Ilse Kienzle
Die Frau des Journalisten
Eine etwas andere
Liebesgeschichte
sagas.edition
Erstauflage 2014
© 2014 sagas.edition, Stuttgart
Lektorat: Dr. Birgit Gläser, Martin Mühleis
Korrektorat: Lena Stadelmann
Gestaltung: b3K-design Max Bartholl, Andrea Schneider
Satz: Anja Pfennig-Mische
Titelfoto und alle anderen: privat
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN: 978-3-9446600-8-0
www.sagas.de
Für Uli
Inhalt
Als Josephine Baker im Bett meiner Großmutter lag
Ich wollte wissen, was Leben ist
Auf Hölderlins Spuren
In der norddeutschen Diaspora
Ein Leben lang
Weihnacht am Rhein
Als das Fernsehen begann, mein Leben zu verändern
Im »Paris des Nahen Ostens«
Der Krieg beginnt
Wenn das Morden Alltag wird
Das Schlimmste war die Stille
Beim Pharao und seinen »fetten Katzen«
In der Wagenburg
Wenn der Buschmann wählen geht
Nur Diamanten sind unvergänglich
Die Frau des Journalisten
Noch Fragen, Kienzle?
Fotoalbum
Als Josephine Baker im Bett meiner Großmutter lag
»Junger Freund, Sie haben eine unwahrscheinliche Fähigkeit, überflüssig zu wirken.« Mit diesen Worten platzte Ulrich Kienzle in mein Leben – selbstbewusst, borniert, ein faszinierender Macho. Und der Kommilitone, der neben mir stand, drehte sich widerspruchslos um und verließ kleinlaut die Tübinger Uni-Bibliothek. Das war die Eröffnungsszene einer Liebe, die bis heute andauert.
Einundzwanzig Jahre vorher war ich in Stuttgart geboren worden. Ich war eine Frühgeburt. So verschrumpelt und klein, dass ich meiner Mutter erst gezeigt wurde, als sie wieder bei Kräften war, damit sie den Schreck besser verkraften konnte. Meine ersten sechs Wochen auf dieser Welt verbrachte ich im Krankenhaus. Und als mich die Ärzte so weit hochgepäppelt hatten, dass ich nach Hause durfte, wurde eine Kinderfrau angestellt, die ein Jahr bei uns wohnen und mich pflegen sollte. Es war Sommer. 1939.
Meine Mutter stammte aus dem kleinen Dorf Weiler, im Süden Deutschlands, nicht weit entfernt vom Bodensee. In der hügeligen Landschaft des Allgäus war sie aufgewachsen, mit viel Wald und unendlichen Wiesen. Einer ihrer Lieblingsplätze war die Hausbachklamm, oberhalb des Dorfes. Eine wilde, felsige Gebirgsschlucht, wo das Wasser gurgelnd zwischen großen Felsblöcken ins Tal schoss und, unten angekommen, als Hausbach gemächlich an der Straße entlang plätscherte, an der Kirche vorbei, überquert von kleinen Brücken. Nur bei Hochwasser wurde daraus ein reißender Fluss.
Als junge Frau war sie, um eine Lehre als Verkäuferin zu machen, in die Landeshauptstadt gezogen. In Stuttgart verliebte sie sich in einen gut aussehenden, groß gewachsenen, blonden jungen Mann: Ernst Finkelmann. Bei einem Faschingsball hatten sich die beiden kennengelernt, er war Diplomingenieur, in Hannover hatte er studiert und bei Bosch arbeitete er in der Forschungsabteilung für Autoteile. Zwei Welten waren da aufeinandergetroffen. Meine Mutter war im Allgäu streng katholisch aufgewachsen und tief gläubig. Ernst stammte aus Bremerhaven und war als waschechter Norddeutscher: Protestant.
Und das war das Problem. Er machte der Allgäuerin zur Bedingung: »Wenn du mich heiraten willst, müssen unsere Kinder evangelisch werden.« Die Heirat mit einem Protestanten hätte für meine Mutter aber bedeutet, dass sie exkommuniziert werden würde, spätestens, wenn Kinder kämen.
Dann aber schickte die Firma Bosch den jungen Ingenieur für längere Zeit nach Birmingham. England. Sehr weit weg. Und aus war der Traum von der Hochzeit. Erst nach zwei Jahren kam er wieder zurück nach Stuttgart – und Ernst und meine Mutter fielen sich in die Arme. »Die schlimmste Zeit in meinem Leben war nicht der Krieg«, sagte sie später einmal, als ich schon erwachsen war. »Auch nicht die lange Warterei, als Vati in England war. Die schlimmste Zeit waren die Tage vor der Hochzeit. Als ich mich prüfen musste, ob meine Liebe stark genug war. Konnte ich damit leben, aus der Kirche gewiesen zu werden?«
Hochzeit wurde gefeiert, und ein Jahr später kam ich zur Welt. Etwas zu früh, wie gesagt. Und dieses Ungestüme, dieser Drang hinaus ins Leben, ist mir bis heute, mit meinen fünfundsiebzig Jahren, geblieben.
* * *
Meine frühesten Erinnerungen sind Luftangriffe auf Stuttgart, wie wir zum Bunker rannten, am Ende unserer Straße. Noch heute höre ich das Dröhnen der Flugzeuge, die Explosionen der Bomben, und ich spüre die Angst meiner Mutter, wie sie geweint hat, wenn mein Vater die Bunkertür öffnete, um nachzusehen, wie es draußen aussah.
Eine Szene ist mir wie in einem Film im Gedächtnis geblieben: Meine Puppe fest im Arm, auf dem Rücksitz kniend, drücke ich mir die Nase an der Autoscheibe platt. Mein Vater sitzt am Steuer. Langsam fahren wir durch unsere Straße. Überall brennt es. Das Haus unseres Metzgers gleich um die Ecke steht in Flammen. Der Hund, mit dem ich so gern spiele, versucht immer wieder, hineinzurennen. Er bellt, läuft aufgeregt am Haus entlang. Bleibt am Eingang stehen, rennt hinein. »Wir müssen anhalten!«, schreie ich. »Wir müssen den Hund festhalten!« Aber das Auto fährt weiter.
