Paris 1997 - die Nacht von Lady Dianas Tragödie. In der Nähe der Katastrophe stirbt auch ein Fotograf einen mysteriösen Tod. War etwas auf seinem Film, wofür er sterben musste?
Jahre später stößt die Fernsehreporterin Lena Halberg auf überraschende Fakten zu dem Vorfall. Mit journalistischem Spürsinn entdeckt sie die unglaublichen Machenschaften der Waffenkonzerne, die bis in höchste politische Kreise reichen. Entgegen aller Warnungen stellt sie eine gefährliche Frage: Wer war dieser mächtigen Lobby damals im Weg?
Damit gerät auch Lena ins Visier der Drahtzieher und entgeht nur knapp einem Attentat. Sie hat nur eine Chance: Sie muss ihr Wissen an die Öffentlichkeit bringen, bevor sie selbst zum Opfer wird.
Ernest Nybørg studierte Musik und Literatur. Als Drehbuchautor schrieb er viele Jahre erfolgreich für Film und Fernsehen. Mit spannungsgeladenen Thrillern, die reale Geschehnisse als Hintergrund verarbeiten, erweiterte er seine schriftstellerische Tätigkeit auf das Gebiet der Kriminalliteratur. Hier erkennt man seine Leidenschaft für menschliche Abgründe und eine sichere Hand für das Genre.
Paris '97 ist der erste Teil der Lena Halberg Trilogie, über die Verflechtungen von Politik, Geheimdiensten und den Rüstungskonzernen.
Nähere Infos unter www.ernestnyborg.com
Cip-Titelaufnahme der deutschen Bibliothek: Nybørg Ernest; Lena Halberg: Paris ‘97
ISBN 978-3-86841-127-0
Die Spekulationen rund um den tragischen Unfall von Lady Diana liegen der Idee zu diesem Buch zugrunde. Trotzdem handelt es sich um ein rein fiktionales Werk, das keine tatsächliche geheime Verschwörung enthüllt. Sämtliche Figuren und Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen oder Geschehnissen ist zufällig und nicht beabsichtigt.
1. Auflage
© 2015, Copyright by Verlag Edition AV, Lich/Hessen
© 2012, Copyright by Ernest Nybørg, Wien
Literar-Mechana Austria, Reg.: 1027/6659
Alle Rechte vorbehalten
Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg (Fotokopie, Mikrokopie usw.) zu vervielfältigen oder in elektronische Systeme einzuspeichern, zu verarbeiten oder zu verbreiten.
Korrektorat: Dorothea Schuy, Rosemarie Fürst
Umschlag, Buchgestaltung, Satz: Ernst Kaufmann
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
Das Buch wurde vermittelt durch die Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de)
Cover
Zum Buch/Zum Autor
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Epilog
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Unsere Realität ist nicht was wir tun,
sondern das, was mit uns geschieht.
Es war bereits nach Mitternacht, aber die Hitze des Spätsommers klebte noch am Asphalt der Pariser Straßen. Franco war mit dem Fiat, den er als Leihwagen genommen hatte, im Kriechgang entlang der Seine unterwegs. Viel zu langsam für die Schnellstraße, dachte er und hoffte, in keine Verkehrskontrolle zu geraten. Er fuhr die Strecke vom Louvre durch die kurzen Stadttunnel bei den Seinebrücken in Richtung Place de l’Alma. Vielleicht war die Auskunft seines Informanten ungenau gewesen, oder er hatte seine Gelegenheit bereits verpasst, weil er noch schnell am Nachtpostamt beim Louvre die Ansichtskarte an seine Mutter eingeworfen hatte. Nervös blickte er zum wiederholten Mal auf die Uhr.
Noch in Gedanken – er fuhr gerade unter der Brücke bei der Avenue Roosevelt durch – sah er im Rückspiegel ein größeres, dunkles Fahrzeug auf der Überholspur, das schnell näher kam. Unmittelbar dahinter tauchte ein Motorrad auf. Franco war wie elektrisiert: Eine Limousine mit Eskorte, das mussten sie sein. Er trat aufs Gas, um seinen Wagen zu beschleunigen, und griff auf den Beifahrersitz nach seiner schussbereiten Nikon.
Als die Limousine, die Franco jetzt als schwarzen Mercedes erkannte, schon fast auf gleicher Höhe war, beschleunigte das Motorrad, zwängte sich noch links an den beiden vorbei und schnitt unmittelbar danach scharf wieder zur Mitte. Das alles passierte in Sekundenbruchteilen und der Fahrer des Mercedes konnte einem Unfall nur noch entgehen, indem er auswich und den schweren Wagen nach rechts zog.
Scheiße, dachte Franco, das wird verdammt knapp!
Er war noch immer deutlich langsamer als der Mercedes, der nun direkt auf ihn zuraste. Franco ließ die Kamera aus, die zwischen seinen Beinen auf den Wagenboden polterte, und packte das Lenkrad mit beiden Händen. Unmittelbar vor ihnen lag die Einfahrt zur Unterführung bei der Pont de l’Alma, flankiert von massiven Betonbegrenzungen zu beiden Seiten. Seine Fingerknöchel wurden weiß von der Umklammerung, er musste den kleinen Fiat nun um jeden Preis in der Spur halten. In letzter Sekunde, bevor er in Francos Wagen krachte, riss der Fahrer des Mercedes den Wagen zurück auf die Überholspur, das Heck brach dabei aus und die Limousine streifte noch die Seite des Fiats. Aus den Augenwinkeln sah Franco dabei für einen Moment die Frau auf dem Rücksitz, die hysterisch aufschrie – Lady Diana.
Der Mercedes war nach diesem Manöver nicht mehr abzufangen. Kaum war er an Francos Fiat vorbeigezogen, prallte er auch schon ungebremst auf einen der Betonpfeiler des Tunnels auf. Das schwere Fahrzeug bäumte sich auf, wurde innerhalb kürzester Zeit förmlich zerrissen und mit einem ohrenbetäubenden Geräusch auf die Straße zurückgeschleudert.
Für Franco gab es keine Möglichkeit mehr anzuhalten, also blieb er weiter auf dem Gas, um von der Stelle wegzukommen. Instinktiv krümmte er sich zusammen, um den Stoß einer Kollision abzufangen. Der Mercedes – oder das, was von ihm noch übrig war – schlitterte vom Pfeiler zurück auf Francos Spur und verfehlte den Fiat nur um Zentimeter. Hinter ihm krachte etwas an die Wand der Unterführung. Franco trat in die Bremsen und blieb stehen. Ein Blechteil schepperte noch über sein Dach, dann war es still, nur die Hupe des Mercedes heulte gespenstisch in der Unterführung.
