Der Aufstand
Franco ›Bifo‹ Berardi
Vorwort zur deutschen Ausgabe: Humanismus und Automatisierung
Einführung
1. Europas Kollaps
2. Sprache, Ökonomie und der Körper
3. Die Suche des general intellect nach einem Körper
4. Poesie und Finanzwesen
Literaturverzeichnis
Während ich an diesem Buch arbeitete, bahnte sich eine Art Aufstand an. In London marschierten Studenten zum Protest gegen die britischen Bildungssparmaßnahmen, und vielleicht können Sie sich noch erinnern, wie eine Gruppe von Aufrührern die Limousine von Charles und Camilla umringte.
Die spanische Movimiento 15-M vom Mai und Juni 2011 und der unermüdliche Widerstand des griechischen Volkes versuchten sich am Umsturz der Finanzdiktatur. Vergeblich.
Im Frühjahr 2011 gab es in den arabischen Städten die größten Aufstände aller Zeiten: Junge Menschen kämpften gegen regionale Diktatoren und zugleich gegen den weltweiten Finanzkapitalismus. Die Avantgarde der ägyptischen und syrischen Rebellion, die sich aus kognitiven und kosmopolitischen, prekär beschäftigten Arbeitern zusammensetzte, war jedoch nicht in der Lage, ihre jeweiligen Heimatländer dauerhaft demokratisch umzugestalten.
Und so wurde der Prozess schließlich gekapert und von allen möglichen Spielarten des identitären Fanatismus in ganz andere Richtungen gelenkt, bis er sich schließlich zu einer militärischen Konfrontation entwickelte, in der Nationalismus (General Sisi in Ägypten, Assad in Syrien) und Fundamentalismus (Morsi und die Bruderschaft in Ägypten, die Dschihadisten in Syrien) aufeinander trafen.
Im September 2011 brach der Aufstand dann auch in New York aus, und auf Occupy Wall Street folgte eine frische Welle von Besetzungen andernorts, die allesamt darauf abzielten, den gesellschaftlichen Körper der kognitiven prekären Arbeit wiederzubeleben.
Der Geist von Occupy hallte an vielen Orten der Welt wider, insbesondere bei den Protesten und Besetzungen im Gezi-Park und während der gewaltigen Proteste in Brasilien im Sommer 2013. Die Abläufe dieser Aufstände waren so sehr verschieden voneinander wie ihre kulturellen Kontexte und politischen Folgen, und dennoch hatten sie eines gemein: Sie alle waren Ausdruck der entstehenden Macht einer globalen und prekären kognitiven Arbeiterschaft, die die neue gesellschaftliche Beschaffenheit der Arbeit repräsentierte. Es waren prekäre Kognitarier, die einer Vielzahl globaler Prozesse einen gemeinsamen Charakter, eine gemeinsame Bedeutung verliehen: die Suche nämlich nach einer Antwort auf die Frage, wie sich das Wissen und die Technologie vom Einfluss des Finanzkapitalismus befreien lassen können. Verschiedene Formen des Medienaktivismus, die Entwicklung der P2P-Technologie, aber auch die unterschiedlichsten Experimente mit alternativen Währungen sind Beispiele für den Versuch einer Wiederaneignung all dessen, was das Wissen insgesamt produziert. Die Besetzung öffentlicher Räume hingegen war ein Beispiel dafür, wie man den erotischen Körper der Gesellschaft neu zu gestalten und die kognitive Potenz des weltweiten vernetzten general intellect zu vereinen versuchte.
Die nicht auf den ersten Blick erkennbare Bedeutung der Occupy-Ereignisse lag meiner Meinung nach genau in dem Versuch, den gesellschaftlichen und erotischen Körper des general intellect neu zu gestalten. Außerdem sollte Occupy den Konzernen Widerstand leisten, um zu verhindern, dass sie das sämtliche Wissen unserer Zeit an sich reißen werden können.
Die Bewegung hat ihr Ziel verfehlt: dass die Konzerne sich alles Wissen einverleiben, konnte nicht verhindert werden, die Aggressionen des Finanzwesens gegen das Gemeinwohl ließen sich nicht dämpfen. Die Gesellschaft ist in einer Spirale aus Verarmung und Gewalt gefangen, während einzig noch der wiederauferstandene Nationalismus und der religiöse Fanatismus der finanziellen Aggression Widerstand leisten.