Damals war ich vier Jahre alt. Meine Eltern beschlossen, dass meine Mutter und ich zu meiner Großmutter ins Allgäu ziehen sollten. Zum ersten Mal stand ich am Stuttgarter Hauptbahnhof. Überall Menschen mit Rucksäcken und abgeschabten Koffern, Verletzte. Ein Zug Richtung Allgäu brachte uns aus der brennenden Stadt. In Ulm mussten wir aussteigen und auf den Anschlusszug warten. Es wurde Nacht. Das Bahnhofsdach war teilweise zerstört. Durch die Löcher konnte man den sternenklaren Himmel sehen, viele strahlend helle Lichter schienen sich zu lösen und zur Erde herabzuregnen – so ein Himmelsfeuerwerk hatte ich noch nie gesehen. »Sternschnuppen«, sagte meine Mutter. »Du darfst dir jetzt etwas wünschen.« Heute weiß ich, dass die vielen Lichter Bomben und Leuchtraketen waren. Damals aber waren es für mich Sternschnuppen. Und sie kamen mir gelegen, denn ich wünschte mir von Herzen eine neue Puppe.
So landete ich im Allgäu. Meine Großmutter lebte, schräg gegenüber der Kirche, gemeinsam mit ihrer Schwester im größten Bauernhof des Dorfes, in einer großzügigen Mietwohnung im ersten Stock. Meine Großtante war taub. Als Kind hatte sie an einer Mittelohrentzündung gelitten, die nicht richtig behandelt worden war; das lag lange zurück, aber es hatte das Leben der beiden alten Frauen bestimmt. Meine Großtante hatte nie geheiratet und meine Großmutter, bei der sie wohnte, kümmerte sich ihr ganzes Leben lang um sie. Meine Großmutter war eine gutmütige und hilfsbereite Frau, groß und stattlich, mit vollem, schneeweißem Haar, das sie immer mit Kämmen hochgesteckt trug. Ich kann mich nicht daran erinnern, sie jemals wütend erlebt zu haben. Doch: einmal – aber das erzähle ich später.
Meine Mutter und ich zogen also zu den beiden Frauen. Ein Frauenhaus. Mein Vater blieb in Stuttgart. Als leitender Ingenieur in der Forschungsabteilung von Bosch wurde er nicht zur Wehrmacht eingezogen. Zu seinen Aufgaben gehörte es, neu entwickelte Fahrzeuge auf ihre Alltagstauglichkeit zu testen und so war es für ihn ein Leichtes, uns Wochenende für Wochenende mit dem Motorrad oder mit dem Auto zu besuchen.
Vor jedem Essen wurde jetzt gebetet. Meine Großmutter und ihre Schwester waren streng katholisch, jeden Morgen um sechs Uhr ging die Großtante zur Frühmette. In ihrem Zimmer hatte sie eine große, alte Kommode mit vier Schubladen. Bei einer war das alte Holz verzogen und so stand sie immer ein Stückchen offen und ich konnte hineinschauen. Unmengen von Heiligenbildchen lagen darin, säuberlich sortiert – für jeden Tag hatte die Großtante einen anderen Heiligen. An Antonius erinnere ich mich besonders gut. Meine Mutter sagte immer: »Der Heilige Antonius hilft, wenn man etwas Wichtiges verloren hat.« Antonius wurde mein Leib-und-Seelen-Heiliger. In der kleinen Kapelle neben der großen Kirche am Friedhof habe ich oft zum ihm gebetet. Weniger freundschaftlich, aber nicht minder eng, war mein Verhältnis zum Teufel. Er bedrohte jetzt plötzlich mein Leben. »Dann holt dich der Teufel!« Eine Erwachsenenfloskel, einfach dahergeschwätzt. Für mich war er real. Vor ihm hatte ich eine Heidenangst. Wenn ich im Keller Kohlen oder Kartoffeln holen musste, rannte ich die Treppen hinauf, so schnell ich konnte, immer in der Angst, der Teufel sei hinter mir her. Antonius und der Teufel waren die beiden Gegenpole meiner kleinen Allgäuer Welt.
Mein größter Wunsch war damals, katholisch zu sein wie alle anderen auch, denn ich war die einzige Evangelische. Auch in den umliegenden Dörfern gab es keine Protestanten und als ich in die Grundschule kam, verhöhnten mich die Mitschüler als Ketzerin. Ich würde in die Hölle kommen, weil ich evangelisch war. Einmal war ich so verzweifelt, dass ich weglief und mich hinter dem Kriegerdenkmal im Dorf verkroch. Immerhin fiel meine Abwesenheit auf und sie suchten nach mir. In der Hausbachklamm stand eine kleine Kapelle. Über den Altar wachte eine Marienfigur in einem hellblauen, mit Sternen geschmückten Gewand. Zu Füßen der Madonna lagen Briefchen – von Menschen, die um Vergebung baten und darum, dass sie »verschont wurden von dem Bösen«. Auch ich lief regelmäßig zu dieser Kapelle und steckte meine Briefchen in den Tuffstein.
An Fronleichnam durfte ich trotzdem an der großen Prozession teilnehmen, dafür hatten die drei Frauen in meinem Haus schon gesorgt. Ein Höhepunkt des Jahres! Am Tag vor dem Umzug schmückten wir das Pflaster vor den Häusern im Dorf mit riesigen bunten Blütenteppichen, mit Heiligenbildern ganz aus Blumen. Dann zog die festliche Prozession durch die Straßen, wir Kinder vorneweg, mit Blumenkörbchen in den Händen und Blumenkränzchen auf dem Kopf.
Da meine Mutter im Dorf aufgewachsen war, gehörten wir von Anfang an dazu – sie kannte jeden. Im Erdgeschoss unseres Hauses lebte die Bauernfamilie und bewirtschaftete den Hof. Über uns, im Dachgeschoss, wohnte eine Uhrmacherfamilie mit zwei Söhnen in meinem Alter. Die Post Brauerei Zinth, die auch ein Restaurant betrieb, lag gleich hinter unserem Haus. Nicht weit entfernt standen die Gebäude einer Druckerei, zu der auch eine Buchhandlung gehörte – und ein Mädchen, das zu meiner besten Freundin wurde.