Franco war voller Adrenalin und zitterte am ganzen Körper. Im Rückspiegel sah er den schwarzen Blechhaufen. Hier lebt garantiert keiner mehr, dachte er und atmete schwer. Hinten kamen nun einige Lichter auf die Tunneleinfahrt zu, und auch in der Gegenrichtung blieb bereits ein Fahrzeug stehen. Franco blickte wieder nach vorn und konnte nicht fassen, was er dort sah. Direkt hinter der Ausfahrt der Unterführung stand das Motorrad mit den beiden Gestalten, die den Mercedes abgedrängt hatten, quer zur Fahrbahn. Nur wenige Augenblicke später drehten die beiden ab und fuhren weiter. Sofort liefen Francos Gedanken auf Hochtouren. Hier an der Unfallstelle wären bald genügend Leute und im Mercedes waren sicher alle tot, da konnte er nichts mehr tun. Nein, er würde lieber die Rowdys stellen, die den Unfall von Lady Diana verursacht hatten, so eine Chance gab es in einem Fotografenleben schließlich nur einmal.
»Euch hol ich mir«, murmelte er verbissen vor sich hin und trat wieder aufs Gas. Als er aus dem Tunnel fuhr, sah er das Motorrad gerade noch in der langgezogenen Linkskurve des Kais. Er schaltete zurück und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch, dass der Fiat gequält aufheulte.
»Lahme Kiste«, fluchte Franco ungeduldig. Trotzdem holte er das Motorrad knapp vor der nächsten Brücke ein. Die beiden hatten ihn offenbar nicht bemerkt und das Tempo deutlich gedrosselt. Sie verließen die Schnellstraße und nahmen die Ausfahrt zur Brücke über den Fluss.
Auf der anderen Seite der Seine war der Eiffelturm, wo auch nachts einiges los war. Franco vermutete, dass die beiden vorhatten dort unterzutauchen. Er tastete unter dem Sitz nach seiner Nikon. Sie war noch schussbereit, wie er mit einem kurzen Blick zufrieden feststellte, als er sie hochhob. Seine Hand zitterte dabei vor Aufregung. Durch den Schock im Tunnel und die Anspannung während der Verfolgungsjagd war er mittlerweile schweißgebadet und sein Herz pochte wie wild.
Cool bleiben, dachte er und versuchte mit aller Macht, sich zu beruhigen, während er mit sturer Entschlossenheit dem Motorrad folgte. Die Maschine bewegte sich nun in gemäßigtem Tempo, die Männer klappten die Visiere der Helme nach oben und schwenkten vor dem Eiffelturm nach links ein, in Richtung der Anlegeplätze für die Schiffe auf der Seine.
Franco wusste sofort, dass das seine Gelegenheit war. Er öffnete das Fenster, hob die Kamera und stieg aufs Gas. Als er dicht neben dem Motorrad war, schrie er laut aus dem Fenster. Die beiden rissen die Köpfe herum und schauten genau in die Nikon. Franco drückte den Auslöser.
*
»Diana, Princess of Wales, has been killed in a car crash in Paris last night …«
Der BBC-Bericht fuhr fort mit Details über den Unfall von Lady Diana, der sich während der letzten Nacht ereignet hatte. In den Räumen der kleinen News-Redaktion in Bologna war es still geworden. Auch Lena, die erst vor wenigen Minuten zum Dienst im lokalen Fernsehsender eingetroffen war, starrte fassungslos auf die Übertragung der ersten Bilder von dem Crash in Paris.
»Mein Gott«, murmelte sie vor sich hin und wischte sich mit einem Handtuch noch den Schweiß von der Stirn. Sie war am Morgen dieses letzten Augustsonntags noch ein wenig joggen gewesen, bevor sie zur Arbeit fuhr. Mit einem Mal schoss es ihr durch den Kopf: Franco hatte sich noch nicht gemeldet. Sie schaute auf die Uhr – kurz nach zehn.
Lena griff nach ihrem Mobiltelefon, lief auf den Gang hinaus und wählte seine Nummer. Sie wurde sofort auf die Mailbox umgeleitet, sein Telefon musste also abgeschaltet sein. Das verunsicherte sie, denn Franco war sonst ständig erreichbar und sein Telefon immer griffbereit. Seit sie zusammen waren, konnte sie sich nicht erinnern, dass er es jemals abgedreht hätte – nicht einmal nachts. Was für jemanden, der dauernd auf Abruf stand, auch einleuchtend war. Franco verdiente seine Brötchen als Society-Fotograf. Die Bezeichnung Paparazzo verwendete Lena nur, wenn sie ihn ärgern wollte.
»Shit!«
Sie wartete einige Minuten, dann versuchte sie es ein weiteres Mal – wieder nur die Box. Diesmal sprach sie Franco eine kurze Nachricht auf das Band. Er hatte ihr doch irgendwo sein Hotel aufgeschrieben. Lena wühlte in ihrer Tasche und fand schließlich den kleinen Klebezettel auf der Innenseite ihres Timers.
»Hotel Trianon Paris«, ließ sich nach endlos langem Läuten eine ziemlich hohe Stimme vernehmen.
»Bonjour, Mademoiselle Halberg de Bologne. Ich hätte gerne einen ihrer Gäste gesprochen, Monsieur Barelli.«
»Excuser Madame, Bar …?«
»Barelli. Franco Barelli«, wiederholte Lena langsam und schon leicht genervt.
»Moment, ich muss schauen«, kam es nach einer Weile zurück. Lena hörte am anderen Ende der Leitung ein Blättern. »Non Madame, tut mir leid, ein Gast mit diesem Namen ist bei uns nicht abgestiegen.«
»Unmöglich«, rief Lena ungeduldig, »sehen Sie noch einmal nach! Er ist ganz sicher gestern bei Ihnen eingetroffen, Barelli aus Italien, Franco.«
»Ich habe den Namen schon verstanden, Madame, aber hier ist leider kein Franco eingetroffen. Aurevoir!« Damit legte sie einfach auf.
Lena war fassungslos. Sie ließ das Telefon sinken und lehnte sich im Gang vor der Redaktion an die Wand. Ein Kollege kam geschäftig aus der Redaktion.
»Furchtbar, das mit Lady Di, nicht wahr?« Er blieb stehen, als er Lenas Blick sah. »Alles in Ordnung bei dir?«
»Nein, gar nichts ist in Ordnung«, meinte sie und ihre Stimme klang unsicher. »Franco ist weg!«
»Wie weg?«
»Er hat sein Telefon abgestellt, und im Hotel ist er nicht.«
»Das gibt’s doch nicht.«
»Doch! Die haben keinen Gast mit seinem Namen. Er ist dort anscheinend nicht angekommen.«
»Vielleicht ist er ja woanders abgestiegen, Paris dürfte im Moment ziemlich voll sein.«
»Das hätte er mir doch gestern gesagt, wir haben ja noch dreimal miteinander telefoniert.«
»Vielleicht hat er nicht …«
»Nein, hör auf! Irgendwas ist faul. Ich spür das.«
Lenas Kollege schwieg. Er kannte Franco, der gelegentlich auch für die News-Redaktion arbeitete, und dessen Zuverlässigkeit war allgemein bekannt. Außerdem sagte man am besten gar nichts, wenn Lena in einer solchen Stimmung war.
