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ISBN 978-3-7751-7262-2 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5583-0 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book:
Satz & Medien Wieser, Stolberg
© der deutschen Ausgabe 2015
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Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg
Prolog
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Nachwort
Anmerkungen
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Die Küste bei Cornwall in England 1820
Ein gewaltiges Krachen zerriss die Luft und erschütterte das Schiff. Der Kapitän wurde gegen die Wand der Kabine geschleudert. Sein Kopf stieß gegen etwas Hartes, und ein stechender Schmerz durchschoss seinen Körper. Die Laterne, die von der Decke hing, schaukelte von einer Seite zur anderen. Die Kerze erlosch, und die kleine Kajüte, die unter dem Krachen und Reißen unzähliger Holzbretter hin und her schwankte, wurde in Dunkelheit getaucht.
»Gott im Himmel, hilf!« Er kroch auf allen vieren Richtung Tür und zog sich mühsam am Türrahmen hoch. Der Boden unter seinen Füßen schien hin und her zu rollen. Sein Kopf hämmerte, er rang nach Luft.
Von außen schlug etwas mit mächtiger Wucht gegen das Fenster der Kabine. Die dicken Scheiben barsten in Splittern nach innen, und eine Flut von eiskaltem Wasser platzte herein. Der Kapitän hatte sich inzwischen über die Türschwelle geschleppt. Er versuchte, die Tür gegen die Gewalt der Wasserfluten zu stemmen. Umsonst. Er drehte sich um. Halb schwimmend, halb strampelnd bewegte er sich durch das Wasser, das aus allen Richtungen ins Schiff strömte, bis zur Leiter, die aufs Deck hinaufführte. Er klammerte sich an die Reling, während die tosenden Fluten seine Hüften umspülten. Kein Passagier war weit und breit zu sehen. Immerhin. Sie hatten seinen Befehlen Folge geleistet und waren aufs Deck geeilt.
Oben herrschte blanke Panik. Seile wurden in Eile heruntergelassen, Passagiere und Seemänner klammerten sich an alles, was Halt zu bieten schien. Das Kreischen von Frauen und Kindern hob sich kurz vom Heulen der Windböen ab und wurde vom tobenden Gewitter wieder verschluckt. Ein gerissenes Tau flatterte im Wind. Das zerfetzte Segel schlug in alle Richtungen.
»In die Rettungsboote!«, schrie der Kapitän, als ob nicht jeder schon mit aller Macht versuchen würde, sich aus dem sinkenden Schiff zu retten. Er warf einen Blick nach hinten und sah im schwachen Schein der schaukelnden Laternen, wie das Achterdeck des Schiffes mit einem gewaltigen Stöhnen langsam wegbrach. Das Vorderdeck beugte sich nach vorne. Ein Kind verlor seinen Halt und stürzte schreiend in die eiskalten, dunklen Wassermassen.
Ein grauer Wasserberg, höher als der Mast, raste auf das Wrack zu. Für die Rettungsboote war es zu spät. »Wer schwimmen kann, springe! An Brettern, Fässern und Seilen festhalten!« Er brüllte, sodass es wehtat, mehr aus einem ohnmächtigen Instinktgefühl heraus als aus der Hoffnung, dass ihn irgendjemand hören würde. Der Wind verschlang sofort jeden Laut, der aus seinem Mund kam.
Die Wellen krachten auf das Vorderdeck, das schräg wie ein Hausdach geneigt war. Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Ein milchiger Halbmond blickte zwischen den schwarzen Wolken hervor, und der Wind schwieg für einen flüchtigen Augenblick.
Der Kapitän blickte hoch. Durch die Gischt und den treibenden Regen sah er die schwarzen, zackigen Umrisse einer Felswand, die in die Höhe ragte wie ein lauernder Titan, bereit zu springen und sein Opfer unter sich zu zerdrücken. Unten am Ufer rannten schwarze Gestalten mit Lichtern in den Händen hin und her.
Ein Hoffnungsschimmer flackerte in ihm auf. Jemand hatte Alarm geschlagen und Hilfe geholt.
Wie ein blutrünstiger Jäger, der seiner Beute einen schadenfrohen Todeshieb versetzt, entfesselte der Sturm alle Kräfte, die er noch aufbringen konnte, und schlug ein letztes Mal zu. Ohrenbetäubend, langsam, mit der Würde eines Feldherrn, der bis zuletzt tapfer gegen eine Übermacht gekämpft hat und schließlich kapituliert, sank die Flying Gull in ihr wässriges Grab. Der Kapitän wurde mitgezogen.
Ein dröhnendes Rauschen füllte seine Ohren und tobte in seinem Kopf. Gegenstände, die mit in die Tiefe gerissen wurden, schlugen gegen seinen Körper. Er steuerte fieberhaft mit seinen Armen gegen den Sog und versuchte, seinen Körper nach oben zu bewegen. Seine Lungen brannten und waren dem Bersten nahe.
Plötzlich stießen seine Hände an etwas Hartes, Spitzes. Es war ein Fels. Er fasste tastend danach, klammerte sich daran und zog sich nach oben. Mit einem letzten Kraftakt stieß er seinen Kopf durch die tosende Oberfläche der Wellen und japste nach Luft. Er blickte um sich. Das Wasser war an dieser Stelle noch tief, aber die Lichter am Ufer waren näher, er hörte Stimmen. Gott sei Dank. Es würde Überlebende geben.
»Maggie, Maggie – warte!«, schrie er. »Ich komme! Sag Jake, dass Vater bald heimkommt!« Ein Stück Holz trieb an ihm vorbei. Er warf sich darauf und fing an, mit seinen Armen und Füßen in die Richtung zu rudern, wo er Stimmen vernahm.
»Da lebt noch einer!«
Zwei Gestalten ruderten in einem kleinen Boot durch die Wellen auf ihn zu. Im Licht der Laternen, die einer der Männer hochhielt, schimmerte die Klinge eines Messers, das der andere in seiner Hand hielt.
»Kann es sein …? Nein, Nein!«, schrie der Kapitän. Er drehte sich im Wasser auf den Rücken, umklammerte das Stück Holz mit einem Arm und paddelte mit dem anderen Arm um sein Leben – rückwärts, aufs offene Meer zu.
Fünf Monate später
Charlottes Eintritt ins Leben war alles andere als leicht.
»Mrs Earling, Sie strengen sich überhaupt nicht an! Wie können Sie dieses Gebrüll hören und nichts dagegen tun?«
»Weil es zu meiner Aufgabe gehört, dieses Gebrüll zu hören!« Mrs Earling richtete sich auf und stützte die Arme in die Hüften. »Hören Sie um Gottes willen damit auf, die ganze Zeit hin und her zu laufen, Mrs Gibbs! Durch das Geklapper Ihrer Schlüssel kommt das Kind auch nicht schneller zur Welt.« Die Worte wurden eher ausgespuckt als gesprochen.