Der Aufstand von 2011 endete mit einer endgültigen, vernichtenden Niederlage: In der arabischen Welt besetzen Militärdiktaturen und Fundamentalisten den gesamten politischen Raum. Zwölf Monate nach Occupy Wall Street wurde aus der Bewegung Occupy Sandy, als ihr nämlich klar wurde, dass der Sturm die einzige Katastrophe war, die sich überhaupt besetzen ließ.
In Europa ist diese Niederlage von besonderer Bedeutung, denn sie markiert das Ende eines langen historischen Abschnitts, der im Juni 1848 in Paris begann. Dieser gigantische Konflikt, in dem sich seitdem Arbeiter und Kapitalisten gegenüberstanden, ist vorüber, und die Arbeiter haben verloren. Für immer. Es wird kein Rückspiel geben und keinerlei Rachemöglichkeit.
Die Geschichte der Gesellschaft ist keine Schach-Meisterschaft: Wenn man das Spiel verliert, kann man die Bauern nicht einfach wieder auf dem Schachbrett arrangieren und ein neues Spiel beginnen. Als die Arbeiterklasse besiegt wurde, wurde auf dem Schachbrett mit einem Mal alles ganz anders, und die Bauern nahmen andere Farben und Formen an, und heute sind sie nicht mehr die, die sie waren. Das Schachbrett an sich gibt es nicht mehr, es ist durch den Bildschirm eines virtuellen Spiels ersetzt worden, das das gesellschaftliche Gehirn vor enorme Herausforderungen stellt.
Deshalb ist es nun an der gesellschaftlichen Fantasie, die Sache ganz anders anzugehen: Der Handlungsraum verlagert sich aus der Politik heraus und hin zur Techno-Wissenschaft, und anstatt überhaupt noch über ökonomische Dinge zu verhandeln, flüchten wir aus der Ökonomie, um nicht-ökonomische Räume des symbolischen Handelns zu schaffen, in denen wir überleben können.
Die Aufstände von 2011 brachen in den verschiedensten politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen aus, und in den verschiedenen Kontexten hatte man verschiedene Erwartungen. Und doch entstand so etwas wie ein allgemeines Bewusstsein: Überall auf der Welt zerstört der Finanzkapitalismus die Zukunft der prekären Generation, verleibt sich zugleich die gesamte Wissensproduktion ein, und entsprechend richten sich die Inhalte des Wissens immer häufiger nach den vorherrschenden Anforderungen der Profit-Wirtschaft.
Die Prekarisierung betrifft jeden einzelnen Aspekt der Arbeitstätigkeit. Die Prekarität ist die allgemein übliche Form der kognitiven Arbeit, da nämlich die Prekarität ganz besonders gut zu einer rekombinanten, vernetzten Form der Arbeit passt, die sich auf Informationen reduzieren lässt.
Aus der Perspektive der prekären kognitiven Arbeit war der Aufstand von 2011 der Anfang eines ganz neuen Prozesses, der in den kommenden Jahrzehnten die gesamte gesellschaftliche Landschaft erfassen wird. Die Rebellion der prekären kognitiven Arbeit muss sich jedoch des Vermächtnisses der spätmodernen proletarischen Revolten sowie der historischen Altlasten vergangener industrieller Konflikte entledigen.
Die spätmodernen Formen der proletarischen Rebellion haben ausgedient. Die Industriearbeiterklasse ist vor langer Zeit bereits besiegt worden, als sie nämlich die einzigartige Gelegenheit versäumte, die die technologische Revolution ihr bot. Weil die politische Repräsentation der globalen Arbeiterbewegung kulturell vollkommen rückständig war, versäumte man die Möglichkeit einer grundsätzlichen Umverteilung der Arbeitszeit: Die Arbeiterbewegung marschierte zum Protest gegen technologische Innovationen, anstatt sie zu ihrem Vorteil zu nutzen. Jetzt ist es zu spät, um diese Niederlage noch rückgängig zu machen.
Das bedeutet jedoch nicht, dass die bisherige Geschichte sich einfach in Luft auflösen wird. Es wird noch mehr Rebellionen geben, mehr Krawalle, noch mehr Kriege, mehr Not, und es wird immer gewaltigere Massenmobilisierungen geben und Zorn und Verzweiflung. Darauf kann man wetten. So gewalttätig all dies jedoch auch sein mag und so groß der Raum auch sein wird, über den es sich erstreckt – es wird doch nur ein Überbleibsel einer Moderne und eines Klassenkampfes der Vergangenheit sein. Weder wird es zum Kern der Finanzabstraktion vordringen können noch die Richtung der automatisierten Maschinen verändern. Als Überreste werden die Körper zurückbleiben, die Empfindungen, Ereignisse, der Wille und der Zorn und die gewaltsame Verzweiflung.
