Katharina Grätz
Alles kommt auf die Beleuchtung an
Theodor Fontane – Leben und Werk
Reclam
Alle Rechte vorbehalten
© 2015 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Reihengestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Umschlagabbildungen: Ausschnitt aus «Abendstimmung am Schlachtensee»
(um 1900) von Walter Leistikow (1865–1908) | Porträt Fontanes von Carl Breitbach (1833–1904)
Satz: Reclam, Ditzingen. Printed in Germany 2015
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2013
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960715-3
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020387-3
www.reclam.de
Einleitung
1 Leben
Apotheker, Dichter und Barrikadenkämpfer
Ehe und Familie
Der Journalist
Der Reise- und Kriegsschriftsteller
Der Theaterkritiker
Freier Schriftsteller
Die letzte Lebensphase
2 Fontanes realistische Romanpoetik
Poetologische Überlegungen
Gesellschaftsdarstellung
Figurenkonzeption
Raumgestaltung
Zeitgestaltung
Erzähltechnik und Perspektivismus
Dialog
Zitate und Anspielungen
3 Historische Romane
Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13
Schach von Wuthenow
4 Kriminalerzählungen, Mordgeschichten
Grete Minde
Ellernklipp
Unterm Birnbaum
Quitt
5 Eheromane
L’Adultera
Graf Petöfy
Cécile
Unwiederbringlich
Effi Briest
6 Standesromane
Irrungen, Wirrungen
Stine
Mathilde Möhring
7 Zeitromane
Frau Jenny Treibel oder »Wo sich Herz zum Herzen find’t«
Die Poggenpuhls
Der Stechlin
8 Lyrik und Balladen
Anmerkungen
Literaturhinweise
Abbildungsnachweis
Personenregister
Hinweise zur E-Book-Ausgabe
Theodor Fontanes Leben (1819–1898) umspannt fast das ganze 19. Jahrhundert, es umfasst Revolution und Restauration, Gründerzeit und Wilhelminismus. Wie kein anderer deutschsprachiger Schriftsteller war er Chronist des sogenannten bürgerlichen Zeitalters, das er facettenreich aus der Nahperspektive schildert. Seine Zeit- und Gesellschaftsromane wirken wie sozial- und mentalitätsgeschichtliche Studien; sie vermitteln Einblicke in die gehobene preußische Gesellschaft, in adliges Selbstverständnis und bürgerliche Ideologie. Indem sie drängende gesellschaftliche und kulturelle Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten, entwerfen sie vielstimmige Zeitbilder, denen die Widersprüche der Epoche in ihrem Schwanken zwischen Fortschrittseuphorie und der Ausrichtung auf Tradition eingezeichnet sind.
Prägend für den Romanautor Fontane war die Schule des journalistischen Schreibens. Als er mit der literarischen Tätigkeit begann, lag eine 25jährige Phase nahezu ausschließlich journalistischer Arbeit hinter ihm. Der Journalismus machte ihn mit aktuellen politischen und sozialen Themen vertraut, durch ihn lernte er zupackend und leserorientiert zu schreiben. Das unterscheidet ihn von den anderen bekannten Autoren des poetischen Realismus und dürfte dazu beigetragen haben, dass er aus der am Individuum und seiner Geschichte orientierten deutschen Erzähltradition ausscherte und im produktiven Anschluss an den modernen europäischen Gesellschaftsroman, wie er sich in Frankreich (Balzac, Flaubert) und England (Dickens, Thackeray) ausgebildet hatte, eine spezifisch eigene Romanform entwickelte.
Doch nicht die Zeit- und Gesellschaftsromane, die erst in der letzten Lebensphase entstanden, machten Fontane als Schriftsteller bekannt, sondern seine feuilletonistischen Streifzüge durch die märkische Provinz, die Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Zu seinem Leidwesen ist er für viele Zeitgenossen eine Art Heimatschriftsteller geblieben. Dabei haftet ihm von allen deutschen Realisten am wenigsten Provinzielles an; Weltoffenheit und Mobilität zeichnen sein Leben aus. Fast ebenso sehr wie das Schreiben gehörte auch das Reisen zu seinen Passionen, und beides blieb sein ganzes Leben über eng miteinander verknüpft. Das gilt nicht nur für die Reisen, die er als Journalist und Kriegsberichterstatter unternahm, sondern auch für die zahlreichen Ausflüge und Erholungsreisen, die Aufenthalte in Sommerfrischen und Kurorten, die den Rhythmus seines Lebens und Arbeitens bis zuletzt bestimmten. Ferienzeit war für Fontane keine Ruhezeit, sondern bedeutete Muße für die eigentliche, die literarische Tätigkeit, die ihm nach eigenem Bekunden bei solchen Erholungsaufenthalten besonders leicht von der Hand ging.
