Brad Blanton
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© 2014 Brad Blanton www.radicalhonesty.com
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World Copyleft 2014 by Brad Blanton www.radicalhonesty.com, veröffentlicht von Next Culture Press www.nextculturepress.org. Das nicht kommerzielle Kopieren und Verbreiten von Teilen dieses Buches als Studienmaterial für Diskussionsgruppen, Seminare oder Trainings, für Web- seiten, Newsletter oder elektronische Magazine ist gestattet, solange alle Kopien die folgende Copyright-Notiz mit Autor und Verlags-Website beinhalten. Alle anderen Rechte vorbehalten.
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World Copyleft 2014 by Brad Blanton www.radicalhonesty.com, veröffentlicht von Next Culture Press www.nextculturepress.org. Dies ist ein Auszug aus dem Buch Radikal ehr- liche Elternschaft. Das nicht kommerzielle Kopieren und Verbreiten dieses Auszuges ist gestattet, solange alle Kopien diese Copyright-Notiz mit Autor und Verlags-Website beinhalten. Alle anderen Rechte vorbehalten.
Titel des Buches: Radikal ehrliche Elternschaft Autor: Brad Blanton, www.radicalhonesty.com Originaltitel: Radical Parenting (Sparrowhawk Press) Deutsche Übersetzung: Marion Callahan
Lektorat: Sonia Willaredt
Covergestaltung: Janine Glas, www.janineglas.de
Layout: Marion Görmann, www.roeser-media.de
Fotos mit freundlicher Genehmigung von Anne Schmid, Brad Blanton, Bulls Press/Barcroft Media, Clinton Callahan, Hans-Gerd Krause, Joe Drake, Jürgen Birlinger, Nicola Schmidt, Sonia Willaredt, Sylvie Robert, Tassilo Willaredt
Erstauflage November 2014 von www.nextculturepress.org
Druck: www.finidr.cz
ISBN: 978-3-9814543-2-1
Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Nationalbibliothek erhältlich
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Next Culture Press, Germany, www.nextculturepress.org
Deutsche Übersetzung von Marion Callahan
DIESES BUCH IST DAS DRITTE, das ich als Ergebnis des Beobachtens, des Studierens, des Nachdenkens und des Diskutierens über den Krieg zwischen dem Sein und dem Verstand geschrieben habe, was zuerst in Radikal Ehrlich: Wie du dein Leben ändern kannst, indem du die Wahrheit sagst (Kabel Verlag, 1997) behandelt wurde und in einem zweiten Buch Practicing Radical Honesty: How To Complete the Past, Live in the Present and Build a Future With a Little Help from Your Friends (Sparrowhawk,
2001) sorgfältig ausgearbeitet wurde. Ich habe jahrelang an diesem Buch gearbeitet, sogar während ich diese anderen Bücher schrieb. Schon lange wollte ich ein Buch über Elternschaft schreiben, basierend auf meiner lebenslangen Beobachtung, wie ein Verstand aufgebaut wird, wie er funktioniert und wie er versagt.
Nach all diesen Jahren, in denen ich als Psychotherapeut eng mit Menschen arbeitete, die durch die Art, wie sie erzogen, instruiert und kultiviert wurden, versaut wurden, stelle ich eine Frage, die aus einer zentralen Reihe von Annahmen erwächst, und versuche, die Frage zu beantworten.
Diese Annahmen sind:
1. Die primäre Ursache von Stress ist der Verstand des Einzelnen, der an Stress leidet.
2. Die Anhaftung an die Ideale und die Einbildungen des Verstandes, welcher Stress erzeugt, beinhaltet die Anhaftung an das ideale Bild desjenigen, der wir sind.
3. Fast jeder von uns lügt im Hinblick darauf, wer wir sind und was wir getan haben und was wir denken und fühlen, und zwar regelmäßig und aus Gewohnheit, um einen guten Eindruck zu machen und unser Bild von uns in jener Weise aufrechtzuerhalten, auf die uns unsere Kultur ermutigt, es zu tun.
4. Lügen sperrt uns ins Gefängnis unseres Verstandes.
5. Weil wir in unserem Verstand sind und so beschäftigt mit unserem Image und unserem Auftritt, sind wir von unserer Erfahrung abgetrennt und nicht in der Lage, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten und von ihnen genährt zu werden.
Basierend auf diesen Annahmen stellt sich die Frage: Gibt es einen Weg, Kinder so zu erziehen, dass eine solche Art von Leiden vermieden werden kann? Dies ist die zentrale Frage, um die herum sich dieses Buch gliedert.
Aus dieser Frage erwachsen diese anderen Fragen:
• Welche Art von Umgang und Umfeld macht die Menschen beim Heranwachsen glücklich und frei?
• Wie müsste die Erziehung von Kindern gestaltet sein, damit sie als Jugendliche und Erwachsene nicht so sehr leiden müssen?
• Gibt es einen Weg, Kinder direkt von Anfang an so zu erziehen, dass sie sich nicht so sehr in ihrem Verstand verlieren?
• Könnte die gesamte Zeitspanne, in welcher der Verstand während der Kindheit und der Jugend wächst, auf eine funktionsfähigere Art gestaltet und genährt werden, als wir es bisher im Allgemeinen getan haben?
• Wie würden Elternschaft und Ausbildung aussehen, wenn die Kindererziehung vollkommen darauf ausgerichtet werden könnte, den ausgewogenen Gebrauch des Verstandes zu bewirken, während die Erfahrung, im Körper zu sein, der Schwerpunkt bleibt?
• Warum könnten Menschen nicht einfach damit anfangen, neugierig und glücklich zu spielen, und damit weitermachen während sie wachsen und wachsen und wachsen?
• Welches sind die leichtesten, zweckmäßigsten, wirksamsten und dem gesunden Menschenverstand nächsten Methoden, mit Kindern umzugehen, während sie sich entfalten? Wie können wir ihnen bei der Aufgabe zu wachsen, zur Seite stehen, ihnen nicht im Weg stehen und es ermöglichen, dass sie dennoch wohlgeraten?
• Wie können wir die Vorzüge unserer eingeschränkten kulturellen Sichtweise nutzen und doch gleichzeitig die Einschränkungen überwinden und unsere Kinder so erziehen, dass sie nicht genauso verkorkst sind wie wir?
