirbt, ist die Rückkehr ins Leben wie Fahrradfahren lernen. Doch das Fahrrad fährt nur bergab. Dabei denke ich nicht an die seltsame Freude, die einen überkommt, wenn man dabei das Gleichgewicht finden will. Ich rede auch nicht von der Angst, zu fallen und sich zu verletzen. Versteht ihr, was ich meine?
Und dann verging Zeit. Die Zeit macht nichts besser. Die Zeit macht auch nichts schlimmer. Diese Dinge sind unabhängig von der Zeit. Mir gelang nichts, außer in Einsamkeit und Ferne eine weitere Zigarette anzuzünden. Nicht, weil mein Vater gestorben war, auch nicht, weil ich verliebt oder 21 Jahre alt war. Weil es einfach so sein musste.
Dann habe ich mich ein bisschen betrunken und mich ans Telefon gehängt. So etwas ist nicht fair. Für beide Seiten nicht … Die Menschen verstehen, dass du betrunken bist, aber ihr Unterbewusstsein speichert es nicht so ab, weil sie nur die Stimme wahrnehmen. Der Stimme verpasst das Unterbewusstsein dann ein ganz und gar klares Bewusstsein. Das Unterbewusstsein ist ein charakterloser Hurensohn. Es tut alles, was in seiner Macht steht, euch zu betrügen. Wir alle haben verfälschte Erinnerungen. So haben wir das doch eigentlich gar nicht erlebt. Denk an all die alten Menschen, die ihre Erinnerungen aufschreiben. Die wissen, dass sie sterben, wenn sie damit fertig sind. Deswegen schieben sie es immer vor sich her, weil ihnen bewusst ist, dass sie trödeln müssen, um weiterzuleben.
Ich habe sie angerufen und zu ihr »Ich liebe dich« gesagt. »Das Rad ist stehengeblieben, der Strafprozess beendet. Zum ersten Mal in meinem Leben möchte ich nicht davonlaufen.« Und ich schäme mich noch heute, dass ich das alles gesagt habe. Jeder hat einen Strich auf seinem Herzen. An dieser feinen Linie läufst du gegen eine unsichtbare Wand und fällst hin. Weiter kannst du einfach nicht gehen. Deine ganze Welt erstreckt sich dann zwischen zwei Punkten. Von dort, wo du gefallen bist, maximal so weit, wie du deine Hand ausstrecken kannst. Und in dieser Zeit bin ich irgendwo gefallen. Wo genau, das weiß ich nicht und werde es auch nie herausfinden.
»Lass uns später reden«, hat sie gesagt. Wir redeten später. In dem Parkhaus gegenüber vom Krankenhaus. Einen Teil des Parkhauses haben sie zu einer Autowaschanlage umgebaut, einen anderen Teil zu einem Teegarten. Ein gut gemeinter, aber nicht sonderlich gut gelungener Ort …
Ich werde nicht aufschreiben, worüber wir sprachen. So weit gehen wir hier jetzt auch wieder nicht. Immerhin sind das intime Angelegenheiten. Ich will euch doch sowieso gar nicht mein Leben erzählen. Ich will nur über das, was ich erlebt habe, nachdenken und dann zu einem Ergebnis kommen. Ich vermute, ich bin ein Schriftsteller, wie er etwas aus der Mode gekommen ist. Ich mag Verallgemeinerungen, und ich mag es auch, nachdem ich den Punkt gesetzt habe, eine Botschaft zu hinterlassen – gut oder schlecht. Auch wenn ich denke, das hat jetzt keinen Sinn mehr, muss ich dennoch weitermachen. Es ist wie ein Fluch. Es ist eine Gewohnheit, und Gewohnheiten kann man nun mal nicht so leicht ablegen.
Dann verging wieder Zeit. Dabei ist es gar nicht wichtig, ob Zeit vergeht. Das hatten wir ja schon. »Damals hatte ich den Drang, etwas zurückweisen zu müssen, und du kamst genau in diesem Moment«, sagte sie. »Du warst so gut damals. Es ist, als hätte meine Mutter nur dafür sieben Monate länger gelebt. Verstehst du, was ich sagen will?«
Ich verstand. Wir hatten uns – gegenüber und ohne einander sehen zu können – hingelegt. Wir lagen da im Dunkeln, ohne zu wissen, wie viele wir waren. Wir hatten uns mit unseren Toten hingelegt. In der Dunkelheit funktioniert Volkszählung auf diese Weise: Wer lebt, zündet sich eine Zigarette an.