Gemeinsam fuhren wir mit den Bauern im Sommer aufs Feld. Manche jungen Frauen hatten ihre Babys dabei und während der Arbeit wurden die Kleinen unter einen der großen Bäume gelegt – auch meine kleine Schwester Elke, die mittlerweile geboren worden war. Zu den Vesperpausen saßen alle dort im Schatten, aßen ihre mitgebrachten Wurst- und Käsebrote und tranken Most. Selbst die Babys bekamen einen Schluck, sodass sie gleich nach der Pause wieder in einen tiefen Mittagsschlaf fielen. Auf der Heimfahrt saßen wir hoch oben auf den großen Heuballen und sangen aus vollem Herzen die Volkslieder.
Blumen liebte ich über alles und wusste genau, wo welche Arten wuchsen. Mein Vater kannte alle ihre Namen, und auch die meisten Vogelarten. An Sonntagvormittagen, wenn er mit mir spazieren ging, zwei oder drei Stunden lang, brachte er mir bei, wie sie heißen. In den feuchten, sumpfigen Niederungen blühten im Sommer die Orchideen; besonders gern mochte ich die Heckenrosen, die in der Zeit um meinen Geburtstag herum blühen.
Eine heile Welt. Ein durch und durch friedliches Leben – und nur wenige Kilometer weiter tobte der Krieg, wurden Menschen verschleppt und ermordet, fielen Bomben, wurden Leben zerstört. Doch das wussten wir Kinder damals noch nicht.
* * *
In einem Frühjahr, als ich sechs Jahre alt war, rollten eines Nachmittags über die Alpenstraße, die nach Lindenberg führte, seltsame Fahrzeuge heran. Wir standen auf der Treppe vor unserem Haus, alle waren aufgeregt. Einer sagte: »Die Franzosen kommen!« Wir Kinder schauten die Erwachsenen an und spürten ihre Unsicherheit und ihre Angst. Dann rannten alle in die Häuser und die Panzer fuhren mit einem schrecklichen Lärm ins Dorf, die Ketten rasselten, die Motoren heulten auf, aus den Auspuffrohren schoss schwarzer, rußiger Rauch und mein Vater, meine Mutter und ich standen hinter den Gardinen an den Fenstern und spürten, wie der Holzboden unter unseren Füßen bebte. Immer wieder schwenkten die Panzer ihre Zielrohre, als suchten sie die Winkel ab. Es war bedrohlich.
In diesem Moment kam Fritz, unser Bauer, mit seinem voll beladenen Heuwagen vom Feld auf den Hof. Mit vorgehaltenen Gewehren zwangen ihn die Soldaten abzusteigen. Er deutete auf den Himmel. Ein Unwetter zog auf. Das Heu musste zu den Tieren, es durfte nicht nass werden. Mein Vater versuchte zu vermitteln, stellte sich dem französischen Kommandeur vor und erklärte ihm die Situation auf Englisch. Als der ihn aber nur anbrüllte, stieg mein Vater wütend auf den Traktor und fuhr das Futter in den Stall. Noch im Stall wurde er verhaftet. Die Franzosen hielten ihn für den Bürgermeister, weil er so groß war und stattlich und der Bauernhof das größte Gebäude weit und breit. Meine Mutter war außer sich vor Angst. Die Franzosen beschlagnahmten den Bauernhof und der Kommandeur zog in die Wohnung meiner Großmutter ein. Das ganze Haus wurde geräumt. Wir kamen zunächst bei unseren Nachbarn unter, in der Post Brauerei Zinth. Verrückt: Als der Krieg, der für mich nie wirklich stattgefunden hatte, zu Ende war, kehrte er in mein Leben zurück.
Einige Tage später kam mein Vater durch die Hilfe einer jüdischen Armeeärztin der Franzosen wieder frei. Sie sprach Deutsch und Französisch und hatte sich für ihn eingesetzt, nachdem klar war, dass er keine Parteifunktionen hatte. Weil er aber Ingenieur war, machte ihm der Kommandeur eine Auflage: Er sollte einen Turm nach dem Vorbild des Mangenturms am Lindauer Hafen bauen, mit einem bunt glasierten Spitzdach. Von diesem Turm aus wollte der Kommandant eine große Rede halten. Mein Vater fertigte einen Entwurf und heuerte Arbeiter an, die den Turm bau-ten – mit einem Dach genau wie in Lindau. Dann fand ein großes Fest auf der Dorfwiese statt mit Josephine Baker als Gaststar. Sie reiste damals zu Truppenbesuchen durch das französische Besatzungsgebiet. Ob jemand aus dem Dorf den Revuestar aus dem fernen Paris kannte, weiß ich nicht. Aber die Franzosen waren aus dem Häuschen. Josephine Baker und ihre Band sorgten nach der Rede des Kommandeurs für Stimmung – und nach dem Fest logierte sie im Haus des Kommandanten und schlief im Bett meiner Großmutter.
* * *
Jetzt blieb mein Vater auch während der Woche bei uns im Allgäu – die gesamte Führungsriege von Bosch war entlassen worden. Bei Verwandten meiner Großmutter, die im benachbarten Ellhofen eine große Käserei betrieben, fand er eine neue Arbeit. Sie hießen Wachter und stellten Emmentaler und Romadur her. Der Ingenieur Finkelmann fuhr mit dem Lkw zu Großhändlern – und verkaufte Käse. »Isst er Wachter, dann lacht er!« Das war der Werbespruch der Firma – noch heute denke ich an ihn, wenn ich an einer Käsetheke stehe.
Das Leben hatte sich für mich jetzt völlig verändert. Es gab eine nächtliche Ausgangssperre im Dorf, ich spürte die Angst der Erwachsenen, vor allem der Frauen, und die Spannungen zwischen den französischen Offizieren und den einfachen Soldaten, viele von ihnen waren Marokkaner. Meine Großmutter war so streng und ärgerlich wie nie zuvor. Sie wurde richtig böse und nahm mich ernst ins Gebet. »Ilse«, sagte sie, »ich muss mit dir reden! Lass dich nie auf einen Schwarzen ein! Hörst du! Versprich mir das!« Für meine Großmutter und die Leute im Dorf waren die Marokkaner Wesen aus einer fremden, gefährlichen Welt. Auch für mich waren sie die ersten dunkelhäutigen Menschen, die ich zu Gesicht bekam. Ich hatte panische Angst vor ihnen. Und doch wusste ich, dass es Frauen im Dorf gab, die sich mit den Franzosen eingelassen hatten. Sie schienen nicht zu leiden, im Gegenteil: Sie wirkten glücklich und ich beneidete sie ein wenig, denn sie bekamen Schokolade und Kaugummi geschenkt.