»Da muss was passiert sein«, sagte sie nach einer kurzen Pause knapp und entschlossen. »Ich flieg einfach hin!«
*
Die Stadt brütete noch in der letzten Hitze des Tages, als Lena abends in Paris landete. Trotz des stabilen Schönwetters war der Flug sehr unruhig gewesen, und sie war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Vor allem aber war sie hungrig, der lieblose Snack im Flugzeug hatte sie nur daran erinnert, dass sie den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Gleich am Airport kaufte sie sich ein Baguette mit Schinken und schlang es im Taxi auf der Fahrt ins Hotel hinunter.
Lena hatte noch ein Zimmer im Hotel Trianon bekommen, in dem Franco angeblich nie aufgetaucht war. Beim Einchecken fragte sie sich, ob das wohl die Rezeptionistin war, mit der sie am Vormittag telefoniert hatte. Der knappen, hohen Stimme nach zu schließen, tippte sie auf Ja. Das ständig betonte Madame kam in gelangweiltem Tonfall aus dieser kleinen, magersüchtigen Person und klang beispiellos überheblich.
Im Zimmer schaltete Lena als erstes den Fernseher an und riss die Fenster auf. Auf dem kleinen Tischchen lagen einige Prospekte mit Sehenswürdigkeiten der Stadt. Einer davon mit der Aufschrift: Die Bastille, nur wenige Schritte entfernt.
»Wie passend«, murmelte Lena.
Sie kramte in ihrer Tasche nach den Zigaretten, die sie noch in Bologna gekauft hatte. Zwei Jahre hatte sie nicht mehr geraucht, aber das war ihr im Moment gleichgültig. Auch dass auf einer Karte an der Tür in vier Sprachen No smoking stand. Sie lehnte sich in die beginnende Nacht hinaus und nahm einen tiefen Zug, der weit besser schmeckte, als sie erwartet hatte.
Vom Gare de Lyon drangen die Geräusche des geschäftigen Pariser Bahnhofs herüber und direkt unter ihr, am Boulevard Diderot, stockte der dichte Abendverkehr des letzten Augusttages. Den ganzen Tag über hatte sie versucht, Franco zu erreichen – erfolglos, sie kam nur auf die Mailbox. Die Unsicherheit und das Warten machten sie rasend.
Lena war erst vor drei Jahren von England nach Bologna gezogen. Ihr Vater war Angehöriger der dänischen Handelsmission in Großbritannien, wo Lena seit Beginn ihrer Schulzeit aufgewachsen war. Nach Abschluss des College in London bekam sie als Jahrgangsbeste ein Stipendium und einen der begehrten Studienplätze bei der Publizistin Klara Eckmann-Alba. Diese lehrte am Institut für Medienwissenschaften in Bologna, der ältesten Universität Italiens, und hatte sich den Ruf einer Vordenkerin für neue Möglichkeiten des Internets erworben.
Nachdem sich Lena in Italien etwas eingelebt hatte, begann sie auch in der Redaktion des lokalen Fernsehsenders mitzuarbeiten. Sehr rasch entdeckte sie ihr sicheres Gespür für politische Zusammenhänge und liebte heikle Recherchen, die sie mit viel Fingerspitzengefühl übernahm.
An einer ihrer Geschichten, für die sie in der Emilia Romagna unterwegs war, arbeitete sie gemeinsam mit Franco, einem jungen Fotografen aus Modena. Als sie nach zwei Wochen zurückkamen, waren sie bereits mehr als nur Kollegen, und einen Monat später zog Franco zu ihr nach Bologna.
Die Abendnachrichten begannen. Lena dämpfte ihre Zigarette aus und drehte den Fernseher lauter. Den Berichten entnahm sie, dass Prinz Charles und die Schwestern von Lady Diana in Paris eingetroffen waren, um die Tote nach London zu holen. Schuld an dem Crash waren angeblich sieben Paparazzi, die unmittelbar nach dem Unfall von der Pariser Polizei verhaftet worden waren. Ihnen wurde vorgeworfen, sie hätten in ihrer Gier nach Aufnahmen das Fahrzeug von Diana und ihrem Freund Dodi Al-Fayed verfolgt und bei dieser spektakulären Jagd den Unfall ausgelöst.
Lena horchte auf. Franco hatte ihr beim letzten Telefonat erzählt, er hätte extra ein Auto gemietet, um seine Position rasch wechseln zu können, erinnerte sie sich. Vielleicht war er einer der Inhaftierten? Genauere Details blieb der Bericht aber schuldig, auch Namen gab es keine. Überhaupt hatte Lena das Gefühl, die Nachrichten waren in dem Chaos, das den Ereignissen folgte, nur lieblos zusammengewürfelt worden.
Lange lag sie auf dem Bett und starrte ins Dunkel. Sie war sicher Franco finden zu können, nur wo sie mit der Suche anfangen sollte, war ihr noch nicht klar. Die verhafteten Fotografen waren bislang der einzige Anhaltspunkt, der sich bot. Vielleicht war die Polizeistation in der Nähe des Geschehens der richtige Ort, um mit den Recherchen zu beginnen, danach würde sie improvisieren müssen. Mitten in diesen Gedanken holte sie endlich der Schlaf ein.
»Pardonnez-moi, ma …«
Lena stand auf einem Polizeirevier im achten Pariser Arrondissement, das für den Bereich der Schnellstraße zuständig war, und wedelte mit ihrem Presseausweis. Der Beamte drehte sich ihr zwar zu, blickte sie aber nicht einmal richtig an.
»Wie können wir der ausländischen Presse behilflich sein?« Sein schwerfälliges Englisch kam in einem herablassenden Tonfall.
»Es geht um die Verhaftung der Fotografen …«
»… über die wir keinerlei Auskunft geben.«
»Ich wollte nur wegen eines Kollegen fragen, einem unserer Mitarbeiter, der vielleicht dabei war. Sein Name …«
»Namen bekommen Sie hier sicher keine«, kam die schroffe Antwort.
»Okay, es ist nur«, versuchte Lena die Situation zu retten, »er wird vermisst. Vielleicht könnten Sie einfach in Ihrem Protokoll nachsehen, ich muss nur wissen, ob er dabei war.«
Er ging auf Lenas Ansinnen gar nicht weiter ein, sondern las ihren Namen auf dem Presseausweis.
»Lena Halberg«, betonte er jede Silbe, »Sie sind heute bereits die zehnte Reporterin, die wegen der gestrigen Verhaftungen nachfragt. Wir haben jedoch anderes zu tun. Wenden Sie sich an die Kriminalpolizei am Quai des Orfèvre, die leiten die Verhöre.«
Damit deutete er wenig zuvorkommend Richtung Tür und ließ sie stehen.
