Mark Leibovich
Politzirkus
Washington
Wer regiert eigentlich die Welt?
Mit einem Vorwort von Nikolaus Brender
Aus dem Amerikanischen
von Ulrike Bischoff
sagas.edition
Alle Rechte vorbehalten, einschließlich des Rechts auf Vervielfältigung des ganzen Buchs oder von Teilen davon in jeglicher Form. Diese Ausgabe wurde mit Genehmigung des Verlags Blue Rider Press, einer Tochter der Penguin Group (USA) LLC, A Penguin Random House Company, veröffentlicht.
Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »This Town« im Verlag Blue Rider Press, New York, USA. © Mark Leibovich
Für die deutschsprachige Ausgabe: © sagas.edition, Stuttgart 2014
Lektorat: Martin Mühleis, Lena Stadelmann
Korrektorat: Dr. Birgit Gläser
Satz: Anja Pfennig-Mische
Umschlagillustration: Wieslaw Smetek
Gestaltung: b3K-design Max Bartholl, Andrea Schneider
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-944660-09-7
www.sagas.de
Meiner Familie
Inhalt
Vorwort
Prolog
1. Kapitel Im Green Room des Himmels
2. Kapitel Stadt der Schleimer
3. Kapitel Drei Senatoren unserer Zeit
4. Kapitel Die Entourage
5. Kapitel Einbettung
6. Kapitel »Danke für Ihre Dienste«
7. Kapitel Kakerlakenfalle Macht
8. Kapitel Wie der Politzirkus funktioniert
9. Kapitel Darstellende Künste
10. Kapitel Anarchie im Ruhewagen
11. Kapitel Der Präsidentschaftswahlkampf: wieder derselbe Film
12. Kapitel Der Präsidentschaftswahlkampf: traurig und besorgniserregend
13. Kapitel Der Präsidentschaftswahlkampf: Bauchlandungen, Whiskeytrüffeln und wunderbare Ruinen
14. Kapitel Die letzte Party
Epilog
Danksagung
Anmerkungen
Vorwort
von Nikolaus Brender
Wenn deutsche Journalisten über die Lage des deutschen Journalismus – im Grunde also über sich selbst – schreiben, wird es verdammt ernst. Mit einem deutschen Journalisten nämlich ist in der Regel nicht zu spaßen und noch weniger, wenn es um dessen Befindlichkeiten geht.
In dieser Selbstbetrachtung unterscheidet sich der typische Vertreter der sogenannten Vierten Gewalt auch wenig vom Repräsentanten der ersten drei Gewalten dieser Republik: In ihren biografischen Erzählungen sind Heroik und Larmoyanz seit jeher beliebte und gängige Erzählmuster von Mitgliedern der politisch-medialen Gattung. Nicht, dass es am Ernst der Lage der Beteiligten fehlen würde. Gründe zur Besorgnis gibt es zuhauf: der galoppierende Akzeptanzschwund bei den Wählern ebenso wie bei den Lesern, Hörern und Zuschauern. Die verstörende Konfrontation mit einer neuen Öffentlichkeit in Form der sozialen Medien, durch die sich Politiker wie Journalisten existenziell infrage gestellt sehen. Der rapide Ansehensverlust von Politik und Medien gerade auch in der bürgerlichen Welt und vernichtende Urteile über den geringen Wertgehalt ihrer gesellschaftlichen Produktivität. Die gegenseitigen Schuldzuweisungen für ihre so empfundene erbarmungswürdige Lage verbinden diese Kreise ebenso wie ihre gleichzeitigen inzestuösen Umarmungen. Dieses krampfhafte Verhältnis zwischen Politik, Wirtschaft und Journalismus in Deutschland ist von Wissenschaftlern, Journalisten und Politikern vielfach beschrieben worden: im besten Fall analytisch, durchaus auch selbstkritisch, oft aber verbittert, verbiestert und selbstgerecht.
Die Beobachtungen und Erfahrungen des langjährigen Chefkorrespondenten des New York Times Magazine, Mark Leibovich, lassen durchaus Vergleiche zwischen dem amerikanischen Medien- und Politikbetrieb und der deutschen Szenerie zu. Nur wählt er zu ihrer Diagnose nicht den kalt-distanzierten Stil eines ärztlichen Befundberichts mit quälender Leidens- und Krankengeschichte in der Anlage. Mark Leibovich versagt sich auch vollmundige Therapieempfehlungen, wie sie uns deutschen Journalisten zur Heilung allfälliger gesellschaftlicher Krankheiten so leicht aus der Feder fließen oder ins Mikrofon rollen.
Von Episode zu Episode führt sein Buch tiefer in die Welt des Absurden. Zeitweilig fühlt man sich in die Kulissen amerikanischer Fernsehserien wie The West Wing versetzt, so gescriptet lesen sich seine Gespräche mit Politikern, Begegnungen mit Journalistenkollegen und Begebenheiten aus der Washingtoner Alltagswelt. In Balzac’scher Manier – so nennt die Financial Times seinen Schreibstil – zeichnen seine feinen Beobachtungen einen polit-medialen Komplex aus Abhängigkeiten, gesellschaftlichen und profitablen Kompromissen, der zwar belächelt, aber nie verändert wird. Da ist Andrea Mitchell, NBC-Korrespondentin und Ehefrau von Alan Greenspan, dem machtvollen damaligen Chef der amerikanischen Bundesbank. Das Paar gehört zum Edelinterieur der Hauptstadt und fehlt bei keinem Dinner und keiner Party. Dass die eheliche Nähe zu ihrem Mann ihre Berichte über Wirtschaft und Finanzpolitik behindern könnte, kann sie genauso wenig einsehen wie ihr Gatte. Die verschwurbelte Konstruktion ihres Fernsehsenders, sie doch zur Berichterstattung zuzulassen, ist Realsatire pur. (Anmerkung: Vergleichbare Paar- und Arbeitskonstruktionen kennt auch das deutsche öffentlich-rechtliche Fernsehsystem.) Da sind die Senatoren und Mitglieder des Repräsentantenhauses, die sich unter tosendem Beifall ihres Publikums hinter eine Idee stellen und bei veränderten persönlichen Verhältnissen exakt das Gegenteil vom vorher Gepriesenen praktizieren. Dann unter Beifall der Mitglieder des »Clubs« derer, die in Washington ihr Aus- und vor allem millionenschwere Einkommen gefunden haben.
Mit großem Vergnügen lesen sich die Washingtoner Anekdoten, bis man verblüfft aufschreckt und feststellt, dass Mark Leibovich keine Romanpassagen rezitiert und auch aus keinem Drehbuch zitiert, sondern Ausschnitte aus der politischen Wirklichkeit beschreibt. Und diese wiederum scheint dem Genre Dokudrama näher als der realen Welt.
Der Unterschied zu Deutschland: In der Darstellung der politischen Wirklichkeit wie im Dokudrama beweist Amerika größeres Talent. Seine Politiker und Journalisten spielen ihren Part im realen wie im virtuellen Hauptstadtspiel höchst rollengerecht. Auch in Washington treten Minister zurück, aber nicht wegen eines lächerlichen Plagiats. Das wäre dann doch zu klein.