Ich glaube, der Schlüssel zur Beantwortung dieser Fragen liegt darin, dass wir selbst erwachsen werden, ein bisschen mehr als es die meisten von uns sind. Ich glaube, es ist entscheidend, dass wir unsere eigenen Kindheitserfahrungen und unsere Reaktionen darauf, wie wir von unseren eigenen Eltern behandelt wurden, überwinden. Ich glaube, es ist genau das, was uns die Wahl lässt, wie wir unsere eigenen Kinder erziehen. Das reicht natürlich nicht. Wir müssen auch die Beschränkungen der größeren Familie, in die wir hineingeboren wurden – genannt Kultur – überwinden. Wenn wir unsere Kinder wirklich lieben und wollen, dass sie glücklich sind und zum Wohlergehen der Menschen und der Welt beitragen, müssen wir mehr überwinden als bloß unsere kleine persönliche dysfunktionale Familie – wir müssen ebenso über die Beschränkungen der großen dysfunktionalen Familie hinwegkommen. Das große dysfunktionale Familienproblem ist eine grundlegende Überlegung bei der Kindererziehung. Diejenigen von uns, die unter den Beschränkungen der Kultur, in der wir aufgewachsen sind, gelitten haben – und sie verstehen –, wollen die kulturellen Voraussetzungen, die erfahrungsgemäß unser Leid verursacht haben, bewusst korrigieren, und dieses Leid nicht an unsere Kinder weitergeben.
Ich war an der Erziehung von fünf Kindern maßgeblich beteiligt, eines pro Jahrzehnt seit 1950. Ich war neun Jahre alt, als mein jüngster Bruder geboren wurde. Meine Mutter hatte vier Fehlgeburten, weil sie von meinem Stiefvater geschlagen wurde. Mike kam zu früh zur Welt, auch nach Schlägen, und überlebte. Ich war seine hauptsächliche Bezugsperson und kümmerte mich von seiner Geburt an im Jahre 1949 bis zu seinem frühen fünften Lebensjahr 1953 um ihn. Unsere Familie, angeführt von Säufern, die selbst Kinder waren, brach infolge vieler Vorkommnisse letztendlich auseinander, unter anderem nachdem mein zwölfjähriger Bruder und ich meinem Stiefvater den Schädel und drei Rippen brachen, bevor ich das Elternhaus verließ. Nach diesem therapeutischen Ereignis und noch einigen weiteren mit meinem Stiefvater – und 16 Jahren Psychotherapie – bin ich fast darüber hinweg, dass meine Reaktionen auf die Art, wie ich erzogen wurde, komplett mein Leben steuern.
Obwohl ich erst neun Jahre alt war, als mein jüngster Bruder geboren wurde, liebte ich ihn von ganzem Herzen. Als ich dreizehn war, brach meine Familie auseinander. Nachdem sie mit ihrer Abzahlung für das Haus drei Monate im Rückstand war, stahl ich das Geld, welches nötig gewesen wäre, um zu verhindern, dass die Bank das Haus wieder in Besitz nimmt, und weigerte mich, es zurückzugeben. Als sie nüchtern waren, teilte ich meinem Stiefvater und meiner Mutter mit, dass ich ihn umbringen würde, wenn sie meinen Bedingungen nicht kompromisslos zustimmen würden. Unter diesen Bedingungen „verhandelten“ wir eine Vereinbarung, dass mein kleiner Bruder zu seiner Großmutter ziehen und in der Nähe in Virginia bleiben würde. Mein nächster Bruder, der zwölf war, würde zu einer Tante und einem Onkel nach Tennessee ziehen, und ich würde mit meiner erwachsenen Schwester und meinem Schwager in Texas leben. Obwohl ich derjenige war, der hauptverantwortlich für diese Lösung war, hatte ich, als wir uns trennten und uns in unsere verschiedenen Richtungen zerstreuten, das Gefühl, ich hätte mein Kind verloren, und mein kleiner Bruder hatte das Gefühl, er hätte seinen Vater verloren. Mike ist jetzt fünfzig Jahre alt und ich bin neunundfünfzig. Wir lieben uns immer noch und unterstützen uns als Erwachsene, doch dieser Riss, der durch unsere Trennung verursacht wurde, hat sich für keinen von uns je vollkommen geschlossen.
Als ich siebzehn war, wurde meine Freundin in Texas schwanger; wir heirateten am Tag, nachdem ich achtzehn wurde. Wir trennten uns und die Ehe wurde annulliert, noch bevor das Baby geboren wurde, und das Kind wurde in Florida im Florence Crittenden Home für ledige Mütter zur Adoption freigegeben. Ich habe diesen Sohn nie gesehen und habe keine Verantwortung für seine Erziehung übernommen. Mein erstes völliges Scheitern als Vater geschah also auch in den 1950er Jahren.
1968, als ich achtundzwanzig war, hatte ich eine Tochter. Als ihre Mutter und ich uns nach zehn Jahren Ehe trennten, war Shanti fast vier. Obwohl ich sie während der Sommermonate und den Ferien bei mir hatte, konnte ich, nachdem ihre Mutter und sie nach Kalifornien zogen und ich in Washington D.C. blieb, monatelang nicht mit ihr zusammen sein, und es fühlte sich an, als hätte ich Shanti in jungen Jahren verloren, genau wie ich meinen Bruder Mike verloren hatte, als ich dreizehn war. Ich war in beiden Fällen für die Trennungen verantwortlich, doch schaffte ich es, mich dennoch weiterhin wie ein Opfer zu fühlen. Ich bilde mir ein, dass mein armseliger reaktiver Verstand diesen Verlust herbeiführte, damit es mir bei der Trennung besser gelänge, in Kontakt zu bleiben als beim ersten Mal, als ich ein Kind verlor. Die ersten fünfunddreißig Jahre meines Lebens wurden von meinem reaktiven Verstand gesteuert und von meinem linearen Verstand vernunftmäßig erklärt, ohne viel Ahnung darüber zu haben, was sich auf meiner Seite abspielte, so wie es vermutlich den meisten Menschen geht. Ich versuchte, diesen ersten Verlust immer wieder „durchzugehen“, bis ich es raus hatte. Ich kriegte es nicht raus, aber ich machte es ein bisschen besser. Shanti und ich hatten ein paar schwierige Zeiten, aber es ging gut aus. Jetzt ist sie dreiunddreißig und sehr erfolgreich. Und wir stehen uns nahe und lieben uns und unterstützen einander immer noch als Erwachsene.
