Sigmund Freud, Josef Breuer

Studien über Hysterie


e-artnow, 2015
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ISBN 978-80-268-2615-6


Inhaltsverzeichnis

VORWORT.
I. Ueber den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene
I.
II.
III.
IV.
V.
II. Krankengeschichten.
Beobachtung I. Frl. Anna O … (Breuer).
Beobachtung II. Frau Emmy v. N ...,40 Jahre, aus Livland (Freud).
Beobachtung III. Miss Lucy R., 30 J. (Freud.)
Beobachtung IV. Katharina .... (Freud).
Beobachtung V. Fräulein Elisabeth v. R ... (Freud).
III. Theoretisches.
I. Sind alle hysterischen Phänomene ideogen?
II. Die intracerebrale tonische Erregung. – Die Affecte.
III. Die hysterische Conversion.
IV. Hypnoide Zustände.
V. Unbewusste und bewusstseinsunfähige Vorstellungen. Spaltung der Psyche.
VI. Originäre Disposition; Entwicklung der Hysterie.
IV. Zur Psychotherapie der Hysterie.
I.
II.
III.

II. Krankengeschichten.

Inhaltsverzeichnis

Beobachtung I. Frl. Anna O … (Breuer).

Inhaltsverzeichnis


Frl. Anna O …, zur Zeit der Erkrankung (1880) 21 Jahre alt, erscheint als neuropathisch mässig stark belastet durch einige in der grossen Familie vorgekommenen Psychosen; die Eltern sind nervös gesund. Sie selbst früher stets gesund, ohne irgend ein Nervosum während der Entwicklungsperiode; von bedeutender Intelligenz, erstaunlich scharfsinniger Combination und scharfsichtiger Intuition; ein kräftiger Intellect, der auch solide geistige Nahrung verdaut hätte und sie brauchte, nach Verlassen der Schule aber nicht erhielt. Reiche poetische und phantastische Begabung, controlirt durch sehr scharfen und kritischen Verstand. Dieser letztere machte sie auch völlig unsuggestibel; nur Argumente, nie Behauptungen hatten Einfluss auf sie. Ihr Wille war energisch, zäh und ausdauernd; manchmal zum Eigensinn gesteigert, der sein Ziel nur aus Güte, um Anderer willen, aufgab.

Zu den wesentlichsten Zügen des Charakters gehörte mitleidige Güte; die Pflege und Besorgung einiger Armen und Kranken leistete ihr selbst in ihrer Krankheit ausgezeichnete Dienste, da sie dadurch einen starken Trieb befriedigen konnte. – Ihre Stimmungen hatten immer eine leichte Tendenz zum Uebermaass, der Lustigkeit und der Trauer; daher auch einige Launenhaftigkeit. Das sexuale Element war erstaunlich unentwickelt; die Kranke, deren Leben mir durchsichtig wurde, wie selten das eines Menschen einem andern, hatte nie eine Liebe gehabt und in all den massenhaften Hallucinationen ihrer Krankheit tauchte niemals dieses Element des Seelenlebens empor.

Dieses Mädchen von überfliessender geistiger Vitalität führte in der puritanisch gesinnten Familie ein höchst monotones Leben, dass sie sich in einer für ihre Krankheit wahrscheinlich maassgebenden Weise verschönerte. Sie pflegte systematisch das Wachträumen, das sie ihr „Privattheater“ nannte. Während alle sie anwesend glaubten, lebte sie im Geiste Märchen durch, war aber angerufen immer präsent, so dass niemand davon wusste. Neben den Beschäftigungen der Häuslichkeit, die sie tadellos versorgte, gieng diese geistige Thätigkeit fast fortlaufend einher. Ich werde dann zu berichten haben, wie unmittelbar diese gewohnheitsmässige Träumerei der Gesunden in Krankheit übergieng.

Der Krankheitsverlauf zerfällt in mehrere gut getrennte Phasen; es sind:

  1. A. die latente Incubation. Mitte Juli 1880 bis etwa 10. December. In diese Phase, die sich in den meisten Fällen unserer Kenntnis entzieht, gewährte die Eigenart dieses Falles so vollständigen Einblick, dass ich schon deshalb sein pathologisches Interesse nicht gering anschlage. Ich werde diesen Theil der Geschichte später darlegen.
  2. B. die manifeste Erkrankung; eine eigenthümliche Psychose, Paraphasie,[1] Strabismus convergens,[2] schwere Sehstörungen, Contracturlähmungen,[3] vollständig in der rechten obern, beiden untern Extremitäten, unvollständig in der linken obern Extremität, Parese[4] der Nackenmusculatur. Allmähliche Reduction der Contractur auf die rechtseitigen Extremitäten. Einige Besserung, unterbrochen durch ein schweres psychisches Trauma (Tod des Vaters) im April, auf welche
  3. C. eine Periode andauernden Somnambulismus folgt, der dann mit normaleren Zuständen alternirt; Fortbestand einer Reihe von Dauersymptomen bis December 1880.
  4. D. Allmähliche Abwicklung der Zustände und Phänomene bis Juni 1882.

Im Juli 1880 erkrankte der Vater der Patientin, den sie leidenschaftlich liebte, an einem peripleuritischen Abscess,[5] der nicht ausheilte und dem er im April 1881 erlag. Während der ersten Monate dieser Erkrankung widmete sich Anna der Krankenpflege mit der ganzen Energie ihres Wesens, und es nahm niemand sehr Wunder, dass sie dabei allmählich stark herabkam. Niemand, vielleicht auch die Kranke selbst nicht, wusste, was in ihr vorgieng; allmählich aber wurde ihr Zustand von Schwäche, Anämie, Ekel vor Nahrung so schlimm, dass sie zu ihrem grössten Schmerze von der Pflege des Kranken entfernt wurde. Den unmittelbaren Anlass bot ein höchst intensiver Husten, wegen dessen ich sie zum erstenmale untersuchte. Es war eine typische Tussis nervosa.[6] Bald wurde ein auffallendes Ruhebedürfniss in den Nachmittagsstunden deutlich, an welches sich abends ein schlafähnlicher Zustand und dann starke Aufregung anschloss.

Anfangs December entstand Strabismus convergens. Ein Augenarzt erklärte diesen (irrigerweise) durch Parese des einen Abducens.[7] Am 11. December wurde Patientin bettlägerig und blieb es bis 1. April.

In rascher Folge entwickelte sich, anscheinend ganz frisch, eine Reihe schwerer Störungen.