* * *
In der Grundschule wurden wir ausschließlich von katholischen Klosterschwestern unterrichtet, von strengen Frauen mit schwarzen Kutten und schwarzen Kopfbedeckungen, die nur die Gesichter frei ließen. Wenn ich später im Orient verschleierten Frauen begegnete, musste ich oft an meine Kindheit denken, an meine Schulzeit mit den Klosterfrauen und an die alten Frauen im Dorf, die Kopftücher trugen und deren Haar man nie sah. Und an ihre enge Welt der Normen und Regeln, die so viele und vieles ausschlossen. Hatten wir etwas falsch gemacht, bekamen wir Schläge mit dem Rohrstock, auf die Hände oder die Fingerkuppen. »Tatzen« nannte man das. Da ich Linkshänderin war, bekam ich so lange Tatzen, bis ich es aufgab, den Stift in die linke Hand zu nehmen – und ich, vermeintlich, der Norm entsprach.
Nach den langen Sommermonaten mit blühenden Wiesen und wogenden Feldern wurden die Tage allmählich kürzer, und nach Erntedank und Apfelernte wurde es Winter. Jetzt mussten wir alle ein Gedicht auswendig lernen. Einmal begegnete ich Sankt Nikolaus auf der Brücke, die über den Hausbach zur Kirche führte. Mir blieb fast das Herz stehen. Ich versank in einem tiefen Knicks, als er mich fragte, ob ich ein Gedicht für ihn hätte. Gott sei Dank war ich vorbereitet! Nachdem ich die Verse mit leiser Stimme und gesenktem Kopf aufgesagt hatte, griff er tief in seinen Sack und schenkte mir einen Apfel. Ich weiß heute nicht mehr, ob ich den jemals gegessen habe.
Am Abend klopfte es bei uns zu Hause an der Tür und wieder war es der Nikolaus – mit Rute, Bischofsstab und Bischofsmütze. Jetzt stellte er mir viele Fragen: »Bist du auch brav gewesen? Hast du Mutter und Vater geehrt? Hast du den Lehrern gehorcht? Hast du Unrecht verschwiegen?« Ich war so aufgeregt. Da habe ich gepetzt – und erzählt, dass der Brinkmann die Schule geschwänzt hatte. Dieser Mitschüler und seine Familie waren Flüchtlinge aus Norddeutschland. Als der Nikolaus am nächsten Tag in Begleitung von Knecht Ruprecht in die Schule kam, rief er den Brinkmann zu sich. »Bist du immer brav zur Schule gegangen?«, fragte er und als der Junge herumstotterte, sagte er ihm auf den Kopf zu: »Du hast die Schule geschwänzt!« Daraufhin musste sich der junge Brinkmann über den Tisch legen und wurde von Knecht Ruprecht versohlt und in den Sack gesteckt. Wir Kinder schrien auf vor Schreck. Knecht Ruprecht sah zum Fürchten aus, ganz schwarz im Gesicht, schmutzig-dunkel gekleidet und in der Hand eine große Rute. Er band den Sack zu, warf ihn und den darin wild strampelnden Brinkmann über seine Schulter und gemeinsam mit dem Nikolaus stapfte er zur Tür hinaus. Wir hatten alle Angst. Ich hatte ein abgrundtief schlechtes Gewissen! Ich war es, die den Brinkmann verpetzt hatte! Es vergingen Jahre, bis ich einigermaßen darüber hinweggekommen war.
Ich spiele mit meinen beiden Freunden, den Söhnen der Uhrmacherfamilie, vor dem großen Brunnen am Dorfplatz. Da werde ich zum Mittagessen gerufen. Ausgerechnet jetzt! Im Brunnen haben wir merkwürdige Stäbe entdeckt, rosa, türkis und hellblau. Während meine Freunde versuchen, sie aus dem Brunnen zu holen, wasche ich mir zu Hause die Hände, setze mich an den Mittagstisch. Da gibt es einen riesigen Knall. Die Fensterscheiben zittern. Wir rennen aus dem Haus. Auf dem Dorfplatz ein Bild der Verwüstung. Überall Blut. Meine beiden Freunde liegen auf dem Boden, einem fehlen ein Arm und ein Bein. Die Stäbe waren Handgranaten.
Nachdem die Franzosen Ende der 1940er-Jahre aus Weiler abgerückt waren, ließ meine Großmutter als Erstes das Bett wegschaffen, in dem Josephine Baker geschlafen hatte – und wir zogen wieder nach Stuttgart zurück. Mein Vater hatte das Angebot bekommen, bei Bosch Leiter der Forschungsstelle für Küchenzubehör zu werden. Er besann sich nicht lange und griff zu, und so stand eines Tages ein Möbelwagen vor unserer Tür. Der Abschied vom Allgäu und von meiner Großmutter fiel mir schwer, doch ich war aufgeregt, gespannt auf die große Stadt, an die ich kaum noch Erinnerungen hatte.
Irgendwann waren die Zimmer leer, die Türen des Umzugswagens wurden verschlossen und der Transporter rollte in Richtung Stuttgart. Stolz saß ich hoch oben im Führerhaus. Als wir hinter Ulm den Alb-Abstieg erreichten, dunkelte es bereits. Im Tal schimmerten die Lichter eines Dorfes und in meiner Aufregung rief ich voller Begeisterung: »So groß ist Stuttgart!« Als wir später tatsächlich nach Stuttgart kamen, war ich eingeschlafen.
Ich wollte wissen, was Leben ist
Ich schämte mich grenzenlos in diesem altrosa Taftkleid. Was hätte ich darum gegeben, wie meine Freundin Elke Pretorius einen Minirock mit fünf oder sechs Petticoats tragen zu dürfen! Den ganzen Abend saß ich brav bei meinen Eltern an einem der hinteren Tische in der Aula, in dieser knöchellangen Peinlichkeit, die meine Mutter für mich ausgesucht hatte – mit zugeknöpftem Bubikragen! Ich war die Einzige, die beim Abschlussball des Tanzkurses nur den Pflichttanz absolvierte.