»So wie Sie herumjammern, könnte man meinen, Sie liegen in den Wehen und nicht Lady Agnes! Haben Sie noch nie eine Geburt gesehen?«
Mrs Gibbs verschränkte die Arme und tippte mit einem Fuß auf den Boden. »Auf so eine herrische Stimme höre ich nicht!«
Mrs Earling wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, murmelte etwas über Bedienstete, die das einfache Denken nicht beherrschten, und beugte sich über ihre Patientin. Mit einem feuchten Tuch tupfte sie das schweißgebadete Gesicht um die weit aufgerissenen Augen ab, die ängstlich zur Decke des Himmelbetts starrten. Plötzlich rang die stöhnende Frau nach Luft, griff nach dem Arm der Hebamme und krallte sich daran fest. Ihr Atem kam in kurzen Stößen.
»Bald haben Sie es geschafft, Mylady«, sagte Mrs Earling, »halten Sie nur durch. Gleichmäßig atmen!« Sie blickte hoch. »Stehen Sie nicht da wie ein dummes Schaf, Mrs Gibbs! Holen Sie Wasser, wischen Sie den Boden, öffnen Sie das Fenster, bringen Sie frische Laken! Tun Sie irgendwas, damit ich nicht wahnsinnig werde! Wenn dieses Bett sich in einen Sarg verwandelt, dann sind Sie schuld!«
Mrs Gibbs öffnete ihren Mund und klappte ihn wieder zu. Schließlich fand sie ihre Sprache wieder. »Wissen Sie eigentlich, mit wem Sie reden, Mrs Earling? Ist Ihnen bewusst, dass ich als Haushälterin dieses Anwesens Ohren und Augen für Lady Agnes bin und dass nichts in diesem Haus meiner Aufmerksamkeit entgeht?«
»In dem Fall wird es Ihrer Aufmerksamkeit auch nicht entgangen sein, dass Ihre Lady sich gerade in großer Not befindet. Es ist mir egal, wie viele Haushälterinnen und enge Vertraute von Lady Agnes in der Gegend herumschwirren. Bis diese Not gelindert ist, führe ich in diesem Raum Regie, nicht Sie!«
Mrs Gibbs biss sich auf die Lippen und wandte sich zum Fenster.
Die stickige Luft hing wie ein schwerer, unsichtbarer Nebel über dem Bett. Sie roch nach abgestandenem Kräutertee, vermischt mit dem Duft der Lavendelblüten, die in den Tüchern gelegen hatten. Lady Agnes liebte Lavendel. Mrs Gibbs zog den Vorhang zur Seite. Ein Luftzug bewegte sich, kaum spürbar, in den Schatten des riesigen Schlafgemachs. Hier hatte Lady Agnes Greenwold seit Wochen still gelegen und kaum das Tageslicht erblickt. Nun wandte sie ihren Kopf zum Licht und atmete tief ein.
Zwei Möwen schossen laut schreiend über das Haus Richtung Meer. Eine Wespe flog durch den offenen Fensterspalt und torkelte wie betrunken gegen den Porzellankrug, der neben den Handtüchern auf dem Tisch stand. Es war einer der schwülsten Tage des Altweibersommers, der auf wochenlangen Sommerregen gefolgt war.
Das Pfeifen eines Gärtners drang durch das offene Fenster. Von der fernen Wiese klang das fröhliche Treiben der Apfelernte. Männer vom Dorf schüttelten die Bäume mit langen Stangen, Kinder schrien und sprangen um die Wette, um ihre Körbe mit Obst zu füllen.
Das Summen der Wespe, die Rufe der Männer, das Lachen der Kinder, der Duft des Sommerflieders, der durch das offene Fenster wehte, das Rauschen des Meeres in der Ferne: Jedes Geräusch, jeder Geruch war wie ein Bote aus einer anderen Welt, in der das Leben noch in geordneten, vertrauten Bahnen lief. Sie schienen die geplagte Frau für kurze Zeit zu besänftigen. Die Qualen, die ihre Züge verzerrt hatten, ließen nach, sie keuchte, und ihr Atem wurde ruhig.
Aber die Entspannung währte nicht lang.
Plötzlich warf sie sich auf die Seite, krümmte sich und schrie vor Schmerz auf. »Dieses Kind reißt mich in Stücke!«, kreischte sie. »Mrs Earling, helfen Sie mir, ich kann nicht mehr!«
»Ruhig, ruhig, Mylady, bald ist es so weit!«
Draußen hörte der Gärtner auf zu pfeifen. Er legte die Schere, mit der er die verblühten Rosen abgeschnitten hatte, auf den Boden, bekreuzigte sich, schüttelte den Kopf und fing wieder an zu schneiden, als hinge sein Leben davon ab.
»Mrs Gibbs, halten Sie ihre Beine fest! Es kommt gleich noch eine Welle!«
»Ich tue schon mein Bestes, Mrs Earling«, blaffte die Haushälterin.
Die Hebamme wischte sich die Schweißperlen von der Stirn, dieses Mal mit einem Tuch. Die Gebärende gab einen letzten, markerschütternden Schrei von sich. Danach wurde sie still, während Mrs Earling mit flinken Bewegungen ein zappelndes und nach Luft schnappendes Bündel emporhob. Sie klopfte dem Neugeborenen auf den Rücken, tupfte es mit warmem Wasser ab und wickelte es in eine Decke.
»Mylady, wollen Sie Ihre Tochter nicht willkommen heißen?«, fragte sie.
Ein Seufzen entwich den Lippen der erschöpften Frau. Sie drehte den Kopf zum Fenster und starrte reglos in den Himmel. »Nein.« Sie wandte sich Mrs Gibbs zu. »Holen Sie meinen Mann und wecken Sie mich, wenn er kommt.«
»Sofort, Mylady.«
»Sie bringen das Kind eilends zur Amme«, warf Mrs Gibbs der Hebamme in einem forscheren Ton zu. »Frances holt frische Wäsche. Ich kümmere mich um Lady Agnes. Wir brauchen Ihre Dienste nicht mehr.« Ohne einen Blick auf das neugeborene Kind zu werfen, verschwand die Haushälterin durch die Tür. Das Klappern ihrer Schlüssel war immer noch zu hören, lange nachdem sie gegangen war.
Ein einziger, schauerlicher Schrei einer Silbermöwe begrüßte die Ankunft der kleinen Lady Greenwold.
»Keiner freut sich. Ich schließe daraus, es ist wieder ein Mädchen«, sagte Frances, das Hausmädchen, das ins Zimmer geschlichen war und neugierig auf das kleine Bündel in Mrs Earlings Arm blickte. Sie wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Auge.
»Die Jungvögel sind geflogen, und ihre Nester sind leer. Das Weibchen sucht nach seinen Jungen«, seufzte Mrs Earling, während sie den weinenden Säugling in der Armbeuge schaukelte und mit der freien Hand das Fenster schloss.
»Es sieht nach Regen aus, Mrs Earling«, sagte Frances.
»In mehr als einer Hinsicht, Franny«, war die müde Antwort. »Richte das Zimmer und schaue nach Lady Agnes, bis Mrs Gibbs wiederkommt, dann kannst du gehen. Lady Agnes hat die Geburt gut überstanden.«
Den Säugling immer noch im Arm, warf Mrs Earling einen letzten Blick auf ihre Patientin, zupfte die Bettdecke zurecht, griff nach ihrem Mantel und Hut, verließ den Raum und eilte die große Treppe zum Haupteingang von Birch Hollow hinunter.
Der Weg zum Dorf hatte sich in eine Schlammrinne verwandelt, so stark trommelte der Regen auf die Wiesen, Wälder und Straßen. Unter dem Umhang drückte sie das Kind fest an ihren Körper und hoffte, das verzweifelte Schreien dadurch zur Ruhe zu bringen. In der anderen Hand trug sie eine Laterne.