Linksseitiger Hinterkopf-Schmerz; Strabismus convergens (Diplopie[8]) durch Aufregung bedeutend gesteigert; Klage über Herüberstürzen der Wand (Obliquus-Affection[9]). Schwer analysirbare Sehstörungen; Parese der vordern Halsmuskeln, so dass der Kopf schliesslich nur dadurch bewegt wurde, dass Patientin ihn nach rückwärts zwischen die gehobenen Schultern presste und sich mit dem ganzen Rücken bewegte. Contractur und Anästhesie[10] der rechten obern, nach einiger Zeit der rechten untern Extremität; auch diese völlig gestreckt, adducirt und nach innen rotirt; später tritt dieselbe Affection an der linken untern Extremität und zuletzt am linken Arm auf, an welchem aber die Finger einigermaassen beweglich blieben. Auch die Schultergelenke beiderseits waren nicht völlig rigide. Das Maximum der Contractur betrifft die Muskeln des Oberarms, wie auch später, als die Anästhesie genauer geprüft werden konnte, die Gegend des Ellbogens sich als am stärksten unempfindlich erwies. Im Beginne der Krankheit blieb die Anästhesieprüfung ungenügend, wegen des aus Angstgefühlen entspringenden Widerstandes der Patientin.

In diesem Zustande übernahm ich die Kranke in meine Behandlung und konnte mich alsbald von der schweren psychischen Alteration überzeugen, die da vorlag. Es bestanden zwei ganz getrennte Bewusstseinszustände, die sehr oft und unvermittelt abwechselten und sich im Laufe der Krankheit immer schärfer schieden. In dem einen kannte sie ihre Umgebung, war traurig und ängstlich, aber relativ normal; im andern hallucinirte sie, war „ungezogen“, d. h. schimpfte, warf die Kissen nach den Leuten, soweit und wenn die Contractur dergleichen erlaubte, riss mit den beweglichen Fingern die Knöpfe von Decken und Wäsche und dgl. mehr. War während dieser Phase etwas im Zimmer verändert worden, jemand gekommen oder hinausgegangen, so klagte sie dann, ihr fehle Zeit, und bemerkte die Lücke im Ablauf ihrer bewussten Vorstellungen. Da man ihr das, wenn möglich, ableugnete, auf ihre Klage, sie werde verrückt, sie zu beruhigen suchte, folgten auf jedes Polsterschleudern und dgl. dann noch die Klagen, was man ihr anthue, in welcher Unordnung man sie lasse u. s. f.

Diese Absencen waren schon beobachtet worden, als sie noch ausser Bett war; sie blieb dann mitten im Sprechen stecken, wiederholte die letzten Worte, um nach kurzer Zeit weiter fortzufahren. Nach und nach nahm dies die geschilderten Dimensionen an und während der Acme[11] der Krankheit, als die Contractur auch die linke Seite ergriffen hatte, war sie am Tag nur für ganz kurze Zeiten halbwegs normal. Aber auch in die Momente relativ klaren Bewusstseins griffen die Störungen über; rapidester Stimmungswechsel in Extremen, ganz vorübergehende Heiterkeit, sonst schwere Angstgefühle, hartnäckige Opposition gegen alle therapeutischen Maassnahmen, ängstliche Hallucinationen von schwarzen Schlangen, als welche ihre Haare, Schnüre und dgl. erscheinen. Dabei sprach sie sich immer zu, nicht so dumm zu sein, es seien ja ihre Haare u. s. w. In ganz klaren Momenten beklagte sie die tiefe Finsterniss ihres Kopfes, wie sie nicht denken könne, blind und taub werde, zwei Ichs habe, ihr wirkliches und ein schlechtes, dass sie zu schlimmem zwinge u. s. w.

Nachmittags lag sie in einer Somnolenz,[12] die bis etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang dauerte, und dann erwacht, klagte sie, es quäle sie etwas, oder vielmehr sie wiederholte immer den Infinitiv: Quälen, quälen.

Denn zugleich mit der Ausbildung der Contracturen war eine tiefe, functionelle Desorganisation der Sprache eingetreten. Zuerst beobachtete man, dass ihr Worte fehlten, allmählich nahm das zu. Dann verlor ihr Sprechen alle Grammatik, jede Syntax, die ganze Conjugation des Verbums, sie gebrauchte schliesslich nur falsch, meist aus einem schwachen Particip-praeteriti gebildete Infinitive, keinen Artikel. In weiterer Entwicklung fehlten ihr auch die Worte fast ganz, sie suchte dieselben mühsam aus 4 oder 5 Sprachen zusammen und war dabei kaum mehr verständlich. Bei Versuchen zu schreiben schrieb sie (anfangs, bis die Contractur das völlig verhinderte) denselben Jargon. Zwei Wochen lang bestand völliger Mutismus,[13] bei fortwährenden angestrengten Versuchen zu sprechen wurde kein Laut vorgebracht. Hier wurde nun zuerst der psychische Mechanismus der Störung klar. Sie hatte sich, wie ich wusste, über etwas sehr gekränkt und beschlossen, nichts davon zu sagen. Als ich das errieth und sie zwang, davon zu reden, fiel die Hemmung weg, die vorher auch jede andere Aeusserung unmöglich gemacht hatte.

Dies fiel zeitlich zusammen mit der wiederkehrenden Beweglichkeit der linksseitigen Extremitäten, März 1881; die Paraphasie wich, aber sie sprach jetzt nur englisch, doch anscheinend, ohne es zu wissen; zankte mit der Wärterin, die sie natürlich nicht verstand; erst mehrere Monate später gelang mir, sie davon zu überzeugen, dass sie englisch rede. Doch verstand sie selbst noch ihre deutsch sprechende Umgebung. Nur in Momenten grosser Angst versagte die Sprache vollständig oder sie mischte die verschiedensten Idiome durcheinander. In den allerbesten, freiesten Stunden sprach sie französisch oder italienisch. Zwischen diesen Zeiten und denen, in welchen sie englisch sprach, bestand völlige Amnesie. Nun nahm auch der Strabismus ab und erschien schliesslich nur mehr bei heftiger Aufregung, der Kopf wurde wieder getragen. Am 1. April verliess sie zum erstenmale das Bett.

Da starb am 5. April der von ihr vergötterte Vater, den sie während ihrer Krankheit nur sehr selten für kurze Zeit gesehen hatte. Es war das schwerste psychische Trauma, das sie treffen konnte. Gewaltiger Aufregung folgte ein tiefer Stupor etwa zwei Tage lang, aus dem sie sich in sehr verändertem Zustande erhob. Zunächst war sie viel ruhiger und das Angstgefühl wesentlich vermindert. Die Contractur des rechten Armes und Beines dauerte fort, ebenso die, nicht tiefe, Anästhesie dieser Glieder. Es bestand hochgradige Gesichtsfeldeinengung. Von einem Blumenstrauss, der sie sehr erfreute, sah sie immer nur eine Blume zugleich. Sie klagte, dass sie die Menschen nicht erkenne. Sonst habe sie die Gesichter erkannt, ohne willkürlich dabei arbeiten zu müssen; jetzt müsse sie bei solchem, sehr mühsamem „recognising work“ sich sagen, die Nase sei so, die Haare so, folglich werde das der und der sein. Alle Menschen wurden ihr wie Wachsfiguren, ohne Beziehung auf sie. Sehr peinlich war ihr die Gegenwart einiger nahen Verwandten, und dieser „negative Instinct“ wuchs fortwährend. Trat jemand ins Zimmer, den sie sonst gern gesehen hatte, so erkannte sie ihn, war kurze Zeit präsent, dann versank sie wieder in ihr Brüten, und der Mensch war ihr entschwunden. Nur mich kannte sie immer, wenn ich eintrat, blieb auch immer präsent und munter, solange ich mit ihr sprach, bis auf die immer ganz plötzlich dazwischen fahrenden hallucinatorischen Absencen.

