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für Gabriele
aus dem 6. Stock
Übersetzung aus dem Englischen
von Rudolf Katzer
ISBN 978-3-492-96940-6
April 2015
© Arthur Escroyne, 2015
Deutschsprachige Ausgabe:
© Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015
Covergestaltung und -illustration: Mediabureau Di Stefano, Berlin, unter Verwendung von Abbildungen von www.bridgemanart.com, Neil Fletcher und Luis Pedrosa/Getty Images
Datenkonvertierung: Uhl + Massopust, Aalen
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Ich will
Willst du, Rosemary Amanda Hortense Daybell, den hier anwesenden Philipp Arthur Escroyne, Earl of Sutherly, Count of Dermond, Ritter von Kent, zu deinem rechtmäßig angetrauten Ehemann nehmen, ihn lieben und ehren in guten wie in schlechten Tagen, bis dass der Tod euch scheidet?«
Für mich ist die größte Überraschung dieser Hochzeit, dass meine Braut mit drittem Vornamen Hortense heißt. Alles andere folgt im Grunde einem jahrhundertealten Zeremoniell. Selbst der kurzfristig anberaumte Hochzeitstermin ist plausibel, da Rosy und ich der Meinung waren, dass es bequemer für sie sei, in ein Brautkleid zu schlüpfen, solange ihr Bäuchlein noch nicht die Form eines Basketballs angenommen hat.
Rosemary ist im fünften Monat schwanger. Unsere Schneiderin musste einige Tricks anwenden, um bei dem Kleid die gewünschte Wirkung zu erzielen. Dabei kam ihr zu Hilfe, dass Rosy auch vor ihrer Schwangerschaft schon süß und rundlich war, und daran hat sich auch während der Schwangerschaft nicht viel geändert.
Der Erzbischof vollendet die altbekannte Formel mit den Worten: »So antworte mit: Ja.«
Es überrascht auch keineswegs, dass der geistliche Führer der anglikanischen Kirche selbst den Weg in die Grafschaft Gloucestershire angetreten hat, um das Hochamt zu zelebrieren, denn ein Earl of Sutherly vermählt sich nicht alle Tage. Wenn sich der Letzte aus dem Geschlecht der Escroynes, Peer der englischen Krone, Stammherr von Sutherly Castle und Spross einer 900 Jahre alten Familie, für sein restliches Leben bindet, ist das Grund genug für den Erzbischof von Canterbury, in die Kathedrale von Gloucester zu reisen.
»Ja«, sagt Rosemary mit glasklarer Stimme. Sie säuselt nicht, sie wispert nicht. Als Chefin der Mordkommission ist sie es gewohnt, unmissverständliche Ansagen zu machen. So hält sie es auch beim Heiraten. »Ja«, sagt sie mit dem Brustton der Überzeugung und wirft mir dabei einen Blick zu, der mir mitten durchs Herz geht. Es mag das Britische Empire zerfallen, es mag die Queen in einem James-Bond-Film auftreten, das ist nichts im Vergleich zu der Sensation eines Schwertlilienblickes meiner Braut. Selbst nach vierjähriger Beziehung hauen mich diese himmlisch violettblauen Augen immer noch um.
Ich heirate ein Alpha-Tier. Ich heirate eine Frau, die dazu geboren ist, andere Menschen zu führen. Und diese Frau hat sich entschlossen, mit einem verarmten Adeligen, dem Letzten der Escroynes, den Bund fürs Leben einzugehen.
»So bitte ich nun um die Ringe«, sagt der Erzbischof.
Ich wende mich zu den Trauzeugen. Dass Ralph Bellamy diese Ehrenpflicht für Rosy erfüllen würde, war zu erwarten. Seit Jahren ist er Rosys Assistent bei der Mordkommission, zugleich ihr Schatten, ihr Kummerkasten und ihr Quälgeist. Meine Trauzeugin ist dagegen nicht meine erste Wahl gewesen, aber da Rosy so viel daran lag, habe ich ihr den Wunsch erfüllt. Die junge Frau heißt Gwyneth Trout, sie ist das Mündel meines verstorbenen Vaters und zugleich Rosys ehemalige Schülerin. Gwyneth tritt vor und reicht mir das Etui, in dem die goldenen Ringe auf Samt gebettet liegen.