Der Umzug in die Stadt lag schon einige Jahre zurück. Anstatt über bunte Blumenwiesen führte mein Schulweg jetzt an Trümmergrundstücken vorbei und Ruinen. Von der beschaulichen Lindenberger Oberrealschule war ich ins Königin-Olga-Stift gewechselt, ein reines Mädchengymnasium. Hier hatte ich gleich eine echte Überraschung erlebt: In meiner Klasse gab es fast ausschließlich evangelische Kinder! Hatte ich im Allgäu noch darunter gelitten, als einzige Protestantin eine »Ausgestoßene« zu sein, war jetzt plötzlich alles anders. Und doch kam mir etwas bekannt vor: Während im Allgäu die Katholiken die Protestanten diffamierten, wurden hier die wenigen katholischen Mädchen gehänselt und beleidigt: »Ihr lügt ja alle! Deshalb müsst ihr auch dauernd zur Beichte!«
Im Herzen war ich noch immer katholisch – und wollte später ins Kloster gehen. Noch immer war ich fasziniert von den Ritualen der katholischen Gottesdienste, von den Klingeln und dem Weihrauch und den lateinischen Gebeten. Dank einer Sonderregelung bekam ich jahrelang doppelten Religionsunterricht – in den katholischen Unterricht wollte ich, in den evangelischen musste ich gehen. Ich konnte nicht begreifen, warum Glaube und Religion nicht Sache eines jeden Einzelnen sein konnten, warum es diese Anfeindungen, diese Ausgrenzungen geben musste. Mein Leben lang hat mich dieses Thema begleitet.
Ich blieb also evangelisch und war trotzdem eine Außenseiterin – jetzt nicht mehr wegen der Religion, sondern wegen meines Allgäuer Dialekts! Wann immer ich den Mund aufmachte, lachte mich die Klasse aus. Ich sagte wie im Allgäu »nah« statt »noi«, wie es in Stuttgart heißt. Und »Semmeln« anstatt »Wecka«. Dabei war mein Dialekt ohnehin nicht sehr ausgeprägt – zu Hause sprachen wir Hochdeutsch, mein norddeutscher Vater konnte gar nichts anderes. Mein Fehler war, dass ich nicht so sprach wie alle andern – und aus Trotz beschloss ich, nie in meinem Leben Schwäbisch zu lernen!
* * *
In unserem letzten Allgäuer Winter hatte meine Mutter bei einem Skiunfall einen schweren Schädelbruch erlitten. Wochenlang hatte sie im Krankenhaus gelegen und lange war nicht sicher, ob sie die Verletzung überleben würde. Davon noch geschwächt hatte sie sich in ihrem ersten Stuttgarter Jahr auch noch eine schwere Lebensmittelvergiftung zugezogen – aus falsch verstandener Sparsamkeit: Im Kühlschrank waren Bohnen, die sie ihrer Familie nicht zumuten wollte. Aber für sie selbst waren sie noch gut genug. Ganz gesund wurde meine Mutter danach nie mehr, ihr Leben lang hatte sie Gesundheitsprobleme und musste Diät leben.
Als ein Jahr nach unserem Umzug meine jüngste Schwester Edith zur Welt kam, war diese Geburt für die schwache Konstitution meiner Mutter fast zu viel. Völlig entkräftet und mit Schüttelfrost lag sie tagelang im Bett. Als Älteste begann ich zu Hause eine ähnliche Rolle zu spielen wie in der Schule: angepasst und immer freundlich. Die Umstände ließen mir wenig Alternativen, denn meine Mutter war oft bettlägerig und krank. Diese Last war, wie ich heute weiß, oft zu viel für mich als Zwölf- oder Dreizehnjährige. Meine jüngere Schwester Elke war ein Gassenkind, immer unterwegs mit vielen Freundinnen. Ich spielte so gut wie nie mit anderen Kindern. Wenn ich nicht für die Schule lernte, im Haushalt half oder die kleine Edith umsorgte, hatte ich ein Buch vor der Nase und flüchtete mich in die Welt meiner Bücher; die waren spannender als mein eigenes Leben. Die Bücher gab es in der Schulbibliothek. Mein Vater besaß zwar einen gut gefüllten Bücherschrank, doch der war für mich tabu. Darin standen Titel wie Die Moorsoldaten von Wolfgang Langhoff und Via Mala von John Knittel, nicht gerade Kinderliteratur. Als er mein Interesse daran bemerkte, sicherte er den Schrank mit einem soliden Schloss.
Ich aber brauchte meine kleinen Fluchten. Mein Lieblingsort wurde der Stuttgarter Bahnhof, ein magischer Ort für mich. Mehrmals in der Woche stahl ich mich nachmittags heimlich an den Bahnhofsplatz, stand stundenlang in der großen, überdachten Halle und schaute mir die Leute an, die aus den Zügen stiegen. Ich sah, wie unterschiedlich sie angezogen waren, wie unterschiedlich sie sich verhielten und sprachen, und entwickelte eine unglaubliche Sehnsucht – nach der Ferne, nach anderen Ländern, einem anderen Leben.
Für meine Eltern ging es in Stuttgart wirtschaftlich bergauf. Als Leiter der Küchentechnik von Bosch brachte mein Vater immer die modernsten Geräte mit nach Hause. Später wechselte er in seine alte Position und wurde, wie früher, Chef der Forschungsabteilung für Autozubehör. Jetzt war er leitender Manager eines Wirtschaftswunderkonzerns. Meine Eltern waren wohlhabend, für viele andere Familien waren wir reich. Aber davon merkte man nichts, so sparsam wie wir lebten. Meine Kleider wurden aus denen meiner Mutter genäht, die anderen Kinder hänselten mich wegen meines altmodischen Outfits. Der Mief der 50er-Jahre. In dieser erzkonservativen Zeit setzte man auf Vergessen und Wiederaufbau, auf Tugenden wie Fleiß, Anstand und Gehorsam. Für meinen Vater war das eine Art Glaubensbekenntnis. Gütig, streng und verklemmt versuchte er, uns zu erziehen. Er war das unumstrittene Familienoberhaupt, unser ganzes Familienleben war auf ihn ausgerichtet. Er war pflichtbewusst, fürsorglich, fleißig – und nicht minder altmodisch. Unsere Erziehung hätte besser ins 19. Jahrhundert gepasst als in die allmählich aufwachende Gesellschaft der 50er. Wenn wir bei Tisch nicht gerade saßen, zwang er uns mit einem Besenstiel zwischen den Schultern zu einer aufrechten Sitzhaltung. Wenn wir den Teller nicht ganz leer gegessen hatten, mussten wir so lange sitzen bleiben, bis der letzte Krümel verschwunden war.