Sie sprach nun nur englisch und verstand nicht, was man ihr deutsch sagte. Ihre Umgebung musste englisch mit ihr sprechen; selbst die Wärterin lernte sich einigermaassen so verständigen. Sie las aber französisch und italienisch; sollte sie es vorlesen, so las sie mit staunenerregender Geläufigkeit, fliessend, eine vortreffliche englische Uebersetzung des Gelesenen vom Blatte.

Sie begann wieder zu schreiben, aber in eigenthümlicher Weise; sie schrieb mit der, gelenken, linken Hand, aber Antiqua-Druckbuchstaben, die sie sich aus ihrem Shakespeare zum Alphabet zusammen gesucht hatte.

Hatte sie früher schon minimal Nahrung genommen, so verweigerte sie jetzt das Essen vollständig, liess sich aber von mir füttern, so dass ihre Ernährung rasch zunahm. Nur Brod zu essen verweigerte sie immer. Nach der Fütterung aber unterliess sie nie den Mund zu waschen, und that dies auch, wenn sie aus irgend einem Grunde nichts gegessen hatte; ein Zeichen, wie abwesend sie dabei war.

Die Somnolenz am Nachmittag und der tiefe Sopor[14] um Sonnenuntergang dauerten an. Hatte sie sich dann ausgesprochen (ich werde später genauer hierauf eingehen müssen) so war sie klar, ruhig, heiter.

Dieser relativ erträgliche Zustand dauerte nicht lange. Etwa 10 Tage nach ihres Vaters Tod wurde ein Consiliarius[15] beigezogen, den sie wie alle Fremden absolut ignorirte, als ich ihm all ihre Sonderbarkeiten demonstrirte. „That’s like an examination“ sagte sie lachend, als ich sie einen französischen Text auf englisch vorlesen liess. Der fremde Arzt sprach drein, versuchte sich ihr bemerklich zu machen; vergebens. Es war die richtige „negative Hallucination“, die seitdem so oft experimentell hergestellt worden ist. Endlich gelang es ihm, diese zu durchbrechen, indem er ihr Hauch ins Gesicht blies. Plötzlich sah sie einen Fremden, stürzte zur Thüre, den Schlüssel abzuziehen, fiel bewusstlos zu Boden; dann folgte ein kurzer Zorn- und dann ein arger Angstanfall, den ich mit grosser Mühe beruhigte. Unglücklicherweise musste ich denselben Abend abreisen, und als ich nach mehreren Tagen zurückkam, fand ich die Kranke sehr verschlimmert. Sie hatte die ganze Zeit vollständig abstinirt, war voll Angstgefühlen, ihre hallucinatorischen Absencen erfüllt von Schreckgestalten, Todtenköpfen und Gerippen. Da sie, diese Dinge durchlebend, sie theilweise sprechend tragirte,[16] kannte die Umgebung meist den Inhalt dieser Hallucinationen. Nachmittags Somnolenz, um Sonnenuntergang die tiefe Hypnose, für die sie den technischen Namen „clouds“ (Wolken) gefunden hatte. Konnte sie dann die Hallucinationen des Tages erzählen, so erwachte sie klar, ruhig, heiter, setzte sich zur Arbeit, zeichnete oder schrieb die Nacht durch, völlig vernünftig; ging gegen 4 Uhr zu Bett, und am Morgen begann dieselbe Scene wieder, wie Tags zuvor. Der Gegensatz zwischen der unzurechnungsfähigen, von Hallucinationen gehetzten Kranken am Tag und dem geistig völlig klaren Mädchen bei Nacht war höchst merkwürdig.

Trotz dieser nächtlichen Euphorie verschlechterte sich der psychische Zustand doch immer mehr; es traten intensive Selbstmordimpulse auf, die den Aufenthalt in einem 3. Stockwerk unthunlich erscheinen liessen. Die Kranke wurde darum gegen ihren Willen in ein Landhaus in der Nähe von Wien gebracht (7. Juni 1881). Diese Entfernung vom Hause, die sie perhorrescirte, hatte ich nie angedroht, sie selbst aber im stillen erwartet und gefürchtet. Es wurde nun auch bei diesem Anlass wieder klar, wie dominirend der Angstaffect die psychische Störung beherrschte. Wie nach des Vaters Tod ein Ruhezustand eingetreten war, so beruhigte sie sich auch jetzt, als das Gefürchtete geschehen war. Allerdings nicht, ohne dass die Transferirung unmittelbar von drei Tagen und Nächten gefolgt gewesen wäre, absolut ohne Schlaf und Nahrung, voll von (im Garten allerdings ungefährlichen) Selbstmordversuchen, Fensterzerschlagen und dgl., Hallucinationen ohne Absence, die sie von den andern ganz wohl unterschied. Dann beruhigte sie sich, nahm Nahrung von der Wärterin und sogar Abends Chloral.[17]

Bevor ich den weiteren Verlauf schildere, muss ich noch einmal zurückgreifen und eine Eigenthümlichkeit des Falles darstellen, die ich bisher nur flüchtig gestreift habe.

Es wurde schon bemerkt, dass im ganzen bisherigen Verlaufe täglich Nachmittags eine Somnolenz die Kranke befiel, die um Sonnenuntergang in tieferen Schlaf überging (clouds). (Es ist wohl plausibel, diese Periodicität einfach aus den Umständen der Krankenpflege abzuleiten, die ihr durch Monate obgelegen hatte. Nachts wachte sie beim Kranken oder lag lauschend und angsterfüllt bis Morgens wach in ihrem Bette; Nachmittag legte sie sich für einige Zeit zur Ruhe, wie es ja meistens von der Pflegerin geschieht, und dieser Typus der Nachtwache und des Nachmittagschlafes wurde wohl dann in ihre eigene Krankheit hinüber verschleppt und bestand fort, als an Stelle des Schlafes schon lange ein hypnotischer Zustand getreten war). Hatte der Sopor etwa eine Stunde gedauert, so wurde sie unruhig, wälzte sich hin und her und rief immer wieder: „Quälen, quälen“ immer mit geschlossenen Augen. Andrerseits war bemerkt worden, dass sie in ihren Absencen während des Tages offenbar immer irgend eine Situation oder Geschichte ausbilde, über deren Beschaffenheit einzelne gemurmelte Worte Aufschluss gaben. Nun geschah es, zuerst zufällig, dann absichtlich, dass jemand von der Umgebung ein solches Stichwort fallen liess, während Patientin über das „Quälen“ klagte; alsbald fiel sie ein und begann eine Situation auszumalen oder eine Geschichte zu erzählen, anfangs stockend in ihrem paraphasischen[18] Jargon, je weiter, desto fliessender, bis sie zuletzt ganz correctes Deutsch sprach. (In der ersten Zeit, bevor sie völlig ins Englischsprechen gerathen war.) Die Geschichten, immer traurig, waren theilweise sehr hübsch, in der Art von Andersens „Bilderbuch ohne Bilder“ und wahrscheinlich auch nach diesem Muster gebildet; meist war Ausgangs- oder Mittelpunkt die Situation eines bei einem Kranken in Angst sitzenden Mädchens; doch kamen auch ganz andere Motive zur Verarbeitung. – Einige Momente nach Vollendung der Erzählung erwachte sie, war offenbar beruhigt oder, wie sie es nannte, „gehäglich“ (behaglich). Nachts wurde sie dann wieder unruhiger und am Morgen, nach zweistündigem Schlafe war sie offenbar wieder in einem anderen Vorstellungskreis. – Konnte sie mir in der Abendhypnose einmal die Geschichte nicht erzählen, so fehlte die abendliche Beruhigung, und am anderen Tag mussten zwei erzählt werden, um diese zu bewirken.