Auch in der amerikanischen Hauptstadt zwingt die Presse Präsidenten mit dramatisch-journalistischen Mitteln zum Rücktritt. Aber sie würde es nie zulassen, dass sich der öffentliche Eindruck durchsetzt, die böse Presse habe den Präsidenten über ein Bobby Car stolpern lassen.
Dass amerikanische Serienautoren der Wirklichkeitserwartung ihres Publikums näherkommen als ihre deutschen Kollegen, mag auch an der dürr-deutschen Politikinszenierung liegen, die mangels dramaturgischer Elemente weder beim Publikum noch bei Autoren Fantasien weckt. Gegenüber der großen Bühne des Staatstheaters Washington ist Berlin immer noch eine überschaubare Kleinkunststätte.
Doch Berlin holt auf. Es schafft sich an, was Washington schon lange zum Bedeutungsgewinn seiner Akteure nutzt: riesige Windmaschinen, atemberaubende Zeitraffer, optische und akustische Selbstbespiegelungssäle, sich immer schneller windende Drehtüren, Zugangssperren und exklusive VIP-Zonen.
Noch machen die Kommunikations- und Beraterfirmen rund um die Abgeordnetenbüros des Bundestags keine Milliardenumsätze wie ihre Vorbilder in Washington. Zahlenmäßig haben sie den Reichstag inzwischen aber voll umzingelt: Über 6000 Lobbyisten, Einflüsterer, Schmeichler und interessensteuernde Ratgeber bevölkern das Regierungsviertel. Ein buntes Volk aus Fachleuten, ehemaligen Politikern, Staatsbeamten und Journalisten. Vor Jahren im kleinen Bonn waren die journalistischen Seitenwechsler noch die Ausnahme. In Berlin trifft man sie heute an jeder Ministeriumsecke. Von Verbänden, Banken und Großunternehmen als Kontaktpersonen zu Redaktionen und Ministerien eingekauft. Gleichgültig, ob mit gutem oder zweifelhaftem Leumund: Hauptsache einigermaßen bekannt. Am liebsten Fernsehgesicht. So vertreten sie die Interessen der Nahrungsmittelindustrie ebenso wie die kleiner Investmentbanken. Sie sind Präsidenten von Bundesverbänden oder Mitgesellschafter von Beratungsunternehmen. Bei Wikipedia heißt es dann: »Er ist ein deutscher Journalist und Lobbyist.« Eine janusköpfige Berufsbezeichnung ohne einer weiteren Rede wert. So, als würde beides einfach zusammenpassen. In Berlin fällt das noch auf. In Washington gehört es zur Normalität, dass Goldman-Sachs-Banker zu Finanzministern berufen werden und ohne Anstand zurückkehren, dass Journalisten großer Zeitungen ins Weiße Haus ziehen (19 Journalisten haben sich beim Regierungswechsel von Obama anheuern lassen), in die Presseabteilung eines multinationalen Unternehmens wechseln und im Anschluss daran wieder als Journalisten arbeiten. Leibovich erzählt die Geschichte eines Lobbyisten, von dem man sagt, er sei häufiger durch die Drehtür gegangen als ein Page im Mayflower Hotel. Soweit ist Berlin noch nicht gekommen. Die Hauptstadt ist aber auf einem guten – eher schlechten – Weg dorthin: Ein Nachrichtenmoderator eines nationalen öffentlich-rechtlichen Senders wird flugs zum Regierungssprecher ernannt. Sein Vorgänger im Amt des Kanzlersprechers wird im Austausch als Intendant in eine ARD-Anstalt geschickt. Direkt aus Merkels Amtssitz zieht der Kanzleramtsminister in die Lobby-Chefetage des größten deutschen Automobilbauers nach Stuttgart. Der FDP-Entwicklungsminister a. D. verdingt sich als Rüstungslobbyist. Ein FDP-Staatssekretär wird von der Raucherlobby beschäftigt.
Das sind allerdings kleine Fische gegen den Hecht im Karpfenteich, den vormaligen Kanzler Gerhard Schröder, der sich nach der verlorenen Wahl schnurstracks beim russischen Staatskonzern Gazprom verdingte und auf Ethik und Ehre des Amtes pfiff. Diese Nummer hätte sich allerdings auch im Politzirkus Washington kein Regisseur auszudenken gewagt.
Die Vermischung von Politik, Journalismus, Wirtschaft und Lobbyismus verwischt Verantwortung, institutionelle Aufgabenteilung und persönliche Perspektiven. Sie schafft für die Akteure völlig neue Profile. Die Rolle des Celebrity ist für Journalisten eigentlich nicht vorgesehen. Und doch finden einige von ihnen immer häufiger Gefallen daran. In Washington wie in Berlin. Sie lassen sich auf roten Teppichen feiern, als Nummerngirls (so Friedrich Küppersbusch) in Talkshows laden, stolzieren durch Fernsehspots und prangen überlebensgroß auf leuchtenden Werbeflächen. Auch Politiker, hohe Beamte, manche Wissenschaftler, Manager und Kirchenleute finden sich in der Rolle der Celebritys zunehmend wohl. So verlagert sich ihr eigentlicher Dienst am Altar, am Kunden, an der Wissenschaft, am Staat und am Leser, Hörer oder Zuschauer in die Arbeit am Personal Branding, um sich im Club der Eingebetteten für immer einen festen Platz zu sichern.
Das Buch von Mark Leibovich spielt im Politzirkus Washington nicht den Pausenclown.
Prolog
Juni 2008
Tim Russert ist tot. Aber der Saal lebt.
Bei einer Trauerfeier darf man sich natürlich nicht allzu sehr ins Zeug legen. So etwas fällt auf. Aber eine hochkarätige Beerdigung in Washington ist einfach ideal, um Kontakte zu pflegen. Hinter den feierlichen Mienen ist der Eifer förmlich zu spüren: Ein wahrer Ansturm von gut 2000 mächtigen Trauergästen strapaziert die roten Teppiche in den Gängen des Kennedy Center.
Vor der Trauerfeier eilen ständig Leute den linken Gang hinunter zu Robert Gibbs, dem Wahlkampf-Pressesprecher, der mit dem richtigen Arbeitgeber das große Los gezogen hat: Barack Obama soll bald als erster Afroamerikaner von einer der beiden großen Parteien zum Präsidentschaftskandidaten gekürt werden. Falls Obama gewählt wird, hat Gibbs gute Aussichten, Pressesprecher des Weißen Hauses zu werden. Seine Eltern sind Bibliothekare und gehören zu den zehn Prozent der Weißen in Alabama, die Obama im November unterstützen werden.1 »Bobby«, wie er zu Hause genannt wurde, las als Kind äußerst ungern und entwickelte sich zu einem mittlerweile immer glühenderen Redner.
Ständig wird er an Flughäfen und auf der Straße um Autogramme gebeten. Er ist eine gute Adresse für Leute, die menschliche Beziehungen unter dem Aspekt sehen: »Wie kann dieser Mensch für mich nützlich sein?« Potenziell ist Gibbs mittlerweile kolossal nützlich. Viele sprechen ihn an und gratulieren ihm zu seinem Erfolg und dem seines Kandidaten, besonders bei Stammestreffen wie diesem, einem grandiosen Abschied für den Moderator der Fernsehsendung Meet the Press.