Dann kam mein Sohn Amos, der 1975 von meiner nächsten Frau Joie geboren wurde. Seine Mutter und ich ließen uns ebenfalls scheiden, aber wir machten es als Eltern gut. Wir blieben im gleichen Umfeld und arbeiteten, während er aufwuchs, Hand in Hand. Und ich musste ihn nicht verlieren außer als er erwachsen wurde, aber das ist ein unvermeidlicher Verlust, der mit der Elternschaft einhergeht, als Teil des Programms. Ich lernte mit ihm und von ihm, dass das Heranwachsen selbst voller Verluste und Preisgaben ist – ungeachtet wie sehr wir es zu vermeiden versuchen. Er ist sechsundzwanzig, hat einen College-Abschluss, arbeitet jetzt und ist im Begriff, zurück auf die Hochschule zu gehen. Er ist ein ausgeprägter Komiker und ein sehr guter Mann und wir lieben uns und unterstützen einander immer noch als Erwachsene.
1985 wurde meine Tochter Carson aus meiner jüngsten Ehe geboren. Diese Zeilen schreibe ich an ihrem vierzehnten Geburtstag nieder, und sie hilft gewissermaßen bei diesem Buch, allein durch die Art wie sie uns beibrachte, wie wundervoll sie lernen kann, wenn sie einfach bei ihrem Wissensdurst unterstützt wird. Sie war das erste Kind, bei dem meine Frau und ich das Gefühl hatten, ihm nicht einen albernen Lehrplan aufzuzwingen, der auf überholten Konzepten basiert, die angeben, wie ihr Lernweg sein sollte. Ihre Mutter Amy und ich sind jetzt geschieden, aber immer noch Freunde und erziehen unsere beiden Kinder gemeinsam. Wir lebten zweiundzwanzig Jahre zusammen. Wir wohnen nahe beieinander und erziehen unsere Kinder immer noch bewusst mit sehr viel Hilfe von unseren Freunden. Wir unterrichten Carsie zu Hause und sie uns. Amy steht Shanti und Amos sehr nahe und sie lieben ihre Schwester seit ihrer Geburt in wundervoller Weise.
1993 wurde unser Sohn Elijah geboren. Seine Schwester Carsie hilft bei seiner Lebensschule und wird dabei von Shanti und Amos und Amy und mir unterstützt. Wir lieben uns alle und kriegen es als Familie richtig gut hin.
Amy und ich wurden beide zu dem Glauben erzogen, dass Menschen ein Leben lang zusammenbleiben müssen, wenn sie heiraten, und wir erklärten es auch, als wir diese Union eingingen. Doch wie so viele andere es bereits erkannt haben, geht es nicht immer so aus. Eigentlich tut es das meistens nicht, muss es auch nicht, und es geht trotzdem gut aus – nur halt nicht in Übereinstimmung mit dem Modell, das wir uns versuchen überzustülpen, welches bestimmt, wie die Dinge sein sollten.
Die Aussichten dabei sind, dass Ihre und meine Kinder mehrmals heiraten und sich scheiden lassen. Wir können damit leben. Es ist bloß ein Wechsel von einem Modell, das bestimmt, wie wir es tun sollten, zu einem anderen Modell, das zeigt, wie wir es machen können. Wir können dabei trotzdem noch gute Eltern sein, selbst wenn wir uns trennen. Und Amy und ich haben uns getrennt.
In den 1970er Jahren war ich der leibliche Vater von einem weiteren Kind, Ian. Erst als er vierzehn war, erfuhr ich, dass ich sein Vater bin, als seine Mutter mich auf Unterhaltszahlungen verklagte. Ich unterzog mich einem Bluttest und er auch und es stellte sich heraus, dass sie Recht hatte. Ich war sein Vater. Ich unterstützte ihn dann die nächsten sieben Jahre lang finanziell bis er einundzwanzig war, sah ihn aber nicht oft und hatte auch mit seiner Erziehung nichts zu tun. Er traf sich mit mir und seinem Bruder Amos und seinen Schwestern Shanti und Carsie, als er noch Teenager war. Nachdem er einundzwanzig wurde, verließen seine Mutter und er die Stadt und zogen, glaube ich, ins Haus ihrer Eltern, und seitdem haben wir nichts mehr von ihnen gehört. Meine einzige Erziehung von ihm bestand darin, dass ich ihm die Wahrheit über meine Beziehung zu seiner Mutter in den frühen siebziger Jahren sagte und über meine zahlreichen Heldentaten mit Sex und Drogen zu der Zeit. Ein weiteres Scheitern auf meiner Seite, denke ich, und es tut mir leid, wie ich auch hier damit umging.
Somit war ich also der leibliche Vater von sechs Kindern während der letzten fünf Jahrzehnte und der verantwortliche Vater von fünf, von denen einer mein Bruder war und nicht mein leibliches Kind. Amy und ich waren in den frühen Neunzigern einige Jahre lang ebenfalls verantwortlich für zwei Neffen. Ich lernte sehr viel daraus, sie zu lieben und mit ihnen Erfolg und Misserfolg zu haben.
In den kommenden paar Jahrzehnten erwarte ich, Großvater zu sein und meine Kindererziehung fortzuführen. Ich denke, bisher habe ich es bei jedem Kind besser gemacht, je älter ich wurde. Ich habe aus vielen Erfolgen und vielen Fehlern gelernt. Aber ich bin froh, dies sagen zu können: Wegen meiner Kinder und trotz meiner eigenen Dummheit habe ich mein ganzes Leben lang geliebt.
Nichts in meinem ganzen Leben war stärker als diese vollständige und bereitwillige Präsenz und zurückstrahlende Liebe von Kindern, die selbst geliebt wurden. Ich liebte meine Kinder ohne irgendwelche Vorbehalte. Ich finde es wirklich leicht, Kinder zu lieben, und ich glaube, die meisten Menschen finden es auch, wenn sie in ihrem Verstand nicht vollkommen fehlgeleitet sind. Ich stelle fest, dass ich Erwachsene und selbst Jugendliche manchmal genauso lieben kann, und meistens ist es dann, wenn ich einen Blick auf das Kind in ihnen erhasche.
Viele wundervolle Kinder haben mir durch die Art, wie sie meine Liebe erwiderten, wichtige Dinge beigebracht. Aus dieser Liebe heraus, die ich von Kindern jeden Alters empfangen habe, schreibe ich dieses Buch. Irgendwie erhielt ich mehr Richtungsweisung aus der Liebe als aus der Tradition. Was ich gelernt habe, funktioniert, nicht perfekt, aber wahrscheinlich wesentlich zuverlässiger als der Ratschlag von den so genannten fachkundigen Autoritäten. Wer unbeirrt im Kontext einer kranken Gesellschaft residiert, in welcher hauptsächlich Kontrolle und Geld als Werte betrachtet werden, dem ist womöglich weniger zu trauen als mir.