Ich ergreife den kleineren und streife ihn Rosy über den Finger. Das heißt, ich möchte ihn überstreifen. Wir haben die Ringe zusammen ausgesucht, sie sind vor fünf Wochen exakt nach unseren Fingerumfängen angefertigt worden. Die Schwangerschaft hat ihre wunderlichen Seiten. Dass sich das Fingermaß meiner Frau in so kurzer Zeit verändert hat, ist wohl eine davon. Nach zwei erfolglosen Versuchen schiebe ich den Ring bis zum Mittelgelenk auf ihren Finger. Mein eigener Ring passt wie angegossen, und so erwarte ich die entscheidenden Worte Seiner Eminenz.
Ich warte auf diese Worte im Grunde schon, seit ich Rosy vor vier Jahren am Strand von Weymouth kennengelernt habe. Für mich war sie von Anfang an die Eine und Einzige. Aber meine Schwertlilie stammt aus einer knorrigen Arbeiterfamilie und ist genauso stolz auf ihren Stammbaum wie ich auf meinen. Der Earl und das Arbeiterkind, der Habenichts und die Detektivin, das bedeutete einen langen, komplizierten Weg, bevor wir den heutigen Tag erleben sollten.
»Und so erkläre ich euch kraft meines Amtes zu Mann und Frau.« Der Primas der englischen Staatskirche hebt die Hände zum Segen. »Was Gott zusammenfügt, das soll der Mensch nicht trennen.«
Recht hat er. Nichts wird mich je daran hindern, meine Schwertlilie von ganzem Herzen zu lieben. Und das entzückende kleine Wesen, das Rosy im Leibe trägt, schließe ich in meine Liebe gleich mit ein. Ob Junge oder Mädchen, wir wissen es noch nicht. Was es auch sei, es ist willkommen.
»Eure Gnaden dürfen die Braut nun küssen«, sagt Seine Eminenz mit schuljungenhaftem Lächeln.
Schwer und prachtvoll lege ich mir meine Braut, meine Frau im Arm zurecht und küsse sie hingebungsvoll. Bis ans Ende meiner Tage will ich keine so halten und herzen wie sie.
Mitten im Kuss brandet die Orgel auf. Ich sehe Rosys glücklich gerötete Wangen, hebe den Blick ins Sterngewölbe der Kathedrale und danke dem Herrn, dass er so einen glücklichen Mann aus mir macht. Arm in Arm ziehen wir am Spalier der Hochzeitsgäste vorbei zum Ausgang unserer Kirche, die ihre Berühmtheit in jüngerer Zeit vor allem den Harry-Potter-Filmen verdankt, die hier gedreht wurden.
»Ihr wollt wissen, wohin?«, ruft Rosy in die Runde. Für die Party im Hotel hat sie den Traum in Weiß bereits ausgezogen und trägt ein aprikosenfarbenes Kostüm, das eher zur Jahreszeit als zu ihrer Persönlichkeit passt. »Ich sage euch, das war keine leichte Entscheidung, denn Arthur wollte natürlich nicht weit von Sutherly wegfahren.«
»Weshalb?«, fragt einer aus der Gruppe von Gästen, unter denen sich auch Gwyneth Trout befindet.
»Na, ihr kennt doch Arthur. Er hasst es, seinen geliebten Garten auch nur einen Tag im Stich zu lassen. Er hat eine regelrechte Panik davor, dass seine Pflänzchen verdursten könnten oder dass ein monströser Schädling sich über sie hermacht.«
»Du hast ihm doch eine computergesteuerte Bewässerungsanlage geschenkt«, meldet Ralph Bellamy sich zu Wort.
»Sicher, aber die verstaubt irgendwo unten im Gartenhaus.« Rosy kichert. »Wenn es nach Arthur gegangen wäre, hätte ihm eine Blitz-Hochzeitsreise nach Cornwall völlig genügt. Ich habe ihn aber darauf hingewiesen, dass unser Baby und mein Beruf eine längere Reise auf absehbare Zeit unmöglich machen dürften, daher lautete die Devise: Jetzt oder nie. Ich habe Brasilien ins Spiel gebracht, auch Buenos Aires. Wir hätten dort einen Tangokurs belegen können.« Aus Rosys Gekicher wird ein breites Lachen. »Als Arthur die Gefahr einer Atlantiküberquerung auf sich zukommen sah, buchte er über meinen Kopf hinweg kurzerhand etwas in Südfrankreich.«
Alle schließen sich Rosys Gelächter an, alle finden, dass das wieder so typisch für mich sei. Es hat sich die allgemeine Meinung durchgesetzt, dass ich ein Sonderling bin, und die Frage, was die toughe Rosy an mir eigentlich findet, ist ein geflügeltes Wort geworden.