Fängst du an, deine Träume für wahr zu nehmen, entdeckst du auch Makel an ihnen.
Wären die Nachrichten wahr, müssten nicht schöne Frauen sie vorlesen. Das Fernsehen ist die Festung der Lüge. Weil das so ist, gab es zuerst nur öffentlich-rechtliches Fernsehen. Und darum verwundert es auch nicht, dass der erste private Fernsehsender von Cem Uzan gemeinsam mit der Familie Özal ins Leben gerufen wurde.
Cem Uzan: türkischer Medienunternehmer und Vorsitzender der rechtspopulistischen Genç Parti (GP), häufig mit Silvio Berlusconi verglichen. 2009 in Abwesenheit von einem türkischen Gericht zu sechs und 2010 zu 23 weiteren Jahren Haft verurteilt, u.a. wegen Fälschung von offiziellen und privaten Dokumenten, schwerem Betrug und Bestechung.
Turgut Özal: nach dem Militärputsch 1980 stellvertretender Ministerpräsident in der Regierung von Bülent Uluslu. Am 20. Mai 1983 zum Vorsitzenden der von ihm gegründeten Anavatan Partisi (ANAP) gewählt und nach den Wahlen vom 6. November 1983 mit der Bildung der Regierung beauftragt, die er bis 1989 als Ministerpräsident führte.
Nur weil wir zufällig unsere Tugend bewahren, bedeutet das noch lange nicht, dass wir anständig sind. Genau darum hat Flaubert »Madame Bovary« geschrieben. Er hat Emma nicht gleich in die Arme eines Schürzenjägers getrieben, bloß weil sie sich mit ihrem Mann langweilte. Er hat sie erst einmal mit dem Kanzlisten Léon in Yonville bekannt gemacht, in dem Emma einen Seelenverwandten erkannte. Dieses platonische Geheimnis dauerte so lange an, bis Léon den Ort verlassen musste. Erst dann betrat der Schürzenjäger Rodolphe die Bühne. Und was ist nun die Aufgabe von Léon in dieser Geschichte? Léons Aufgabe ist es, den Lesern vor Augen zu führen, sie daran zu erinnern, dass auch die eigene Tugend am seidenen Faden hängt, ohne dass sie Emma gleich verurteilen. Deswegen sagt Flaubert: »Madame Bovary bin ich.« Weil er sagen will: Auch ihr seid ein bisschen Madame Bovary. Wer seine Tugend unter dem Mikroskop betrachtet, sieht einen, der jederzeit bereit ist, verführt zu werden.
Zuerst ist Saniye Teyze gestorben. Dann Opa. Dann Oma. Danach meine angeheiratete Tante und dann mein angeheirateter Onkel. An dem Abend, an dem das Siebentagegebet meines angeheirateten Onkels gelesen wurde, wurde der Krämer erstochen, der die Nachricht von seinem Tod überbrachte. Dann ist Onkel Vedat gestorben. Dann mein Vater. Dann mein anderer Opa. Und dann war das große Erdbeben. Bevor ich 30 wurde, habe ich 30 Särge getragen. Die Särge derer, die vor meinem Vater starben, trug ich zusammen mit ihm. Trotzdem, es kam mir jahrelang so vor, als sei mein Vater als Erster gestorben. Als sei er es, der diesen Jenseitswahn ins Rollen gebracht hätte. Aber so war das gar nicht. Das habe ich erst neulich verstanden.
Du bist gegangen und jeder fing zu sterben an.
Wer kann denn nach so vielen Toten noch behaupten, lebendig zu sein? Wer möchte unter diesen Umständen nicht ein bisschen zum Zombie mutieren? Wer wäre nicht zerbrechlicher und schroffer, und wer würde nicht an Fukuyama glauben? Mein Opa war Landwirtschaftsingenieur, doch er war so lange krank, dass seine medizinischen Erfahrungen deutlich interessanter waren als die, die er in der Landwirtschaft gesammelt hatte.
Du bist gegangen und jeder fing zu sterben an.
Wie ein Kind, das, vor Einsamkeit tollwütig, mit einem Schlüssel den Lack eines Autos zerkratzt, so hinterhältig war das, was an meiner Seele nagte. Trotzdem erhellen sich trübe Tage gelegentlich schlagartig: Es gibt kaltes Bier und manchmal auch schöne Mädchen. Es ist nicht so, wie wenn du deine Haare nach dem Regen mit dem Handtuch trocknest. Eine Liebe dieses Kalibers habe ich noch nicht gesehen. Ich hab sie schon geküsst, aber eingeatmet habe ich sie noch nicht.