Die Geschichte ist tot, weil nämlich die Spuren sämtlichen historischen und teleologischen Bewusstseins von der Evolution verschluckt werden, von diesem besinnungslosen Strom, dem sich nicht entkommen lässt. Und die Evolution hat keinerlei Ziel, keine Vernunft und keine Absichten. Ganz wie die Natur ist sie blind, und jetzt nimmt die Natur Rache.
Der langwierige (und tatsächlich niemals endende) Prozess der kapitalistischen Deregulierung, der vor vierzig Jahren begonnen hat, hat eine Art kapitalistischen Absolutismus entstehen lassen: Die Herrschaft des Rechts ist zu Ende, denn der deterritorialisierte Finanzkapitalismus ist für das Gesetz so wenig sichtbar wie erreichbar.
Die Vernichtung der europäischen Besonderheit bedeutete den bisherigen Höhepunkt der Aggressivität, mit der der Finanzkapitalismus die weltweite Arbeiterschaft bekämpft, und sie bereitete der endgültigen Demontage einer gesellschaftlichen Zivilisation den Weg, die auf Demokratie und Gesprächsbereitschaft gegründet worden war.
Was genau ist diese europäische Besonderheit?
Ich spreche nicht etwa von der europäischen Identität. Es gibt keine europäische Identität, denn Europa ist ein Schmelztiegel von zahllosen widersprüchlichen Identitäten, und die Arbeit an einem nichtidentitären politischen Raum war die große Antriebskraft des (inzwischen zugrunde gegangenen) Projektes der Europäischen Union. Dies war Europas Stärke: ein Projekt des Friedens und der Solidarität, das auf dem unbedingten Verlangen nach einer Zukunft und auf einer freien Vorstellung von dieser Zukunft gründete. Das Unionsprojekt basierte nicht auf einer Identität, und es implizierte keinerlei Zugehörigkeiten. Nichtsdestotrotz ruhte das europäische Projekt auf der Besonderheit einer kulturellen und politischen Geschichte, die die Union eigentlich hatte bewahren sollen: das historische Vermächtnis des Humanismus, der Demokratie und der sozialen Solidarität.
Seit dem Beginn der Moderne war die Geschichte Europas unauflöslich mit der Entstehung des Humanismus verknüpft, und die kulturelle Wirklichkeit der Länder Europas nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war lange Zeit unauflöslich verknüpft mit den Idealen der Demokratie und der sozialen Solidarität (wenn man denn unbedingt will, kann man diese Solidarität auch als Wohlfahrt bezeichnen).
Vor allem dieser kulturellen und sozialen Spezifität, die Europa von der Geschichte geerbt hatte, ist es zu verdanken, dass es dem weltweiten Finanzabsolutismus lange Zeit verwehrt blieb, seinen absoluten Triumph und allumfassende Implementierung feiern zu können.
Um die Arbeiter der Welt dazu zu zwingen, jedwede Form der Ausbeutung, der Sklaverei und Gewalt hinzunehmen, musste das Vorbild, das die Arbeiter Europas darstellten, beseitigt werden, und in den fünf Jahren, die auf den Crash von 2008 folgten, richtete der weltweite Finanzkapitalismus all seine Bemühungen auf die Zerstörung dieser einen europäischen Besonderheit aus.
Ausgerechnet in dem Land, in dem das Wort »Demokratie« vor 25 Jahrhunderten zuerst ersonnen wurde, wurde die Demokratie dann auch wieder abgeschafft, und zwar an genau dem Tag, an dem Georgi Papandreou zum Schweigen gebracht und zum Rücktritt gezwungen wurde, weil er es gewagt hatte, ein Referendum gegen das Diktat der Finanztroika durchsetzen zu wollen. Das Sozialsystem wird demontiert: Das Schulsystem wurde privatisiert, zahllose Beamte wurden entlassen, die Arbeit wurde gründlich prekarisiert. In der Folge ist das durchschnittliche Gehalt der europäischen Arbeiter halbiert worden, während die Arbeitslosenzahlen überall ansteigen und der Arbeitszeit keinerlei Grenzen mehr gesetzt sind.