»Ich habe eine sehr hübsche Pension an der Côte d’Azur gefunden«, setze ich zu meiner Verteidigung an. »Mit Meerblick und Swimmingpool.«
»Gratuliere«, sagt Gwyneth, die netterweise auf meiner Seite ist.
»Was werden bloß all die Mörder und Totschläger bei uns anstellen, solange du dich nach Südfrankreich absetzt?«, fragt der Ältere von der Spurensicherung, genannt der Onkel.
»Ja, was werden die Mörder und Totschläger anstellen?«, echot der Jüngere von der Spurensicherung, auch der Neffe genannt.
Ich war nicht gerade glücklich darüber, dass Rosy die gesamte Mordkommission zur Hochzeitsparty eingeladen hat, andererseits wäre eine Hochzeit, bei der vorwiegend Familienmitglieder der Escroynes anwesend sind, noch schwerer zu ertragen gewesen.
»Unser hervorragender Sergeant Ralph Bellamy wird alle lokalen Mörder das Fürchten lehren«, antwortet Rosy.
»Ist ja nur während der Flitterwochen«, meldet sich Ralph, bescheiden wie immer, zu Wort. »Herrje, die Côte d’Azur«, fährt er schwärmerisch fort. »Ich beneide euch.«
»Ich bin gespannt, ob ich Arthur dazu kriege, dort ins Wasser zu gehen.« Rosy hakt mich unter.
»Hör mal, ich war Regionalmeister von Gloucestershire auf hundert Yards im Freistil«, gebe ich entrüstet zurück.
»Ja, aber das war in den Achtzigerjahren, mein Lieber.« Rosy hat normalerweise nicht die Angewohnheit, mich in der Öffentlichkeit bloßzustellen, es muss an dem vielen englischen Champagner liegen, den sie schon getrunken hat.
»Du bist wirklich zu bedauern, was für einen verknöcherten Trauerkloß du geheiratet hast«, entgegne ich.
»Und den tollsten Mann der Welt.« Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und gibt mir einen saftigen Kuss.
»Darauf trinken wir.« Gwyneth hebt ihr Glas.
»Auf Arthur!«, rufen alle. »Auf den Earl of Sutherly und die frischgebackene Countess.«
Ein Toast, dem ich mich ein wenig schadenfroh anschließe. Denn wenn es für Rosy einen Wermutstropfen bei unserer Eheschließung gibt, dann ist es der: Von nun an gehört das Arbeiterkind dem britischen Hochadel an. Das wird meine Schwertlilie erst verkraften müssen.
Schnorchel
Eine Grundregel, die man unter allen Umständen einhalten sollte, bevor man auf Reisen geht: Auf keinen Fall das Telefon abnehmen.
»Hallo?« Ich verstoße gegen die Regel.
»Arthur?«, sagt eine Frauenstimme am anderen Ende.
»Gwyneth, wie nett, dass du noch mal anrufst.«
»Tja, Arthur … Ich hatte befürchtet, ihr seid vielleicht schon ausgeflogen.«
»Du hast Glück.« Ich sinke neben meinem gepackten Koffer aufs Bett. »Unser Flieger geht erst in ein paar Stunden.«
»In ein paar Stunden, so«, sagt sie zurückhaltend.
»Was gibt es denn?«
»Kann ich … Ist Rosy vielleicht zu sprechen?«
»Aber klar. Sie ist im Bad«, erwidere ich sonnig. »Ich trage dich dorthin.« Ohne zu wissen, dass dies der verhängnisvollste Gang dieses Sommers ist, bringe ich das Telefon einen Halbstock tiefer und klopfe an die Badezimmertür.