Neben Gibbs präsidiert eine weitere hilfreiche Adresse: David Axelrod, Medienberater der Demokratischen Partei und ein Walross von einem Kerl, der zu allem seinen Senf dazugibt und Obamas Wahlkampf um die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten 2008 inszeniert hat. Axelrod, kurz »Axe« genannt, ist aus sentimentaler Anhänglichkeit an Robert F. Kennedy Demokrat und in seiner Schwärmerei für Obama nicht einmal von Gibbs zu übertreffen. (Gibbs nannte Axe einmal »den Burschen, der mit Rosenblättern vor Obama hergeht«.)2 Ein Politico-Kolumnist, der den großen Ansturm auf Gibbs und Axelrod bemerkt, sagt zu mir, die beiden seien die »It-Guys« der Trauerfeier, und das sind sie – nicht zuletzt wegen ihrer Medienstrategie, die darauf beruht, Washingtons Meinungsführer geflissentlich zu ignorieren.
Auch Joe Scarborough und Mika Brzezinski, die TV-Journalistin und Tochter von Jimmy Carters einstigem Sicherheitsberater, werden umlagert und kommen kaum zu ihren Sitzplätzen durch: Sie werden mit Komplimenten für den Erfolg ihrer Sendung Morning Joe bestürmt, der beliebten morgendlichen Talkshow des Fernsehsenders MSNBC, die als eine Hauptschlagader im Kreislauf der Meinungsführer rangiert. Viele drücken den beiden Moderatoren ihre Visitenkarte in die Hand, versessen darauf, dass Joe und Mika sie oder ihre Klienten in ihre Show einladen oder zumindest ihr Buch erwähnen. »Ein neuer Tiefpunkt, selbst für das vulgäre Washington«, wird Mika das Gedränge bei der Trauerfeier später beklagen. Aber es ist wichtig, im Gespräch zu sein, das begreift doch wohl jeder. Man nutzt seine Chance, wenn sie sich bietet.
Bill und Hillary Clinton gehen steif den linken Gang entlang. Köpfe drehen sich und die kollektive Wirkung ist unverkennbar: Im ganzen Saal ist das exotische Hauptstadtprickeln zu spüren, das die Nähe zu Supermächtigen auslöst. Bill und Hill. Alle gehen auf Abstand. Es war ein hartes Rennen. Hillary hat gerade ihre Bewerbung um die Nominierung zur Präsidentschaftskandidatin der Demokratischen Partei zurückgezogen und damit einen endlos langen Vorwahlkampf beendet, in dem Bill sich blamiert und eines Ex-Präsidenten unwürdige und vielleicht sogar rassistisch befrachtete Äußerungen über Obama gemacht hat. Keiner der beiden Clintons steht im Moment auf sonderlich gutem Fuß mit Washington, den Medien, der Demokratischen Partei – vielleicht auch miteinander.
Bills Spitzenberater nach der Präsidentschaft, Doug Band, führt auf seinem Blackberry eine Liste aller Leute, die die Clintons im Wahlkampf in die Pfanne gehauen haben und die jetzt »für uns gestorben« sind. Manche dieser Gestorbenen sind ebenfalls hier im Kennedy Center. In Clinton-Kreisen kursieren Witze über all das Schlechte, das Leuten zustößt, die es sich mit den Clintons verderben. Ted Kennedy, der Obama im Januar entscheidend unterstützt hat, leidet an einem Hirntumor und liegt im Sterben. (Nachdem er sich für Obama ausgesprochen hatte, fragte sein Kollege Lindsey Graham ihn Monate bevor sein Hirntumor entdeckt wurde, ob er sein Senatsbüro erben könne. Wieso? »Weil die Clintons Sie umbringen werden«, scherzte Graham.) Bei John Edwards, der Obama ebenfalls unterstützt hat, ist aufgeflogen, dass er seine sterbende Frau betrogen hat; seine Popularität befindet sich im freien Fall. Der Bundesstaat Iowa, dessen demokratische Wähler Hillary bei den Vorwahlen im Januar auf einen demütigenden dritten Platz verwiesen haben, ist im Frühjahr von sintflutartigen Überschwemmungen heimgesucht worden.
Hillary bleibt ihrer stoischen, zähen Art treu, setzt ein Lächeln wie hart gewordenes Kaugummi auf und verbreitet die Ausstrahlung: »Bleibt mir vom Leib.« Eine eifrige Produzentin der MSNBC-Nachrichtensendung Countdown ignoriert diese Signale, geht schnurstracks auf die Allmächtige zu, stellt sich ihr vor und setzt auf gut Glück zu einer »Anfrage« an, ob die Senatorin vielleicht an diesem Abend in die Sendung kommen würde.
»Es freut mich, Sie kennenzulernen«, erwidert Clinton der eifrigen Produzentin mit starrem Lächeln und geht unbeirrt weiter. Hillary hat an einer Trauerfeier teilzunehmen: einer Gedenkfeier für einen Mann, den sie und ihr Mann rundheraus nicht ausstehen konnten und von dem sie (zu Recht) annahmen, dass er sie ebenso verabscheute.
Aber die Clintons sind Profis in Sachen Tod und Krankheit. Sie kommen, spielen die ihnen zugedachte Rolle, schicken nette Karten und spenden den Hinterbliebenen auf ihre warmherzige, offene Clinton-Art Trost. Sie sind hier, um dem Verstorbenen mit mitfühlendem Blick Respekt zu zollen wie es die Oberhäupter von Mafiafamilien tun, wenn der Pate eines rivalisierenden Clans fällt. So ähnlich ist es bei Trauerfeiern in Washington, wenn die verschiedenen Persönlichkeitskulte zusammenkommen: Bill und Hillary gehen ein paar Schritte entfernt am ehemaligen republikanischen Sprecher des Repräsentantenhauses Newt Gingrich und seiner dritten Frau, Callista, vorbei und schneiden David Shuster, den Fernsehmoderator bei MSNBC, der gerade wegen seiner Äußerung suspendiert wurde, die Clintons hätten ihre Tochter Chelsea im Wahlkampf »eingespannt wie Zuhälter«, indem sie sie bei Superdelegierten anrufen ließen. (Seitdem hat man von Shuster kaum etwas gehört. Noch mal: Leg dich nicht mit den Clintons an!) Bill und Hill haben offenbar keine Plätze reservieren lassen, finden aber zwei freie Stühle neben der ehemaligen Außenministerin Madeleine Albright und der gegenwärtigen Außenministerin Condoleezza Rice.