Das Wesentliche der beschriebenen Erscheinung, die Häufung und Verdichtung ihrer Absencen zur abendlichen Autohypnose, die Wirksamkeit der phantastischen Producte als psychischer Reiz und die Erleichterung und Behebung des Reizzustandes durch die Aussprache in der Hypnose, blieben durch die ganzen anderthalb Jahre der Beobachtung constant.

Nach dem Tode des Vaters wurden die Geschichten natürlich noch tragischer, aber erst mit der Verschlimmerung ihres psychischen Zustandes, welche der erzählten gewaltsamen Durchbrechung ihres Somnambulismus folgte, verloren die abendlichen Referate den Charakter mehr minder freier poetischer Schöpfung und wandelten sich in Reihen furchtbarer, schreckhafter Hallucinationen, die man Tags über, schon aus dem Benehmen der Kranken hatte erschliessen können. Ich habe aber schon geschildert, wie vollständig die Befreiung ihrer Psyche war, nachdem sie, von Angst und Grauen geschüttelt, all diese Schreckbilder reproducirt und ausgesprochen hatte.

Auf dem Lande, wo ich die Kranke nicht täglich besuchen konnte, entwickelte sich die Sache in folgender Weise. Ich kam Abends, wenn ich sie in ihrer Hypnose wusste, und nahm ihr den ganzen Vorrath von Phantasmen ab, den sie seit meinem letzten Besuch angehäuft hatte. Das musste ganz vollständig geschehen, wenn der gute Erfolg erreicht werden sollte. Dann war sie ganz beruhigt, den nächsten Tag liebenswürdig, fügsam, fleissig, selbst heiter; den zweiten immer mehr launisch, störrig, unangenehm, was am dritten noch weiter zunahm. In dieser Stimmung, auch in der Hypnose, war sie nicht immer leicht zum Aussprechen zu bewegen, für welche Procedur sie den guten, ernsthaften Namen „talking cure“ (Redecur) und den humoristischen „chimney-sweeping“ (Kaminfegen) erfunden hatte. Sie wusste, dass sie nach der Aussprache all ihre Störrigkeit und „Energie“ verloren haben werde, und wenn sie nun schon (nach längerer Pause) in böser Laune war, so weigerte sie das Reden, das ich ihr mit Drängen und Bitten und einigen Kunstgriffen, wie dem Vorsprechen einer stereotypen Eingangsformel ihrer Geschichten, abzwingen musste. Immer aber sprach sie erst, nachdem sie sich durch sorgfältige Betastung meiner Hände von meiner Identität überzeugt hatte. In den Nächten, wo die Beruhigung durch Aussprache nicht erfolgte, musste man sich mit Chloral helfen. Ich hatte es früher einigemal versucht, musste aber 5 Gramm geben, und dem Schlafe ging ein stundenlanger Rausch vorher, der in meiner Gegenwart heiter war, in meiner Abwesenheit aber als höchst unangenehmer ängstlicher Aufregungszustand auftrat. (Beiläufig bemerkt, änderte dieser schwere Rausch nichts an der Contractur). Ich hatte die Narcotica vermeiden können, weil die Aussprache mindestens Beruhigung, wenn auch nicht Schlaf brachte. Auf dem Lande waren die Nächte zwischen den hypnotischen Erleichterungen so unerträglich, dass man doch zum Chloral seine Zuflucht nehmen musste; allmählig brauchte sie auch weniger davon.

Der dauernde Somnambulismus blieb verschwunden; dagegen bestand der Wechsel zweier Bewusstseinszustände fort. Mitten im Gespräch hallucinirte sie, lief weg, versuchte auf einen Baum zu steigen und dgl. Hielt man sie fest, so sprach sie nach kürzester Zeit im unterbrochen Satze wieder fort, ohne von dem dazwischen liegenden zu wissen. Aber in der Hypnose erschienen dann all diese Hallucinationen im Referate:

Im ganzen besserte sich der Zustand; die Ernährung war gut möglich, sie liess sich von der Wärterin das Essen in den Mund führen, nur Brod verlangte sie, refusirte es aber, sowie es die Lippen berührte; die Contractur-Parese des Beines nahm wesentlich ab; auch gewann sie richtige Beurtheilung und grosse Anhänglichkeit für den Arzt, der sie besuchte, meinen Freund Dr. B. Grosse Hilfe gewährte ein Neufoundländer, den sie bekommen hatte und leidenschaftlich liebte. Dabei war es prächtig anzusehen, wie einmal, als dieser Liebling eine Katze angriff, das schwächliche Mädchen die Peitsche in die linke Hand nahm und das riesige Thier damit behandelte, um sein Opfer zu retten. Später besorgte sie einige arme Kranke, was ihr sehr nützlich war.