Die nächste Metrostation, um zum Quai des Orfèvres zu kommen, lag nur einen Häuserblock weiter, direkt auf dem Place de l’Alma. Lena wollte schon die Treppe zur Metro hinuntergehen, wurde dann aber doch von der anderen Seite des Platzes magisch angezogen. Hier war es gestern Nacht geschehen, direkt nach der Einfahrt der Schnellstraße in den Tunnel. Irgendwo gab es einen Zusammenhang zwischen diesem Unfall und Francos Verschwinden, dessen war sich Lena sicher.
Sie ging über den Place de l’Alma, durchquerte den kleinen Park mit dem Monument der französisch-belgischen Freundschaft und stieg die kurze, aber steile Böschung hinunter bis zur Fahrbahn der Stadtautobahn.
»Seltsam«, entfuhr es ihr, als sie in die Unterführung hineinsah. Es war überhaupt nichts mehr zu sehen, so als hätte es die Ereignisse der letzten Nacht nie gegeben. Alles wirkte so harmlos, nur von einem der mittleren Stützpfeiler fehlte ein größerer Brocken des Betons, herausgerissen von der Wucht des Aufpralls bei dem tödlichen Crash. Lena zählte die Pfeiler – es war der dreizehnte. Welcher sonst, fuhr es ihr durch den Kopf. Sie hielt zwar nichts von mystischen Zahlenspielen, trotzdem fand sie den Zufall erstaunlich.
Erst jetzt bemerkte sie die anderen Schaulustigen rund um den Unfallort. Einige Touristen fotografierten sich gegenseitig vor dem Hintergrund der Unfallstelle. Lena wandte sich angewidert ab. Sie musste weiter zur Kripo.
Auf der dichtgedrängten Île de la Cité, der zentralen Insel in der Seine, stehen kirchliche und weltliche Macht eindrucksvoll beisammen. Direkt gegenüber den beiden schweren Türmen der Kathedrale Notre-Dame befindet sich der ausladende Bau der Polizeipräfektur aus dem neunzehnten Jahrhundert und das Palais de Justice, das ältere und architektonisch bei weitem elegantere Justizgebäude, das die wichtigsten Institutionen der französischen Gerichtsbarkeit beherbergt.
Lena ging suchend durch den ersten Stock des Gebäudes der Pariser Kriminalpolizei. Sie hatte nach Martine Monteil gefragt, die in den Nachrichten als Leiterin der Ermittlungen zum Unfall Lady Dianas genannt wurde. Nachdem diese ohne langwierige Terminvereinbarung nicht zu sprechen war, Lena sich aber auch nicht abwimmeln ließ, hatte man sie mit einem Mitarbeiter der Abteilung verbunden. Der ließ sich schließlich zu einem kurzen Gespräch überreden.
»Kommen Sie, hier bitte«, hallte eine Stimme hinter Lena durch den endlosen Gang.
Sie drehte sich um. Einige Schritte weiter stand ein großer, dicklicher Beamter in Zivil und winkte sie mit einer beiläufigen Geste in sein Zimmer.
Er bot ihr Kaffee an, den Lena dankend ablehnte, und führte sie zum Besprechungstisch in einer Fensternische seines Büros. Die Papiere und Ordner, die dort lagen, schob er etwas auf die Seite, damit Lena Platz nehmen konnte, und begann in eiligen, völlig bedeutungslosen Sätzen über die Arbeit der Pariser Polizei zu sprechen.
Lena hörte seinem recht passablen Englisch zuerst höflich zu, wurde nach einigen Minuten aber ungeduldig – sie war nicht hier, um einen Vortrag über Polizeiarbeit zu hören.
»Worauf ich zu sprechen kommen möchte«, unterbrach sie seinen Redefluss recht forsch, »sind die Fotografen, die gestern verhaftet wurden.«
»Ja, man sagte mir vorhin schon, dass Sie daran interessiert sind«, schnitt er ihren Satz ab. Seine aufgesetzte Freundlichkeit war mit einem Mal wie weggewischt.
»Und?«, bohrte Lena trotzdem nach.
»Darüber dürfen wir nicht sprechen – absolute Nachrichtensperre.«
»Mir ist aber zu Ohren gekommen, dass sie hier im Hause festgehalten und befragt wurden.«
Lena versuchte sich informiert zu geben und hoffte, ihr Gegenüber mit einer forschen Bemerkung aus der Reserve zu locken. Aber der Beamte zuckte mit keiner Wimper.
»Es tut mir aufrichtig leid, aber Sie als Medienprofi sollten doch verstehen, dass ich Ihnen darüber nichts sagen kann.«
Er hatte das auf eine recht arrogante Art betont, die Lena ziemlich ärgerte.
»Aber es muss doch jemanden geben, der mir über unseren Mitarbeiter Auskunft geben kann. Er war hier, um für unsere italienische Zeitschrift Fotos von Lady Diana zu machen und ist seit gestern nicht mehr zu erreichen, was für ihn absolut unüblich ist. Ich bin deshalb extra aus Bologna nach Paris gekommen, weil wir uns Sorgen machen.« Lena war im Tonfall etwas schärfer geworden und lehnte sich vor. »Ich will ja keine Staatsgeheimnisse von Ihnen wissen. Sie werden mir doch einfach sagen können, ob er unter den verhafteten Fotografen war, was ja durchaus möglich ist. Oder zeigen Sie mir zumindest die beschlagnahmten Kameras, dann weiß ich es auch so!«
»Sie können hier nicht entscheiden, was wir Ihnen zeigen sollen«, sagte der Beamte in lautem Ton und nun auch deutlich unfreundlich. »Und woher stammt Ihre Information, wir hätten die Kameras der Fotografen?«
»Aus zuverlässigen Quellen, die man als Profi eben hat«, konterte Lena, die sich nicht einschüchtern ließ, ebenfalls laut und mit zornigen Augen.
Der Dicke war von Lenas Reaktion überrascht. Einen Augenblick lang entstand eine peinliche Stille.
»Ich verstehe Sie ja, aber immerhin geht es um den Tod von zwei sehr prominenten Personen«, versuchte er einzulenken, »da wird üblicherweise nichts nach außen kommuniziert. Es geht nach so einer Sache auch um den Ruf der Stadt.«
»Gerade aus diesem Grund wäre es doch wünschenswert, wenn die Öffentlichkeit erfahren würde, dass sich die Pariser Polizei zuvorkommend gezeigt und geholfen hat!« Lena bemühte sich um ein freundliches Lächeln.
»Wie ist der Name?«, fragte der Kriminalbeamte zu ihrer Freude.
»Barelli.«
»Wie?« Sein Gesicht schien merklich einzufrieren.
»Franco Barelli.«
»Sind Sie da ganz sicher?«
»Aber natürlich«, nickte Lena erstaunt über die Bemerkung.
»Aha«, sagte er nur knapp und betont unverbindlich. »Gestatten Sie, einen kurzen Augenblick.«
Er ging zu seinem Telefon und wählte. Die Nummer war kurz, stellte Lena fest, es musste also ein Anschluss im Haus sein. Er telefonierte mit gesenkter Stimme, öfters blickte er dabei in ihre Richtung. Lena konzentrierte sich, um zu verstehen, worum es ging. Allerdings sprach er so rasch Französisch, dass Lena außer einigen Floskeln nichts mitbekam. Er legte auf und kam wieder zum Besprechungstisch zurück.