Ein Blitz erhellte für einen flüchtigen Moment den Kirchturm und die Dachgiebel des Dorfes, auf das die Hebamme zueilte. Das ferne Brausen aufgebrachter Meereswellen vermischte sich mit dem Prasseln der Regenfluten, als ob Meer und Himmel sich verschworen hätten, ihren angestauten Zorn in einem einzigen Ausbruch auf diesen abgelegenen Strich Landschaft auszuschütten.
Mensch und Vieh waren längst in Deckung gegangen, als die einsame Gestalt durch den Schatten des Kirchturms huschte, auf die Silhouette eines Häuschens zu, das sie im Licht der Laterne gerade noch ausmachen konnte. Sie klopfte hastig an die Tür und stürzte sich, ohne auf eine Antwort zu warten, in den Eingang.
Dort warf sie ihren Umhang mit einer kurzen Schulterbewegung nach hinten, ungeachtet der Regentropfen, die in alle Richtungen flogen und Pfützen auf dem Steinboden des schmalen Flurs hinterließen.
»Maggie, bist du wach?«, rief sie durch den Flur. »Ich habe ein Geschenk für dich!«
Das einzige Lebenszeichen von ihrem Mann, das Lady Agnes Greenwold an dem Abend vernahm, an dem ihre zweite Tochter zur Welt kam, war das Klappern von Pferdehufen auf der Zufahrt. Es wurde immer leiser, bis es vom Sausen des Windes und vom Rauschen der Birken verschlungen wurde.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Zehn Jahre später
»Was machst du hier?«
Beinahe wäre er mit ihr zusammengeprallt. Das Letzte, was Jake Fenton in diesem Teil des Gestrüpps erwartet hätte, war ein kleines Mädchen, das sich halb hinter einem Baum versteckte.
»Ich sollte dich lieber fragen, was du hier machst! Kannst du nicht aufpassen?« Das Mädchen griff in die Tasche seiner Schürze, die wie ein Vorhang um seinen dürren Körper hing, suchte vergeblich nach einem Taschentuch und wischte seine Nase stattdessen mit dem Handrücken ab.
»Du hast geweint«, bemerkte Jake mit einem Anflug von Sorge. Er trat einen Schritt näher und musterte neugierig ihr Gesicht.
»Na und? Hast du noch nie jemanden weinen gesehen?« Das Mädchen drehte sich um, verbarg das Gesicht hinter den verschränkten Armen und redete weiter, mehr zum Baum als zu dem Jungen.
»Ja, komm nur, mach dich über mich lustig. Erzähl allen im großen Haus und im Dorf, was für eine Heulsuse ich bin!« Sie fing an, hemmungslos zu schluchzen. Als wäre sie erleichtert, dass sie nicht länger versuchen musste, eine tapfere Miene zu bewahren.
Jake schüttelte den Kopf, streckte eine Hand aus, um ihr tröstend die bebenden Schultern zu tätscheln, zog sie aber wieder zurück. »Ist schon gut. Warum in aller Welt sollte ich irgendjemandem erzählen, dass du eine Heulsuse bist?«, fragte er stattdessen. »Wer bist du überhaupt?«
Sie hörte schlagartig auf zu weinen, blieb einen Augenblick still und wirbelte plötzlich herum. »Was? Du weißt nicht, wer ich bin?«, fragte sie.
»Nein«, erwiderte Jake mit einem Achselzucken, »woher denn auch?«
Sie machte einen Schritt auf ihn zu, schniefte und hob ihr Kinn. »Ich bin Lady Georgiana Mathilda Franziska Greenwold.«
Er stieß einen leisen Pfiff aus und bot ihr feierlich seine Hand. »Erfreut, Sie kennenzulernen, Mylady. Ich heiße Jake. Ich bin der neue Stallmeister.«
Zu seiner Bestürzung stampfte Lady Georgiana mit dem Fuß auf den Boden und heulte wieder los.
»Um Himmels willen … habe ich etwas falsch gemacht?«, fragte er.
»Ach, lass mich in Ruhe und kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten!« Sie drehte sich um, lehnte sich an den Baumstamm und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.
»Ob ich es will oder nicht, jetzt bist du meine Angelegenheit!« Jake setzte sich demonstrativ auf den alten Baumstamm, der quer über dem grasbewachsenen Boden im Birkenwald lag. »Ich bleibe hier sitzen, bis du mir sagst, warum du weinst. Ich kann so stur sein wie du.«
Es war ein paar Augenblicke still. Als Jake beobachtete, wie Lady Georgiana mit einem verstohlenen Blick nach hinten prüfte, ob er immer noch da war, erhellte sich plötzlich seine Miene. »Sag mal, Lady Georgiana, magst du Möwen?«
»Ach, lass die Lady weg«, erwiderte sie mit hängendem Kopf.
Als Antwort ergriff Jake ihre Hand und zog sie mit sich aus dem Dickicht. Er hielt vor einer alten Mauer an, die mit verwilderter Klematis bewachsen war. Sie erinnerte an Tage, in denen dieser Teil des Anwesens ein gepflegter Garten gewesen war.
Ein einzelner Strang wilden Weins hob sich rotleuchtend vom feuchten Dunkelgrün des Mooses ab und schlängelte sich lässig über das Klettergewächs, bevor er in einer Ritze zwischen den grauen Steinen verschwand. Verblühte Stockrosen wuchsen kreuz und quer entlang der Mauer, verfangen in den stachligen Brombeerranken am Fuß einer sanften, grasigen Anhöhe. Oben am Hang ragte ein alter Turm in die Höhe.
»Zum Turm darf ich aber nicht hin!«
Jake drehte sich um und sah seine Begleiterin zum ersten Mal im Licht der Nachmittagssonne. Ein Blick reichte, um ein rundes Gesicht, Sommersprossen auf einer kleinen Stupsnase, zwei eng geflochtene hellbraune Zöpfe und eine mit Grasflecken verschmierte Schürze aufzunehmen, die viel zu groß war. Eine elegante Lady gab sie nicht gerade ab.
»Du bist aber klein!«, sagte er und als er sah, wie ihre Oberlippe wieder zu zittern begann, erklärte er schnell: »Ich meine, ich dachte, dein Name klingt älter.«
»Ich bin zehn Jahre alt!«
Für ein zehn Jahre altes Mädchen war sie in der Tat klein und drahtig, aber Jake hielt es für klüger, diesen Eindruck für sich zu behalten. »Schau, Lady Georgiana, das Nest ist nicht weit von hier, links. Zum Turm gehen wir nicht.«
Schon zog er sie den grasbewachsenen Hügel hoch. Rechts von ihnen sank die Wiese ab und bildete eine Mulde, auf deren anderer Seite die alte Turmruine stand, die sie von der Mauer aus gesehen hatten. Der Weg nach links stieg immer steiler an, bis sie ein kleines Plateau erreichten, das von schwarzen Felsen durchzogen war.
»Dort oben sind die Reste von Möweneiern. Die Jungen sind geschlüpft und üben ihre ersten Segelflüge über dem Meer.«
»Bist du wirklich nur ein einfacher, dummer Stallbursche?«, fragte Lady Georgiana außer Atem, während sie mit seinen langen Schritten mitzuhalten versuchte.