Zur prägenden Erfahrung wurden die etwa fünf Jahre, die er als Journalist zwischen 1852 und 1859 in London verbrachte. Mit London lernte er nicht nur eine pulsierende moderne Metropole kennen, sondern auch eine neue, durch den urbanen Lebensraum bestimmte realistische Literatur, wie es sie in Deutschland zu dieser Zeit einfach noch nicht gab. Stärker als alle anderen Autoren des deutschsprachigen Realismus gewann Fontane in der Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen europäischen Literatur, mit Blick auf England, Russland und Frankreich sein künstlerisches Profil. Neben Dickens und Thackeray galt sein Interesse Iwan Turgenjew und vor allem Émile Zola, der ihn faszinierte und zugleich abstieß und der für seine künstlerische Standortbestimmung besonders wichtig wurde.
Doch auch wenn der deutschsprachige Realismus durch Fontane eine europäische Komponente erhielt, war er doch in erster Linie ›Berliner Autor‹. Berlin bildete den Dreh- und Angelpunkt seiner Existenz, mehr als zwei Drittel seiner Lebenszeit, insgesamt etwa 55 Jahre, verbrachte er in der expandierenden deutschen Hauptstadt. Nach eigenem Bekunden war es ihm wichtig »an einem großen Mittelpunkte zu leben, in einem Centrum wo entscheidende Dinge geschehn«1. In Berlin zeichneten sich die sozialen und politischen Umbrüche der Zeit, die Folgen von Urbanisierung und Industrialisierung, so deutlich ab wie nirgendwo sonst in Deutschland. Berlin war aber nicht nur sozialer Brennpunkt, an dem gesellschaftliche Konflikte, Arbeiterproblematik und Frauenfrage ins öffentliche Bewusstsein traten, Berlin war zugleich die deutsche Kulturhauptstadt. Hier ereignete sich das kulturelle Leben in Form von Ausstellungen, Theateraufführungen, literarischen Zirkeln, und hier vollzog sich in den 1880er Jahren mit der naturalistischen Kunstrevolution der Aufbruch in die ästhetische Moderne. Als Theaterkritiker hat Fontane die künstlerischen Entwicklungen genau verfolgt, er war selbst Teil des kulturellen Lebens, selbst eine kulturelle Institution. Das eigene literarische Werk verdankt sich nicht zuletzt den vielfältigen Impulsen dieses kulturellen Umfelds.
Die Vorliebe für Berlin als literarischen Handlungsort unterstreicht Fontanes Sonderrolle unter den Autoren des deutschsprachigen Realismus. Denn während die englischen Autoren schon längst die moderne Metropole London für die Literatur entdeckt hatten, bildeten im deutschen Realismus Kleinstädte und ländliche Gegenden die bevorzugten Schauplätze. Bei Fontane ist das anders: Berlin-Romane werden zu seinem Markenzeichen. Sie fangen das gesellschaftliche und kulturelle Leben in der Hauptstadt des 1871 gegründeten Deutschen Reichs in vieler Hinsicht detailgenau ein, etwa indem sie das Geschehen durch Nennung von Straßenzügen, Plätzen und Gebäuden topographisch exakt verorten, auf aktuelle kulturelle Ereignisse (Ausstellungen, Theateraufführungen) Bezug nehmen und Gesellschaftsskandale verarbeiten. Doch Fontanes Berlin, auch wenn es noch so realitätsgesättigt erscheint, ist trotz allem ein literarisches Konstrukt. Die Auswirkungen der Industrialisierung und des damit einhergehenden sozioökonomischen Wandels finden nur am Rande Erwähnung, kaum thematisiert werden die tief- greifenden sozialen Spannungen und die existenziell ungesicherte Situation der Industriearbeiter, deren Lage sich durch die wirtschaftlichen Probleme seit der Gründerkrise 1873 noch verschärft hatte.
Doch auch wenn Fontanes literarische Berlin-Entwürfe blinde Flecken aufweisen, so harmonisieren sie gesellschaftliche Konflikte nicht und blenden die Bedingungen moderner Lebensrealität nicht aus. Vielmehr gewähren sie Einblick in die von Verunsicherung und existenziellen Ängsten geprägten bürgerlichen und kleinbürgerlichen Mentalitäten, und vor allem durchleuchten sie kritisch die Führungsschichten des preußischen Staats, insbesondere das marode Offizierswesen und die gänzlich auf das Materielle fixierte Bourgeoisie. Auch wissenschaftliche und technische Entwicklungen treten ins Blickfeld; neue Kommunikationstechnologien und Verkehrsmittel bilden wesentliche Bausteine von Fontanes fiktionalen Welten. Man fährt mit Eisenbahn und Dampfer, kommuniziert per Rohrpost und Telegramm.
Nicht bloß die Erzählwelten Fontanes sind durch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gekennzeichnet, Analoges lässt sich von seiner Romankonzeption sagen; auch sie trägt rückwärtsgewandte und vorausweisende Züge und wurde in der Forschung entsprechend ambivalent bewertet: sei es als verspäteter Nachklang der realistischen europäischen Erzähltraditionen, sei es als Aufbruch zu einer neuen literarischen Form. Dabei ist es wohl gerade diese Zwischenstellung, die das Spezifische seines Romanwerks ausmacht. Es bildet einen Höhepunkt des deutschsprachigen Realismus und ist dabei doch durchlässig für Einflüsse der zeitgleichen Literaturströmungen des Naturalismus, Impressionismus und der Décadence. Nicht nur lassen sich vielfältige thematische und motivische Verknüpfungen aufspüren, auch die Tendenz zur Auflösung der traditionellen Romanform verbindet die Texte mit der literarischen Moderne. Insbesondere die späten Romane Der Stechlin und Die Poggenpuhls brechen mit den Konventionen des realistischen Erzählens. In ihrer betonten Handlungsarmut, der Dialogizität und Polyperspektivität verweigern sie sich verbindlicher Weltdeutung und erscheinen gerade darin einer modernen, pluralistischen und fragmentarisierten Realität angemessen.