»Es ist für dich.«
»Ich kann jetzt nicht.« Rumoren von drinnen. »Sag, ich rufe nach den Flitterwochen zurück.«
Wenn ich in diesem Moment Rosys Anordnung befolgt hätte, wäre uns viel Leid erspart geblieben. Doch die Eingebung, Gwyneth zu vertrösten, bis wir aus der Provence zurückkehren würden, stellt sich nicht ein. »Es ist Gwyneth.« Ich klopfe noch einmal zart.
Die Tür fliegt auf, Rosy nimmt mir den Hörer aus der Hand. »Hallo, Baby, wo brennt’s denn?«, sagt sie in bester Laune.
Die Bezeichnung Baby hat damit zu tun, dass Gwyneth ohne die Fürsorge und den Schutz von Rosemary ihren heutigen Lebensweg nicht eingeschlagen hätte. Gwyneth ist ein Waisenkind. Es gehört zu den ehrenvollen Pflichten des englischen Adels, sich mittelloser und bedürftiger Menschen anzunehmen, und mein Vater nahm diese Aufgabe sehr ernst. Er war Schirmherr der Orphanage-Foundation von Trench-upon-Water, dem Städtchen, das zu Füßen von Sutherly Castle liegt. Solange es unsere finanzielle Situation zuließ, kam das Waisenhaus in den Genuss von Zuwendungen. Als uns kurz
vor Papas Ende das Geld ausging, beschränkte sich seine Philanthropie darauf, ein ausgesuchtes Waisenkind unter den persönlichen Schutz der Escroynes zu stellen. Dieses Kind war Gwyneth Trout. Das kleine Mädchen kam manchmal zu uns zu Besuch und wurde von Jahr zu Jahr hübscher. Als der Tag gekommen war, an dem sie sich für einen Beruf entscheiden sollte, stand ihre Wahl fest: Gwyn wollte zur Polizei.
Rosy und ich kannten uns damals noch nicht, aber Rosemary Daybell tat bereits Dienst bei der Mordkommission von Gloucester und unterrichtete zugleich auf der örtlichen Polizeischule. So kam Gwyneth Trout nicht nur unter die Fittiche meines Vaters, sondern auch in die strenge Schule von Detective Daybell. Seit Rosy und ich ein Paar sind, hat sich diese Verbindung naturgemäß noch vertieft. Gwyneth machte ihren Polizeiabschluss, wurde rascher als üblich in den Rang eines Sergeants erhoben und besuchte darauf die Offiziersschule in London.
»Wahrscheinlich weil sie so hübsch ist«, beantwortete Rosy meine häufig gestellte Frage, weshalb sich Gwyns Karriere so rasant entwickelte. »Schöne Mädchen haben es leichter.«
Ich bin kein Experte, was Frauen betrifft, aber es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Gwyneth genauso gut eine Modelkarriere hätte einschlagen können. Sie ist groß und schlank, mit einer Figur, die, wie es so schön heißt, Männer in den Wahnsinn treibt. Ihr goldblondes Haar ist echt, ihre grünen Augen sind echt, ihre samtenen Lippen verheißen die Sünde, während ihr Geist nüchtern und klar funktioniert. Tatsächlich muss man Gwyneth Trout als tolle Frau bezeichnen, allerdings gibt es da jene besondere Charaktereigenschaft, das Glitschige an ihr. In Gwyneths Fall gleicht der Name Trout einer Charakterisierung. Die Neunundzwanzigjährige ist schillernd und geschmeidig wie eine Forelle, dabei schwer zu fassen. Sie windet sich gern aus Verbindlichkeiten heraus und hat die Angewohnheit, gegebene Versprechen zu vergessen. Ihre Schwäche liegt darin, sich nicht festlegen zu können. Rosy und ich haben es mehrfach erlebt. Dieses forellenhafte SichDurchschlängeln, gepaart mit Gwyneths beträchtlichem Ehrgeiz, bilden einen Interessenskonflikt und die wahre Achillesferse der Schönen.
Während ich mich in Gedanken mit Baby Gwyn beschäftigte, ist mir entgangen, dass Rosy und sie bereits seit geraumer Zeit telefonieren. Als ich das Bad betrete, sehe ich die frischgebackene Mrs Escroyne auf dem Klodeckel sitzen, nicken, zuhören und kurze Kommentare abgeben.