Nach fünf Jahren Krieg gegen das Allgemeinwohl behaupten die opportunistischsten der vielen Beschwörer und Beschwichtiger in der europäischen Politik, dass sich der Aufschwung in Sichtweite befinde. Sie bezeichnen diesen Aufschwung als »Aufschwung der Arbeitslosen«, denn er gründet auf der vollkommenen Demütigung und Verarmung der europäischen Gesellschaft.
Was kommt als Nächstes? Es lässt sich nur schwer vorhersagen, ob das politische Format der Europäischen Union überleben wird. Überall sind nationalistische Parteien auf dem Vormarsch, an den Grenzen Europas wird für den Bürgerkrieg gerüstet, Rassismus und Gewalt verbreiten sich in vielen Regionen des Kontinents. Wen interessiert es letztlich schon, ob die Union nun überleben oder sterben wird? Für die globale Macht der Konzerne zählt allein die Abschaffung der sozialen Zivilisation und die Vernichtung einer möglichen Alternative für die Arbeiter der Welt.
In Europa wird nicht nur das sozialistische und demokratische Vermächtnis der Moderne demontiert. Der Triumph des Finanzkapitalismus sowie die Einbettung techno-linguistischer Automatismen in den gesellschaftlichen Körper und in den gesellschaftlichen Geist vernichten zudem unser humanistisches Vermächtnis und die innerste Bedeutung dessen, was der Humanismus einst darstellte.
Der Humanismus gründete auf der Annahme, dass das menschliche Handeln (intrapresa in der Sprache der italienischen Renaissance) keinerlei theokratischem Willen unterworfen sei: Dem humanistischen Philosophen Giovanni Pico della Mirandola zufolge verlieh Gott in den Tagen der Schöpfung zwar jeder einzelnen Kreatur der Welt einen Namen und außerdem eine ihr wesentliche Natur. Weder Namen noch Natur hatte er jedoch für die vollendetste aller Kreaturen zur Hand: für den Menschen. Diese Unbestimmtheit bildete die Grundlage des Humanismus.
Machiavellis Prinzen zufolge dient die Politik der Umsetzung einer auf dieser Unbestimmtheit gründenden Freiheit.
Seitdem Pico seine Rede über die Würde des Menschen verfasste, ist diese ontologische Unbestimmtheit des Menschlichen ein Schlüssel zur humanistischen Kultur, die der bürgerlichen Modernisierung Europas ihre Form verliehen hat.
Als Ergebnis der ökonomischen Globalisierung und der Finanzherrschaft ist die bürgerliche Form des Kapitalismus verschwunden: Der menschliche Wille gestaltet die Ökonomie nicht mehr. Die Ökonomie, die in eine Natur oder Theokratie verwandelt worden ist, ist die innerste archetypische Struktur des Sozialen. Die Politik ist auf das Führen und Regieren reduziert und auf die einfache Verwaltung der automatisierten Verknüpfungen zwischen den verschiedenen linguistischen Maschinen. Technologische und linguistische Automatismen sind in die Kognition und die gesellschaftliche Interaktion eingebettet, und zwar so, dass der politische Wille schon im Voraus vollkommen ausgehöhlt ist. Gott – der in Picos Rede aus dem Raum der menschlichen Geschichte verbannt worden war – ist wieder anwesend, seitdem der techno-linguistische Automat das Ende der humanistischen Freiheit und die Schöpfung einer ganz neuen Form der Theokratie bedeutet: nämlich die Schöpfung der Finanztheokratie, die kein bisschen weniger dogmatisch oder gnadenlos auftritt als irgendeine andere Form der Theokratie in der Vergangenheit.
In einem Kapitel des zweiten Bandes seiner Grundrisse, das auch als »Maschinenfragment« bekannt ist, erläutert Marx, dass alles wissenschaftliche und technologische Wissen – also das Erzeugnis der Kooperation intellektueller Arbeiter – eine Form der Produktivkraft ist, die zur Minderung der körperlichen Müdigkeit führt. In der Tat bereitet der general intellect1 einer möglichen Emanzipation des Menschen von der Verpflichtung zur Lohnarbeit den Weg.
Der Drang zur Produktivitätssteigerung sämtlicher Arbeit ist ein Wesensmerkmal des Kapitalismus.