»Muss man dumm sein, um ein Stallbursche zu sein?«
»Na ja, die, die ich kenne, sind klein, breit und dunkelhaarig, und sie reden nicht. Sie sind nicht groß, dünn, gesprächig und blond wie du.«
Jake versuchte, nicht zu lachen. »Na, dann darfst du jetzt einen Stallburschen kennenlernen, der schlaksig, blond, redselig und ganze achtzehn Jahre alt ist. Und übrigens bin ich Stallmeister und nicht Stallbursche!«
»Achtzehn Jahre? So alt schon?«
»Sehe ich nicht so alt aus? Oh, schau mal, hier ist das Nest. Hinter diesem Felsbrocken.«
Wenig später streichelte Lady Georgiana mit zitternder Hand die winzigen flaumigen Federn, die in der Brise wehten.
Jake beugte sich über ihre Schulter und nahm den Rest einer Schale zärtlich in die Hand. »Die Eier sind hellbraun mit dunklen Punkten, gegen Ende Mai legen die Möwen zwei bis vier davon. Die Babys schlüpfen nach vierzig Tagen.«
»Und wo sind sie jetzt?«
»Sie gleiten über das Land, so weit das Auge sehen kann. Komm, ich zeig's dir.« Jake führte sie zum Rand des Plateaus, sprang auf einen der flachen Felsen und schaute zu, wie sie sich abmühte, ihm zu folgen. Hilfe wollte sie offensichtlich nicht.
Die Landschaft lag ausgebreitet vor ihnen. Auf der anderen Seite der alten Gartenmauer ging das bewaldete Gestrüpp fast unmerklich in die gepflegte Schönheit des Parks über. Birken standen dicht beieinander und bildeten den Kern des Waldes, an dessen Rändern riesige alte Esskastanien mit wundervoll gewundenen Stämmen standen. In weiter Ferne erstreckten sich Obstwiesen und Stoppelfelder bis zum Horizont. Voll behangene Rebstöcke schmiegten sich an die zum Meer gewandten Südhänge.
Jake fing an zu erzählen, während ein milder Spätsommerwind über ihre Gesichter strich. Er beschrieb die Lebensrhythmen der Möwen. Danach redete er von den Ulmen, Birken und Eichen, die den Park umgaben, von den sanften Hügeln, zwischen denen das Dorf Hipperclove lag, und den zackigen Felsen, die das Dorf und seine Umgebung vom Meer trennten und der Sage nach von Riesen und Geistern bewohnt waren. Lady Georgiana hörte gebannt zu.
»Im Herbst zieht die Landschaft ihr schönstes Kleid an«, sagte er ehrfurchtsvoll. »Der Herbst ist außerdem eine feine Zeit fürs Weinen, weil er der beste Tröster ist.« Er sprach mehr zu sich selbst als zu Lady Georgiana. »Bewahre also all deine Tränen wenn möglich für den Herbst. Die Schatten sind länger und dunkler, die Sonne ist aber goldener. Wenn ich sehe, wie der Septemberglanz der aufgehenden Sonne die Landschaft mit warmem Licht überflutet und den Morgentau auf den Spinnenfäden erleuchtet, sodass sie wie winzige Lichterketten auf den Hecken aussehen, dann muss ich wieder fröhlich werden.«
»Weinst du auch manchmal?«, fragte Lady Georgiana.
»Gelegentlich«, antwortete Jake. »Zum Beispiel, als ich letzte Woche liebe Menschen weit weg in Schottland verlassen musste, um nach Birch Hollow zu kommen.«
»Wir sind also beide neu in Birch Hollow.«
»So scheint es. Und wer neu ist, ist einsam. Und wer einsam ist, kann, wenn er es will, Freunde überall in der Natur entdecken: Bäume, Felsen, Möwen. Dann nimmt er Worte und malt Bilder mit ihnen, und danach ist er nicht mehr so einsam.«
»Deshalb kannst du so schön erzählen«, bemerkte Lady Georgiana. »Übrigens, nennst du mich bitte Charlotte?«
Jake drehte sich rasch zu ihr um und starrte sie an. »Ich hätte mir doch denken können …« Er hielt mitten im Satz inne.
Lady Georgiana redete unbeirrt weiter. »Meine Mutter – die, die mich erzogen hat – nennt mich Charlotte, und sie hat mich lieb. Meine Eltern nennen mich Lady Georgiana, aber ich heule und schimpfe, wenn jemand Lady Georgiana zu mir sagt. Ich bin artig, wenn man mich Charlotte nennt.«
»Daraus soll man schlau werden?«
»Du musst nicht schlau werden, nur machen, was ich sage!«
»Du bist aber eine Dame, die weiß, was sie will«, sagte er schmunzelnd.
»Oh! Der Gongschlag! Ich muss weg! Ich bekomme Ärger, wenn Vater erfährt, dass ich mit einem gewöhnlichen Stallburschen geredet habe!«
Der Zauber der Herbstidylle war gebrochen.
»Ich bin der Stallmeister, nicht der …«
Doch ohne einen Blick zurück rannte Lady Georgiana schon den Hang hinunter. Bis die Kirchenglocke aus dem nahe gelegenen Dorf fünfmal geschlagen hatte, war sie über die Mauer geklettert und in den Birkenwald verschwunden. Jake schüttelte den Kopf.
Noch lange, nachdem Lady Georgiana außer Sichtweite war, blieb sein Blick auf das Gestrüpp, die Mauer und die Birken gerichtet. Irgendetwas rührte sich in seiner Seele. Er hatte das Gefühl, dass ein unsichtbarer Faden sein Schicksal mit dem des Mädchens verband. Als wären sie zwei Herbstblätter vom selben Zweig, die der Wind auseinandergetrieben und auf weit voneinander entfernte Felder geweht hätte.
Er setzte sich ins Gras und musterte die dunklen Wolken, die über den Horizont geschlichen waren. Sie waren noch nicht nah genug, um die sonnengebadete Landschaft in ein düsteres Grau zu verwandeln. Ein kaum erkennbarer Hauch von Orange schimmerte durch das Laub. Als hätte ein Künstler mit seiner Pinselspitze winzige pastellene Spuren auf die grüne Kulisse der bewaldeten Hänge getupft und sie dann zärtlich gestreichelt. Noch wartete die Landschaft mit angehaltenem Atem auf einen geheimen, für menschliche Ohren nicht hörbaren Startschuss. Dann würde sich das gewaltige Naturschauspiel entfalten, eine Farbenschau in satten Mischungen von Gold, Rot und Orange, strahlend, leuchtend, himmlisch. Ein letzter Ausbruch von Leben, bevor der Winterfrost monatelang wie eine steife Decke über dem ganzen Panorama läge.
Rauch aus den Schornsteinen des Herrenhauses schlängelte sich träge in die Luft und mischte sich mit dem Rauch, der aus dem Garten stieg. Der Gärtner witterte einen Sturm und war damit beschäftigt, die Blätterhaufen zu entsorgen, bevor der Wind sie aufwirbeln würde. Bald trübte ein grauer Dunst das Grün der Landschaft, und die Luft wurde kühl.