»Ich habe mir erlaubt, Sie in der zuständigen Abteilung im Justizpalast anzumelden.«
»Justizpalast?« Lena war verwirrt, »ich verstehe nicht …«
»Tut mir leid, nur dort kann man Ihnen Genaueres sagen, uns sind hier leider die Hände gebunden.«
Damit ging er zur Türe und öffnete sie mit einer knappen Geste, die unmissverständlich war. Lena stand auf. Ein ungutes Gefühl stieg in ihr hoch.
»Madame Triveaut erwartet Sie um vier Uhr nachmittags im Foyer des Palais de Justice – es ist gleich um die Ecke.«
Damit schob sie der Dicke grußlos zur Türe hinaus.
»Ich weiß schon, wo das ist«, murmelte Lena noch, dann war sie wieder allein in dem endlosen, bedrückenden Gang.
Lena ging über Mittag entlang der Seine spazieren und danach, um die Zeit totzuschlagen, in die Notre-Dame. Weit mehr als die Besichtigung der Kirche, beschäftigte sie das seltsame Gespräch von vorhin. Beunruhigt versuchte sie mehrmals vergeblich Franco zu erreichen.
Als sie schließlich um vier Uhr den Justizpalast betrat, wurde sie schon von Madame Triveaut erwartet, einer zierlichen Brünetten mit dunklem Kostüm und Mireille-Mathieu-Frisur. Sie führte Lena nach oben in ein Besprechungszimmer in der obersten Etage. Durch die Fenster sah man auf die noble Häuserzeile am anderen Seineufer und über die Dächer auf die Basilika Sacré-Cœur am Montmartre.
»Darf ich?«, fragte Lena und kramte ihre Zigaretten aus der Tasche, nachdem auf dem Tisch ein Aschenbecher stand.
»Ist zwar in den Räumen verboten, aber wie Sie sehen, nehmen wir es bei Besuchern nicht so genau«, nickte Madame Triveaut und schob Lena einen Stuhl hin. »Bitte warten Sie kurz, man wird sich sofort um Sie kümmern.«
Lena zündete sich die Zigarette erst an, als sie allein war, stellte sich ans Fenster und versuchte noch einmal, Franco zu erreichen. Keine Antwort.
Nach zermürbendem Warten – Lena drückte bereits die dritte Zigarette im Aschenbecher aus – öffnete sich endlich die Türe. Ein untersetzter, gemütlich aussehender Mann mit grauen Schläfen und randloser Brille betrat den Raum. Er lächelte freundlich in ihre Richtung und begrüßte Lena mit einem kurzen Kopfnicken.
»Montaigne«, stellte er sich vor.
»Lena Halberg. Und Sie sind …?«
»Ich bin Sonderbeauftragter des DST.«
»DST?«
»Einer Abteilung des französischen Innenministeriums zur Bekämpfung von organisiertem Verbrechen und zur Terrorabwehr.«
»So wie der MI5 in England?«
»Ja, so ungefähr«, sagte er vorsichtig.
»Ich verstehe nicht – organisiertes Verbrechen und Terror?«
»Sagen wir einfach, die Umstände verlangen es.« Er sprach Englisch, mit einem deutlichen französischen Akzent.
»Welche Umstände? Ich wollte doch nur eine Auskunft wegen einem unserer Mitarbeiter«, fragte Lena verwundert.
»Ich weiß, aber es gab da einen Vorfall, weshalb der DST aus Zuständigkeitsgründen die Untersuchung im Fall Barelli übernommen hat.«
»Untersuchung …?«, wiederholte Lena ungläubig.
»Ich möchte Sie einladen, mich zu begleiten. Wir können unser Gespräch in angenehmerer Atmosphäre fortsetzen.«
»Ich würde aber vorziehen, hier …«
»Glauben Sie mir, es ist in Ihrem eigenen Interesse. Cafés sind nun mal weit weniger formell als unsere offiziellen Räume. Gehen wir?« Der Unterton in seiner Stimme und die Art, wie er die offiziellen Räume betonte, ließen für Lena keinen Zweifel daran, dass es besser war, der Einladung Folge zu leisten.
Im Café am Quai führte Montaigne sie in ein Nebenzimmer, das trotz des Andrangs im vorderen Lokal beinahe leer war. Sie nahmen Platz und gaben ihre Bestellung auf.
»Ich hoffe, Sie können mich verstehen«, begann sie, »ich möchte niemanden auf die Füße treten. Ich bin auf der Suche nach meinem Freund, einem unserer Fotografen …«
»Ich verstehe schon.«
Er winkte ab, da die Kellnerin hereinkam und wartete, bis die Getränke auf dem Tisch standen. Dann lehnte er sich zurück und sah Lena direkt an.
»Ich muss Ihnen eine schmerzliche Nachricht überbringen. Der Unfall von Lady Diana war leider nicht der einzige in der Nacht zum Sonntag.«
Ohne dass es ihr auffiel, begannen Lena Tränen aus den Augen zu laufen. Montaigne nahm ein Taschentuch aus seiner Jacke und reichte es ihr.
»Auch Monsieur Barelli …«, setzte Montaigne nach, »ist bedauerlicherweise tödlich verunglückt.«
Lena presste vor Schock die Hände vor ihr Gesicht, ihre Schultern zuckten wie bei einem Schüttelfrost. Montaigne hielt inne. Lena brauchte einige Augenblicke, in denen sie heftig und hemmungslos weinte, dann nahm sie mit zitternden Fingern das Taschentuch, wischte über ihr Gesicht und starrte vor sich auf den Tisch. Sie atmete hörbar.
»Darf ich die Einzelheiten erfahren?«, stieß sie tonlos hervor.
»Es war auf einer Schnellstraße bei Dijon«, fuhr Montaigne fort, »er ist mit einem Leihwagen von der Straße abgekommen und gegen einen Baum gerast. Wahrscheinlich hatte er zu viel getrunken.«
»Franco hat nie zu viel getrunken, außerdem war er doch hier in Paris!« Lena hatte sich nun etwas gefangen, ihr Kopf begann wieder zu funktionieren.
»Aber nur kurz.«
»Er hatte das Trianon am Gare de Lyon gebucht …«
»Dort ist er aber offensichtlich nie eingetroffen, sonst wüssten wir das.«
Lena war verzweifelt.
Montaigne zog ein Kuvert aus seiner Jacke, öffnete es und nahm ein Foto heraus – die Aufnahme einer Radarkontrolle. Im Blitzlicht sah man einen weißen Fiat mit Pariser Kennzeichen und sehr deutlich den dunkelhaarigen Mann in einem karierten Sakko hinter dem Steuer. Darunter eine Zeile mit Nummer, Datum und Geschwindigkeit.