Damals wohnten wir schon nicht mehr zur Miete. Meine Eltern hatten 1956 ein Haus gekauft, ein Reihenhaus mit drei Stockwerken, in Hanglage am Rande des Stuttgarter Kessels, mit achtzig Stufen vor der Haustür und einer riesigen Dachterrasse, von der man einen traumhaften Blick über ganz Stuttgart hatte. Jeden Abend, wenn unser Vater heimkam und die Treppe hochstieg, rief diejenige von uns, die ihn zuerst gesehenen hatte: »Vati kommt! Vati kommt!« Wir legten rasch die Schürzen zur Seite, wuschen die Hände, fuhren mit der Bürste durchs Haar, liefen nach unten und reihten uns wie die Orgelpfeifen hinter dem Eingang auf. Die kleine Edith stand ganz vorne, dann kam Elke, dann ich und zum Schluss meine Mutter. Wir standen Spalier – bis sich schließlich die Haustür öffnete und mein Vater eintrat und uns, eine nach der anderen, der Reihe nach begrüßte. An jedem Wochentag spielte sich dieses Ritual ab. Sobald mein Vater zu Hause war, konzentrierte sich alles auf ihn. Jeder Wunsch wurde ihm von den Lippen abgelesen. Dann aß er mit uns zu Abend, setzte sich anschließend bis nachts um elf an seinen Schreibtisch und arbeitete in den Akten, die er mit nach Hause gebracht hatte. Mein Vater hat ständig gearbeitet! Ich habe ihn fast nur so erlebt.
Meine Eltern stritten sich nie, zumindest nicht vor uns Kindern. Und auch uns erzog meine Mutter so, dass wir gar nicht auf die Idee kamen, ihr oder meinem Vater zu widersprechen – Widerstand blieb lange Zeit ein Fremdwort für mich. Bis zu meinem sechzehnten Geburtstag bekam ich ganze zwei Mark Taschengeld im Monat. Am Abend musste ich um neun Uhr ins Bett. Einen Fernseher gab es nicht. Nach dem Abendessen saßen wir im Wohnzimmer auf dem Sofa und stopften, strickten, häkelten und stickten. Oft war auch meine Großmutter aus dem Allgäu dabei. Als die Großtante gestorben war und auch meine Großmutter nicht mehr allein zurechtkam, hatten meine Eltern sie zu uns nach Stuttgart geholt, weg aus ihrem Dorf, von den Blumenwiesen und dem Hausbach am Fuß der Berge.
* * *
Nun saß ich also im knöchellangen, altrosafarbenen Kleid mit zugeknöpftem Bubikragen beim Tanzschulabschlussball, neben mir mein strenger norddeutscher Vater.
Beziehungen zum anderen Geschlecht gab es für mich nicht – die Kombination aus Mädchengymnasium und Ernst Finkelmann ließ nichts anderes zu. Sex wurde bei uns zu Hause ignoriert. Natürlich träumte ich wie alle Mädchen von der großen Liebe, von einem Prinzen, der auf einem feurigen Pferd geritten kommt. Aber einen besonderen Jungen hatte ich nicht im Auge. Ich war nie verliebt, während viele meiner Freundinnen schon fest liiert oder sogar verlobt waren.
In der Tanzstunde hatten sie über mich gelacht. Meine Freundin Elke Pretorius, eine Arzttocher, sagte damals zu mir: »Ilse, ich muss mich dauernd für dich schämen. Die anderen lachen mich immer aus, weil du keine Ahnung hast!« Sex meinte sie natürlich. Mit Elke verband mich eine enge Freundschaft, wir waren eine Zeit lang unzertrennlich. Wie Pat & Patachon, das dänische Komikerpaar, kamen wir daher: sie klein und rundlich, ich lang und dünn wie eine Bohnenstange. Nach dem Abschlussball drohte sie, mir die Freundschaft aufzukündigen. Das traf mich tief. »Ilse«, sagte sie zu mir, »schau dir nur dein Kleid an! So geht’s nicht weiter.«
Andere trugen jetzt Petticoat-Kleider mit freizügigem Ausschnitt und die ersten Jeans, und während meine Mitschüler James Dean und Elvis verehrten, bei dessen hüftenschwingenden Auftritten die Teenager reihenweise in Ohnmacht fielen, reagierte mein Vater mit Abscheu. Er hörte klassische Musik. Alles andere existierte für ihn nicht.
Meine Energie konzentrierte ich damals ganz auf die Schule, und auf Oper und Theater. Ich war Kulturreferentin im Königin-Olga-Stift, einmal pro Woche musste ich für die Schule die reservierten Eintrittskarten abholen. Deshalb verpasste ich nie eine neue Vorstellung und saß immer auf den besten Plätzen. Alles sog ich in mich auf. Da ich Sprachen liebte, war ich auch immer die Beste in Englisch und eine der Besten in Deutsch. Sprache war für mich wichtig und wertvoll.
Interesse fürs männliche Geschlecht bekam ich durch die Musik. Aber nicht durch Presley und Rock 'n' Roll, es war die Geige meines norddeutschen Großvaters. Die hatte ich geerbt und schon in der zweiten Klasse hatte ich angefangen, Geigenunterricht zu nehmen. Bei uns zu Hause hörte man viel Musik, auch tagsüber liefen oft Schallplatten mit Opernmusik, die nicht nur mein Vater, sondern auch meine Mutter liebte.
Mein Musiklehrer, der mir das Geigespielen beibrachte, hatte mich bald ins Schulorchester aufgenommen. Und auf Vermittlung meines Vaters spielte ich jetzt auch in einem Studentenorchester, das zu einer nicht schlagenden Verbindung angehender Ingenieure gehörte. Dort traf man sich auch außerhalb der Proben, und jetzt begann auch ich, regelmäßig mit Spaß zu tanzen.
Es dauerte nicht lange, da hatte auch ich endlich einen Freund: betucht und mit einem tollen Sportwagen. Alle meine Mitschülerinnen standen da und staunten, wenn er, mit einem Blumenstrauß bewaffnet, am Pausenhof vorfuhr und mich von der Schule abholte. Ich gab es ihnen zurück: Plötzlich war ich akzeptiert – nur weil ich diesen »Sunnyboy« kannte. Ich war stolz und mochte ihn, fürs Verlieben aber hat es nicht gereicht. Er meinte es ernst, ich nicht.