Unweit der Begrüßungsschlange vor Gibbs und Axelrod kommt die NBC-Journalistin Andrea Mitchell mit ihrem Mann Alan Greenspan herein, dem konservativen Orakel der Geldpolitik und ehemaligen Vorsitzenden der US-Notenbank. Andrea ist eine der hartnäckigsten Reporterinnen der US-Hauptstadt und liebt ihre Arbeit, ihre Freunde, vor allem aber Alan. Er gehört zur Elite der Meinungsführer in Washington und gibt bei gesellschaftlichen Ereignissen immer an Andreas Arm den höflichen alten Würdenträger, selbst wenn viele ihm vorwerfen, die Wirtschaft in den Abgrund getrieben zu haben. Wäre Washington ein Comic – was in gewisser Weise zutrifft –, dann wäre Greenspan auf jedem Bild im Hintergrund zu sehen.
Einige Reihen von Alan Greenspan und Andrea Mitchell entfernt sitzt Barbara Walters, die TV-Interview-Koryphäe und Greenspans ehemalige Freundin. Als Alan und Andrea sich gerade näher gekommen waren, nahmen sie in der Amtszeit von George H.W. Bush an einem Abendessen zu Ehren von Queen Elizabeth in der Britischen Botschaft teil. Bush stellte Andrea der Königin vor: »Eure Majestät, das ist eine unserer führenden amerikanischen Journalistinnen.«3 Dann wandte er sich an Mitchell: »Hallo, Barbara«. Am nächsten Tag schickte er Andrea eine persönliche Entschuldigung.
Bei der Trauerfeier sitzt Barbara in der Nähe von Ken Duberstein, einem Urgestein in Washington, der in Ronald Reagans zweiter Amtsperiode kurze Zeit Stabschef des Weißen Hauses war. Duberstein und Mitchell sind alte Freunde. Beide sind jüdisch, gehören per Akklamation zum lokalen Hochadel und verbrachten einmal den höchsten Feiertag des jüdischen Kalenders, Jom Kippur, auf denkwürdige Weise an einer der heiligsten Stätten der Hauptstadt: in der Villa des saudi-arabischen Botschafters in den USA, Prinz Bandar bin Sultan, und seiner Frau Haifa in McLean, Virginia. Dick und Lynne Cheney waren ebenfalls da. Mitchell und Duberstein hatten wegen des jüdischen Fastentags ein schlechtes Gewissen, konnten sich aber dieser heiligen Pflicht unmöglich entziehen. »Letztlich fanden wir beide, dass Gott und unsere Eltern uns wohl verstehen würden«, schrieb Mitchell später in ihrem Buch Talking Back.
Mittlerweile ist Duberstein Lobbyist, fährt seit Jahren auf dem Washington-Karussell und hat sein Rolodex voller einträglicher Kontakte. Er ist der Inbegriff des »Ehemaligen«, der als früherer Amtsinhaber ohne Weiteres ein siebenstelliges Einkommen als Weiser, Experte, Staatsmann oder, krass gesagt (was ein wahrer Staatsmann nie tun würde), als Söldner erzielen kann. »Ehemalige« kleben an Washington wie geschmolzener Käse an einem vergoldeten Toaster.
In Zusammenhang mit Duberstein hört man häufig: »Man weiß nicht so recht, was Kenny eigentlich macht.« Sobald man das über jemanden sagt, ist klar, dass er es in Washington geschafft hat. Früher umgab solche Leute etwas Geheimnisvolles. Man vermutete, dass sie etwas Ausgefallenes taten und vielleicht für die CIA arbeiteten. Heute nimmt man eher an, dass die kuwaitische Regierung oder sonst jemand sie für etwas nicht ganz Astreines bezahlt. Sie reden lieber nicht über ihre Arbeit, wenn’s recht ist, und man muss ihre Diskretion respektieren. Zweideutigkeit zahlt sich hier gut aus.
Duberstein ist regelmäßig bei Ben Bradlee und Sally Quinn eingeladen, telefoniert ständig mit seinem engen Freund Colin Powell und erzählt allen unablässig, was »Colin mir gerade gesagt hat«. Wie die meisten »Ehemaligen« sitzt Duberstein in zahlreichen Verwaltungsräten und liest seinen Namen gern in der Zeitung und im Internet – wenn ihn nicht gerade jemand, Gott bewahre, als »ehemaligen Mitarbeiter der Reagan-Regierung« bezeichnet statt als Reagans »ehemaligen Stabschef«, denn dann fühlt er sich um seine früheren Lorbeeren gebracht und beschwert sich. Ein gängiger Spruch über Duberstein ist, dass er sechseinhalb Monate Reagans Stabschef war und (bis jetzt) 24 Jahre davon gelebt hat.
Als John McCain die Nominierung zum republikanischen Präsidentschaftskandidaten so gut wie sicher war, streckte Duberstein, laut einigen Wahlkampfberatern, die Fühler aus, um die Leitung seines potenziellen Übergangsteams zu bekommen – genau die richtige Aufgabe für jemanden wie Duberstein, der ein Gespür dafür besitzt, welche üblichen Verdächtigen der Grand Old Party die neue Regierung bilden könnten.4 Duberstein bestreitet, dass er sich je um diesen Job bemüht hat, aber das McCain-Team war ohnehin nicht an seinen Diensten interessiert und so unterstützte er schließlich Obama, kurz nachdem Colin Powell es tat.
Duberstein schüttelt Hände, winkt und schaut mitten im Satz über den Kopf seines Gegenübers, um zu sehen, wer sonst noch in der Nähe ist. Er trägt ein breites, herzliches Lächeln zur Schau und wechselt im passenden Augenblick zu einer ernsten Trauermiene über den Verlust von Timothy John Russert.
* * *
»Die wichtigsten Vertreter aus Politik und Medien sind in einem Raum versammelt«, wird die Kolumnistin Anne Schroeder Mullins später in Politico schreiben, dem aufstrebenden Wirtschafts- und Stadtorgan des politischen Washington oder von »This Town«, wie die Leute hier mit gespieltem Abscheu und ironischer Distanz gern sagen – ein verbaler Tick als geheime Verbrüderung.5 »Und wenn Sie ebenfalls dabei sind, gehören Sie zu den wichtigen Akteuren«, schließt Schroeder Mullins. Es ist unmöglich, sich nicht bestätigt zu fühlen, wenn man das liest.
Die heutige Veranstaltung ist ein Tribut an den Verstorbenen, Tim Russert, den Moderator der Fernsehsendung mit der längsten Laufzeit und die einflussreichste nicht gewählte Persönlichkeit in der mächtigsten, reichsten und enttäuschendsten Stadt der USA. Mit ihm ging ein lebendiger Teil der Hauptstadt unter, wurde eine Ära auf dem Rock Creek Cemetery zu Grabe getragen, und selbst Präsident George W. Bush und First Lady Laura hatten sich für 45 Minuten bei der Totenwache in St. Albans der Familie angeschlossen.