»Ist das Ihr Freund?«, fragte Montaigne betont sachlich.
Lena schluckte und nickte. Es war Franco, mit dem Sakko, das sie ihm letzte Weihnachten gekauft hatte.
»Das Bild wurde knapp vor Mitternacht, auf der A38 bei Sainte-Marie aufgenommen. Ihr Freund fuhr dort mit fast hundertsechzig Sachen. Der Unfall ereignete sich dann einige Minuten später, vor der Einfahrt nach Dijon.«
Lena starrte fassungslos auf das Radarfoto.
»Aber das hätte er mir doch gesagt, wenn er dorthin gefahren wäre. Ich habe ja am Nachmittag noch mit ihm telefoniert!«
»Wo Monsieur Barelli vorher war, wissen wir leider nicht. Er hat, nachdem er in Orly gelandet war, den Leihwagen abgeholt. Dann verliert sich seine Spur bis zu dem Unfall«, fuhr Montaigne fort, »aber es sind über vier Stunden Fahrzeit von Paris. Er muss also bereits am frühen Abend aufgebrochen sein.«
»Und was geschah bei dem Unglück?« Lena versuchte, die Dinge irgendwie auf die Reihe zu bringen.
»Das Fahrzeug ist fast zur Gänze ausgebrannt, die lokalen Sicherheitskräfte konnten aber zum Glück noch einen Koffer retten, der das Feuer überlebt hatte. Darin haben wir den Pass und das Flugticket gefunden, so war die Identifizierung möglich. Natürlich auch mit Hilfe des Fotos und den Mitarbeitern vom Autoverleih.«
Lena konnte sich nur noch mühsam aufrecht halten. Der Schock und die ganzen Umstände waren zu viel für sie. Trotzdem zwang sie sich weiterzumachen.
»Und die Kamera, was ist mit der?«, fiel ihr spontan ein.
»Was meinen Sie?«
»Eine Nikon F4, ein großer Fotoapparat in einer Ledertasche, mit zwei Objektiven. Franco war doch Fotograf.«
»Die Meldung des Unfalls und die sichergestellten Sachen kamen gleich heute früh zu mir. Von Kamera und Fototasche stand aber nichts im Bericht und die waren auch nicht dabei – das war sicher das Feuer, oder er hatte sie nicht mit.«
»Wieso kamen die Sachen eigentlich zu Ihnen?«
»Ungeklärte Todesfälle mit Gewalteinwirkung werden in Frankreich automatisch der Staatsanwaltschaft gemeldet und dann von uns überprüft. Dazu gehören auch Unfälle, zumal wenn ausländische Staatsbürger daran beteiligt sind«, erklärte Montaigne. »Ist eine reine Routinesache.«
Ihr Gespür für Zusammenhänge sagte Lena, dass hier irgendetwas faul war. Franco würde sich nie von seiner geliebten Nikon trennen und wenn er überraschend weggefahren wäre, dann hätte er ihr das gesagt. Und welchen Sinn machte Dijon, wenn Lady Diana in Paris war?
»Können Sie mir die Kameras von den verhafteten Fotografen zeigen? Vielleicht ist Francos Nikon ja dabei«, sagte Lena daher trotzig, »denn ich weiß sicher, dass er in Paris war.«
Montaigne ging auf ihre Frage nicht ein, sondern schob ihr die Radaraufnahme über den Tisch.
»Er war in Dijon, verstehen Sie? In Dijon! Den Abzug des Radarfotos können Sie gerne behalten.«
Lena deutete auf die Aufnahme.
»Das Foto hätte man überall aufnehmen können, ich sehe darauf nur ein Auto und dahinter Schwarz.«
Montaigne beugte sich vor und sah sie eindringlich an.
»Lassen Sie es genug sein, in Ihrem eigenen Interesse. Sie geraten sonst in Dinge, die unüberschaubar sind und sehr gefährlich werden können. Im Augenblick ist Paris ein Pulverfass und jede Frage kann bereits eine zu viel sein. Ich verstehe, dass Sie gerne Antworten hätten, was Ihr Freund wollte oder wohin er unterwegs war, aber glauben Sie mir, nichts wäre dadurch jetzt noch zu ändern.« Er legte seine Hand auf ihren Arm. »Die sterblichen Überreste von Monsieur Barelli werden in zwei Tagen zu seiner Familie nach Modena überführt. Steigen Sie auch in dieses Flugzeug – ein Rat zu Ihrer eigenen Sicherheit.«
Lena hatte keine Kraft mehr. Wortlos stand sie auf. Montaigne legte einige Münzen für die Getränke auf den Tisch und sie gingen hinaus.
»Ich will doch nur wissen, was in Wahrheit geschehen ist«, sagte Lena noch und ihre Stimme klang mutlos.
»Wahrheit ist immer nur das, was wir dazu machen«, antwortete Montaigne darauf. Dann nickte er höflich und verschwand zwischen den Passanten am Quai.
*
Der Regen fiel schwer auf die Fensterscheiben der kleinen Mansardenwohnung in der engen Vicolo Cattani. Der abendliche Himmel über Bologna schien undurchdringlich zu sein und hinter den düsteren, schnell ziehenden Wolkenfetzen spürte man zum ersten Mal den nahenden Herbst.
Die Wohnung am Rande der Altstadt bestand nur aus einem größeren Zimmer mit zwei breiten Fenstern aus mehrfach unterteiltem Industrieglas. Sie reichten von der schrägen Decke bis fast zum Boden. Durch sie hindurch sah man, hinter einer Landschaft aus unzähligen roten Dächern, die mittelalterlichen Türme der Altstadt.
Zwei Straßen weiter zwängte sich der Canale delle Moline durch die dichtgedrängten Häuserzeilen. Er roch im Spätsommer wie feuchtes, modriges Holz. Der faulige Dunst zwängte sich bis unter die Dächer der alten Ziegelhäuser.
Lena saß am Boden in der Mitte des Zimmers. Sie nahm weder den Geruch noch die Aussicht wahr. Eingerollt in ihre dunkelrote Decke, das Kinn auf die Knie gelegt, starrte sie in den abendlichen Regen hinaus. Das schlichte Kleid aus leichter, schwarzer Baumwolle, das sie mittags am Friedhof getragen hatte, lag zerknüllt auf dem Sofa. Ihr blondes, schulterlanges Haar war achtlos nach hinten gebunden, und unter den sonst fröhlichen Augen zeigten sich tiefe dunkle Ringe.
Die Ereignisse der letzten Woche nahmen ihr beinahe jegliches Gefühl. Zwei Tage hatte sie in Paris noch verzweifelt versucht etwas zu erfahren, dann war sie mit der Maschine nach Hause geflogen, die auch den schlichten Blechsarg brachte.
Zorn und Tränen waren heute beim Begräbnis einer dumpfen Empfindung gewichen, die sie nun beinahe vollkommen ausfüllte. Es war, als hätte man sie einfach achtlos auf die Seite geschoben. Noch nie in ihrem Leben hatte sie einen derartigen Eindruck quälender Ohnmacht erlebt.