»Mhm … Ja, ja. Verstehe. Vier Leichen, ja.« Sie macht beträchtliche Pausen zwischen den Sätzen.
»Was gibt’s denn?«, frage ich im Flüsterton.
Rosy hebt den Zeigefinger, unmissverständliches Zeichen, dass sie nicht gestört werden möchte. »Ich weiß wirklich nicht, wie ich dir da helfen soll«, sagt sie. »Außer natürlich …«
Nur zwei Worte – außer natürlich – beschließen die ungetrübte Zeit, die Rosy und ich zuletzt genossen haben. Die erste Zeit ihrer Schwangerschaft, mein offizieller Heiratsantrag, das unsagbare Glück, das ich empfand, als Rosy ihn annahm, die Hochzeitsvorbereitungen, die Aufregung, der Stress und die Liebe: Ohne Zweifel gehören die letzten Monate zu den schönsten meines Lebens. Wegen zwei kleiner Worte ist es damit vorbei: Außer natürlich …
»Außer natürlich, ich würde dir helfen«, beendet Rosy den Satz.
»Helfen?«, frage ich hellhörig. »Unser Flug geht in drei Stunden. Wie willst du ihr da noch helfen?«
Die beiden sprechen weitere zehn Minuten miteinander, danach legt Rosy auf und kommt zu mir ins Schlafzimmer.
»Die Kleine braucht dringend Hilfe«, beginnt sie, und ihr Gesichtsausdruck ist mysteriös wie der einer Sphinx.
All meine Antennen sind ausgefahren, und jede einzelne steht auf Alarm. »Was meinst du damit?«
»So einen Fall als allerersten übertragen zu bekommen, gleicht einem Kamikaze-Trip für unser Baby.«
Gwyneth Trout ist seit drei Monaten Chefinspektorin in Gàidhealtachd. Ich verwende den gälischen Namen bewusst, denn es hat seine besondere Bewandtnis damit. Mit der Position einer Abteilungsleiterin betraut zu werden, bedeutet einen unglaublichen Karriersprung für eine Frau ihres Alters und ihrer Erfahrung.
»Aber sie hat doch ihre komplette Abteilung zur Unterstützung«, gebe ich zu bedenken.
»Mit der Spurensicherung und der Forensik allein wird sie so einen Fall nicht lösen.« Nachdenklich geht Rosy im Zimmer auf und ab.
»Was denn für einen Fall?«, begehe ich die Unvorsichtigkeit zu fragen.
»Ein Amokläufer. Er kam in ein Restaurant gestürmt und schoss wild um sich. Es gab vier Tote. Vom Täter fehlt jede Spur. So einen Fall hat es in dieser Gegend noch nie gegeben.«
Tja, die Gegend: Sie macht es verständlicher, weshalb eine Anfängerin wie Gwyn in dieses verantwortungsvolle Amt gehievt wurde. Gàidhealtachd, das sind die Highlands von Schottland, und der Distrikt Caithness ist der nordöstlichste Zipfel dieses nördlichsten Zipfels des Vereinigten Königreichs. Die alte Grafschaft beherbergt nur 25 000 Einwohner, das bedeutet, auf eine Quadratmeile kommen durchschnittlich zwanzig Highländer. Doch auch diese Rechnung wird den wahren Verhältnissen nicht gerecht, da sich ein Gutteil der Menschen in und um die Hauptstadt Wick angesiedelt hat. Man kann sich vorstellen, dass bei so wenigen potenziellen Mordopfern die Zahl der Mörder verschwindend gering ist. Chief Inspector in Caithness zu sein, müsste demnach ein ruhiger Job sein. Gwyneths Anruf widerlegt das.
Kopfschüttelnd bleibt Rosy stehen. »Ein Amokmörder bedeutet dort oben eine Sensation.«
»Wenn das so eine Sensation ist, kriegt die örtliche Polizei bestimmt Unterstützung von Scotland Yard«, sage ich hoffnungsvoll.
»Der Yard ist überlastet.« Rosys Blick schweift über unsere Flitterwochenkoffer. »Und Gwyns Chef beharrt auf dem Standpunkt, dass er eine neue Inspektorin eingestellt hat und dass die nun auch ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit tun soll.«
Ich setze zu der alles entscheidenden Frage an: »Aber was hat das alles mit uns zu tun?«
»Das kannst du dir doch denken, oder?«, antwortet Rosy mit einem derart flehentlichen Ausdruck, dass mir das Herz in die Hose fällt.