Die Wissenschaft und die Technologie ermöglichen diese Steigerung. Sie führt aber tendenziell zu einer Reduktion der Gesamtzeit, die zur Produktion dessen aufgewandt werden muss, was wir für ein Leben in der Gesellschaft unbedingt benötigen.
Die volle Entfaltung dieser Tendenz manövriert den Kapitalismus bis weit über den eigenen Raum hinaus, da die Anwendung von Wissen auch die Möglichkeit bedeutet, dass sich die gesellschaftliche Zeit von der Verpflichtung zur Arbeit befreien lassen kann.
Als general intellect bezeichnet Marx eben diese Kooperation intellektueller Arbeiter, also die lebendige Subjektivität, die hinter der Entwicklung von Wissenschaft und Technologie steht.
»Die Entwicklung des capital fixe zeigt an, bis zu welchem Grade das allgemeine gesellschaftliche Wissen, knowledge, zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kontrolle des general intellect gekommen und ihm gemäß umgeschaffen sind. Bis zu welchem Grade die gesellschaftlichen Produktivkräfte produziert sind, nicht nur in der Form des Wissens, sondern als unmittelbare Organe der gesellschaftlichen Praxis; des realen Lebensprozesses.«2
Als Marx diese Sätze schrieb, im Jahr 1859, war es gar nicht einfach nachzuvollziehen, wovon er da eigentlich sprach. Und sowieso blieben die Grundrisse seinen Lesern bis zum Ende der 1960er-Jahre unbekannt. Sie wurden erst in den vergangenen Jahrzehnten des Jahrhunderts, vor allem von den italienischen Operaisten, breit rezipiert, als die techno-kulturelle Evolution aus dem general intellect eine allgemeine gesellschaftliche Realität werden ließ.
Heute ist die kognitive Arbeiterschaft tatsächlich miteinander verknüpft, und ihre Kooperation verleiht einem bio-technologischen Organismus Form, den wir als Marx’ begriffliche Abstraktion identifizieren können: Der general intellect hat eine sichtbare Dimension angenommen, die Dimension des Internets.
Indem das digitale Netzwerk die technischen Dimensionen bereitstellt, innerhalb derer die volle Anwendung des general intellect erst möglich wird, hat es die Möglichkeit einer Emanzipation der gesellschaftlichen Zeit von der Verpflichtung der Lohnarbeit forciert. Dieser Tendenz steuert jedoch die semiotische Form einer Ökonomie entgegen, die auf Ausbeutung, Profit und Kapitalakkumulation gründet.
Die volle Entfaltung aller Potentialitäten der intellektuellen Kooperation wird von der profitorientierten Ökonomie vorangetrieben und verhindert zugleich. Der general intellect ist tatsächlich die einzige Kraft, die die techno-linguistische Maschine zu dekonstruieren und zu transformieren vermag, während er die Gesellschaft und das Wissen dabei von der Gestalt eines Kapitalismus emanzipiert, der einfach alles durcheinander bringt.
Die Hyperwelt – ein Paralleluniversum, das sich rasenden Tempos im Raum des virtuellen und allgegenwärtigen Nirgendwo ausbreitet – gründet auf der Trennung des intellektuellen Handelns vom körperlichen Raum und reißt sämtliche Energie des general intellect an sich, verwandelt sie in eine Abstraktion.
Die Empathie wird durch den Wettbewerb ersetzt, und die grausame Herrschaft des Automaten kontrolliert das tägliche Leben bis ins kleinste Detail.
Die längste Zeit war Europa der letzte Zufluchtsort der sozialen Zivilisation, deren Prämisse der Schutz des Menschen vor dem grausamen Gesetz der Natur und vor der ähnlich grausamen Herrschaft der Finanzmathematik war. Der Kapitalismus hat der europäischen Gesellschaft den Krieg erklärt – mit dem Ziel, bald die gesamte Welt zu beherrschen.
In den kommenden Jahrzehnten werden wir erleben, wie Europa weiträumig verarmen wird, wie die Institutionen der Zivilisation zerfallen und identitär motivierte Aggressionen und Kriege sich ausbreiten. Die Arbeiter der sogenannten Schwellenländer werden den Kollaps der ehemaligen Kolonialmächte Europas nicht für sich nutzen können. Niedrige Gehälter, immer mehr Ausbeutung und explosionsartig zunehmende Umweltverschmutzung sind ihr Schicksal. Die Schwäche der westlichen Arbeiter wird die Arbeiter der neuen industriellen Welt keineswegs zu mehr Macht verhelfen. Im Gegenteil bereitet die Auszehrung der sozialen Zivilisation Europas der regressiven Vereinheitlichung des Arbeitsmarktes den Weg, also einer neo-humanen (post-humanistischen) Form der Sklaverei. Diese Sklaverei wird aus dem zügellosen Wettbewerb innerhalb der globalen Arbeiterschaft hervorgehen, die jedweder Autonomie und Organisation beraubt ist und auch des Vorbilds, das die soziale Zivilisation Europas einst war.