Und was würde nun weiter sein? Lena hatte keine Ahnung. Bologna schien ihr mit einem Mal fremd.
Der Vorfrühlingstag Anfang April war recht kalt aber sonnig gewesen, jetzt am späten Nachmittag hing Nebel über der City von London. Lena bahnte sich ihren Nachhauseweg durch die graue Suppe und den dichten Abendverkehr.
Jahre waren seit den Ereignissen in Paris vergangen. Lena war, nachdem sie ihr Studium in Bologna mit einem Master’s Degree abgeschlossen hatte, nach London zurückgekehrt. In Italien war die Erinnerung an ihr Leben mit Franco zu erdrückend gewesen, und auch der Job bei dem kleinen Fernsehsender wurde ihr bald zu eng. Eine Zeit lang hielt sie noch guten Kontakt zu Francos Mutter, der sich mittlerweile aber nur mehr auf gelegentliche Geburtstagskarten beschränkte.
Nach anfänglichen Anstellungen bei verschiedenen lokalen Zeitungen und einer Nachrichtenagentur war sie schließlich bei Eagle News untergekommen. Die auf allen Kontinenten präsente Firmengruppe gehörte mit weltweit über achttausend Mitarbeitern neben dem CNN und der BBC zu den einflussreichsten Medienkonzernen in Großbritannien und Amerika. Die Zentrale des Senders residierte in einem noblen Bürohaus an der Fenchurch Street in der Londoner Innenstadt. Hier fand Lena als Redakteurin für politische Berichterstattung ein perfektes Betätigungsfeld vor. Sehr bald gestaltete sie eine eigenständige Reportagereihe und machte damit rasch Karriere. Schon nach nicht einmal fünf Jahren wurde sie stellvertretende Chefredakteurin.
Auch sonst etablierte sich Lena in England gut und kaufte sogar ein gemütliches Haus in Twickenham, einer beschaulichen Vorstadt im Südwesten Londons. Es war zu groß für eine Person und auch zu teuer gewesen, aber sie hatte sich spontan in die Gegend an der Themse verliebt. Obwohl nur zwanzig Kilometer von der pulsierenden City entfernt, wirkte der Ort recht ländlich; vor allem die zentrale Heath Road hatte mit ihren Läden, Pubs und Einkaufsgeschäften ein ganz eigenes Flair. Lena erinnerte das Leben hier irgendwie an ihre frühe Kindheit in Dänemark.
Und noch einen Grund gab es für ihre Entscheidung, etwas abseits der Großstadt zu leben – ihr Motorrad. Nach dem Führerschein und dem Kauf einer schwarzen Honda fand Lena Gefallen an der Geschwindigkeit. Also folgte der Honda bald eine Suzuki GSX Rennmaschine in Ferrarirot. Die Fahrt zur Arbeit, für die man im dichten Verkehrsaufkommen Londons mit dem Auto über eine Stunde unterwegs war, schaffte sie mit der schnellen Maschine in der halben Zeit. Auch war sie von Twickenham aus über die M3 in wenigen Minuten im freien Umland und genoss die kurvigen Landstraßen in Englands Süden.
Trotz des Nebels entlang der Themse hatte Lena auch heute kaum mehr als eine halbe Stunde nach Hause gebraucht. Sie bog in die Queens Road ein und ließ das Motorrad langsam ausrollen. Sie stellte es in dem schmalen Weg ab, der seitlich entlang der Außenmauer in den Garten führte.
Im Eingang lag ein Teil der Post, der nicht mehr in den Briefkorb gepasst hatte, am Boden. Lena nahm die Kuverts, fast nur Werbesendungen, warf sie in der Küche auf den Tisch und stellte Teewasser auf, dann ging sie unter die Dusche. Sie hatte ihr Haar kinnlang geschnitten und trug, seit sie Motorrad fuhr, meistens Jeans und Herrenhemden, was ihre sportliche Figur noch betonte.
Sie drehte die Heizung ein wenig wärmer – der Abend würde kühl werden und es hatte zu regnen begonnen –, dann ging sie mit dem dampfenden Tee ins Wohnzimmer in der oberen Etage des Hauses. Ein wenig Ruhe genießen, denn der Tag in der Redaktion war hektisch gewesen und später kam Jan noch zum Abendessen. Kochen zu müssen, freute Lena überhaupt nicht, also nahm sie die Post mit nach oben. Vielleicht befand sich darunter ja ein Flyer eines neuen Pizzadienstes oder eines Asiarestaurants, wo sie etwas bestellen konnte.
Nachdem sie die Zusendungen durchgeblättert hatte, fiel ihr ein brauner, dicker Kartonumschlag in die Hände, wie ihn Versandhäuser für ihre Kataloge verwenden. Lena wollte ihn schon auf den Stoß für den Papiermüll werfen, da blieb ihr Blick auf dem Aufkleber mit dem Absender hängen: Cesare Barelli. Das Kuvert war von Francos Bruder.
Seltsam, dachte Lena und legte die andere Post beiseite. Cesare lebte in Rom. Sie hatte ihn während ihrer Zeit mit Franco nur gelegentlich bei Familientreffen gesehen und seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm.
Als sie den Umschlag aufriss, fielen einige Ansichtskarten und alte Fotos heraus. Dabei lag auch ein kurzes Schreiben von Cesare.
Cara Lena,
leider muss ich dir die Nachricht senden, dass Mutter vor einigen Wochen gestorben ist, und ich nun dabei bin ihre Dinge zu ordnen und das Haus zu räumen.
Mutter hat die Fotos und Grußkarten aus deiner Zeit mit Franco bis zuletzt aufgehoben und öfter davon gesprochen, wie gerne sie dich als Schwiegertochter gehabt hätte.
In diesem Sinne sende ich dir nun die Sachen, da sie für dich die größte Bedeutung haben. Besuche uns doch, falls du einmal nach Rom kommst.
Ciao
Cesare
Lena schluckte und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen. Dass Francos Mutter tot war, traf sie sehr.
Sie nahm die Fotos und sah sie durch – Weihnachten mit Freunden in Bologna, ihr erster und einziger Urlaub mit Franco am Gardasee mit Aufnahmen von ihr im blauen Bikini und ein Schnappschuss von einem genervten Franco bei der Reifenpanne im winterlichen Bozen. Lena lachte auf. Sie erinnerte sich genau an die Situation, das Bild hatte sie selbst mit Francos Nikon gemacht.
Zwischen den Fotos steckten einige Ansichtskarten. Francos Mutter hatte darauf bestanden von all seinen Reisen eine Karte zu bekommen, damit sie sehen konnte, wo er war und wie es dort aussah. Eine der Karten zeigt den Eiffelturm.
»Das gibt’s doch nicht«, murmelte Lena.