Ich folge ihrem Blick über unsere leichten Sommersachen, die Strandsandalen, die Badetücher und den Reiseführer durch die Provence. Es gibt nicht allzu viel, worin ich ein Meister bin: Kofferpacken gehört dazu.
»Du süßer Schatz«, flüstert Rosy. Ihr Gesicht bekommt einen romantisch verliebten Glanz. »Du hast sogar an die Taucherbrillen gedacht.«
»Und an die Schnorchel«, füge ich leise hinzu. Mich überkommt die Ahnung, dass ich das Kommende besser im Sitzen verkrafte, daher sinke ich neben den Koffern auf unser Bett.
»Es ist nur ein Billigflug«, setzt Rosy an. »Es wird uns nicht in den wirtschaftlichen Ruin treiben, wenn wir den umbuchen.«
»Mir geht es nicht um den Ruin«, erwidere ich mit wachsender Panik, »sondern um unsere Flitterwochen, die uns für ewige Zeiten durch die Lappen gehen.«
»Nichts geht uns durch die Lappen.« Rosy setzt das Schwertlilienlächeln auf. »Wir werden flittern und flattern, dass es nur so kracht.« Sie hebt die Hände, als verstünde sich das Folgende von selbst: »Das kann man ja genauso gut in Schottland tun.«
»Nein!« Auch ich hebe die Arme, bei mir ist es aber eine flehentliche Geste. »Das kommt nicht infrage. Nicht mit mir. Ich will nicht in die Kälte, wir haben genug davon in Gloucestershire. Ich will in ein warmes Land, ein südliches Land. Ich will nach Südfrankreich. Hast du dir mal die Klimaverhältnisse in Caithness angeschaut? Da liegt im Mai noch Schnee, und der Winter dauert acht lange Monate.«
»Jetzt ist Sommer, Arthur.« Inzwischen hat Rosy sich ungefragt vor meinen Computer gesetzt und ist schon dabei, die Preise verschiedener Fluganbieter zu vergleichen.
Verzweifelt suche ich nach einem besseren Argument. »Ich will nicht, dass du dich in deinem Zustand mit Ermittlungen belastest.«
»Das ist keine Belastung, ich helfe Gwyn ja nur auf die Sprünge. Außerdem bin ich erst im fünften Monat«, setzt sie lächelnd hinzu. »Nach unserer Rückkehr werde ich selbstverständlich auch zu Hause weiter Dienst tun.«
»Es sind unsere Flitterwochen.« Wäre das Zimmer ein bisschen größer, würde mein Wutausbruch sicherlich gewaltiger ausfallen. So beschränke ich mich darauf, mit der Faust gegen den Türstock zu schlagen. »Während der Flitterwochen wird überhaupt nicht gearbeitet.« Ich erhebe meine Stimme zum äußersten Imperativ. »Es kommt nicht infrage, verstehst du? Es gibt in diesem Punkt keine Diskussion. Wir fliegen an die Côte d’Azur.«
Tower Castle
Der Direktflug nach Schottland dauert kaum eine Stunde. Schweigend sitzen Rosy und ich eng aneinandergezwängt auf durchgesessenen Stühlen mit geschmacklosen Bezügen. Während der Autofahrt von Sutherly Castle nach Bristol haben wir ebenfalls Meile für Meile geschwiegen. Rosy sieht keine Veranlassung, ihre Entscheidung ein weiteres Mal zu begründen, und ich sehe keine Veranlassung, ihr zu verzeihen. Wir lauschen der penetranten Stimme aus dem Lautsprecher, die uns das Gespenst einer Notfallsituation in 30 000 Fuß Höhe vor Augen führt. Wir würgen Billigdrinks und Billigsnacks hinunter und schweigen verbissen.
Mir graut vor Schottland. Schottland im Spätsommer, das bedeutet selbst im abgelegenen Caithness nicht Ruhe und Naturerlebnis, sondern Horden von Touristen, die mit ihren Elektronikspielzeugen Milliarden von Bildern schießen, die Millionen von Touristen bereits vor ihnen geknipst haben. Im Spätsommer gibt es in Schottland nachweislich mehr Japaner als Schafe.