Der Aufgalopp ist aber zugleich eine Bestätigung für den Club der »Leute in Politik und Medien« und ihre Berater und Mitarbeiter, die nie abgewählt werden, nie das Ende ihrer Amtszeit erreichen oder, Gott bewahre, aus freien Stücken beschließen, dass es an der Zeit ist, auf ihre Farm zurückzukehren. Dieser Club kann in Washington ebenso mächtig sein wie der Kongress und seine Mitglieder sind noch schwerer wieder loszuwerden als altgediente Abgeordnete nach zehn Legislaturperioden. Sie sind die eigentlichen Stadtväter der Hauptstadt. Sie sind nicht alle gleich und sicher auch keine schlechten Menschen. Sie kommen mit unterschiedlichen Vorgeschichten hierher, mit unterschiedlichen Absichten und in vielen Fällen – vielleicht sogar in den meisten – aus vernünftigen Gründen. Sobald sie aber hier Fuß gefasst haben, geraten ihre Einstellungen ein bisschen durcheinander, und vielleicht auch ihre Motive. Nicht immer: Der Mensch ist ein kompliziertes Wesen, hier wie überall, und manchmal sogar ein widersprüchliches. Aber irgendwie erlangt die Mitgliedschaft im »Club« übergroße, prägende Bedeutung. Wer dazugehört, wird Teil eines Systems, das vor allem den belohnt, der sich darin zu halten vermag.
Wenn die Clubmitglieder bei Stammestreffen wie diesem im Kennedy Center in Erscheinung treten, pflegen sie den Eindruck, die Hauptakteure des Landes redeten täglich immer nur mit denselben zwölf Leuten. Wie in einer Zeitschleife vermitteln sie das Bild eines politischen Rudels, das niemals stirbt oder altert, sondern nur reicher wird und schlaffer im Gesicht und sich stärker schminkt. Ob real oder inszeniert, diese Insider waren schon immer da – entweder sie im wörtlichen Sinne oder weiter gefasst als »Establishment«. Statt eines Rudels bilden sie mittlerweile eher einen Schwarm: größer, glanzvoller, online und erheblich umtriebiger.
Obwohl ein großer Teil der amerikanischen Bevölkerung Washington verabscheut, hat ein Goldrausch die Stadt erfasst. In den letzten Jahren ist sie zum Schmelztiegel für schnellen Reichtum, Ruhm, Vergebung und neue Vergehen geworden. Als oberste Aufgabe des Journalismus gilt nicht mehr die Berichterstattung, sondern Expertentum – eine Entwicklung, die mit einer wilden Hatz nach Self-Branding einhergeht, um einen Begriff zu verwenden, der die Stadt inzwischen durch und durch infiziert hat: Jeder ist versessen darauf, sich am Markt als Marke zu etablieren (Russert war das lokale Coca-Cola). Für den Insider-Schwarm gibt es verschiedene Begriffe: das »permanente Washington«. »Die politische Klasse«. »Klatschkreise«. »Die üblichen Verdächtigen«. Das »Beltway-Establishment«, benannt nach dem Autobahnring rund um Washington. Die »Echokammer«. Das »Echosystem«. »Die Gang der 500«. »Die Gang der 600«. »Der Club«. »This Town«.
Diese Stadt, die Hauptstadt.
Dieses Buch schildert die Geschichte der Hauptstadt in einer Zeit angeblicher Korrekturen. »Wechselwahlen« erschüttern ständig die lokale Ordnung, sagen die Experten. Eine fand 2006 in den USA statt, weitere wird es wahrscheinlich auch in den kommenden Jahrzehnten geben. Die Politiker speien das Wort »Washington« aus wie eine Beschimpfung. Das ist nichts Neues: Seit Jahrhunderten wird in der amerikanischen Politik der Anti-Washington-Reflex gepflegt, häufig von Kandidaten, die die Hauptstadt als Sumpf schmähen, nur um sich darin wohlig wie in einem Whirlpool zu aalen, sobald sie gewählt sind. Die Stadt ist nur dazu da, verdammt zu werden.
Es gab in Washington immer schon einen gewissen Anteil Wohlhabender, die meist zum alten Geldadel gehörten: Banker, Eisenbahnbarone und Sprösslinge alter Familien aus anderen Teilen der USA, die im Staatsdienst (und als Botschafter im Ausland) tätig waren. Die Tatsache, dass die Bundesregierung ihren Sitz in Washington hat und nicht umziehen wird, hat durchweg für eine gewisse wirtschaftliche Stabilität gesorgt. In den letzten Jahren hat die Stadt sich allerdings trotz der landesweiten Wirtschaftskrise zur reichsten Metropolregion der USA gemausert.6 Reich zu werden ist mittlerweile das große parteiübergreifende Ideal: »In Washington gibt es keine Demokraten und Republikaner mehr, nur noch Millionäre«, lautet die Devise. Noch immer wird mit dem Begriff »Dienst an der Öffentlichkeit« um sich geworfen, aber häufig wird er ironisch und in dem vollen Bewusstsein verwendet, dass »Selbstbedienung« das eigentliche Insider-Spiel ist.
Seit den ausgehenden 1990er-Jahren erschütterten weit über das Weiße Haus hinausreichende Megameldungen diese Stadt: Monica Lewinsky, 9/11 und die anschließenden Kriege. Politik und Washington avancierten zum angesagten Spiel und vielleicht zur dominierenden Story des noch jungen Jahrhunderts. George W. Bushs Washington wurde als Polarstern der nationalen Sicherheit und Demokratie in der Welt hingestellt. Das kostete Geld, das großenteils hier ausgegeben wurde, und wo man schon mal dabei war, mästete man auch Sozialprogramme wie Medicare. Mit einem Mal war es so einfach wie nie zuvor, den vom Steuerzahler finanzierten Staatsdienst zu »monetarisieren«. Dann gipfelte 2008 ein Jahrhundertwahlkampf in einer historischen Präsidentschaftswahl. Da sie zeitlich mit einer Finanzkrise zusammenfiel, kam Washington nun auch noch die Aufgabe zu, die Wirtschaft des Landes zu retten. Unter der einen wie der anderen Regierung wirkte Washington politisch zutiefst gespalten, aber die Auseinandersetzungen waren hart und laut genug, um die ungemeine Bedeutung aller zu belegen – und zu begründen, warum sie (Medien, Wirtschaft und ausländische Staaten) Leute bezahlen, die erklären, »wie Washington eigentlich funktioniert«. Denn diese Leute sind Bestandteil dieser Stadt und das an sich gilt schon als Wert, der zentral für die Marke ist.
Mit Obamas Aufstieg stellte sich wieder einmal unmittelbar die Frage: Konnte Washington sich wirklich ändern? Denn eins stand fest: Diese Stadt, wie wir sie kannten, würde in dem Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei keinen Freund haben – keine Lobbyisten mehr im Weißen Haus, keine Politik »as usual«, kein Bedienen der gierigen Orakel des Beltway-Gruppendenkens, die konsensfähige Ansichten schüren wie: an Hillary »führt kein Weg vorbei« oder »Amerika ist noch nicht bereit für einen schwarzen Präsidenten«. Was sollte aus dem Hauptstadtclub werden in einem Wilden Westen voller widerstreitender Megafone, charismatischer Rebellen, Hoffnung und Resignation?
Ganz egal, wie enttäuscht die Menschen von ihrer Hauptstadt auch sind, haben doch selbst die bestinformierten Konsumenten keine Ahnung, wie die moderne, filmreife Version »der Hauptstadt« tatsächlich aussieht. Sie kennen vielleicht die Standardfloskeln über »Leute, die schon zu lange in Washington sind«, über die mangelnde parteiübergreifende Zusammenarbeit und über zu viele, die aus dem Politikbetrieb hervorgegangen sind.