Franco war nur einmal in Paris gewesen, das wusste sie genau, und zwar als er die Fotos von Lady Diana machen wollte. Lena drehte die Karte um. Auf der Rückseite standen die üblichen Grußworte an die Mutter, es musste das Letzte sein, was Franco geschrieben hatte. Lenas Hände begannen zu zittern, die Zeit in Paris stand plötzlich wieder vor ihren Augen, als ob es gestern gewesen wäre.
Sie wollte die Karte schon wieder zu den anderen geben, da fiel ihr der Poststempel ins Auge. Der zeigte, noch deutlich zu erkennen, den Eindruck: LOUVRE 31 - 8-1997.
Lenas Herz begann zu rasen, sie sprang auf und drehte das Licht im Zimmer an, um besser sehen zu können. Tatsächlich! Der Rundstempel des Pariser Postamts beim Louvre zeigte bereits das Datum von Sonntag. Franco musste also an diesem Tag noch in Paris gewesen sein.
Lena atmete schwer und starrte fassungslos auf die Karte. Das, was sie längst vergangen glaubte, hatte sie plötzlich wieder eingeholt. Wie schon nach dem Begräbnis kam das dumpfe Gefühl in ihr hoch, dass man sie damals belogen und einfach weggeschoben hatte. Nur war sie diesmal nicht mutlos, sondern zornig. Es war, als hätte ihr Franco selbst noch einen Beweis hinterlassen und sie auf eine Fährte gesetzt, der sie folgen sollte.
Draußen war es inzwischen Nacht geworden und der Regen pochte gegen die Fenster, als es an der Tür läutete.
Lena öffnete, es war Jan.
Jan de Maas war Niederländer aus Den Haag und als der leitende Chefredakteur der Eagle News Lenas Chef. Die beiden waren auch privat liiert. Es hatte sich irgendwann so ergeben, da sie beruflich eng zusammenarbeiteten. Lena sah die Beziehung zu Jan als lockeres Abkommen und angenehmen Aspekt auf längeren Reisen. Wenn sie beide in London waren, blieb hingegen neben der Redaktion nur noch wenig Raum für ein Privatleben. Aus diesem Grund waren auch Lenas vorherige Partnerschaften gescheitert.
Jan war mit fünfundvierzig ein paar Jahre älter als Lena, und seine kurzen aschblonden Haare wurden an den Schläfen bereits deutlich grau. Trotzdem wirkte er mit seiner schlanken Figur und seinem forschen Auftreten durchaus jugendlich. Lena mochte es besonders gern, wenn seine blaugrauen Augen bei schwierigen geschäftlichen Verhandlungen ins eisgraue umschlugen und seine Stimme diesen ganz bestimmten coolen Tonfall bekam.
»Hi«, sagte Lena, »ich habe dich gar nicht kommen gehört.«
Sie steckte noch im Bademantel und hatte die Haare in ein knallrotes Frotteehandtuch gewickelt.
»Ah? Vielleicht weil ich das Verdeck geschlossen hatte«, scherzte er und küsste sie flüchtig. Jan fuhr Oldtimer und sein BMW Cabrio aus 1957 war in der schmalen Straße kaum zu überhören.
»Lass deinen Trenchcoat gleich an.« Lena wollte in die obere Etage laufen, um sich anzuziehen. »Wir gehen ins Pub auf der Heath Road. Ich habe nämlich absolut nichts zu Hause und war auch nicht einkaufen.«
»Aber ich, weil ich so etwas schon befürchtet hatte«, hielt Jan sie zurück und hob triumphierend eine größere Plastiktüte hoch, aus der es herrlich nach Essen duftete, und ging in die Küche. »Vom kleinen Chinesen an der Themse, den wir neulich schon ausprobieren wollten.«
»Duftet lecker! Bin gleich da.« Lena verschwand für ein paar Minuten ins Obergeschoss, um den Bademantel loszuwerden, sich mit der Bürste durch die Haare zu fahren und in warme Leggins und einen Pulli zu schlüpfen.
Die knusprige Ente mit gebratenem Reis war vorzüglich. Jan langte genussvoll zu und sprach dabei über die kommenden Sendungen. Lena ertappte sich dabei überhaupt nicht zuzuhören, aß nur wenig und stocherte nachdenklich im Reis, ließ sich aber vorerst nichts anmerken. Während sie noch die Reste von den Tellern kippte und das Geschirr in die Spülmaschine einsortierte, war Jan schon mit einem Glas Bordeaux nach oben gegangen. Er trank selten Alkohol, liebte aber einen Schluck schweren, roten Weins nach dem Essen als krönenden Abschluss.
Abgesehen davon, dass sie zusammen arbeiteten und hin und wieder miteinander schliefen, waren sie grundverschieden. Lena suchte in jedem Ding eine Herausforderung, ganz gleich, ob es um ihre Arbeit oder um ihr Motorrad ging. Es war ein besonderer Reiz für sie herauszufinden, wie weit sie gehen konnte. Jan hingegen wirkte vollkommen kontrolliert und tat, was von ihm erwartet wurde. Für ihn zählten das Image des Senders und abgesicherte Fakten, während Lena nur wissen wollte, was hinter einer Sache stecken könnte, egal wie weit sie sich dabei in Spekulationen verlor. Bei vielen Gelegenheiten war das zwischen den beiden schon ein Streitpunkt gewesen.
Als Lena nach oben ins Wohnzimmer kam, sah sie, dass Jan den Brief überflogen hatte, der auf dem Wohnzimmertisch lag. Sie nahm es ihm nicht übel, sie hätte das ebenso getan. Wenn man in ihrem Beruf arbeitete, war man darauf trainiert, alle Informationen, die man kriegen konnte, auch zu nehmen. So war das eben.
»Möchtest du darüber sprechen?«, fragte Jan betont beiläufig. Er lümmelte bequem auf dem Sofa und nippte zufrieden an seinem Rotwein.
»Vielleicht später«, wich sie aus, denn sie war nicht in der Verfassung, die Dinge weiter zu erklären.
Lena war nach Ablenkung zumute und sie wollte, dass Jan heute Nacht bei ihr blieb. Sie dimmte das Licht herunter und lehnte sich an ihn. Er begann ihre Haare zu kraulen und küsste sie fast unmerklich auf den Nacken. Sie drehte ihren Kopf in seiner Hand und schloss die Augen. In Momenten wie diesen genoss sie das Zusammensein mit ihm, er gab ihr Sicherheit und das Gefühl, geborgen zu sein. Und er hatte Erfahrung mit Frauen. Auch wenn sie sonst in vielen Punkten Differenzen hatten, der Sex mit ihm war außerordentlich entspannend. Sie drehte sich ihm zu und ließ den Pulli von ihren Schultern gleiten. Jan berührte zart ihre Brüste, was ein angenehmes Gefühl zwischen ihren Beinen auslöste.
Er macht wirklich immer, was man von ihm erwartet, dachte Lena bei sich und musste unmerklich lächeln. Dann suchte sie seine Lippen.