Ich hasse Touristen. Vor allem, wenn ich selbst einer bin. In Frankreich wärst du auch nur ein Tourist gewesen, lautete Rosys Argument. Das mag sein, aber für einen, der die Côte d’Azur noch nie gesehen hat, stellt sie einen der Traumorte dieser Welt dar, und ich hatte mich so verdammt auf diese Reise gefreut. Schottland dagegen kenne ich hinlänglich. Schottland ist für einen Escroyne nichts Besonderes. Als Junge hat mich mein Vater mehrmals dorthin mitgenommen. Ich liebe die Erinnerung an jene Zeit mit ihm, aber nicht die Erinnerung an Schottland. Mit ihrer unfassbaren Weite haben mich die Highlands stets traurig gestimmt. Das Wetter ist tückisch, und die Menschen wollen nur eins: die Touristen abzocken. Die Pest auf Schottland!
Missmutig starre ich aus dem Fenster in das Grau in Grau, das einen Vorgeschmack auf meine Flitterwochen darstellt. Nicht die paradiesischen Farben Südfrankreichs erwarten mich, sondern die Grauschattierungen des hohen Nordens. Ich will verdammt sein, wenn ich mich auf diese Flitterwochen freue.
»Wie lange willst du das noch durchziehen?«, fragt Rosy, während wir nach der Landung auf unsere eilig umgepackten Koffer warten. Statt Sandalen Gummistiefel, statt Schnorchel Tweedjacke.
»Ich ziehe nichts durch. Du hast deinen Kopf durchgesetzt, wie immer«, knurre ich. Mein Koffer kommt angerollt.
»Du benimmst dich wie ein trotziges Kind. Wird das so weitergehen, wenn Gwyn uns gleich draußen erwartet?«
»Was kümmert es dich? Ihr beiden könnt ja jetzt in aller Ruhe ermitteln.« Geschmeidig fahre ich den Rollgriff aus, lässig wie ein Flugkapitän ziehe ich mein Köfferchen hinter mir her und lasse Rosy einfach stehen.
So fühlt sich das also an, wenn man verheiratet ist, denke ich. Bevor wir einander das Jawort gegeben haben, lief bei uns alles wie zwischen zwei Jungverliebten. Vor nicht einmal zwei Tagen wurden wir getraut, und wir benehmen uns wie die ältesten Ehekrüppel.
Grauschwarze Wolkentürme heißen mich vor dem Flughafengebäude von Inverness willkommen. Die Temperatur ist schottisch, demonstrativ werfe ich meinen Schal über die Schulter. Auch meine andere Prognose trifft ein: Japaner. Eine ganze Busladung davon. Kaum dem Flieger entstiegen, fotografieren sie in alle Richtungen. Was gibt es auf einem Flughafen bloß zu knipsen?
»Gwyneth, wie schön!« Mein Köfferchen nimmt Fahrt auf, ich eile auf die junge Detektivin zu. »Danke, dass du uns abholst.«
»Tut mir so wahnsinnig leid, Arthur, dass ich euch die Flitterwochen vermassle.« Ihr Gesichtsausdruck ist ehrlich, ihr Bedauern echt, ihre Schönheit selbst im matten schottischen Nachmittagslicht umwerfend.
»Aber, aber, halb so schlimm«, beschwichtige ich. »Das holen Rosy und ich irgendwann nach. Hauptsache, sie kann dir helfen.«
Warum lüge ich? Weshalb ziehe ich die Show des Verständnisvollen ab, den nichts aus der Ruhe bringen kann? Weil ich nun mal Engländer bin und meine Stimmungen nicht auf dem Tablett vor mir hertrage. Weil ich es nicht ertragen könnte, wenn irgendjemand annehmen sollte, dass Rosy und ich, das Liebespaar des Jahrhunderts, Gefährten fürs Leben, Romeo und Julia aus Gloucester, nicht wahnsinnig glücklich miteinander seien.
»Danke, dass du das sagst«, erwidert Gwyneth. »Es wäre sonst unerträglich für mich, Rosys Hilfe in Anspruch zu nehmen.« Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange.