Aber diese Äußerungen gehen an den fortwährenden existenziellen Widersprüchen der Hauptstadt vorbei, in der »Authentizität und Fantasie enge Gefährten sind«, wie Henry Allen von der Washington Post einmal schrieb. Sie übersehen, dass die Stadt nicht etwa hoffnungslos gespalten, sondern in Wirklichkeit hoffnungslos verflochten ist. Sie erfassen nicht, in welchem Maße die neuen Medien die politische Debatte demokratisiert und Washingtons inselhafte, kurzsichtige und selbstverliebte Tendenzen hervorgehoben haben. Vor allem aber liefern sie keine umfassende Aufklärung, wie Washington vielleicht nicht dem Land, wohl aber sich selbst hervorragende Dienste leistet – einer Stadt voller viel beschäftigter Menschen, die ständig die Geschichte ihres eigenen Lebens schreiben.
* * *
Was will ich? Viele fragen mich, ob ich ein Mitglied dieses Clubs bin. Diese Frage wurde mir in unzähligen Varianten gestellt, seit ich anfing, dieses Buch zu schreiben. Ja, ich bekenne mich schuldig. Ich schreibe für eine große Zeitung über nationale Politik. Ich bin seit 16 Jahren in der Hauptstadt und habe davon neun Jahre für die Washington Post und die letzten sieben Jahre für die New York Times gearbeitet. Ich habe eine berufliche Stellung, einen Arbeitgeber und eine Visitenkarte, die offenbar imponieren. Allem Anschein nach halten Leute mich für wichtig genug, mich kennenzulernen (und das muss ich wohl auch sein, denn manchmal werde ich in die Sendung Morning Joe eingeladen). Ich habe viele Hauptstadtfreunde und auch einige echte Freunde.
Nun fragen mich viele durchaus zu Recht, ob es möglich ist, von innen aufrichtig über den Club zu schreiben. »Wer hat das Wasser entdeckt?«, lautet eine alte jüdische Scherzfrage. »Ich weiß es nicht, aber es war kein Fisch.« Ich bin ein Fisch. Ich habe mich entschlossen, im trüben Wasser zu leben, zu arbeiten und meine Kinder aufzuziehen. Das mag für einen Menschen, der fest auf dem Boden steht, durchaus einfacher sein. Aber ich habe nicht vor, wegzuziehen. Auch danach fragen mich viele. Warum? Schließlich verdiene ich mein Geld nicht mit Lobbyarbeit oder Fernsehen. Ich führe die Realität ins Feld: Meine Frau und ich haben uns hier ein gutes Leben aufgebaut.
Und ich führe Optimismus ins Feld: Wenn Washington, D. C., ein Versuchslabor unserer Nation in ihrer übersteigerten Form ist – und alle guten und schlechten Tendenzen, konzentriert auf einigen Quadratkilometern voller Monumentalbauten, in sich trägt –, dann wollen wir doch wohl glauben, dass das, was hier vorgeht, ein hoffnungsvoller Mikrokosmos sein kann, oder nicht? Das mag für einen bestimmten Zeitpunkt oder ein bestimmtes Jahrzehnt nicht zutreffen und Umfragen belegen, dass eine überwältigende Mehrheit der Amerikaner Washington für eine schmähliche Perversion nationaler Ideale hält, aber wie Barack Obama 2008 bewiesen hat, kann Hoffnung eine starke Kraft sein, selbst wenn sie nicht unbedingt nachhaltig ist (auch das hat Obama bewiesen).
Washington mag zwar Zynismus fördern, kann aber auch täglich Anlass zum Staunen geben. Wenn ich meine Tochter zum Kindergarten fahre, beobachte ich, wie sie und ihre Freundinnen durch das Fenster die Fahrzeugkolonne des Vizepräsidenten auf der Fahrt zum Weißen Haus bestaunen. Im Alltag können wir alle solche Kinder sein, die ihre Nasen an die Fensterscheibe drücken. So erging es laut Tom Brokaw auch Tim Russert, als er als junger Assistent des Senators Daniel Patrick Moynihan aus Buffalo nach Washington kam. Sie sind ein lokaler Archetypus, diese von Stars faszinierten Arbeitskräfte, die neu in die Stadt kommen, um ihr mit frischen Wellen banger Energie und ihrem Wunsch, es in der Hauptstadt zu etwas zu bringen, neues Leben einzuhauchen.
Washington gehört (neben New York und vielleicht Los Angeles) zu den zwei oder drei beliebtesten Städten der USA bei allen, die sich auf großer, nationaler Ebene einen Namen machen, Dinge neu gestalten und etwas für die Allgemeinheit bewirken wollen. Die Menschen arbeiten unanständig viel, und zwar trotz oder gerade wegen des Ballasts, den sie mitbringen. In vielen Fällen tun sie es mit einer Verzweiflung, die für mich nach wie vor das Faszinierendste an der Geschichte Washingtons ist: Die Stadt ist ein brodelnder Eintopf menschlicher Bedürfnisse.
Ich erhebe keinen Anspruch auf Immunität. Oder – weiß Gott – auf Überlegenheit. Ich bin Teil dieser Kultur und mache mir keinerlei Illusionen, dass sie nicht zuweilen meine schlimmsten Eigenschaften verstärken kann: Eitelkeit, Opportunismus, Kleinlichkeit – alles das findet sich in meinem psychischen Lebenslauf. Mit alledem und mehr habe ich zu kämpfen. Aber es ist mein Zuhause, hier kenne ich mich aus, und ich schreibe gern von diesem Hintergrund aus.
Selbstverständlich bin ich auch in einer privilegierten Position. Meine Arbeit bietet mir nicht nur einen erstklassigen Fensterplatz, sondern auch Vorstöße hinter die Fensterscheibe, bei denen ich Bedeutendes und Lächerliches aus der Nähe zu sehen bekomme. Ich habe im Lauf der Jahre Hunderte Politiker porträtiert und viel Zeit mit ihnen verbracht (wer weiß, warum sie es weiterhin zulassen?). Häufig spielen sie mit einer Karikatur – von sich oder der Stadt –, aber sie sind auch Menschen, die in der Regel wichtige Arbeit leisten. Der Unterhaltungswert kann hoch sein, ist aber letztlich nebensächlich. Washington ist nicht Hollywood (und kein »Showbiz für Hässliche«, wie ein dummes Klischee behauptet). Denn hier geht es um reale und wichtigere Probleme.
In Washington hat sich mittlerweile eine »permanente Feudalschicht« etabliert, wie der republikanische Senator Tom Coburn aus Oklahoma beklagt, die Hauptstadt hat sich zu einem mächtigen, selbstständigen Gebilde entwickelt, das Menschen einsaugt, sie süchtig macht nach ihren Vergünstigungen und großen wie kleinen Fischen gleichermaßen eine eigenwillige Psychologie aufzwingt. Sie kann komplexe, begabte und häufig angeschlagene Persönlichkeiten zu hohlen Kabuki-Schauspielern machen, die zur Erhaltung ihrer fragilen Marke ihre Rolle spielen. Auch das habe ich aus der Nähe beobachten können, häufig bei den schicksalsschwersten Anlässen wie diesem, der Trauerfeier für Tim Russert, dem größten Stammestreffen, das die Hauptstadt seit Langem erlebt hat.