Den deutlichsten Beweis für die pathogene, reizende Wirkung der in den Absencen, ihrer „condition seconde“ producirten Vorstellungscomplexe und für ihre Erledigung durch die Aussprache in Hypnose erhielt ich bei meiner Rückkehr von einer mehrwochentlichen Ferialreise.[19] Während dieser war keine „talking cure“ vorgenommen worden, da die Kranke nicht zu bewegen war, jemand anderem als mir zu erzählen, auch nicht Dr. B., dem sie sonst herzlich zugethan worden war. Ich fand sie in einem traurigen moralischen Zustand, träge, unfügsam, launisch, selbst boshaft. Bei den abendlichen Erzählungen stellte sich heraus, dass ihre phantastisch-poetische Ader offenbar im Versiegen begriffen war; es wurden immer mehr und mehr Referate über ihre Hallucinationen und über das, was sie etwa in den verflossenen Tagen geärgert; phantastisch eingekleidet, aber mehr nur durch feststehende phantastische Formeln ausgedrückt, als zu Poemen ausgebaut. Ein erträglicher Zustand wurde aber erst erreicht, als ich Patientin für eine Woche in die Stadt hereinkommen liess und ihr nun Abend für Abend 3–5 Geschichten abrang. Als ich damit fertig war, war alles aufgearbeitet, was sich in den Wochen meiner Abwesenheit aufgehäuft hatte. Nun erst stellte sich jener Rhythmus ihres psychischen Befindens wieder her, dass sie am Tag nach einer Aussprache liebenswürdig und heiter, am zweiten reizbarer und unangenehmer und am dritten recht „zuwider“ war. Ihr moralischer Zustand war eine Function der seit der letzten Aussprache verflossenen Zeit, weil jedes spontane Product ihrer Phantasie und jede von dem kranken Theil ihrer Psyche aufgefasste Begebenheit, als psychischer Reiz solange fortwirkte, bis es in der Hypnose erzählt, hiemit aber auch die Wirksamkeit völlig beseitigt war.

Als Patientin im Herbst wieder in die Stadt kam (in eine andere Wohnung als die, in der sie erkrankt war), war der Zustand erträglich, sowohl körperlich als geistig, indem recht wenig, eigentlich nur eingreifendere Erlebnisse, krankhaft zu psychischen Reizen verarbeitet wurde. Ich hoffte eine fortlaufend zunehmende Besserung, wenn durch regelmässige Aussprache die dauernde Belastung ihrer Psyche mit neuen Reizen verhindert wurde. Zunächst wurde ich enttäuscht. Im December verschlimmerte sich ihr psychischer Zustand wesentlich, sie war wieder aufgeregt, traurig verstimmt, reizbar und hatte kaum mehr „ganz gute Tage“, auch wenn nichts Nachweisbares in ihr „steckte“. Ende December, in der Weihnachtszeit, war sie besonders unruhig und erzählte dann durch die ganze Woche Abends nichts Neues, sondern die Phantasmen, die sie unter der Herrschaft starker Angstaffecte in der Festzeit 1880 Tag für Tag ausgearbeitet hatte. Nach Beendigung der Serie grosse Erleichterung.

Es hatte sich nun gejährt, dass sie vom Vater getrennt, bettlägerig geworden war, und von da an klärte und systemisirte sich der Zustand in sehr eigenthümlicher Weise. Die beiden Bewusstseinszustände, die alternirend bestanden, immer so, dass vom Morgen an mit vorschreitendem Tage die Absencen, d. h. das Auftreten der condition seconde immer häufiger ward und Nachts nur diese allein bestand, – die beiden Zustände differirten nicht bloss wie früher darin, dass sie in dem einen (ersten) normal und im zweiten alienirt war, sondern sie lebte im ersten wie wir andern im Winter 81–82; im zweiten Zustand aber im Winter 80–81 und alles später Vorgefallene war darin völlig vergessen. Nur das Bewusstsein davon, dass der Vater gestorben sei, schien meist doch zu bestehen. Die Rückversetzung in das vorhergegangene Jahr geschah so intensiv, dass sie in der neuen Wohnung ihr früheres Zimmer hallucinirte und, wenn sie zur Thüre gehen wollte, an den Ofen anrannte, der nun zum Fenster so stand wie in der alten Wohnung die Zimmerthüre. Der Umschlag aus einem Zustand in den andern erfolgte spontan, konnte aber mit der grössten Leichtigkeit hervorgerufen werden durch irgend einen Sinneseindruck, der lebhaft an das frühere Jahr erinnerte. Es genügte, ihr eine Orange vorzuhalten, (ihre Hauptnahrung während der ersten Zeit ihrer Erkrankung), um sie aus dem Jahr 1882 ins Jahr 1881 hinüberzuwerfen. Diese Rückversetzung in vergangene Zeit erfolgte aber nicht in allgemeiner und unbestimmter Weise, sondern sie durchlebte Tag für Tag den vorhergegangenen Winter. Ich hätte das nur vermuthen können, wenn sie nicht täglich in der Abendhypnose sich das abgesprochen hätte, was 1881 an diesem Tag sie erregt hatte, und wenn nicht ein geheimes Tagebuch der Mutter aus dem Jahre 1881 die unverbrüchliche Richtigkeit der zu Grunde liegenden Thatsachen bewiesen hätte. Dieses Wiederdurchleben des verflossenen Jahres dauerte fort bis zum definitiven Abschluss der Krankheit im Juni 1882.

Dabei war es sehr interessant zu sehen, wie auch diese wiederauflebenden psychischen Reize aus dem zweiten Zustand in den ersten, normaleren herüberwirkten. Es kam vor, dass die Kranke mir am Morgen lachend sagte, sie wisse nicht, was sie habe, sie sei böse auf mich; dank dem Tagebuch wusste ich, um was es sich handelte und was auch richtig in der Abendhypnose wieder durchgemacht wurde. Ich hatte Patientin im Jahre 1881 an diesem Abend sehr geärgert. Oder sie sagte, es sei was mit ihren Augen los, sie sehe die Farben falsch; sie wisse, dass ihr Kleid braun sei, und doch sehe sie es blau. Es zeigte sich alsbald, dass sie alle Farben der Prüfungspapiere richtig und scharf unterschied, und dass die Störung nur an dem Stoff ihres Kleides hafte. Der Grund war, dass sie sich 1881 in diesen Tagen sehr mit einem Schlafrock für den Vater beschäftigt hatte, an dem derselbe Stoff, aber blau, verwendet war. Auch war dabei oft ein Vorwirken dieser auftauchenden Erinnerungen deutlich, indem die Störung des normalen Zustandes schon früher eintrat, während die Erinnerung erst allmählich für die condition seconde erwachte.

War die Abendhypnose schon hiedurch reichlich belastet, da nicht bloss die Phantasmen frischer Production, sondern auch die Erlebnisse und die „vexations“ von 1881 abgesprochen werden mussten, (die Phantasmen von 1881 hatte ich glücklicherweise schon damals abgenommen), so nahm die von Patientin und Arzt zu leistende Arbeitsumme noch enorm zu durch eine dritte Reihe von Einzelstörungen, die ebenfalls auf diese Weise erledigt werden mussten, die psychischen Ereignisse der Krankheitsincubation von Juli bis December 1880, welche die gesammten hysterischen Phänomene erzeugt hatten und mit deren Aussprache die Symptome verschwanden.