Ein ferner Donnerschlag riss Jake aus seiner Grübelei. Er stand auf, schüttelte Grasreste von seiner Jacke und eilte den Hang hinunter. Anstatt zum Stall zu gehen, in dem er neben dem Pferdewirt Frederick ein Zimmer über der Scheune bewohnte, bog er auf der anderen Seite des Birkenwaldes nach rechts und lief mit raschem Schritt über die Brücke Richtung Dorf.
Dickon zögerte, bevor er klopfte. Aus der Bibliothek drangen Stimmen durch die geschlossene Tür. Der Dienstbote sah sich vorsichtig um, dann legte er sein Ohr an die Tür.
»Ich werde mein Recht geltend machen, das ist dir wohl klar, Cousin!« Eine fremde Stimme. Der Besuch musste überraschend gekommen sein. Die übliche Bestellung von Apfelwein für Gäste hatte es nicht gegeben, nachdem die Bediensteten die Räder der Kutsche auf dem Kies in der Zufahrt gehört hatten.
»Beides falsch, Malcolm. Weder ist es dein Recht, noch ist es mir klar. Im gleichen Maß, wie dein Whiskykonsum gewachsen ist, hat deine Intelligenz abgebaut.« Das war Lord Greenwold. Geschäftlich, eiskalt, souverän.
»Aber zum Glück nicht so stark, dass ich die Gesetze des Landes nicht mehr kennen würde, Winston! Verwandtschaft ist Verwandtschaft. Um Blutsbande kommt kein Lord von Birch Hollow herum, und sei er noch so erhaben. Dein Versuch, den Verlust des Testaments nach dem Brand zu verheimlichen, war vergeblich. Selbst der kleinste Stalljunge weiß, dass der Sondererlass mit dem Verschwinden des Dokuments hinfällig ist. Deine Töchter können nicht erben. Damit bin ich dein Nachfolger. Einen männlichen Erben aus dem Nichts zaubern kann nicht einmal ein Lord Greenwold.« Die Stimme klang spöttisch und schadenfroh. Der Besucher wusste offensichtlich, dass er den Lord an seinem empfindlichsten Nerv traf.
Dickon wartete gespannt auf die Reaktion. Ein vollblütiger adliger Wutausbruch würde ihm Stoff liefern, um die Dienerschaft in der Küche einen Abend lang in seinen Bann zu ziehen. Türknallen, Gebrüll, das Hämmern mit den Fäusten auf dem Tisch, hin und wieder eine gebrochene Glasscheibe, das alles hatte Lord Greenwold im Programm. Doch dieses Mal hatte er sich im Griff. Er hatte wohl gelernt, lieber auf langfristige Rache zu setzen.
»Natürlich kenne ich die Gesetze des Landes, Cousin«, gab er kontrolliert und gefasst zurück. »Aber dieser Teil des Landes unterliegt anderen Gesetzen, und die bestimme ich. Möchtest du eine Zigarre?«
»Nein, ich möchte mein Recht. Ich will Klartext, feste Garantien. Lang genug hast du um den heißen Brei herumgeredet.«
»Plötzlich so eilig?«
»Ich hatte es schon immer eilig. Ich will dir nur die Mühe sparen, nach einem anderen Erben zu suchen. Ich will meine Zukunft planen. Eine Stadtvilla in Newquay kaufen. Eine Frau suchen und eine Familie gründen, mich mit der Gegend vertraut machen. Ein Gentleman braucht seine Sicherheiten, Winston. Du bist nicht mehr der Jüngste, und ich brauche Zeit, um mich mit deiner freundschaftlichen Begleitung in meine Aufgaben als zukünftiger Herr von Birch Hollow hineinzufinden.«
Die Stimmen wurden leiser, offensichtlich wandten sich die beiden jetzt mehr zum Kamin hin. Dickon drückte sein Ohr fester an die Tür. Lord Winston stand bestimmt am Fenster. Er rauchte seine Zigarren gerne stehend.
»Meinst du wirklich, ich überlasse mein Anwesen, mein Vermögen, alles, was meine Vorväter sich in drei Generationen mühsam erarbeitet haben, einem trinksüchtigen Grünschnabel, der alles in Grund und Boden wirtschaftet?«
»Mein Rechtsanwalt wird es anders sehen. Er wird wissen wollen, glaub es mir, woher ein Schurke aus der Provinz, der sich adelig nennt, sich das Recht nimmt, die Gesetze dieses Landes willkürlich, nach Belieben und zu den eigenen Gunsten zu ändern, nur weil er keine Söhne hat! Du wirst von mir hören, Cousin!«
Die Stimmen waren wieder laut und aufgeregt. Dickon sprang von der Tür zurück. Bis ein korpulenter Herr, nicht älter als dreißig, mit geballten Fäusten und zusammengebissenen Zähnen aus der Bibliothek stürmte und die Tür hinter sich zuschlug, war der Dienstbote längst damit beschäftigt, eine Messinglampe am anderen Ende der Eingangshalle zu polieren. Er drehte sich scheinbar überrascht um. »Ach! Sie sind es, Sir Forsythe-Drake! Gehen Sie schon? Ihr Mantel, Sir! Ich helfe Ihnen!«
Dickon blickte in zwei kleine, rastlose Augen. Sie wirkten verloren in den aufgedunsenen Falten eines runden Gesichts, das selbst für den beleibten Umfang des Gentlemans zu groß erschien. Sir Forsythe-Drake roch nach Whisky.
»Was glotzt du, Junge? Sind alle Bediensteten hier so ungehobelt wie du?«
»Ich … ich dachte nur, ich könnte einen Kamm und etwas Pomade für Ihre Haare holen, Sir. Sie wirken etwas zerzaust, ich mache Sie gerne frisch für die Reise.«
»Meinst du, ich bin für eine Schönheitsbehandlung hergekommen, Junge?« Als der Besucher aufbrauste, schienen seine Augen in den Gesichtsfalten gänzlich unterzugehen, bis sie nicht mehr zu sehen waren. »Her mit dem Mantel. Zuerst der linke Ärmel. Merk es dir ganz genau. Denn du wirst in Zukunft noch sehr oft Gelegenheit haben, mir in meinen Mantel zu helfen. Gewöhn dich besser gleich daran. Und jetzt der Hut. Nein, keine Begleitung nach draußen. Nicht heute.«
Dickon hörte die Schritte des zornigen Besuchers auf dem Kies, das Wiehern seines Pferdes und die Stimme von Frederick, der dem Kutscher den Weg nach Newquay erklärte. Erst nachdem das Geklapper der Hufe und das Knirschen der Räder auf der Zufahrt nicht mehr zu hören waren, näherte er sich wieder der Bibliothek.
Ein Dunst von Zigarrenrauch hing in der Luft. Dickon setzte mehrmals an, bevor sein Fingergelenk die Tür endlich berührte. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und klopfte leise.
»Herein!«, kam es schroff von innen.
Lord Greenwold stand mit verschränkten Armen am Kamin. Von einer halb gerauchten Zigarre, die in einem Aschenbecher auf dem Kaffeetisch lag, stieg eine dünne Rauchspirale in die Luft. »Was gibt es?«
Offensichtlich war ihm nicht nach Plaudern zumute.