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Man weiß sofort, dass jemand Bedeutendes gestorben ist, wenn Amazing Grace auf Dudelsäcken gespielt wird und man den Präsidenten während laufender Termine darüber unterrichtet: George W. Bush erfuhr von Russerts Tod während eines Abendessens mit Präsident Sarkozy in Frankreich. Bei der Trauerfeier stehen Metalldetektoren am Saaleingang, weil so viele hochrangige Angriffsziele gekommen sind. Und viele der anwesenden Männer tragen dicke Schichten Pancake-Make-up, weil sie geradewegs von einem Fernsehauftritt kommen.
»Ich fühle mich beinahe wie damals, als irgendjemand wie Jack Kennedy oder sogar Katharine Graham starb«, bloggte Sally Quinn, ehemalige Reporterin der Washington Post, Gastgeberin im Nobelviertel Georgetown und Ehefrau des illustren ehemaligen Chefredakteurs der Washington Post, Benjamin Crowninshield Bradlee.
Sally ist erschüttert, sieht aber mit ihren annähernd 70 Jahren fantastisch aus. Das gilt ebenso, wenn nicht noch mehr für Ben (der auf die neunzig zugeht). Wird der weißhaarige beste Freund John F. Kennedys auch eine solche Trauerfeier bekommen? Verdient hätte er sie wahrhaftig, aber bis dahin ist es hoffentlich noch lange hin. Bradlee war seinerzeit in Washington der Alpha-Journalist mit einem Präsidentenskalp, der ihn über jegliche Diskussion erhaben machte. Zudem beherrschte er das Hauptstadtspiel von Geben und Nehmen wie kein anderer. In einem Interview sagte er 1975 über seinen verstorbenen Freund John F. Kennedy: »Hat er mich benutzt? Selbstverständlich. Habe ich ihn benutzt? Sicher. Sind das die Grundregeln hier in Washington? Zum Teufel, ja.«7 Ben Bradlee verkörpert den Hauptstadtclub.
Tim Russert war der Bürgermeister dieser Hauptstadt. Er war ein hervorragender Journalist – weniger in dem Sinne, dass er Artikel schrieb, Fernsehbeiträge produzierte oder Skandale enthüllte, als vielmehr als allgemein bekannter Fernsehmoderator, der den Menschen, die Schlagzeilen machten, auf seine typisch kämpferische Art »harte, aber faire« Fragen stellte und damit für gutes Fernsehen sorgte. Für einen Politiker mit ernsthaften Ambitionen war eine Einladung in Russerts Sendung ein Einführungsritus und eine Bewährungsprobe. »Es war wie ein Ritterschlag«, sagte Bradlee darüber. »Plötzlich stiegst du in ihrer Klasse zwei Stufen auf.« Und nach der Sendung bewerteten alle den Auftritt.
Russert wurde berühmter als die meisten Gäste, die er interviewte. Ruhm wird nach einiger Zeit in Washington zur wichtigsten Gemeinsamkeit der beiden Parteien. Menschen werden zur Ware, zur Fernsehgröße mit einem Agenten und einem Stabschef (selbst Chelsea Clinton hat mittlerweile einen Stabschef!).
Nach einer Weile verschwimmen sämtliche Unterschiede zwischen den Clans – Journalisten, Demokraten, Republikaner, Superanwälte, Superlobbyisten, Superbeamte, Superkomitees und der Loser, der auf Facebook ankündigt, dass er nachts um 2 : 20 Uhr in den Headline News sein wird. Sie fließen ineinander wie die förmlichen Empfänge oder die Karikaturen bekannter Washingtoner an der Wand des Restaurants Palm in der Nineteenth Street. Wer lange genug bleibt, ergattert mit etwas Glück ein Foto von sich mit einem wirklich berühmten Washingtoner und kann damit auf der Fotowand in seinem Büro angeben.
Ja, Russert war der Hauptstadtbürgermeister. Die »echte« Stadt Washington hat natürlich einen gewählten Bürgermeister: einen Schwarzen, der sich um die Kommunalprobleme kümmert. Aber er ist nur für das Washington zuständig, in dem Menschen teils unterhalb der Armutsgrenze leben (18,7 Prozent) und das Pro-Kopf-Einkommen auf bloße 71 011 US-Dollar drücken – damit liegt es zwar immer noch höher als in jedem anderen US-Bundesstaat, aber weitaus niedriger als das Einkommen der meisten Trauergäste bei Russerts Beerdigung.8 Ja, Washington ist eine »reale Stadt«, aber die Hauptstadt ist ein Zustand der Zugehörigkeit, ein Status und eine Ware.
Russert besaß eine ungeheure Präsenz, sein Gesicht füllte den ganzen Bildschirm, als ob er einem unmittelbar gegenübersäße. Leute sprachen ihn am Flughafen oder bei einem seiner bezahlten öffentlichen Auftritte an, bei denen er wie ein Politiker immer wieder dieselben Witze und Anekdoten erzählte. Abgeordnete, die seiner Sendung nicht würdig waren, verfolgten ihn bis auf die Herrentoilette und versuchten, einen charismatischen, volksnahen Eindruck zu vermitteln. Fremde erzählten ihm von ihren Verwandten in Buffalo und lobten ihn, weil er »unsere Politiker zur Rechenschaft zog« und so echt war, denn irgendjemand in Washington musste doch einfach echt sein. Das war Tims Aufgabe. Fans baten ihn, dem Präsidenten etwas auszurichten, so als würden alle in der Hauptstadt zusammen in derselben Nobelwohnanlage wohnen, über die Miete meckern und sich gegenseitig mit Erdnussbutter aushelfen.
Tim Russert besaß alle in der Hauptstadt begehrten Eigenschaften: Mit ihm durfte man sich nicht anlegen. Er wirkte immer gut gelaunt, begeistert und durch und durch selbstbewusst. Wieso auch nicht? Seine umwerfende Persönlichkeit verband den Überschwang eines echten Kerls mit würdevollem Ernst. Tim hatte einen festen Tisch im Restaurant Palm, trank Rolling-Rock-Bier aus der Flasche und aß gutes, männliches Essen, das nicht mit irgendwas beträufelt war. Er sagte im Meineid-Prozess gegen Dick Cheneys ehemaligen Stabschef Scooter Libby als Zeuge aus. Er hatte hervorragende Plätze bei den Baseballspielen der Washington Nationals und zwischen den Innings baten Leute ihn um ein Autogramm auf ihrer Eintrittskarte, auf der zuvor vielleicht schon Alan Greenspan, James Carville und Bob Schieffer unterschrieben hatten – eine vergleichbare Trophäe wie eine Mickey-Mantle-Baseballkarte von 1952.