Als das erstemal durch ein zufälliges, unprovocirtes Aussprechen in der Abendhypnose eine Störung verschwand, die schon länger bestanden hatte, war ich sehr überrascht. Es war im Sommer eine Zeit intensiver Hitze gewesen, und Patientin hatte sehr arg durch Durst gelitten; denn, ohne einen Grund angeben zu können, war ihr plötzlich unmöglich geworden, zu trinken. Sie nahm das ersehnte Glas Wasser in die Hand, aber so wie es die Lippen berührte, stiess sie es weg wie ein Hydrophobischer.[20] Dabei war sie offenbar für diese paar Secunden in einer Absence. Sie lebte nur von Obst, Melonen und dgl., um den qualvollen Durst zu mildern. Als das etwa 6 Wochen gedauert hatte, raisonnirte sie einmal in der Hypnose über ihre englische Gesellschafterin, die sie nicht liebte, und erzählte dann mit allen Zeichen des Abscheus, wie sie auf deren Zimmer gekommen sei, und da deren kleiner Hund, das ekelhafte Thier, aus einem Glas getrunken habe. Sie habe nichts gesagt, denn sie wolle höflich sein. Nachdem sie ihrem stecken gebliebenen Aerger noch energisch Ausdruck gegeben, verlangte sie zu trinken, trank ohne Hemmung eine grosse Menge Wasser und erwachte aus der Hypnose mit dem Glas an den Lippen. Die Störung war damit für immer verschwunden. Ebenso schwanden sonderbare hartnäckige Marotten, nachdem das Erlebniss erzählt, war, welches dazu den Anlass gegeben hatte. Ein grosser Schritt war aber geschehen, als auf dieselbe Weise als erstes der Dauersymptome die Contractur des rechten Beines geschwunden war, die allerdings schon vorher sehr abgenommen hatte. Aus diesen Erfahrungen, dass die hysterischen Phänomene bei dieser Kranken verschwanden, sobald in der Hypnose das Ereigniss reproducirt war, welches das Symptom veranlasst hatte, – daraus entwickelte sich eine therapeutische technische Procedur, die an logischer Consequenz und systematischer Durchführung nichts zu wünschen liess. Jedes einzelne Symptom dieses verwickelten Krankheitsbildes wurde für sich vorgenommen; die sämmtlichen Anlässe, bei denen es aufgetreten war, in umgekehrter Reihenfolge erzählt, beginnend mit den Tagen, bevor Patientin bettlägerig geworden, nach rückwärts bis zu der Veranlassung des erstmaligen Auftretens. War dieses erzählt, so war das Symptom damit für immer behoben.

So wurden die Contracturparesen und Anästhesien, die verschiedensten Seh- und Hörstörungen, Neuralgien, Husten, Zittern und dgl. und schliesslich auch die Sprachstörungen „wegerzählt“. Als Sehstörungen wurden z. B. einzeln erledigt: der Strabismus conv. mit Doppeltsehen; Ablenkung beider Augen nach rechts, so dass die zugreifende Hand immer links neben das Object greift; Gesichtsfeldeinschränkung; centrale Amblyopie;[21] Makropsie;[22] Sehen eines Todtenkopfs an Stelle des Vaters; Unfähigkeit zu lesen. Dieser Analyse entzogen blieben nur einzelne Phänomene, die sich während des Krankenlagers entwickelt hatten, wie die Ausbreitung der Contracturparese auf die linke Seite, und die wahrscheinlich auch wirklich keine directe psychische Veranlassung hatten.

Es erwies sich als ganz unthunlich, die Sache abzukürzen, indem man direct die erste Veranlassung der Symptome in ihre Erinnerung zu evociren suchte. Sie fand sie nicht, wurde verwirrt, und es ging noch langsamer, als wenn man sie ruhig und sicher den aufgenommenen Erinnerungsfaden nach rückwärts abhaspeln liess. Da das aber in der Abendhypnose zu langsam gieng, weil die Kranke von der „Aussprache“ der zwei andern Serien angestrengt und zerstreut war, auch wohl die Erinnerungen Zeit brauchten, um in voller Lebhaftigkeit sich zu entwickeln, so bildete sich die folgende Procedur heraus. Ich suchte sie am Morgen auf, hypnotisirte sie (es waren sehr einfache Hypnoseproceduren empirisch gefunden worden) und fragte sie nun unter Concentration ihrer Gedanken auf das eben behandelte Symptom um die Gelegenheiten, bei denen es aufgetreten war. Patientin bezeichnete nun in rascher Folge mit kurzen Schlagworten diese äusseren Veranlassungen, die ich notirte. In der Abendhypnose erzählte sie dann, unterstützt durch die notirte Reihenfolge, ziemlich ausführlich die Begebenheiten. Mit welcher, in jedem Sinn, erschöpfenden Gründlichkeit das geschah, mag ein Beispiel zeigen. Es war immer vorgekommen, dass Patientin nicht hörte, wenn man sie ansprach. Dieses vorübergehende Nichthören differenzirte sich in folgender Weise:

  1. a. Nicht hören, dass jemand eintrat, in Zerstreutheit. 108 einzeln detaillirte Fälle davon; Angabe der Personen und Umstände, oft des Datums; als erster, dass sie ihren Vater nicht eintreten gehört.
  2. b. Nicht verstehen, wenn mehrere Personen sprechen, 27mal, das erstemal wieder der Vater und ein Bekannter.
  3. c. Nicht hören, wenn allein, direct angesprochen 50mal, Ursprung, dass der Vater vergebens sie um Wein angesprochen.
  4. d. Taubwerden durch Schütteln (im Wagen oder dgl.) 15mal; Ursprung, dass ihr junger Bruder sie im Streit geschüttelt, als er sie Nachts an der Thür des Krankenzimmers lauschend ertappte.
  5. e. Taubwerden vor Schreck über ein Geräusch, 37mal; Ursprung ein Erstickungsanfall des Vaters durch Verschlucken.
  6. f. Taubwerden in tiefer Absence, 12mal.
  7. g. Taubwerden durch langes Horchen und Lauschen, so dass sie dann angesprochen nicht hörte, 54mal.

Natürlich sind all diese Vorgänge grossentheils identisch, indem sie sich auf die Zerstreutheit – Absence oder auf Schreckaffect zurückführen lassen. Sie waren aber in der Erinnerung der Kranken so deutlich getrennt, dass, wenn sie sich einmal in der Reihenfolge irrte, die richtige Ordnung corrigirend hergestellt werden musste, sonst stockte das Referat. Die erzählten Begebenheiten liessen in ihrer Interesse- und Bedeutungslosigkeit und bei der Präcision der Erzählung den Verdacht nicht aufkommen, sie seien erfunden. Viele dieser Vorfälle, als rein innere Erlebnisse, entzogen sich der Controle. An andere oder die begleitenden Umstände erinnerte sich die Umgebung der Kranken.

Es geschah auch hier, was regelmässig zu beobachten war, während ein Symptom „abgesprochen“ wurde: dieses trat mit erhöhter Intensität auf, während es erzählt wurde. So war Patientin während der Analyse des Nichthörens so taub, dass ich theilweise schriftlich mich mit ihr verständigen musste. Regelmässig war der erste Anlass irgend ein Schrecken, den sie bei der Pflege der Vaters erlebt, ein Uebersehen ihrerseits oder dgl.