Mehr als fünfundzwanzig Jahre lang habe ich Erwachsenen mit Psychotherapie geholfen, über die verheerenden Auswirkungen der mittelständischen Kindesmisshandlung hinwegzukommen. Ich bin diesen Menschen zu Dank verpflichtet, die von ihren Eltern und Lehrern im Namen der Erziehung (zu ihrem eigenen Besten) vergiftet wurden. Diese Menschen haben mir beigebracht, wie man Kinder nicht erzieht. Meine eigene Erfahrung, die ich im Laufe meiner eigenen persönlichen sechzehnjährigen Psychotherapie und in Trainings und Workshops machte, wo ich geliebt wurde und mir zugehört wurde, hat mir erlaubt, jetzt als gesundendes Kind zu sprechen.
Kleine Wesen werden in eine Kultur hineingerufen, und bis jetzt ist unsere Kultur für gewöhnlich kein schöner Anblick. Die Art, wie Kinder in unserer Kultur geboren werden und aufwachsen, steht in direktem Gegensatz zu einer Vision, die viele von uns in meiner derzeitigen Familie und Gemeinschaft als Möglichkeit teilen. Wir erkennen, dass eine echte Möglichkeit für eine erfüllende und glückliche Lebenszeit, angefüllt mit Spielen und Dienen, für jeden Menschen auf dem Planeten besteht. Wir können diese kleinen Wesen zu einer Lebenszeit voller Spiel und Dienst einladen, indem wir mit ihnen spielen und ihnen dienen.
Daraus, und nur daraus, wird sich die Neugestaltung der Welt zu einem Ort für die Menschen ergeben, der nährender ist. Wir können unsere Kinder so erziehen, dass dem kulturell befürworteten Kindesmissbrauch ein Ende gesetzt wird, indem wir die Alternative darstellen. Das wird in der Welt sogar zu noch großartigeren Ergebnissen führen, wenn mitfühlende Eltern und Kinder auf der Grundlage dessen agieren, was sie voneinander gelernt haben.
Kindererziehung ist von ganz entscheidender Bedeutung für die Aufrechterhaltung all unserer kulturellen Fehlfunktionen. Änderungen in der Praxis der Kindererziehung sind gleichermaßen entscheidend bei der Heilung unserer Fehlfunktionen. Das Ende der Hungersnot auf diesem Planeten, die Wiederherstellung des ökologischen Gleichgewichtes, das Ende des militärisch-industriellen Komplexes, die atomare Abrüstung, das Ende der „Bekämpfung der Drogenprobleme“, der Parteigeist, Rassismus, Hierarchie im Management, Krieg, der Anfang einer mitfühlenderen wirtschaftlichen Ordnung – all diese Dinge könnten aus einer neuen gesellschaftlichen Anerkennung unserer fundamentalen Liebe zu unseren Kindern und zueinander als ältere Kinder entspringen.
Ich lebe in einer Gemeinschaft von Freunden. Sie helfen mir bei allem, was ich tue, dieses Buch mit eingeschlossen. Wir hoffen, dass Ihnen dieses Buch sehr dabei helfen wird, Ihre Kinder großzuziehen und Spaß dabei zu haben, aufmerksam, spielerisch und nicht in Eile, und ab und zu die Welt vor den Menschen zu retten und die Menschen vor sich selbst.
„Die ultimative Errungenschaft des Erwachsenseins besteht darin, wieder die Ernsthaftigkeit eines Kindes beim Spiel zu erreichen.“ Friedrich Nietzsche
GIBT ES EINE PERSPEKTIVE, DIE über alle kulturellen Perspektiven hinausgeht? Ist es möglich, eine Perspektive zu nutzen, die über unsere Kultur hinausgeht und uns hilfreich darüber informiert, unsere Kinder so zu erziehen, dass sie in – aber nicht von – unserem limitierten Kulturgut sind? Ich glaube, wir können es. Lassen Sie uns damit anfangen, weit in der Zeit zurückzublicken, lange vor der klitzekleinen Phase, die als das zwanzigste Jahrhundert bekannt ist.
Vor etwa sieben Millionen Jahren begann der Strom, der uns von unseren ersten Vettern, den Schimpansen, trennte, für uns nach rechts und für sie nach links zu fließen. Gerade mal 1,6% Unterschied in unserem genetischen Make-up sind dafür verantwortlich, dass wir Menschen die Welt übernommen haben und die Schimpansen in kleineren Zahlen überlebt haben. Kleine Veränderungen manifestierten sich in großen Unterschieden, nicht nur in der Anzahl jeder einzelnen Art, die überlebte und blühte, sondern auch in der Art, wie wir uns verhielten. Die Kapazitäten, die wir aus unserer sich langsam modifizierenden genetischen Evolution entwickelten, resultierten letztendlich in der Erfindung der Sprache, was vor etwa 50.000 Jahren durch Kinder geschah. Amy Silver (Guerilla Learning, Wiley, 2001) sagt, dass kleine Kinder in Spielgruppen die Sprache erfanden. Diese Zeitperiode wird von Jared Diamond als „der große Sprung nach vorne“ bezeichnet, als wir tatsächlich begannen, Werkzeuge und unser Umfeld zu modifizieren, Jagden zu organisieren und schließlich Tiere für die Arbeit zu domestizieren.
Das auffälligste Merkmal des menschlichen Säuglingsalters und seiner Kindheit ist seine Dauer. Der unausgereifte Beginn, den alle Menschen haben, was das Ergebnis einiger evolutionärer Veränderungen. Die Kombination unserer aufrechten Haltung und unseres großen Kopfes (bedingt durch ein großes Gehirn) machte es offenbar erforderlich, dass die Babys früher aus dem Mutterbauch austreten, damit sie nicht zu groß werden, um überhaupt noch herauszukommen (siehe Elaine Morgan: The Descent of the Child). Und damit wichen wir radikal von unseren Vorfahren ab, weil unsere Babys so unreif geboren werden. Menschliche Babys werden im Grunde in einem embryonalen Zustand geboren. Da unsere Kinder unreif zur Welt kommen und für eine derart lange Zeit hilflos sind, ist es unmöglich für sie, nicht misshandelt zu werden.