»Mach keine große Sache daraus.« Ich tätschle ihre Schulter. »Als Erstes wollen wir ins Hotel, und danach lasse ich Sherlock Holmes und Dr. Watson in Ruhe. Vermutlich wollt ihr gleich an den Tatort fahren.«
»Das Hotel ist der Tatort.«
»Das Hotel … wieso?« Ich drehe mich suchend nach Rosy um. Sie scheint aufgehalten worden zu sein.
»Hat Rosy dir das nicht erzählt?«
Ich muss an die beiden versteinerten Sphinxen denken, die vorhin sprachlos nebeneinander im Flugzeug gesessen haben. »Unterwegs habe ich die meiste Zeit gelesen.«
»Dieser Amokschütze hat im Restaurant des Schlosshotels in die Menge geschossen.«
»Ein Schlosshotel?«, frage ich überrascht.
»Das Tackergill Tower Castle.« Sie lächelt bezaubernd. »Wenigstens das muss dir Rosy aber gesagt haben.«
»Das Tackergill, natürlich.« Ich schlage mir mit der Hand an die Stirn. »Wo habe ich nur meinen Kopf?«
»Deshalb fand ich es so eine brillante Idee von Rosy, dass ihr als Hotelgäste eincheckt und nicht als Detective Inspector nebst Gatten.«
»Tja, brillant war Rosy schon immer.« Ich wundere mich, wo sie so lange bleibt.
»Ich finde es toll, dass ihr sogar die Honeymoon-Suite ergattert habt. Und das in der Hochsaison.«
Allmählich verstehe ich, wieso Rosy gestern bis lange nach Mitternacht vor dem Computer saß, während ich so tat, als ob ich schliefe. Sie hat Vorkehrungen für den Schottland-Trip getroffen, so cool und professionell, wie es eben nur Rosy versteht.
Ich sehe mich nach Gwyneths Auto um. »Wo ist denn dein Dienstwagen?«
»Aber, Arthur«, erwidert sie augenzwinkernd, »das würde eure Tarnung doch sofort auffliegen lassen, wenn wir mit Blaulicht und Sirene vor Tackergill Castle aufkreuzen würden. Ich bin mit dem Privatauto hier, und Rosy hat bestimmt schon euren Mietwagen …« Sie streckt den Zeigefinger in eine bestimmte Richtung. »Da kommt sie ja.«
Tja, da kommt sie. Wer könnte es leugnen? Eigentlich müsste man es leugnen, denn in solch einem Gefährt habe ich Rosemary, die Schwertlilie aus der Unterschicht, noch nie gesehen. Sie fährt einen … Nein, meine Augen täuschen mich nicht: Sie fährt einen Bentley.
Zwei Stunden
»Du und deine Witze«, lacht Gwyn. »Wir haben in Wick sogar einen Flugplatz, allerdings landen dort nur Regionalflüge aus Aberdeen und Edinburgh.« Sie läuft zu ihrem Auto.
Ich lasse mich neben Rosemary auf den cremefarbenen Ledersitz sinken. »Heraus mit der Sprache: Wieso können wir uns das plötzlich leisten?«
»Das sind unsere Flitterwochen«, antwortet sie unbeschwert. »Da sollte uns nichts zu teuer sein.«
»Aber woher kommt das Geld?«
Sie stellt die Automatikschaltung auf Drive. »Hör nur, wie samtig der Motor klingt.« Auf meinen unerbittlichen Blick hin rückt sie mit der Sprache heraus: »Ich habe etwas vom Sparbuch abgehoben.«
»Aber dieses Sparbuch … haben wir doch für Philipp John oder Mary Anne angelegt.«
Die Schwertlilie beugt sich zu mir und küsst mich. »Philipp John oder Mary Anne haben mehr davon, wenn wir zwei glückliche Eltern sind. Es ist doch nur Geld, Arthur. Vergiss es einfach.«
Nach dieser erstaunlichen Botschaft gibt sie Gas und wählt die Ausfahrtstraße von Inverness Richtung Norden. Nach kurzer Zeit fühlt sich mein Allerwertester ungewohnt warm an.
»Was ist das?« Ich lüpfe mein Hinterteil vom Sitz.
»Arschheizung«, strahlt Rosy. »Die gibt es bei diesem Modell serienmäßig.«