So entschieden Fontane sich bisweilen zu den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen seiner Zeit äußerte, so schwer ist er auf eine bestimmte Haltung festzulegen. Schillernd in seiner politischen Einstellung, aber keineswegs den ideologischen Kämpfen der Epoche enthoben, vollführte er im Lauf seines Lebens mehrfache Kehrtwenden. Er mutierte vom Barrikadenkämpfer von 1848 zum konservativen »Kreuzzeitungsmann«, schwankte in seinem Verhältnis zu Bismarck, dessen Vorgehen im Kulturkampf er kritisierte, begrüßte zunächst hoffnungsvoll den Anbruch der Ära Wilhelms II., um bald darauf enttäuscht festzustellen, dass dieser »mit dem Alten« breche, um das Uralte wiederherzustellen2. Fontane war in die Konflikte seiner Zeit involviert. Irritierend sind die antisemitischen Vorurteile, auf die man in Briefen und Tagebuchaufzeichnungen immer wieder stößt. Trotzdem hält sich noch immer hartnäckig das Bild des abgeklärten, souverän ›darüberstehenden‹ Beobachters seiner Zeit. Dieses Bild führt auch deshalb in die Irre, weil es vergessen lässt, wie hart er sich den schriftstellerischen Erfolg erkämpfen musste.
Fontanes Leben war über lange Phasen hinweg bestimmt vom Ringen um eine gesicherte berufliche Existenz. So gewährt seine Biographie nicht zuletzt Einblick in die Schwierigkeiten, die ein Leben als freier Schriftsteller im 19. Jahrhundert mit sich brachte. Bis zum Ende plagte ihn das Gefühl, als Dichter verkannt zu sein. Er sah sich als »Tintensklave«3, der für das journalistische Tagesgeschäft schrieb, um sich durch Produktion der ›Ware Text‹ über Wasser zu halten. Statt von künstlerischer Tätigkeit sprach er von seinem »mehr oder minder mechanischen Erwerb«, der ebenso eintönig ausfalle wie »das Aktenschreiben des Juristen« oder »das Rezeptemachen des Apothekers«4.
Trotzdem muss das Schreiben für ihn geradezu ein existenzielles Grundbedürfnis gewesen sein. Schreibpausen gestattete er sich nur bei Krankheit. So hat er, obwohl er skrupulös an seinen Texten zu feilen pflegte, ein umfangreiches Werk, einen ganzen Kosmos von Texten hinterlassen. Sie sind aus unterschiedlicher Motivation und mit unterschiedlichem Anspruch verfasst worden und gehören vielfältigen Genres und Textsorten an: Neben den Gesellschafts- und Eheromanen, denen Fontane heute seine Popularität verdankt, schrieb er Gedichte und Balladen, Reiseskizzen und Kriegsberichte, Kritiken und Rezensionen, er verfasste autobiographische Schriften, führte Tagebuch und war ein passionierter Briefschreiber, der eine Korrespondenz von mehr als zehntausend Briefen hinterließ.
Diese vielfältige schriftstellerische Produktivität verdankte sich ständiger Anspannung und einem innerlich aufreibenden Dasein. Nervöse Reizzustände machten Fontane immer wieder zu schaffen. Er repräsentiert damit einen modernen, urbanen Autorentyp, der unter Bedingung eines ›gesteigerten Nervenlebens‹ schrieb. Gegenüber seiner Frau betonte er die Strapazen des Schriftstellerdaseins; nicht vom langweiligen »Aktenschreiben des Juristen« ist da die Rede, sondern von einem »Hetzleben«. Er malt aus:
»daß, wie es Frauen giebt die sich beständig fragen: was kochst Du heute? unsereins die Fieber-erzeugende Frage nicht los wird: was arbeitest Du heute? Der innerliche Mensch ist immer in einer Art Aufregung und Aktion, immer in der Angst: wie wird das werden? welches Buch brauchst Du? an wen mußt Du noch schreiben? wer weiß etwas davon? wie componirst Du dies, wie gruppirst Du das etc. etc. Dies ist die Aufregung bei der Arbeit; aber diese Aufregung ist lange nicht das schlimmste; das schlimmste ist die Sorge: wird es auch nicht dummes Zeug sein! oder das bestimmte Gefühl ›so geht es nicht, das ist albern, das ist verbraucht‹ und in Folge davon die Nothwendigkeit, oft schon mit angegriffenen Nerven, etwas andres, neues, an die Stelle des alten zu setzen.«5