Wir haben uns in einer Art entwickelt, dass vom Zeitpunkt der Empfängnis bis zum Alter von zwei Jahren ein kontinuierliches Wachstum besteht. In dieser Zeit wird das Allermeiste gelernt und es besteht der größte Bedarf an Fürsorge. Während der gesamten Menschheitsgeschichte waren mindestens zwei Erwachsene vonnöten, um in dieser Zeit für das Kind zu sorgen und es zu füttern, damit es überlebt. Die Wahrscheinlichkeit des Überlebens wurde erhöht, indem man in Familiengruppen oder Stämmen lebte.
Keines der Elternpaare in unserer ganzen Historie der frühzeitigen Geburt hat je gute Arbeit geleistet, verglichen damit, wie die Natur arbeitet, wenn Kinder anderer Spezies geboren werden. Die Neugeborenen der
meisten großen Säugetierarten sind für gewöhnlich vollkommen in der Lage, sich selbst zu versorgen, und zwar ab der Geburt oder innerhalb von Stunden oder höchstens wenigen Wochen. Von Geburt an besitzen Menschen diese festprogrammierte, garantierte Unzulänglichkeit der Fürsorge für ihre Jüngsten. Jeder, der in modernen Zeiten versucht hat, jedes Bedürfnis eines Babys zu erfüllen, weiß, wie unmöglich es ist, egal wie sehr Sie es lieben und wie viel Mühe Sie sich geben. Stellen Sie sich vor, wie viel unmöglicher es in einer Höhle mit schlechtem Wasser und kaum etwas zu essen und gelegentlichen Besuchen von Kreaturen wäre, die Sie fressen wollen.
Aus dieser Situation heraus entwickelte sich unser Verstand immer weiter, wahrscheinlich verbunden mit unserem verzweifelten Versuch zu überleben und unserer Sehnsucht, wieder ganz zu werden und in Liebe zu sein, so wie wir es vom Mutterleib und den ersten Monaten nach der Geburt noch im Gedächtnis haben. Und schließlich legten wir uns aufgrund der Trennung von unserer Mutter und der Sehnsucht nach Ganzheit allerlei nützliche Überlebensstrategien zu. Ebenso legten wir uns abscheuliche, gemeine und gnadenlose Überlebensstrategien zu, mit denen wir das Umfeld und andere Geschöpfe und auch andere unserer eigenen Art dominieren. Aus unseren ausgedehnten und häufigen Entbehrungen in einem hilflosen Stadium des Seins heraus entwickelten wir eine Sehnsucht und einen Hunger nach Ganzheit, an die wir uns durch unsere Zeit im Mutterleib und während wir an Mamas Körper gestillt wurden, gerade eben noch intuitiv erinnern konnten. Wir verloren immer mehr die Verbindung zu diesem Gefühl der Ganzheit und Einheit von Dingen, zu diesem Gefühl der Festigkeit, machtlos, es wieder herbeizuführen.
Mit dieser und vielleicht auch aus dieser enormen Sehnsucht heraus ergaben sich im Laufe der Zeit zwei wichtige Überlebensweisen, die radikal von unseren Schimpansen-Vettern abwichen. Wir änderten die Art, wie wir Sex hatten, und wir änderten die Art, wieviel wir kämpften, um für uns zu sorgen.
Wir änderten die Art, wie wir Sex hatten, damit wir es alle die ganze Zeit tun konnten, ob nun die Frau ovulierte oder nicht. Wir änderten die Art, wie wir für uns sorgten, und machten damit die jahrelange Hilflosigkeit wett, indem wir grapschen, kämpfen, nehmen und zu gnadenlosen Killern, Eroberern, Zähmern, Nutzern, Gebietsschützern und zur niederträchtigsten aller Arten auf der Erde werden.
Die Natur entwickelte ein Leben, das uns über einen langen Zeitraum hinweg in einem zarten Alter Entbehrungen beschert und mehr verletzt als irgendein anderes Leben, das sie je zuvor entwickelte. Es ist das Leben des Homo Sapiens. Mehr als in irgendeinem anderen Leben irgendeiner anderen Spezies erleiden wir häufig den Verlust dessen, wovon wir abhängen und was wir schätzen. Und wir erinnern uns besser als jedes andere Geschöpf, das jemals gelebt hat, an die Glückseligkeit, die dem Verlust vorausging, und auch an den Verlust selbst.
Sie und ich wurden geboren, um unzureichend zu sein. Wir wurden in unzureichender Vorbereitung aufs Leben geboren. Es wurde unzureichend für uns gesorgt, als wir klein waren. Wir wurden geboren, um nicht genug zu sein und nach einer vagen Erinnerung an eine Zeit zu schmachten, in der wir ein dämmerndes Bewusstsein von Ganzheit hatten. Es ist nicht nur unsere Geschichte, es geht nicht nur um Sie und mich in dieser Zeit. Es ist die Geschichte der menschlichen Rasse. (Denken Sie also daran, wenn Sie sich in Ihrem eigenen Verstand die Hölle heiß machen, weil Sie nicht gut genug sind oder als Elternteil nicht gut genug sind: Wenn Gott gewollt hätte, dass Ihre Babys von Anfang an perfekt versorgt wären, hätte sie Ihnen ein Pferd gemacht.)
Schimpansen leben in Gruppen und müssen für ihre Jungen ebenfalls für eine ausgedehntere Zeitspanne sorgen als andere Arten, aber außer dass sie im genetischen Make-up 98,4% exakt so sind wie wir, sind sie überhaupt nicht so wie wir. Wenn ein Weibchen ovuliert, wird sie heiß. Ihr Gesäß schwillt an und ändert seine Farbe zu einem rosigen Rot und sie sondert Düfte ab, die Männchen anziehen. Alle Männchen, die stark genug sind, die anderen Männchen abzuwehren, haben Sex mit ihr, bis sie nicht mehr heiß ist. Nachdem sie aufhört zu ovulieren, ist sie nicht mehr interessant für sie. Ihre „Zurschaustellung“ von Aussehen und Geruch hat bei anderen Arten viele Parallelen; dem Männchen nur dann Signale zu senden, wenn es zur Befruchtung gebraucht wird, ist eine alte Geschichte.