Auch mein Vater hatte Zukunftspläne für mich: Bei Bosch arbeitete damals ein junger Student, der ihm gefiel. Als dieser junge Mann eines Tages bei uns zu Hause auftauchte und mir einen Heiratsantrag machte, war ich einfach platt. »Daran denke ich doch überhaupt nicht! Ich bin viel zu jung!« Ich wollte nicht. Ich wollte nicht einmal darüber nachdenken.
Das war auch die Zeit, in der mein Vater mich immer wieder fragte: »Was willst du werden?« Dass ich studieren würde, war klar, darüber gab es zu Hause keinerlei Diskussionen. Studieren und promovieren. Mir schwebte »irgendetwas mit Form und Farbe« vor, ich traute mir damals alles zu – alles außer Mathematik und Physik. Dann passierte etwas Aufregendes: Mein Vater sollte für seine Firma nach Amerika fliegen. Zum ersten Mal über den großen Teich, in die neue Welt!
Ich begleitete ihn zum Flughafen und da stand ich einfach nur da, wie bei meinen Besuchen am Stuttgarter Bahnhof. Das Gefühl war dasselbe, und doch war alles eine Spur größer. Hier bekam ich eine Ahnung, wie groß die Welt wirklich ist. Eine Maschine aus Rom wurde angekündigt, auf Deutsch, Englisch und Italienisch. Die nächste ging nach Paris und wieder eine andere nach London. Ich war sprachlos. Und in diesem Augenblick wurde mir klar, was ich wollte. Ich will Sprachen studieren, wusste ich jetzt. Und irgendwann ins Ausland gehen. Ich wollte wissen, was Leben ist.
Auf Hölderlins Spuren
An einem klaren Frühlingsmorgen gehe ich von meinem Zimmer zur Uni, schwungvoll, mit großen Schritten, wie ich es von meinem langen Schulweg im Allgäu her gewohnt war. Auf der anderen Straßenseite kommt mir ein junger Mann entgegen, auch ein Student. Ich schaue hinüber zu ihm. Und er guckt frech zurück. Er gefällt mir. Solange wir in Blickweite sind, schauen wir einander nach.
Diese Szene wiederholte sich von diesem Tag an jeden Morgen. Fast an derselben Stelle begegnete ich diesem geheimnisvollen jungen Mann und unsere Blicke trafen sich. Und wenn ich ihn sah, klopfte mein Herz, als ob es zerspringen wollte.
Um das zu erleben, hatte ich Stuttgart verlassen und zum Studieren ins romantische Tübingen gehen müssen. Ich genoss die neuen Freiheiten und verbrachte viel Zeit damit, die malerische Altstadt am Neckar zu entdecken, mit ihren verwinkelten Gassen und Fachwerkhäusern, den Stocherkähnen auf dem Fluss und dem sagenumwobenen Hölderlinturm. Die altehrwürdige Universität aus dem 15. Jahrhundert liegt mitten in der Stadt und bestimmte ihr Leben. Tübingen war gemütlich und umtriebig, und die vielen Verbindungshäuser hatten einen besonderen Charme, meist alte Gemäuer mit großen Gärten, in denen man prächtig feiern konnte. Ich ließ jetzt keine Gelegenheit aus: Mehrmals in der Woche fanden Studentenfeten statt, schon bald kannte ich viele Studenten in Tübingen – und fühlte mich pudelwohl. Ein völlig neues Lebensgefühl für mich, das ich genoss.
Aber ich blieb fleißig und wissbegierig, die Vorlesungen und Seminare begeisterten mich, nicht nur Germanistik und Anglistik, ich ging auch in Medizinvorlesungen. Vielleicht würde ich ja umsatteln, alles schien möglich. Ich wohnte in einem möblierten Zimmer außerhalb der Altstadt, eine knappe halbe Stunde von der Uni entfernt. Für die Miete musste ich gerade mal fünfzig Mark im Monat berappen, was selbst für die damaligen Verhältnisse außergewöhnlich preiswert war. Alles andere wäre nicht machbar gewesen, da ich mit dem Geld haushalten musste – mein sparsamer Vater hielt mich nach wie vor knapp. Manchmal hatte ich gegen Ende des Monats kaum noch Geld, um mir etwas zu essen zu kaufen. Zu meinen Lieblingsorten gehörte damals die Uni-Bibliothek, wo ich über den Büchern saß und lernte. An einem Vormittag stand plötzlich der Student, der mir gegenübersaß, auf und sagte ein wenig schüchtern: »Das ist jetzt schon der zweite Tag: Ihr Magen knurrt immer so laut, ich kann mich nicht konzentrieren. Darf ich Ihnen zehn Pfennig geben für eine Brezel?«
Und da war Wolfgang Müller, er lud mich einmal pro Woche, jeden Mittwoch, zu sich nach Hause zum Mittagessen ein. Er war damals mein bester Freund, doch außer, dass wir uns hin und wieder in den Arm nahmen und kuschelten, gab es nichts. So schwer es meinem »Teddybär-Freund«, wie ich Wolfgang nannte, auch gefallen sein mag: Er akzeptierte meine Zurückhaltung, obgleich er bis über beide Ohren in mich verliebt war. Alle anderen in meinem Bekanntenkreis hatten richtige Freunde – nur ich nicht. Ich machte mir allmählich selbst Gedanken über mich – was war los mit mir? War ich normal?
Dann wurde es Frühling. Zum Ende des ersten Wintersemesters schmolz der Schnee, Krokusse blühten, Osterglocken leuchteten an den Neckarauen und am Morgen zwitscherten die Vögel so schön wie noch in keinem Jahr zuvor. Da passierte es – ich begegnete dem geheimnisvollen Studenten auf meinem Weg zur Uni. Wo immer ich auch war – in der Mensa, in der Vorlesung, in der Bibliothek –, immer tauchte er jetzt auf.
Eines Tages, in meiner Germanistikvorlesung bei Beißner, saß er wieder drei Reihen vor mir und drehte sich provozierend zu mir um. Er starrte mich einfach an. Professor Friedrich Beißner war einer der Stars der Tübinger Uni, seine historisch-kritische große Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe war ein Bestseller und seine Vorlesungen waren ein Spaß.