Nicht immer ging das Erinnern leicht von statten, und manchmal musste die Kranke gewaltige Anstrengungen machen. So stockte einmal der ganze Fortgang eine zeitlang, weil eine Erinnerung nicht auftauchen wollte; es handelte sich um eine der Kranken sehr schreckliche Hallucination, sie hatte ihren Vater, den sie pflegte, mit einem Todtenkopfe gesehen. Sie und ihre Umgebung erinnerten, dass sie einmal, noch in scheinbarer Gesundheit, einen Besuch bei einer Verwandten gemacht, die Thür geöffnet habe und sogleich bewusstlos niedergefallen sei. Um nun das Hinderniss zu überwinden, ging sie jetzt wieder dorthin und stürzte wieder beim Eintritt ins Zimmer bewusstlos zu Boden. In der Abendhypnose war dann das Hinderniss überwunden; sie hatte beim Eintritt in dem der Thür gegenüberstehenden Spiegel ihr bleiches Gesicht erblickt, aber nicht sich, sondern ihren Vater mit einem Todtenkopf gesehen. – Wir haben oft beobachtet, dass die Furcht vor einer Erinnerung, wie es hier geschehen, ihr Auftauchen hemmt, und dieses durch Patientin oder Arzt erzwungen werden muss.

Wie stark die innere Logik der Zustände war, zeigte unter anderem folgendes. Patientin war, wie bemerkt, in dieser Zeit Nachts immer in ihrer „condition seconde“, also im Jahre 1881. Einmal erwachte sie in der Nacht, behauptete, sie sei wieder von Hause weggebracht worden, kam in einen schlimmen Aufregungszustand, der das ganze Haus alarmirte. Der Grund war einfach. Am vorhergehenden Abend war durch „talking cure“ ihre Sehstörung geschwunden und zwar auch für die condition seconde. Als sie nun Nachts erwachte, fand sie sich in einem ihr unbekannten Zimmer, denn die Familie hatte seit Frühjahr 1881 die Wohnung gewechselt. Diese recht unangenehmen Zufälle wurden verhindert, da ich ihr (auf ihre Bitte) Abends immer die Augen schloss mit der Suggestion, sie könne sie nicht öffnen, bis ich selbst es am Morgen thun würde. Nur einmal wiederholte sich der Lärm, als Patientin im Traum geweint und erwachend die Augen geöffnet hatte.

Da sich diese mühevolle Analyse der Symptome auf die Sommermonate 1880 bezog, während welcher sich die Erkrankung vorbereitete, gewann ich einen vollen Einblick in die Incubation und Pathogenese dieser Hysterie, die ich nun kurz darlegen will.

Juli 1880 war der Vater der Kranken auf dem Lande an einem subpleuralen Abcess schwer erkrankt; Anna theilte sich mit der Mutter in die Pflege. Einmal wachte sie Nachts in grosser Angst um den hochfiebernden Kranken und in Spannung, weil von Wien ein Chirurg zur Operation erwartet wurde. Die Mutter hatte sich für einige Zeit entfernt, und Anna sass am Krankenbette, den rechten Arm über die Stuhllehne gelegt. Sie gerieth in einen Zustand von Wachträumen und sah, wie von der Wand her eine schwarze Schlange sich dem Kranken näherte, um ihn zu beissen. (Es ist sehr wahrscheinlich, dass auf der Wiese hinter dem Hause wirklich einige Schlangen vorkamen, über die das Mädchen früher schon erschrocken war, und die nun das Material der Hallucination abgaben.) Sie wollte das Thier abwehren, war aber wie gelähmt; der rechte Arm, über der Stuhllehne hängend, war „eingeschlafen“, anästhetisch und paretisch geworden, und als sie ihn betrachtete, verwandelten sich die Finger in kleine Schlangen mit Todtenköpfen (Nägel). Wahrscheinlich machte sie Versuche, die Schlange mit dem gelähmten rechten Arm zu verjagen, und dadurch trat die Anästhesie und Lähmung derselben in Association mit der Schlangenhallucination. – Als diese geschwunden war, wollte sie in ihrer Angst beten, aber jede Sprache versagte, sie konnte in keiner sprechen, bis sie endlich einen englischen Kindervers fand und nun auch in dieser Sprache fortdenken und beten konnte.

Der Pfiff der Locomotive, die den erwarteten Arzt brachte, unterbrach den Spuk. Aber als sie andern Tags einen Reifen aus dem Gebüsch nehmen wollte, in das er beim Spiel geworfen worden war, rief ein gebogener Zweig die Schlangenhallucination wieder hervor, und zugleich damit wurde der rechte Arm steif gestreckt. Diess wiederholte sich nun immer, so oft ein mehr oder weniger schlangenähnliches Object die Hallucination provocirte. Diese aber wie die Contractur traten nur in den kurzen Absencen auf, die von jener Nacht an immer häufiger wurden. (Stabil wurde die Contractur erst im December, als Patientin, vollständig niedergebrochen, das Bett nicht mehr verlassen konnte.) Bei einem Anlass, den ich nicht notirt finde und nicht erinnere, trat zur Contractur des Armes die des rechten Beines.

Nun war die Neigung zu autohypnotischen Absencen geschaffen. An dem auf jene Nacht folgenden Tage versank sie im Warten auf den Chirurgen in solche Abwesenheit, dass er schliesslich im Zimmer stand, ohne dass sie ihn kommen gehört hätte. Das constante Angstgefühl hinderte sie am Essen und producirte allmählich intensiven Ekel. Sonst aber entstanden alle einzelnen hysterischen Symptome im Affect. Es ist nicht ganz klar, ob dabei immer eine vollkommene momentane Absence eintrat, es ist aber wahrscheinlich, weil Patientin im Wachen von dem ganzen Zusammenhang nichts wusste.

Manche Symptome aber scheinen nicht in der Absence, sondern nur im Affecte im wachen Zustande aufgetreten zu sein, wiederholten sich aber dann ebenso. So wurden die Sehstörungen sämmtlich auf einzelne, mehr minder klar determinirende Anlässe zurückgeführt, z. B. in der Art, dass Patientin, mit Thränen im Auge, am Krankenbett sitzend, plötzlich vom Vater gefragt wurde, wie viel Uhr es sei, undeutlich sah, sich anstrengte, die Uhr nahe ans Auge brachte und nun das Zifferblatt sehr gross erschien (Makropsie und Strabismus conv.); oder Anstrengungen machte, die Thränen zu unterdrücken, damit sie der Kranke nicht sehe.

Ein Streit, in dem sie ihre Antwort unterdrückte, verursachte einen Glottiskrampf, der sich bei jeder ähnlichen Veranlassung wiederholte.