Russert hatte selbstverständlich viele Freunde und arbeitete daran mit derselben Aufmerksamkeit für kleine Gesten wie ein Politiker. Beileids- und Dankeskarten schrieb er von Hand und schickte Babykissen mit dem eingestickten Namen des Neugeborenen. Jedes Jahr fuhr er zum Frühjahrstraining der Major-League-Baseballmannschaften und brachte E.J. Dionnes Sohn ein Autogramm von Jason Giambi mit. In dieser Hinsicht war Tim klasse. Als der Vater des ehemaligen demokratischen Fraktionsführers Tom Daschle starb, schickte Tim der Witwe T-Shirts, Kappen und eine Jacke mit dem Meet-the-Press-Logo. Noch jahrelang war Mrs. Daschle in Aberdeen, South Dakota, in dieser Jacke zu sehen.
Im Lauf der Jahre habe ich mich wohl etwa ein halbes Dutzend Mal mit Russert unterhalten, meist über Sport oder Politik. Unsere letzte persönliche Begegnung war im Februar 2008 in Cleveland, wo er eine Debatte der demokratischen Präsidentschaftskandidaten moderierte. Er kam nach einem Workout im Fitnessraum in verschwitztem Sweatshirt, langen Shorts, schwarzen Turnschuhen und Baumwollkniestrümpfen durch die Lobby des Ritz-Carlton. Ein Sprecher des Senders erklärte sein Outfit für »nicht zur Veröffentlichung freigegeben«, woraufhin ich es natürlich ausdrücklich (kostenlos) in einem späteren Artikel im New York Times Magazine erwähnte.
Bevor der Beitrag erschien, rief ich Russert an, um ihn vorzuwarnen, denn in Washington ist nichts wichtiger als eine Vorwarnung zu geben oder zu bekommen, damit man der unerträglichen Demütigung besser entgehen kann, mit einer Information überrascht oder übertölpelt zu werden. Man könnte sogar behaupten, dass eine ganze Boombranche, der Lobbyismus, weniger davon lebt, Einfluss auf die Regierung zu nehmen, als gut zahlenden Kunden eine Vorwarnung zu Ereignissen zu geben, die ohnehin passieren, ob sie nun einem Lobbyisten ein Monatshonorar von 50 000 Dollar zahlen oder nicht.
Jedenfalls rief ich Russert an, um ihn vorzuwarnen, dass ich mich nicht an das Veröffentlichungsverbot des Pressesprechers halten würde. Er lachte so laut, dass ich den Telefonhörer ein Stück vom Ohr weg halten musste. »Tun Sie mir nur einen Gefallen«, sagte er. »Erwähnen Sie, dass die Schuhe Gummisohlen hatten, ja?«
Wieder lachte er und wir unterhielten uns ein Weilchen darüber, dass so viele Leute in der Hauptstadt geradezu besessen von ihrer Position in der großen Hackordnung sind. Die Sorge um die eigene Stellung ist in Washington sicher nichts Neues. Aber die Fülle neuer Medien, die ständigen Nachrichten über Nachrichten und der andauernde Rummel um politische Geldscheffelei und Prominenz hat die Eitelkeit der Hauptstadt nur noch verschärft.
»Man kann sich verrückt machen, wenn man zu viel darüber nachdenkt«, sagte Russert mit der Selbstsicherheit eines Mannes, der beim Gerangel fest oben auf dem Haufen thront und sich in seiner Haut wohlfühlt.
Drei Monate später kam die Nachricht: »Hast du das über Tim Russert gehört?«
1
Im Green Room des Himmels
Cholesterinplaque, der sich in einer Arterie löste, führte offenbar bei Russert zu einer plötzlichen Koronarthrombose. Er sprach gerade in einem Tonstudio des NBC-Büros in Washington Texte für die Sonntagssendung ein, als er zusammenbrach. Die Rettungssänitäter konnten ihn trotz Defibrillation nicht wiederbeleben. Im Sibley Memorial Hospital wurde sein Tod festgestellt.
Russert war gerade aus Italien zurückgekehrt. Er hatte den College-Abschluss seines Sohnes Luke gefeiert und seinen 84-jährigen Vater in einer betreuten Wohnanlage in Buffalo untergebracht. Tim hatte mit seinem Gewicht zu kämpfen gehabt und derart müde gewirkt, dass viele seiner Freunde sich Sorgen machten, weil er so unter Stress stand. Er litt an einer symptomlosen koronaren Arterienerkrankung, die er mit Medikamenten und Bewegung behandelte. Sieben Wochen zuvor, am 29. April, hatte er bei einem Belastungstest gut abgeschnitten. Sein Kollege Tom Brokaw hatte ihm ein Chuck-Berry-Album versprochen, wenn er bis zu den Nominierungsparteitagen im Sommer zehn Pfund abnehmen würde. »Gibt’s was Neues?«, waren Russerts letzte Worte, ein Gruß an die Person am anderen Ende der Tonleitung. Bei der Autopsie stellte man eine Herzvergrößerung fest. Der Bürgermeister von Buffalo ordnete Halbmastbeflaggung an.
»Wir werden ihn ebenso sehr vermissen, wie wir ihn geliebt haben«, sagte Brokaw, als er in den NBC-Nachrichten Russerts Tod meldete.
Tim Russert hatte es in der Hackordnung bis an die Spitze geschafft und dabei seinen mörderischen Ehrgeiz hinter salopper Nonchalance versteckt. Für den Erfolg in Washington ist zielstrebiger Ehrgeiz lebenswichtig, aber noch wichtiger ist die Fähigkeit, ihn angemessen zu kaschieren. Russert besaß eine ansprechende, unangestrengte Volkstümlichkeit – er war nur ein Bursche aus Buffalo, der sein Land, seinen Vater, seinen Sohn, seine Footballmannschaft, die Buffalo Bills, seine T-Shirts und das alles liebte. »Zerknittert« kommt hier als Marke immer gut an und dieses Image hatte Russert für sich gepachtet.
Er war zudem überaus statusbewusst. Obwohl er in erster Linie als Fernsehstar bekannt war, bezeichnete er sich lieber als »Leiter des Washingtoner Büros«. (Einem Reporter der Washington Post sagte er 1991, er wolle Präsident von NBC News werden.) Als Brokaw ihn einmal fragte, ob er je überlegt habe, Priester zu werden, antwortete er mit Ja.
»Kardinal?«, fragte Brokaw.
»Nein, Papst.«
Das war natürlich ein Scherz, aber Tim hatte einige Tage zuvor gerade den Papst in Rom gesehen. Bei der wöchentlichen Andacht hatte er ganz vorn gesessen, aber dann hatte seine Heiligkeit (also der Papst) gehen müssen.
Tim liebte seinen Sitz in der Vorstandsetage des Fernsehsenders und sein großes Haus in Nantucket, vor dem ein Schild verkündete: »Dieses Haus baute Jack«, nämlich Jack Welch, der langjährige Vorstandschef von General Electric, der Muttergesellschaft von NBC. An der Beerdigung von Ronald Reagan nahmen Russert und Brokaw als Trauergäste teil und moderierten anschließend vor der Washington National Cathedral die NBC-Berichterstattung zu diesem Ereignis.