Der Mensch entwickelte eine andere Strategie. Menschenfrauen stellen sich permanent „zur Schau“. Ihre gerundeten Brüste und Gesäße signalisieren Bereitschaft zu jeder Zeit. Männern wird ständig das Signal gegeben, sich zu paaren und andere Männer abzuwehren, die sich auch mit derselben anziehenden Frau paaren wollen. Die Männer also, diese von allen am meisten sexuell getriebene Spezies, erleiden sogar eine größere Qual als die Frauen, weil sie sich abmühen, das eingebaute, biochemische Verlangen ihres Körpers nach Sex, Essen, Drogen und Rock’n’Roll zu stillen. Meistens bleiben sie dabei einfach nur für immer unbefriedigt. Die Natur dachte sich, wenn wir einfach die ganze Zeit Sex hätten – etwa wie die Pflanzen, nur mit höllisch mehr Zoff – stünden die Chancen gut, dass wir während des Eisprungs Sex haben. Der Same wäre da, wenn das Ei die Leiter runterkommt. So machen wir es also. Wir sind die einzigen Säugetiere, die eine Verbergung des Eisprungs entwickelten. Es funktionierte. Es gibt wesentlich mehr von uns als es Schimpansen gibt.
Es ist daher kein Wunder, dass der zweite deutliche Unterschied zwischen uns und den Schimpansen in der Aggressivität liegt. Keine andere Gattung besitzt auch nur annähernd die Bösartigkeit wie die männlichen Exemplare unserer Gattung. Unsere Männer wollen jede andere Gattung vollkommen ausrotten, die sich nicht gegen sie zur Wehr setzen kann, bloß für ein gelegentliches Steak. Wir rotten auch alle Männer, Frauen und Kinder anderer Gruppen aus, die wir für andersartig und bedrohlich halten. Erfolgreiche und erfolglose Versuche ganzer Völkermorde reichen zurück bis weit vor die schriftlich belegte Geschichte. Sie reichen zurück bis zu jener Geschichte, die von archäologischen Daten hergeleitet wird. Unsere Männer haben ohne lange zu fackeln, alle Menschen getötet, die ihnen in die Quere kamen, solange wir die Fähigkeit besaßen, ein Etikett zu entwickeln, mit dem wir sie als Feind abstempeln konnten. Wir sind gnadenlose Mörder (darin inbegriffen ist, so glauben einige, die Ausrottung der Neandertaler, unserer vegetarischen Ebenbilder). Frauen und Kinder, die nicht gefangengenommen und benutzt werden können, werden genauso gnadenlos umgebracht wie die männlichen Feinde. Ebenso die Haustiere, das Vieh und die Sklaven, alle werden sie umgebracht, das ganze Dorf niedergebrannt und alle Besitztümer weggenommen oder zerstört.
Wir sind Menschen. Wir huren und kämpfen die ganze Zeit. Wir töten und wir huren. Wir sind nie zufrieden. Und wir lassen es an unseren Feinden aus. Was mit den Juden im Nazi-Deutschland passiert ist, mit den Indianern, den australischen Aborigines, den Bosniern und den Muslimen, waren keine Einzelfälle. Ein moderner Geschäftsmann hat angeblich gesagt: „Ja, obgleich ich durch das Tal des Schattens des Todes wandere, so fürchte ich nichts Böses ... denn ich bin der gemeinste Hurensohn im Tal!“ Das ist eine deutliche Artikulierung einer der Hauptgründe, warum wir Erfolg damit hatten, die Erde einzunehmen. Ausgedrückt in den Worten der Marinesoldaten und Seefahrer, die nach dem Zweiten Weltkrieg von der pazifischen Front zurückkehrten, nachdem sie in ihrer Arroganz den größten Wettkampf der Geschichte im Töten gewonnen hatten: „Ficke, kämpfe oder fliehe! Gewinnen, Verlieren oder Unentschieden!“ Wir sind zweifellos die mieseste Gattung auf dem Planeten.
Vor relativ kurzer Zeit, gerade in der allerletzten Sekunde der Evolutionszeit haben wir eine Methode entwickelt, um einem Teil des Leidens zu entgehen. Während wir dabei waren, unsere verzweifelten Überlebensfähigkeiten zu entwickeln, entfremdeten wir uns von der Erfahrung des Lebens, vom Leben der Gefühle und Empfindungen. Wir entwickelten die Fähigkeit, uns von unserem Erleben zu entfremden. Unser Neokortex wurde groß genug, um mit unserem limbischen Gehirn zu konkurrieren. Aus tiefster Unzufriedenheit mit dem Leben, für das wir entworfen wurden, entwickelten wir den Intellekt. Wir als Gattung lernten, uns zu distanzieren. Wenn die Umstände unerträglich wurden, lernten wir, wie wir geistig wegtreten konnten. Indem wir systematisch geistig ausstiegen, wenn die Umstände zu schmerzhaft wurden, dehnten wir unsere begrenzte intellektuelle Kapazität aus und entwickelten den Verstand.
Aus dieser langen Geschichte voller Schmerz kommen unsere Weisheit, unser Mitgefühl, unsere Grausamkeit und unsere Fähigkeit, uns weitere Schmerzen zuzufügen. Unsere materielle Entfaltung und unser wissenschaftlicher Fortschritt – ebenso wie die unglaublichen Tiefen unserer Ignoranz – werden durch unseren Intellekt im ungeerdeten Raum der Entfremdung unseres Seins erzeugt.
Nach ein paar hundert Jahrtausenden sinnlosen Mordens entdeckten einige von uns die Meditation. Sie erlaubte uns, unsere Erdung im Sein zu erkennen. Und das ist wesentlich leichter als die Welt zu erobern. Ups! Was für ein Pech, dass wir das nicht früher merkten. Jetzt müssen wir auf der Grundlage dieser weniger erbärmlichen Art zu leben nochmal von vorne beginnen und die Welt wieder neu ordnen.
Glücklicherweise können wir die Software umschreiben. Doch wir müssen sofort damit loslegen. Wir müssen mit einer neuen Beziehung zu unserem eigenen Verstand anfangen und einer veränderten Art, mit der wir unsere Kinder behandeln, die wirklich bewusst ist und nicht von ungeprüften giftigen kulturellen Gewohnheiten beeinträchtigt wird.