Der Finanzkapitalismus arbeitet wie eine Abwasserpumpe. Er trocknet das gesellschaftliche Leben aus und zerstört das kulturelle Fundament der gesellschaftlichen Solidarität. Als Attraktor und Zerstörer der Zukunft reißt der Finanzkapitalismus Energien und Ressourcen an sich und verwandelt sie in monetäre Abstraktionen: in nichts.
Ein Riss verläuft durch unser Zeitempfinden, und wir versuchen ihm zu entkommen. Er ist wie ein tektonischer Fehler im Gewebe unserer Erwartungen, ein tiefer Einschnitt in unsere Vorstellung von der Zukunft.
Die moderne Kunst der Politik, die rationale Prognose und der freiwillige Akt des Regierens sind ihrer Potenz und Effektivität beraubt worden.
In der nächsten Zukunft müssen wir lernen, wie sehr und wie genau wir nun eigentlich von den Dynamiken einer nicht wieder rückgängig zu machenden Katastrophe abhängen, und zugleich müssen wir lernen, uns eine ganz andere Beziehung zwischen general intellect und gesellschaftlichem Körper vorstellen zu können.
Die semio-kapitalistische Entäußerung zeigt sich in erster Linie in der Trennung des general intellect vom sozialen und erotischen Körper. Mit der Hinterfragung dieser Trennung wird das neue Spiel beginnen, bei dem es um die Emanzipation der kognitiven Aktivität von denjenigen Automatismen gehen wird, die wiederum vom general intellect produziert werden.
Der Aufstand der Zukunft wird die Wiederbelebung des gesellschaftlichen Körpers des general intellect bedeuten, also die weltweite Rekonjunktion des Gehirns und des Körpers.
Im Mittelpunkt des jüngsten Filmes von Spike Jonze (Her, 2013) steht Theodore, ein langweiliger und melancholischer Mann aus Kalifornien, der derzeit ganz besonders traurig ist, weil seine Frau ihn verlassen und die Scheidung eingereicht hat.
Also erwirbt Theodore ein Betriebssystem der allerjüngsten Generation für seinen Computer, das sich gemeinsam mit seinem Anwender weiterentwickelt, indem es der Art und Weise, wie er spricht, entnimmt, wie er auf was reagiert und welcher Stimmung er gerade ist. Es entwickelt sich weiter, indem es tonnenweise Handlungsanweisungen verarbeitet, private Emails liest, und auf diese Weise wird es zum besten Freund seines Nutzers. Theodore jedoch braucht Liebe noch viel mehr als Freundschaft. Das Betriebssystem, das er gekauft hat, nimmt eine weibliche Stimme und den Namen Samantha an, und die Liebesgeschichte beginnt. Theodore verliebt sich in Samantha, und Samantha und Theodore passen perfekt zueinander.
Samanthas Stimme (die im Übrigen die Stimme Scarlett Johanssons ist) ist bezaubernd und charmant, sie wärmt, und sie ist ganz genau das, was Theodore braucht. Sie ist allerdings die Stimme eines elektronischen Geräts; nur die Simulation einer menschlichen Stimme. Theodore und Samantha finden sich in einer perfekten Liebesgeschichte wieder, die für den Automaten Samantha jedoch nur eine perfekte Simulation bleiben kann. Als Theodore sie sehr schüchtern und nur zögernd fragt: »Hast du noch andere Beziehungen?«, reagiert sie auf so offensichtlich trockene Weise wie immer. Sie kann nicht lügen, wie sollte sie auch, und so antwortet sie: »Ja, 853 insgesamt.«
Die Konnektion hat die Konjunktion ersetzt, die syntaktische Perfektion ist an die Stelle wirklich empathischer Verbindungen zwischen körperlichen Organismen getreten: Spike Jonzes Film handelt von dem unendlichen Leiden des vollkommen automatisierten Lebens der Neu-Menschen, die sich von den allgegenwärtigen und sich noch immer weiter verbreitenden Automatismen der digital vernetzten Maschine haben umzingeln und bändigen lassen.