Die Sprache versagte a) aus Angst, seit der ersten nächtlichen Hallucination, b) seit sie einmal wieder eine Aeusserung unterdrückte (active Hemmung), c) seit sie einmal ungerecht gescholten worden war, d) bei allen analogen Gelegenheiten (Kränkung). Husten trat das erstemal ein, als während der Krankenwache aus einem benachbarten Hause Tanzmusik herübertönte und der aufsteigende Wunsch, dort zu sein, ihr Selbstvorwürfe erweckte. Seitdem reagirte sie ihre ganze Krankheitszeit hindurch auf jede stark rhythmirte Musik mit einer Tussis nervosa.

Ich bedauere nicht allzusehr, dass die Unvollständigkeit meiner Notizen es unmöglich macht, hier sämmtliche Hysterica auf ihre Veranlassungen zurückzuführen. Patientin that es bei allen, mit der oben erwähnten Ausnahme, und jedes Symptom war, wie geschildert, nach der Erzählung des ersten Anlasses verschwunden.

Auf diese Weise schloss auch die ganze Hysterie ab. Die Kranke hatte sich selbst den festen Vorsatz gebildet, am Jahrestag ihrer Transferirung auf das Land müsse sie mit allem fertig sein. Sie betrieb darum Anfangs Juni die „talking cure“ mit grosser, aufregender Energie. Am letzten Tage reproducirte sie mit der Nachhilfe, dass sie das Zimmer so arrangirte, wie das Krankenzimmer ihres Vaters gewesen war, die oben erzählte Angsthallucination, welche die Wurzel der ganzen Erkrankung gewesen war, und in der sie nur englisch hatte denken und beten können; sprach unmittelbar darauf deutsch und war nun frei von all den unzähligen einzelnen Störungen, die sie früher dargeboten hatte. Dann verliess sie Wien für eine Reise, brauchte aber doch noch längere Zeit, bis sie ganz ihr psychisches Gleichgewicht gefunden hatte. Seitdem erfreut sie sich vollständiger Gesundheit.


So viel nicht uninteressanter Einzelheiten ich auch unterdrückt habe, ist doch die Krankengeschichte der Anna O . . umfangreicher geworden, als eine an sich nicht ungewöhnliche hysterische Erkrankung zu verdienen scheint. Aber die Darstellung des Falles war unmöglich ohne Eingehen ins Detail, und die Eigenthümlichkeiten desselben scheinen mir von einer Wichtigkeit, welche das ausführliche Referat entschuldigen dürfte. Auch die Echinodermeneier[23] sind für die Embryologie nicht deshalb so wichtig, weil etwa der Seeigel ein besonders interessantes Thier wäre, sondern weil ihr Protoplasma[24] durchsichtig ist, und man aus dem, was man an ihnen sehen kann, auf das schliesst, was an den Eiern mit trübem Plasma auch vorgehen dürfte.

In der weitgehenden Durchsichtigkeit und Erklärbarkeit seiner Pathogenese scheint mir vor allem das Interesse dieses Falles zu liegen.

Als disponirend zur hysterischen Erkrankung finden wir bei dem noch völlig gesunden Mädchen zwei psychische Eigenthümlichkeiten:

1. den in monotonem Familienleben und ohne entsprechende geistige Arbeit unverwendeten Ueberschuss von psychischer Regsamkeit und Energie, der sich in fortwährendem Arbeiten der Phantasie entladet und

2. das habituelle Wachträumen („Privattheater“) erzeugt, womit der Grund gelegt wird zur Dissociation der geistigen Persönlichkeit. Immerhin bleibt auch diese noch in den Grenzen des Normalen; Träumerei, wie Meditation während einen mehr minder mechanischen Beschäftigung bedingt an sich noch keine pathologische Spaltung des Bewusstseins, weil jede Störung darin, jeder Anruf z. B., die normale Einheit desselben wieder herstellt und wohl auch keine Amnesie besteht. Doch wurde dadurch bei Anna O . . der Boden geschaffen, auf dem in der geschilderten Weise der Angst- und Erwartungsaffect sich festsetzte, nachdem er einmal die habituelle Träumerei in eine hallucinatorische Absence ungeschaffen hatte. Es ist merkwürdig, wie vollkommen in dieser ersten Manifestation der beginnenden Erkrankung schon die Hauptzüge auftreten, welche dann durch fast 2 Jahre constant bleiben: die Existenz eines 2. Bewusstseinszustandes, der sich, zuerst als vorübergehende Absence auftretend, später zur double conscience organisirt; die Sprachhemmung, bedingt durch den Angstaffect, mit der zufälligen Entladung durch einen englischen Kindervers; später Paraphasie und Verlust der Muttersprache, die durch vortreffliches Englisch ersetzt wird; endlich die zufällige Drucklähmung des rechten Armes, welche sich später zur rechtseitigen Contracturparese und Anästhesie entwickelt. Der Entstehungsmechanismus dieser letztern Affection entspricht vollständig der Charcot’schen Theorie von der traumatischen Hysterie: hypnotischer Zustand, in welchem ein leichtes Trauma erfolgt.

Aber während bei den Kranken, an welchen Charcot die hysterische Lähmung experimentell erzeugte, diese alsbald stabilisirt bleibt, und bei den durch ein schweres Schreck-Trauma erschütterten Trägern traumatischer Neurosen sich bald einstellt, leistete das Nervensystem unseres jungen Mädchens noch durch 4 Monate erfolgreichen Widerstand. Die Contractur, wie die andern, allmählich sich dazu gesellenden Störungen traten nur in den momentanen Absencen, in der „condition seconde“ ein und liessen Patientin während des normalen Zustandes im Vollbesitze ihres Körpers und ihrer Sinne, so dass weder sie selbst etwas davon wusste, noch die Umgebung etwas sah, deren Aufmerksamkeit allerdings auf den schwer kranken Vater concentrirt und dadurch abgelenkt war.

Indem aber seit jener ersten hallucinatorischen Autohypnose sich die Absencen mit völliger Amnesie und begleitenden hysterischen Phänomenen häuften, vermehrten sich die Gelegenheiten zur Bildung neuer solcher Symptome und befestigten sich die schon gebildeten in häufiger Wiederholung. Dazu kam, dass allmählich jeder peinliche, plötzliche Affect ebenso so wirkte wie die Absence (wenn er nicht doch vielleicht immer momentane Absence erzeugte); zufällige Coïncidenzen bildeten pathologische Associationen, Sinnes- oder motorische Störungen, die von da an mit dem Affect zugleich wieder auftraten. Aber noch immer nur momentan, vorübergehend; bevor Patientin bettlägerig wurde, hatte sie bereits die ganze grosse Sammlung hysterischer Phänomene entwickelt, ohne dass jemand davon wusste. Erst da die Kranke, auf’s äusserste geschwächt durch die Inanition, die Schlaflosigkeit und den fortdauernden Angstaffect, völlig niedergebrochen war, als sie mehr Zeit in der „condition seconde“ sich befand, als in normalem Zustande, griffen die hysterischen Phänomene auch in diesen hinüber und verwandelten sich aus anfallsweise auftretenden Erscheinungen in Dauersymptome.