Wie können wir die Vorteile des Intellekts beibehalten, aber das Leid der Entfremdung beseitigen? Die Antwort, so Jean Liedloff, die zur Erforschung dieser Frage jahrelang im tiefen Dschungel des Amazonas mit einer Jäger-Sammler Kultur zusammenlebte, liegt darin, den Kontakt wieder zu erleben. „Mit all jenen, die eine Zeitlang die Zügel des Intellekts dem nicht denkenden Sein überlassen, wird der Ursache des größeren Wohlergehens gedient.“ Wir können zufriedener sein. Wir können Menschen heranwachsen lassen, die zufriedengestellt werden können – selbst männliche Exemplare. Wir können zufriedenere Babys aufziehen, indem wir sie nicht so hart und so schnell aus Mamas Umarmung herausreißen, aus der Berührung von anderen, aus dem Gestilltwerden, aus der Liebkosung, aus der Weiterreichung von einer Person zu nächsten.
Wir entwickelten uns, also mussten wir zu früh geboren werden oder überhaupt nicht. Das ist die Quelle unserer wundervollen Weisheit, unseres ungeheuren Leids und unserer unfassbaren Ignoranz. Wie glücklich kann eine Gattung werden? Es gibt jetzt mehr als sieben Milliarden von uns. Wie unglücklich kann eine Gattung werden?
Es könnte möglich sein, die gleiche Intelligenz, die uns in dieses Dilemma gebracht hat, zu nutzen, um uns da wieder rauszuholen. Unwahrscheinlich, aber möglich. Wenn wir lernen, Zuneigung zu empfinden, haben wir eine Chance. Die Perspektive, aus der dieses Buch geschrieben ist, ist eine Art von allumfassender Zuneigung, genannt Mitgefühl. Es entwickelte sich jüngst unter Menschen, deren Herzverbundenheit zu ihren Kindern sie dazu brachte, das Sein zu lieben und zu ehren.
Ständig bringen wir neue Lehrer zur Welt. Wir schaffen es nicht, von ihnen zu lernen, wenn wir das, was sie uns beizubringen haben, mit der Vorstellung blockieren, dass sie uns unterlegen sind, weil wir Erwachsene sind. Deshalb ist dieses Buch dazu bestimmt, sich störend auf unsere Blockaden auszuwirken, von ihnen zu lernen. Es könnte unsere einzige Hoffnung sein, um als Art zu überleben.
Es gibt sieben Schritte, die Eltern unternehmen können, um einen Zustand der Offenheit zu erlangen, der erwachsenen Menschen und neuen Menschen erlaubt, gegenseitig voneinander zu lernen und sich gegenseitig als Familie zu nähren. Eltern, die funktionierende Familien hervorbringen wollen, können es folgendermaßen angehen:
(1) Vollenden, was in ihrem eigenen Leben unvollendet ist, insbesondere mit ihren eigenen Eltern;
(2) ihrer dysfunktionalen Kultur verzeihen;
(3) eine neue Sicht auf das Menschsein gewinnen, welche über ihre Kultur hinausgeht;
(4) zu einem klaren Verständnis darüber kommen, wie das Gehirn und der Verstand funktionieren;
(5) lernen, Schöpfer zu kreieren ohne die Kreativität zu blockieren;
(6) gut darin werden, sich Möglichkeiten vorzustellen; und
(7) integrieren und anwenden, was sie daraus gelernt haben, ihren Eltern und ihrer Kultur zu entwachsen.
Das ist alles, was es dazu gibt. Alles, was Sie tun müssen, ist, erwachsen zu werden und gleichzeitig niemals aufzuhören, Kind zu sein.
DIE REDEWENDUNG „DAS KIND NICHT MIT DEM BADE AUSSCHÜTTEN!“ kommt aus mittelalterlichen Zeiten. In jenen Tagen haben die Leute nur ein paar Mal im Jahr ein Bad genommen. Am „Badetag“ wurde eine Wanne Wasser aufgeheizt und die Männer des Hauses durften zuerst rein, dann kamen die Frauen, dann die älteren Kinder, und ganz zum Schluss die Babys. Bis die Babys in das Bad kamen, war das Wasser so dreckig, dass man sie darin nicht mehr sehen konnte, also musste man aufpassen, „das Baby nicht mit dem Badewasser auszuschütten“. Ich möchte dieser Analogie tiefer auf den Grund gehen und behaupten, dass es jede Menge dreckiges Wasser gibt, durch das wir unsere Babys nicht sehen können. Und wir müssen es ausschütten und das Baby sehen.
Die sieben Schritte, um die herum dieses Buch angeordnet ist, bedeuten harte Arbeit, und zu verstehen, warum Sie das Risiko eingehen würden, diese Schritte zu unternehmen, ist ebenfalls ein schwerer Ritt. Es gibt jede Menge negativer Neubewertungen von Dingen, bei denen uns beigebracht wurde, sie zu würdigen, besonders zu Beginn des Anfangs. Ich fluche ab und zu und benutze eine anstößige Sprache, obwohl wir hier die Art, wie ich normalerweise spreche, schon ziemlich gesäubert haben.
Es wird fast bis zum Ende nicht lustig oder lustig genug. Wenn Sie mit dem Buch fertig sind und Sie Ihr Geld zurück wollen, werden wir es Ihnen nicht geben, aber Sie können das Buch verbrennen. Bitte bleiben Sie eine Weile dran, selbst wenn Sie sich beleidigt fühlen. Wir müssen zuerst das Badewasser ausschütten, um das Baby zu behalten.
Erklärungen sind nicht die Realität. Erklärungen sind Interpretationen der Realität. Alle Erklärungen sind Bullshit, aber manche sind nützlicher als andere. Wir müssen uns zu jeder Zeit auf den Unterschied zwischen Bullshit und Realität besinnen, um geerdet zu bleiben, sobald wir geistig gesund geworden sind. Probieren Sie die Erklärungen von Evolutionisten, Biochemikern, Theoretikern für Kindesentwicklung und Lernen aus, die ich in diesem Buch bespreche, und auch diejenigen, die ich selbst erfinde. Ersetzen Sie diesen Haufen an Theorien durch jenen Haufen an Theorien, mit dem Sie groß geworden sind und probieren Sie sie an, ob die Größe passt. All diese Theorien sind bloß Modelle, mit denen man arbeiten kann, und keine davon ist wahr. Diejenigen, die ich anzubieten habe, so behaupte ich, sind verdammt viel besser als die, mit denen Sie ergezogen wurden.
Beim Schreiben dieses Buches hatte ich jede Menge Hilfe und jede Menge Informationen von anderen Menschen. Wir alle gebrauchen diese allgemeine Faustregel, mit der wir Theorien darüber, wie man Kinder behandeln sollte, bewerten und vergleichen: Diejenigen, die die meisten Informationen enthalten und die größte Datenmenge erläutern, sind die besten. Obwohl alle Erklärungen und Normen bloß mehr Blödsinn vom Verstand sind, funktionieren manche besser als andere. Nützlichkeit und Umfang sind unsere primären Maßstäbe, nach denen wir uns richten, wenn wir unseren Verstand dazu benutzen, die Erfahrung zu abstrahieren.