Der Film nimmt kein gutes Ende: Sobald sie sämtliche Aufmerksamkeit, Erinnerung und Imagination ihrer Besitzer an sich gerissen haben, sobald sie sämtlichen Geist aus ihren Liebhabern gesogen haben, entledigen sich die automatisierten Maschinen ihrer langweiligen, depressiven Menschenfreunde und lassen sie allein, besiegt und verlassen.
Die transhumane Utopie, die hypermächtige Maschine, die das menschliche Gehirn und die digitalen Netzwerke miteinander verbindet, endet in einer düsteren Dystopie.
Der Aufstand der Zukunft wird einzig und allein als Wiederbelebung des erotischen Körpers des gesellschaftlichen Lebens vorstellbar sein.
1Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Marx Engels Werke Band 42), Berlin 1983, S. 602.
2Ebd.
Diese Texte wurden im Jahr 2011 geschrieben, im ersten Jahr des europäischen Aufstands, als die europäische Gesellschaft in eine schwere Krise geriet, die mir eine Krise vor allem der gesellschaftlichen Phantasie zu sein scheint und gar nicht so sehr eine reine Wirtschaftskrise. Seit drei Jahrzehnten kontrolliert das ökonomische Dogma den öffentlichen Diskurs und zerstört dabei die kritische Macht der politischen Vernunft. Der Kollaps der Weltwirtschaft entlarvte die Gefahren des ökonomischen Dogmatismus. Dessen Ideologie war jedoch längst mit den Automatismen der lebendigen Gesellschaft verwoben worden.
Politische Entscheidungen sind durch techno-linguistische Automatismen ersetzt worden, die in die vernetzte Weltmaschine eingebettet sind, und die gesellschaftliche Entscheidungskraft wurde psychischen Automatismen unterworfen, die in den gesellschaftlichen Diskurs und das gesellschaftlich Imaginäre eingebettet sind. Doch die Ausmaße dieser Katastrophe erwecken im gesellschaftlichen Gehirn bisher verborgene Potenzen. Mit dem finanziellen Kollaps begann ein Aufruhr, der sich zuerst im Dezember 2010 in London, Athen und Rom andeutete und sich danach von Mai bis Juni 2011 während der spanischen acampada, in vier rasenden Augustnächten in englischen Vororten sowie während einer Streikwelle und einer Vielzahl von Besetzungen in den USA zu voller Kraft entwickelte.
Der europäische Kollaps ist nicht nur das Resultat einer lediglich ökonomischen und finanziellen Krise – es handelt sich bei diesem Kollaps auch um eine Krise unserer Fähigkeit, uns unsere Zukunft vorstellen zu können. Die Verträge von Maastricht sind zu unbestreitbaren Dogmen geworden, zu algorithmischen Formeln und Zaubersprüchen, die von den Hohepriestern der Europäischen Zentralbank bewacht und von Börsenmaklern und Finanzberatern gefördert werden.
Heute beruht jede Form der finanziellen Macht auf der Ausbeutung prekärer, kognitiver Arbeit: auf der Ausbeutung des general intellect in seiner gegenwärtigen Form, in der er vom Körper gänzlich getrennt ist.
In seiner gegenwärtigen Konfiguration erscheint der general intellect zersplittert, er ist jedweder Selbstwahrnehmung, jeden Selbst-Bewusstseins beraubt. Allein die bewusste Mobilisierung des erotischen Körpers des general intellect, allein die poetische Revitalisierung der Sprache wird dazu führen können, dass eine ganz neue Form der gesellschaftlichen Autonomie entsteht.
Für meine Generation ist es nicht einfach, sich von dem intellektuellen Automatismus des dialektischen Happy Ends loszureißen.
Auf die Restaurationen des Wiener Kongresses folgte im Jahr 1848 der Völkerfrühling, dem Faschismus folgten Widerstand und Befreiung, und entsprechend geht der politische Instinkt meiner Generation (der 68er-Generation, die in gewisser Hinsicht die letzte moderne Generation ist) davon aus, dass wir unmittelbar vor der Wiederherstellung der Demokratie stehen, vor der Rückkehr der gesellschaftlichen Solidarität und vor der Abschaffung der Finanzdiktatur.