Du bist gegangen und jeder fing zu sterben an.
Jetzt empfiehl mir ein Buch, das ich auf jeder Seite zu lesen anfangen könnte. Empfiehl mir eine Geschichte ohne Anfang, ohne Ende und ohne eine Mitte. Empfiehl mir einen Meister, aber bitte keinen, der eine Zeitschrift gegründet hat. Wie sehr haben wir uns geschämt vor den Kränkungen der Vergangenheit, wie groß war unsere Angst, bei jedem Schritt ertappt zu werden. Ismet Özel oder Metin Altıok? Oder haben wir etwa gar keine gemeinsamen Freunde mehr?
Du bist gegangen und jeder fing zu sterben an.
Den Schmerz, dass sie außerstande sind, etwas zu ändern, kennen die Engel, die keine Ausgehgarderobe für die Erde haben. Eichhörnchen, die gefesselt sind im Scheinwerferlicht eines Autos. Steine, die langsam und schwer auf den Grund des Wassers sinken. Jetzt denke an ein Fenster, das jemand mit einer Bohrmaschine mitten in deinen Brustkorb gebohrt hat. Du schiebst den Vorhang leicht zur Seite und schaust von deinem eigenen Schmerz aus auf die Welt. Es tut nicht mehr so weh wie früher, und genau das schmerzt am meisten.
Du bist gegangen und jeder fing zu sterben an.
Du hast kein Recht dazu, den Film Love Story in den Panzerkreuzer Potemkin zu verwandeln. Zum Glück sind wir am Leben. Ich sage: Zum Glück sind wir am Leben; aber warum erzähl ich das alles? Ist das nur der Kampf des Unterbewusstseins gegen das Vergessen? Nein, keineswegs. Es ist meine synchronisierte Einsamkeit.
Du bist gegangen und jeder fing zu sterben an.
Zuerst sind unsere Fingerspitzen gestorben, in denen es bei jeder unserer Berührungen zum Kurzschluss kam. Danach ist das Grün für mich gestorben, dann Braun. Dann wurde der Ort unseres ersten Kusses aus deinem Herzen geschnitten. Zwölf Jahre sind vergangen. Wie kurz doch das Schweigen ist. Du sagst: »Wie schön das ist, lass uns bis in alle Ewigkeit schweigen.« Aber die Ewigkeit, meine Liebe, redet eines Tages mit jedem von uns, das weißt du.
Du bist gegangen und jeder fing zu sterben an.
Das Erdbeben von Gölcuk ereignete sich am 17. August 1999 um 3:02 Uhr Ortszeit. Zu den am stärksten betroffenen Städten gehörte auch Yalova, die Heimatstadt von Emrah Serbes. Durch das Erdbeben starben in der Türkei insgesamt 18.373 Menschen, 48.901 Menschen wurden verletzt.
Ismet Özel (*1944): türkischer Dichter und Essayist
Metin Altıok (1941-1993): türkischer Dichter alevitischen Glaubens
Die Konsequenz darf man nicht zum Tarnmantel der Charakterlosigkeit werden lassen.
Geistiger Aufstieg ist ohne materiellen Verlust gar nicht möglich. Da müsst ihr euch nur mal die Monatsgebühren für Yoga-Kurse anschauen.
Ich bin mit einem Lehrer befreundet. Die Schule, in der er arbeitet, soll abgerissen und erdbebensicher neu gebaut werden. Die Schüler klopften nach dieser Nachricht an die Tür des Schuldirektors und sagten: »Bitten lassen sie uns die Schule niederreißen!« Ja, so ist sie, die Liebe zur Schule … Die Schule ist eben ein Ort, an dem wir alles, was wir gelernt haben, mit einem ausgeprägten Widerwillen gelernt haben. Wäre ich Kultusminister, würde ich alle guten Schriftsteller vom Lehrplan nehmen. Es macht keinen Sinn, Sait Faik in den Lehrplan zu nehmen, wenn der Lehrer eine Spitzhacke ist. Ein guter Schriftsteller ist wie ein Elternteil. Solange nichts vorfällt, muss er auch nicht in die Schule kommen.
Sait Faik (1906–1954): türkischer Schriftsteller. Er gilt als Wegbereiter und Begründer der modernen türkischen Literatur.