Plötzlich machten die Verse für mich Sinn, ich konnte nicht genug kriegen von Hölderlin:
»Froh der süßen Augenweide
Wallen wir auf grüner Flur.
Unser Priestertum ist Freude,
Unser Tempel die Natur.
Heute soll kein Auge trübe,
Sorge nicht hienieden sein!
Jedes Wesen soll der Liebe,
Frei und froh, wie wir, sich freun!«
Nach der Beißner-Vorlesung versuchte ich in der Bibliothek, wo man kein Wort reden durfte, meine Gefühle unter Kontrolle zu bringen und zu arbeiten. Aber das klappte nicht. Als ich von meiner Lektüre aufschaute, blickte ich wieder direkt in die Augen meines schweigsamen Schattens. Vor Aufregung wurde ich immer nervöser. Warum sprach er mich nicht an? War er genauso schüchtern wie ich? Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Nach einer Ewigkeit, in der wir uns mit Blicken verschlangen, stand ich auf und flüchtete mich zur Toilette. Auf dem Rückweg zur Bibliothek traf ich meinen »Teddybär-Freund«. Mit Wolfgang im Schlepptau sah ich dann meinen Unbekannten im Kreis anderer Studenten. Und plötzlich hielt ich es nicht mehr aus, nahm all meinen Mut zusammen und ging auf ihn zu: »Entschuldigen Sie, wie spät ist es denn?«
Das war albern, aber in der Aufregung fiel mir nichts Besseres ein. Wolfgang Müller stand noch immer dicht neben mir und so fiel dieser erste Satz, den ich von ihm hörte: »Junger Freund, Sie haben eine unwahrscheinliche Fähigkeit, überflüssig zu wirken.« Wolfgang schlich sich davon. Ich habe überhaupt keine Erinnerung mehr daran, ob er mir leid tat, ob ich ihm nachging. Ich war auf den großen Unbekannten fixiert, der jetzt auch endlich mit mir sprach. Von diesem Moment an war nichts mehr wie zuvor.
* * *
Er war selten allein, fast immer war er von Kommilitonen umgeben, die den Macho bewunderten. Doch mir gegenüber war er schüchtern, er traute sich nicht einmal, nach meinem Namen zu fragen. Da ich keine Spur mutiger war, löste sich das Problem erst, als ich am Samstagnachmittag wie üblich übers Wochenende zu meinen Eltern nach Stuttgart fahren wollte. Kurz vor der Abfahrt meines Zuges fasste ich mir ein Herz. Wir hatten uns ein paar Stunden vorher in der Altstadt getroffen und standen am Rathaus in der Marktgasse, als ich ihn fragte: »Wie heißt du eigentlich?« Er lehnte neben einer Parkuhr, über die er den linken Arm legte, und mindestens so lässig wie James Dean deutete er mit einem Finger der rechten Hand auf den Werbeschriftzug des Parkometers. »Kienzle« war da deutlich lesbar ins Metall gestanzt. Dann brachte er mich zum Zug und wir trennten uns für ein nicht enden wollendes Wochenende.
Zu Hause erzählte ich meinen Eltern enthusiastisch: »Ich habe den Mann meines Lebens kennengelernt!« Froh darüber, meinen Vater beeindrucken und damit für mich gewinnen zu können, fügte ich hinzu: »Der Sohn vom Uhren-Kienzle!« Kienzle-Uhren waren damals eine bekannte Marke. Aber mein Vater sagte nur trocken: »Du bist aber naiv! Der hat dich sicher angelogen!« – »Nie würde er mich anlügen! Nie im Leben!«
Zurück in Tübingen erzählte ich das meinem »Kienzle«. Der lachte: »Natürlich bin ich nicht vom Uhren-Kienzle. Aber mein Name ist Kienzle, Ulrich Kienzle.« In Tübingen studierte er Politische Wissenschaften, Germanistik und Kunstgeschichte. Sein Vater war kein Fabrikant, sondern ein einfacher Zimmermann in Neckarrems, einem Dorf einige Kilometer östlich von Stuttgart. Seit längerer Zeit war er schwer krank, sodass Ulrichs resolute Mutter mit ihrem Tante-Emma-Laden die Familie ernähren musste: der einzige Laden im Dorf, und dort arbeitete sie von morgens bis spät am Abend. Ulis familiärer Hintergrund unterschied ihn von vielen seiner Kommilitonen, die meist aus relativ gut situierten Familien stammten. Vielleicht war das der Grund, warum er so gern den Macho spielte, nicht nur anderen, sondern jetzt auch mir gegenüber.
Er schien sich behaupten zu müssen, hatte früh gelernt, seine Ellenbogen auszufahren und sich mit einer Aura der Unantastbarkeit zu umgeben. Regelmäßig prüfte er seine Umgebung, wie weit er gehen konnte. Er provozierte – und ich liebte ihn. Er diskutierte und agitierte – und ich liebte ihn. Er holzte beim Fußball die Gegner um – und ich liebte ihn. Wir trafen uns jetzt oft in einem kleinen Tübinger Café. Ich hatte damals die Angewohnheit, meinen Kaffee schwarz zu trinken, doch jedes Mal, wenn der Kellner die Tasse brachte, nahm Uli die Zuckerdose und schüttete den größten Teil ihres Inhaltes hinein. Kaffee ohne Zucker schmeckt nicht – fand er. So lange, bis ich mich daran gewöhnt hatte und Kaffee mit Zucker trank. Er bestimmte die Regeln – bei allen, die sich nicht dagegen wehrten. Nichts anderes war ich von meinem Vater gewohnt.
* * *
Als ich Uli kennenlernte, wohnte er in der Haaggasse 25 zur Untermiete, bei Frau Seiler, einer fröhlichen, aufgeweckten Bayerin um die vierzig, die es ins Schwäbische verschlagen hatte. Ich habe die kleine, zierliche Handwerkerfrau nie anders als mit einer Schürze gesehen. Ihr Mann war still, fast stoisch, ein Flaschnermeister, der ein Handwerksgeschäft betrieb und einen kleinen Weinberg bewirtschaftete. Seinen Wein bezeichnete man auf Schwäbisch als »Semsagrebsler«*. [* Wenig bekömmlicher, saurer Wein]