»Frances fragt, ob sie das Kind wieder nach Hause schicken soll, Mylord.«
»Welches Ki… Ach, das Kind. Das Kind ist zu Hause, Dickon!«, fauchte Lord Greenwold. »Sonst noch Probleme?« Er lief zum Fenster. Sein bohrender Blick glitt über den gepflegten Rasen, der von Nebelschwaden umhüllt war.
»Die kleine Lady scheint es anders zu sehen, Mylord.«
Lord Greenwold drehte sich um. Ein paar Sonnenstrahlen durchdrangen plötzlich die dunklen Wolken, die über den Park zogen, und stahlen sich durch die Fenster. Die Silhouette des hochgewachsenen Herrn von Birch Hollow ließ die Selbstsicherheit eines Mannes erkennen, der sich in den besten Jahren befand und es zu großen Errungenschaften gebracht hatte. In seiner Stimme klang eine Autorität durch, die keine Widerrede duldete.
»Die kleine Lady hat das zu meinen, was ihr Vater meint! Schau nach dem Kamin, Dickon, es wird heute Nacht stürmisch. Überlass mir gefälligst meine Familienangelegenheiten.«
»Verzeihen Sie, Sir. Ich wollte Sie nur informieren, Mylord.« Dickon war schlau genug, um seinen Herrn nicht weiter zu provozieren.
Lord Greenwold schloss das Fenster, ging zum Kamin und deutete ungeduldig auf das leere Weinglas, das auf dem kleinen Tisch neben seinem Sessel stand.
»Entschuldigung, Mylord!«, sagte Dickon hastig und füllte das Glas aus einem danebenstehenden Krug nach. Er zog Lord Greenwolds Sessel in die Nähe des Kamins und klopfte die Kissen zurecht.
»Wenn du fertig bist, darfst du gehen, Dickon. Einen Tee wünsche ich heute nicht.«
Dickon zögerte.
»Was gibt’s denn noch, Junge?«
»Die eigentliche Frage, die ich stellen will …« Dickon holte tief Luft. Warum gab es keine ungefährliche Art, unbequeme Informationen loszuwerden? »Sie wünschen sich vermutlich eine neue Gouvernante, Sir? Miss Smithson hat gekündigt. Lady Georgiana hat sie in die Hand gebissen und ihr ins Gesicht gesagt, dass sie die hässlichste Frau der Welt sei, weil sie Warzen am Kinn hat, aus denen schwarze Haare wachsen. Lady Rosalinde hat gedroht, ihrer Schwester die Zöpfe abzuschneiden. Sie wollte sie außerdem erdrosseln, ihre Puppe enthaupten und sie samt ihrer Puppe in den Keller sperren. Als Antwort hat Lady Georgiana Lady Rosalindes neuen seidenen Schirm in den Fluss geworfen. Die Seide ist ruiniert. Wir mussten nach dem Arzt senden, weil Lady Rosalinde so außer sich war. Sie wälzte sich schreiend auf dem Boden und drohte, bewusstlos zu werden. Sie musste Beruhigungsmittel einnehmen. Wir machen es im Dorf bekannt, dass die Stelle wieder frei ist.« Mit einem einzigen atemlosen Wortschwall war er seine Nachricht losgeworden.
Lord Greenwolds Gesichtszüge verhärteten sich. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Doch dann presste er die Lippen zusammen und machte zwei Schritte in die Mitte des Raumes, wo er die noch schwelende Zigarre in den Aschenbecher drückte. Dickon trat instinktiv einen Schritt zurück. Seine Hand tastete hinter seinem Rücken nach der Türklinke.
»Wo ist das Kind?« Der Lord murmelte noch etwas, was Dickon nicht verstand, und starrte auf den Boden.
Dickon zögerte. »Die Kleine hat sich in ihr Zimmer eingeschlossen und weigert sich, herauszukommen. Sie schreit, dass sie wieder nach Hause möchte. Mrs Gibbs kümmert sich um Lady Rosalinde. Frances ist ratlos und außer sich.«
»Genug, Dickon!« Lord Greenwold machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zur Tür hinaus, ohne den Diener eines weiteren Blickes zu würdigen. Seine Tritte auf den Marmorstufen der großen Treppe dröhnten durch den Flur, scharf und zackig, wie ein Widerhall des eiskalten Zorns, der in seinen stahlgrauen Augen stand.
Dickon schüttelte den Kopf. Er hoffte für Lady Georgiana, dass der Ärger des Lords sich legte, bis er oben ankam. Er warf einen verstohlenen Blick um sich, führte die immer noch leicht glimmende Zigarre mit einer flinken Bewegung zum Mund und zog genüsslich daran, bevor er sie endgültig löschte. Danach legte er frische Kohlen auf den Feuerrost im Kamin und kratzte die Asche, die darunter lag, mit der Schaufel heraus. Die Bibliothek war Lord Greenwolds Refugium. Abends mochte er es warm.
An diesem Abend verzichtete der Lord jedoch auf seinen üblichen Platz vor dem knisternden Feuer in seiner Bibliothek. Die Dämmerung brach herein, und die Temperatur ging schlagartig zurück, als er das Haus verließ. Oben am Himmel ballten sich Gewitterwolken zu gewaltigen, dunklen Türmen in die Höhe. Donner grollte in der Ferne. Der Gutsherr blickte besorgt auf das bedrohliche Schauspiel, das sich über ihm entfaltete, und beschleunigte seine Schritte. Erste Regentropfen platschten auf den gepflasterten Weg, der von der Tür des Herrenhauses nach links über den Rasen zu den Pferdeställen führte.
»Kein langer Ritt, aber ein schneller, Frederick. Übernachtung in St. Ives. Ja, auch bei Gewitter. Hören Sie auf, mich anzustarren, und richten Sie den Sattel. Volle Montur heute!«
Lord Greenwold trieb sein Pferd mit dem Eifer eines Mannes an, der um Leib und Leben kämpft. Das Pferd kannte den Weg gut, auch bei trübem Licht und prasselndem Regen. Plötzlich schleuderte der Sturm einen gezackten Blitz an den pechschwarzen Himmel, der die Umrisse der Stadt St. Ives mit ihrem Kirchturm und den Dächern erhellte. Ein Donnerschlag knallte durch die Luft. Das Pferd bäumte sich auf und stellte sich wiehernd auf die Hinterbeine.
»Ganz ruhig, Tedwin!« Lord Greenwold klopfte dem Tier auf die Flanke. »Was, willst du nicht weiter? Komm, los, mein feiner Hengst! Auch diesen Sturm werden wir überstehen, glaub mir!«
Kurze Zeit später hielten Pferd und Reiter vor dem Barrel and the Bottle, einem Gasthaus in der Mitte von St. Ives.
»Mr Linreed erwartet Sie, Mylord«, verkündete der Dienstbote, der aus der Tür gerannt kam, sobald er die Hufe auf dem Kopfsteinpflaster hörte.
Schon sprang Lord Greenwold die zwei Stufen zur Haustür hoch. »Ich übernachte. Reiben Sie das Pferd ordentlich trocken, Sam!«, rief er über die Schulter zurück.
Lord Greenwolds Stammplatz befand sich in der hinteren Ecke der Trinkstube im Schatten eines dicken Samtvorhangs, der das Fenster zum Hinterhof des Gasthauses zur Hälfte verdeckte. Seinem Ruf als Mann des Volkes, der es nicht für unter seiner Würde hielt, sich in der Schankstube unter das Arbeitsvolk zu mischen, wurde er gerne gerecht. An diesem Abend mochte er es jedoch lieber unauffällig.