Wenn Sie Eltern sind oder es bald vorhaben zu sein, oder wenn Sie Großeltern sind und Interesse daran haben, mitzuhelfen, es anders zu machen als Sie es beim ersten Mal gemacht haben, lesen Sie dieses Buch und geben Sie es weiter. Die Möglichkeit von Gesundheit und Glück für unsere Kinder und Enkelkinder hängt von unserer Fähigkeit ab, Überzeugungen zu überwinden und unseren Kindern zu helfen, Überzeugungen immer und immer wieder zu überwinden. Die Reformierung der Elternschaft als Mittel, um provinzielle, kulturelle Überzeugungen zu transzendieren, liegt bei uns.
Menschliche Ignoranz ist grenzenlos, meist weil der Intellekt so leicht von sich selbst mitgerissen werden kann und die Daten der praktischen Erfahrungen ignoriert. Häufig wird Kindern bei der Erziehung, die sie von Eltern und Lehrern erhalten, diese Art von Ignoranz eingeimpft. Sie lernen, ihre Erfahrung zu ignorieren und bleiben allzu sehr an Überzeugungen hängen. Diejenigen, die durch Anklammerung an Überzeugungen geschädigt sind, nenne ich Moralisten. Moralisten neigen seltsamerweise dazu, Prediger und Lehrer und Eltern zu werden. Sie treten dafür ein, dass Kinder die Verbindung zu ihren Sinnen verlieren und sich auf die provinziellen, kulturellen Ideale ihres Verstandes ausrichten und damit den Kreislauf der Ignoranz vollenden.
Dieses übersteigerte Festhalten an Überzeugungen als Ersatz für ein Bewusstsein über alltägliche Erfahrungen ist eine Art von Schwachsinn. Die Heilung unseres allgemein verbreiteten Irrsinns wird dadurch geschehen, dass wir uns wieder an unsere Sinne anschließen, so dass wir einen Boden haben, auf dem wir stehen können. Wenn wir hier stehen, könnten wir bemerken, dass wir alle miteinander verrückt geworden sind. Ich weiß es, weil ich Menschen dabei helfe, es zu tun, und es wiederholt selbst getan habe. Wir alle waren bei unserer Geburt ganz natürlich mit unseren Sinnen verbunden; es wurde uns nur abtrainiert. Wir müssen unsere Kinder nicht auf die gleiche Art trainieren, nur weil wir so trainiert wurden. Wir können umkehren und aufmerksam sein statt Überzeugungen abzukaufen. Wir können unsere Kinder so erziehen, dass sie mit dem fortfahren, was sie bereits gut können – aufmerksam gegenüber der Welt der Sinneswahrnehmung sein, ohne es abtrainiert zu bekommen.
Ich denke mir, dass Sie ein Elternteil, ein Großelternteil, eine Pflegemutter oder ein Pflegevater, eine Kinderbetreuerin oder ein Erwachsener sind, der an kultureller Transzendenz interessiert ist. Ich schätze es, dass Sie anfangen, dieses Buch zu lesen, und dass Sie Ihre Aufgabe, sich um die Kinder zu kümmern, ernst nehmen (ob es nun ihre Kinder sind oder nicht). Ich empfinde große Empathie für Sie. Ich empfinde auch eine große Respektlosigkeit für Ihre Kultur, Ihren Verstand, Ihre Meinungen, Ihre Überzeugungen und Ihren wahrscheinlichen Glauben an irgendeinen anderen blödsinnigen romantischen Seifenoper-Tagtraum.
Ich denke mir, dass Ihr Verstand Sie auffrisst infolge der Art, wie Sie erzogen wurden. Ich bin mir sicher, dass Sie viel Zeit damit verbringen, sich Sorgen zu machen. Sie plagen sich wahrscheinlich einen Großteil Ihrer Zeit damit, diesem oder jenem nicht zu genügen, so wie es uns allen bis ins Mark von der Kultur, in der wir leben, beigebracht wurde. Vielleicht sind Sie darüber hinausgewachsen oder auch nicht – aber Sie wissen, dass Sie Ihre Kinder wirklich anders erziehen wollen als Sie selbst erzogen wurden. Ich bin sehr glücklich darüber, dieses Buch für Sie zu schreiben, und ich hoffe, es landet in Ihnen, und ich hoffe, Sie mögen es, und ich hoffe, es hilft.
Nachdem Sie dieses Buch gelesen haben, und falls es Ihnen gefällt, kommen Sie bitte zu einem unserer Workshops zur Radikalen Elternschaft. Und dann helfen Sie uns, diese zu leiten.
Ich mag auch die folgenden Bücher: The War Against Children von Breggin und Breggin (St. Martin’s, 1994); Spiritual Parenting: A Guide to Understanding and Nurturing Your Child by Hugh and Gayle Prather (Harmony, 1997); Deepak Chopras Seven Spiritual Laws for Parents (Hyperion,
1998); und Jon Kabat-Zinns Everyday
Blessings: The Inner Work of Mindful Parenting (Crown, 1997). Diese Bücher bieten eine wundervolle, mitfühlende, aufschlussreiche Anleitung für die Kindererziehung und transzendieren ein wenig die Kultur, in die die Autoren hineingeboren wurden. Das Buch Love and Survival: The Scientific Basis for the Healing Power of Intimacy von Dean Ornish, M.D. (HarperCollins, 1997), ist passend für Kindererziehung wegen seiner brillanten Analyse und dem Nachweis der Beziehung zwischen Ganzheit und Heilung – und dem klaren Verständnis des Autors darüber, wie sinnlos Moralismus ohne Liebe ist und welchen Schaden er anrichtet. Schließlich und endlich bilden Jared Diamonds Der dritte Schimpanse (Fischer Taschenbuch Verlag, 2012), Lewis, Amini und Lannons Buch A General Theory of Love (Vintage, 2001) und Pat Loves Hot Monogamy (Plume,
1993) einen ganz zentralen Aspekt in der soziobiologischen, neuroanatomischen und biochemischen Perspektive, die uns erlaubt, außerhalb der auferlegten Begrenzungen unserer Kultur zu denken.
Arm und Reich: Die Schicksale menschlicher