Der muffige Geruch, eine Mischung aus kaltem Stein und uralter polierter Eiche, war im hinteren Teil des Raums am intensivsten. Bald nach der Ankunft des Lords wurde die Luft von Zigarrenrauch überlagert. Regen prasselte gegen das Fenster. Der feuchte Mief von Schweiß und durchnässten Mänteln hing in der Luft. Die Kerze auf dem Eichentisch tauchte die Gesichter der beiden Männer, die einander gegenübersaßen, in orangefarbenes Licht, und die Biergläser auf dem Tisch warfen flackernde Schatten.
Die Feldarbeiter am anderen Ende der Wirtsstube waren in Hochstimmung. Unter lautstarkem Gelächter leiteten sie das Ende eines langen Tages auf den Obstwiesen mit großzügigen Schlucken aus Krügen mit frischem Apfelmost ein. Den beiden Gentlemen schenkten sie keine Beachtung. Die Stammkunden hatten sich längst an den Anblick des hochgewachsenen Gutsherrn in Gehrock und Hut gewöhnt, der immer am gleichen Platz am hinteren Tisch saß, mitten im Qualm von Zigarrenrauch und verstrickt in ernste Verhandlungen mit Geschäftspartnern.
Der Wirt war stolz auf seine vornehme Kundschaft. Mit eiserner Konsequenz beachtete er das oberste Gebot im Umgang mit dem Adel: Diskretion. Das Gerücht, dass Lord Greenwold ein eigenes Zimmer oben in The Barrel and the Bottle gemietet hatte, bestritt er nicht. Böse Zungen behaupteten, der Adlige verköstige nicht nur Geschäftspartner unten in der Stube, sondern gern auch Damen im oberen Gemach.
»Der Plan läuft, Lord Greenwold?« Der junge Mann, der auf den Lord gewartet hatte, fuhr sich mit der Hand nervös durch die blonden Haare, beugte sich nach vorn und stützte seine Ellbogen auf den Tisch.
»Sonst hätte ich Sie nicht hierher bestellt, Mr Linreed!«
»Und warum auf einmal so eilig, Mylord?«
Der Gutsherr lehnte sich in seinem Stuhl zurück und zog an seiner Zigarre. »Ich habe in den sauren Apfel gebissen und das Mädchen nach Birch Hollow geholt.« Er blies den Rauch langsam aus.
»Sieh mal einer an. Und Sie sind von seiner Anmut geblendet.«
Lord Winston erstickte beinahe an seiner Zigarre. Er hustete, lachte hämisch, hob sein Bierglas zum Mund und nahm einen großen Schluck. Er wischte sich den Mund mit einem Tuch ab und stellte das Glas auf den Tisch. »Nein, mein Lieber. Von seiner Hässlichkeit!«
»Was, Sie wollen mir eine hässliche Braut unterjubeln? Und wenn sie bis dahin schön wird und ein anderer sie begehrt? Sie ist noch jung.«
»Schön wird sie nie. Aus matten Augen werden keine reizvollen. Stupsnase bleibt Stupsnase. Sommersprossen verschwinden nicht mit den Jahren. Und die Haare – dünn und fad. Pah! Dass das kleine Weib von mir stammen soll …? Ich erkenne aufkeimende weibliche Reize, wenn ich sie sehe. Hier wittere ich keine.«
»Und ich soll sie in zehn Jahren zur Frau nehmen.«
»Noch früher, wenn es sein muss. Sagen wir, in acht Jahren. Welche Weiber Sie sich am Ende ins Bett holen, das bleibt Ihre Sache.«
Mr Linreed trommelte in Gedanken versunken mit den Fingern gegen den Bierkrug. »Sie denken wirklich, das lässt sie mit sich machen, Mylord?«
Der Wirt brachte einen zweiten Krug Bier und Lord Greenwold gab Mr Linreed ein Zeichen zu schweigen, bis er sich wieder entfernt hatte. Dann erst gab er eine Antwort.
»Sie wird keine andere Wahl haben, Mr Linreed. Manieren hat sie keine, wird sie auch nicht haben. Eine Frau aus dem Dorf hat sie großgezogen. Ihr ordinäres Verhalten passt zum unansehnlichen Äußeren. Schlau ist sie nicht. Ich sorge dafür, dass es so bleibt. Sie ist also bestes Material für eine ungeschliffene, aber eingebildete Landpomeranze. Für einen Bauer zu fein, für einen Grafen zu grob. Wie geschaffen für eine Spielfigur auf meinem Schachbrett.« Er lachte schadenfroh, bis ein Hustenanfall ihn überkam, er sich verschluckte und nach Luft ringen musste.
Mr Linreeds Blick fiel auf eine Narbe an der rechten Seite seines Halses. Die Haut war an dieser Stelle glatt, schimmerte rötlich und lila und spiegelte den Kerzenschein wider. Das von grauen Strähnen durchzogene Haar des Lords war nach hinten gekämmt, immer noch feucht vom Regen. Seine Gesichtszüge wirkten müde im gedämpften Licht, aber seine Augen blitzten scharf und energisch, während er weiterredete.
»Auf einmal, gerade in der Zeit, in der das hungrige Herz eines jungen Weibes nach Liebe lechzt, tritt ein großer, blonder Gentleman in ihr Leben, verdreht ihr den Kopf und wirbt um ihre Hand. Die Aussicht auf feine Abendroben, modische Hüte und den Neid ihrer ganzen Bekannten lässt sie natürlich nicht kalt. Bis dahin ist aus dem spärlichen und samtweichen Haarwuchs an Ihrem Kinn, Mr Linreed, ein stattlicher Bart geworden, und Ihre bleichen, dünnen Arme haben sich in vorzeigbare Muskeln verwandelt. Warten Sie nur ab, wie sie förmlich dahinschmilzt, wenn Sie Ihren Mund auf ihre Lippen drücken und ihr ewige Liebe schwören!«
Es war kurz still.
»Ich will es schriftlich, Mylord.«
Lord Greenwold bückte sich und kramte in seiner Tasche nach einer Ledermappe.
Das hämische Glitzern in seinen Augen entging dem jungen Mann nicht. »Warten Sie, Mylord. Was ist mit den Behörden? Und Ihrem nächsten männlichen Verwandten?«
»Ha! In acht Jahren sind Sie mein nächster männlicher Verwandter, mein Freund. Blutsverwandtschaft hat hier nichts zu sagen. Ein Schwiegersohn ist in diesem Fall so gut wie ein Sohn. Die Obrigkeiten sind froh, wenn das Anwesen im bisherigen Sinn weitergeführt wird. In anderen Küstenstädten treiben Schmuggler ihr Unwesen und lösen Kleinkriege und Anarchie aus. Dass bei uns Ruhe und Ordnung herrschen, ist den Ratsherren in Truro, St. Austell und St. Ives nicht entgangen. Solange das der Fall ist, drücken sie bereitwillig beide Augen zu und überlassen uns unsere Erbangelegenheiten selbst. Sie sind mit Wichtigerem beschäftigt. Wir befinden uns hier nicht in London, Mr Linreed. Diese Küste ist ein rauer Landstrich und folgt ihren eigenen Gesetzen.« Er warf dem jungen Mann einen vielsagenden Blick zu.
»Und der Fluch, Mylord?«
»Ach, der hat nichts als Vorteile gebracht. Diesen Quatsch soll die Bevölkerung ruhig weiter glauben. Es gibt keinen besseren Nährboden für satte Umsätze als ein Aberglaube, der keine Fragen stellt. Aus dem ›verfluchten Land‹ ist ein ergiebiges Paradies geworden. Ganz Hipperclove lebt von unserer Obsternte, Mr Linreed.«
»Und wenn Ihnen ein männlicher Erbe geboren wird, Sir? Lady Greenwold ist noch jung.«
Lord Winston winkte den Wirt zum Tisch. »Tintenfass und Schreibfeder, Herr Wirt.«
»Sofort, Mylord.«
»Hören Sie mir gut zu, Junge.« Der Lord beugte sich nach vorne über den Tisch. Seine Stimme verriet eine Spur von Ungeduld. »Es gab einmal ein Testament, das bei Nichtvorhandensein eines männlichen Nachkommen Töchtern das Erbrecht von Birch Hollow zusprach. Dieses Testament verschwand, als der Flügel des Hauses abbrannte, in dem meine Mutter lebte. Es gibt keine Kopie davon. Es war selbstverständlich meine feste Absicht, einen männlichen Erben zu zeugen. Stattdessen gebar mir meine Frau eine Tochter, zwei tote Söhne und noch eine Tochter. Einen weiteren Sohn wird es nicht geben. Das Einzige, was meine Frau und ich gemeinsam haben, ist eine abgrundtiefe Abscheu vor dem Gedanken, auch nur für eine Nacht das Bett zu teilen. Diese Ehe existiert nur auf dem Papier.«
»Wenn Sie Ihre Erbfolge in diesem gesetzlosen Teil des Landes selber bestimmen können, dann ernennen Sie doch einen illegitimen Sohn zum Erben, Mylord.«
Lord Greenwold schlug mit beiden Handflächen auf den Tisch. »Machen Sie keine Witze, Mr Linreed. Meine Bastarde bleiben so weit wie möglich aus dem Spiel. Sie existieren nur, wenn ich will, dass sie existieren. Solch einen Skandal kann selbst ich mir nicht leisten. Außerdem verlangt das Anwesen nach einem Nachkommen, der die Geschäfte kennt und das Vermögen verwaltet. In acht Jahren sind Sie sechsundzwanzig und Lady Georgiana achtzehn – ein Traumpaar. Bis dahin haben Sie Ihr Handwerk gelernt und meine Tochter ist froh über jeden Gentleman, der auch nur einen Blick in ihre Richtung wirft.«
»Und Lady Rosalinde? Sie ist immerhin die ältere.«
Lord Winston machte eine abfällige Handbewegung. »Lady Rosalinde ist ein verhätschelter Dickkopf. Sie hat nichts als Seifenblasen und Watte in ihrem hübschen Köpfchen. Mit ihrem goldenen Lockenkopf, den großen blauen Augen und ein paar Kurven wird sie irgendeinen Grafen an Land ziehen, der ihr hinterherläuft und dumm genug ist, sich von ihren Reizen betören zu lassen. So einer ist zu riskant als Nachfolger. Ich brauche jemanden, der vom selben Holz geschnitzt ist wie ich. Sonst noch Einwände?« Lord Greenwold lehnte sich zurück und wartete, bis der Wirt Tintenfass und Schreibfeder auf den Tisch gelegt hatte. Es war ein paar Augenblicke lang still.
»Ich soll also die Last Ihres Erbes auf mich nehmen, dazu eine hässliche Tochter, die kein anderer will …«
»Und dafür bekommen Sie ein Vermögen, das Ihre Freunde gelb vor Neid werden lässt, Ihren Verwandten schlaflose Nächte bereitet und Ihre Feinde das Zittern lehrt. Wer mich beerbt und Birch Hollow erhält, erbt die Geheimnisse, die mich und meine Vorväter reich gemacht haben. Die Welt liegt Ihnen zu Füßen.« Er hielt kurz inne. »Und wenn nicht Ihnen, dann meinem Cousin Malcolm Forsythe-Drake. Kaum eine Woche vergeht, in der er nicht versucht, seinen Anspruch geltend zu machen. Erst heute stand er wieder bei mir in der Bibliothek.«
»Deshalb so eilig. Verstehe.«
»Wenn Sie ›Nein‹ sagen, schicke ich die Kleine zu ihrer Bäuerin zurück. Der viele Ärger, den sie mir macht, wenn sie im Herrenhaus bleibt, muss wenigstens für etwas gut sein.« Lord Greenwold hob sein Bier zum Mund. Bevor er einen Schluck nahm, blickte er Mr Linreed über den Rand des Glases direkt in die Augen. »Übrigens, eine unerwünschte Braut kann, wenn nötig, entsorgt werden, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hat.« Das kalte Glitzern stand in seinen Augen. Sein Gesicht war rot angelaufen, die Narbe am Hals pulsierte. Er leerte sein Glas und wischte sich den Mund noch einmal mit dem Tuch ab. »Und wenn Sie sehr viel Glück haben, verlieben Sie sich in das Mädchen!«
Beide Männer lachten laut.
Das Dokument wurde unterzeichnet. In zweifacher Ausfertigung. Es machte Mr Linreed zum rechtmäßigen Erben von Birch Hollow – Gut, Vermögen und Tochter mit eingeschlossen. Ein fester Händedruck besiegelte das Abkommen, und der junge Mann staunte über den glücklichen Zufall, der ihn als Kind aus bescheidenen Verhältnissen zum zukünftigen Inhaber von Birch Hollow und zum vermögendsten Mann in ganz Cornwall machen sollte.
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In der Küche von Birch Hollow herrschte Feierabendstimmung nach langen Arbeitstagen. Die Apfelernte war in vollem Gange. Auf verschwitzte Stunden auf den Obstwiesen folgten Abende in der feucht-fruchtigen Kühle zwischen den dicken Steinmauern der Wirtschaftsräume. Große Berge von Äpfeln lagen in Körben neben der Tür, die zum Gemüsegarten führte.
Die Aussicht auf Apfelkonserven und Apfelwein, auf dampfenden Apple Pie und heißen Apfelauflauf in den kalten Wintermonaten beflügelte die fleißigen Hände. Helfer vom Dorf waren in Birch Hollow eingetroffen, um schadhafte Obststücke auszulesen und faule Stellen auszuschneiden. Nichts wurde verschwendet. Mostäpfel wurden für die Weinfässer, angeschlagene Obststücke als Futter für die Pferde ausgesondert. Die Bediensteten des Herrenhauses arbeiteten bis in den Abend hinein.
»Gott sei Dank, gerade noch rechtzeitig vor dem Gewitter! Sogar Mrs Gibbs wird’s schwer haben, ihre Krallen auszufahren, wenn sie sieht, wie viel wir geschafft haben!« Harriet, der Köchin, war die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Sie schleppte einen vollen Korb in die Mitte der Küche.
Dickon und Franny zogen zwei Holzschemel heran und stürzten sich auf das frisch geerntete Obst, während Harriet Einmachflaschen zum Reinigen bereitstellte.