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Frank Goyke

Altweibersommer

Theodor Fontanes erster Fall

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Inhalt

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

 

Glossar

Anmerkungen zu diesem Roman

Über den Autor

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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ebook im be.bra verlag, 2015

© der Originalausgabe:

berlin.krimi.verlag im be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2015

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

post@bebraverlag.de

Lektorat: Gabriele Dietz, Berlin

Umschlag: Ansichtssache, Berlin, unter Verwendung eines Gemäldes von Matthias Koeppel, »Spandauer Zitadelle«, 1983, akg-images, Berlin, Abbildung einer Kavalleriepistole aus dem Jahr 1850

(Kunsthandel Seidel u. Sohn KG, Berlin)

ISBN 978-3-8393-6145-0 (epub)

ISBN 978-3-89809-511-2 (print)

www.bebraverlag.de

Die wichtigsten existierenden
und fiktiven Personen des Romans

Kriminalkommissar Aschinger

Major von Blohm, Herr auf Gnewikow

Wilhelm Briese, Schneidermeister

Melchior Briese, Schneider, sein Sohn

Theodor Fontane, Schriftsteller

Emilie Fontane, seine Frau

Theodor, Mete und Friedrich Fontane, ihre Kinder

Eduard Frölich, Amtsgerichtsrat in Neuruppin

Leutnant Graf Gensfleisch, ein ostpreußischer Junker

Anton und Werner Kaschke, Zwillingsbrüder und Fassadenkletterer

Emil und Margarethe Kaschke, ihre Eltern, Bauern in Buch

Doktor Friedrich Kölling, Arzt in Neuruppin

Heinrich Loewe, Landrat von Neuruppin

Adolph Menzel, Maler

Wolf Reuchlin, Schränker

Gotthelf Schadewald, sein Komplize

Friedrich Georg Schwartz von Blohm, Bau-Entrepreneur

Antonia Schwartz von Blohm, seine Frau

Königlich Preußischer Generalmajor Heinrich von Schweinitz

Martha Tassel, ein Hausmädchen

Rudolf Virchow, Mediziner und Berliner Stadtverordneter

Kriminalkommissar Völker, Politische Abteilung

Geheimer Regierungsrat Hermann Freiherr von Wangenheim, ein Freund

Marie von Wangenheim, dessen Frau

Kriminalschutzmann Wittlich

Graf Albert Julius von Zieten-Schwerin und Gattin

Erstes Kapitel

26. September 1873

Dem See war nicht anzusehen, wozu er fähig war. Trotz der Windstille war die Wasserfläche keineswegs spiegelglatt, sondern von Kräuselwellen bedeckt, über deren Ursprung es keinen Zweifel geben konnte: Der See lebte. Es bedurfte keines Windes, nicht einmal einer Brise, um ihn in Bewegung zu halten.

Der Mann, der auf der Rückbank des Ruderbootes saß, kannte den See seit seiner Kindheit, und er hatte ihn schon ganz anders erlebt.

Wenn im Frühjahr oder im Herbst Stürme eine Hetzjagd veranstalteten und an den Baum kronen zerrten wie ein Dorfpfarrer an den Haaren einer ungehorsamen Konfirmandin, verwandelte sich das jetzt harmlos erscheinende Wasser in eine Tollwütige. Es nahm dann das Aussehen von nachgedunkeltem Silber an, eine Spiegelung der bleischwarzen und tief hängenden Wolken, die es eilig hatten, dem Sturm zu entkommen. Hohe Wellen schlugen an die Ufer, und ein Kahn wie derjenige, in dem sich die Be sucher über den See rudern ließen, war verloren.

An solchen Tagen blieben die Fischer in ihren Hütten und wussten namentlich im Frühjahr nichts zu tun: Die Netze hatten sie bereits während der Wintermonate geflickt, der Holzvorrat genügte noch, bis endgültig die warme Jahreszeit anbrach, und das wenige Vieh, das sie hielten, weil die Fischerei allein sie nicht ernährte, wurde von der Frau und den Kindern versorgt. In diesen Mußestunden entstanden Geschichten. Sagen und Legenden wurden erzählt, die um den See und um die Menschen kreisten, die an seinen Ufern lebten.

Der Mann, der immer nur Schriftsteller hatte sein wollen, auch wenn ihn die Brotarbeit davon abhielt, liebte diese Überlieferungen und sammelte sie in seinem Gedächtnis und in seinen Notizen. Für ihn enthielten sie mehr Poesie als das hohle Gedröhn der Hofdichter und Publikumsliteraten.

Der Mann seufzte. Er war nicht allein in dem Boot, sondern wurde von seiner Frau begleitet. Sie saß neben ihm auf der Rückbank und ergriff nun mit beiden Händen seine Linke, schwieg aber, weil sie den Grund seines Seufzens zu kennen glaubte.

Der Mann hob den Blick und schaute dem Ruderknecht in das zerfurchte Gesicht. Fährmann Stoltze überquerte den Ruppiner See nun schon seit Jahrzehnten mit zahlenden Passagieren; man war beinahe geneigt zu sagen: seit der Vorzeit. Unter seiner Krone aus weißem Haar sah Stoltze unsterblich wie ein Gott aus – als brächte er nicht nur Leute von Neuruppin nach Wustrau, sondern vom Leben zum Tode, Rückfahrt ausgeschlossen.

»Na, Stoltze«, der Mann beugte sich ein wenig vor, »was halten Sie denn von diesem Herbst?«

»Tja«, erwiderte der Ruderer gedehnt. »Na ja, Herr Fontane. Über die Jahre …«

Jahrtausende, dachte Fontane.

»… erlebt man das eine oder andere. Mal reicht der Altweibersommer bis in den Oktober und die Mädchen gehen noch spät im Sommerkleid. Und im nächsten Jahr gibt es nur Regentage.«

»Sie haben wohl ein Herz für die Mädchen, Stoltze?«

»Ach, für mich alten Mann gibt’s sie bloß zum Anschauen. In meinem Alter liebt man nur noch mit den Augen.«

»Jedenfalls ist es sehr schön hier«, sagte Emilie und drückte ihrem Mann fest die Hand. »Nicht wahr, Théodore?« Sie sprach seinen Namen französisch aus.

Er nickte. Schön war es wirklich. Die Bäume am Ufer des Ruppiner Sees hatten sich bunt gefärbt, und das Gelb und Rot der Blätter leuchtete vor dem blassblauen Himmel.

Obendrein war es sehr still. Nur das Eintauchen der Ruder verursachte ein sanftes Geräusch. Ein paar Meter vom Ufer entfernt glitt ein Schwanenpaar durch das Wasser, und auch das Boot glitt, ja es schwebte geradezu über den See.

Die beiden Schwäne tauchten gelegentlich für einen fast beängstigend langen Zeitraum Kopf und Hals in das Wasser, sodass es aussah, als hätte man ihn ihnen abgeschlagen. Sie suchten nach Nahrung, und Fontane hatte das Gefühl, dass es ihm so erging wie ihnen: Für das tägliche Brot senkte auch er immer wieder den Kopf. Oder legte er ihn gar aufs Schafott? Gewiss, er hatte mehrere Reisebücher veröffentlicht, ebenso wie Bücher über die Kriege, in deren Glut das unheilige Deutsche Reich Preußischer Nation geschmiedet worden war; seit drei Jahren schrieb er Theaterkritiken für die Vossische Zeitung, die von den Schauspielern gehasst, vom Publikum jedoch geliebt wurden, und einige seiner Balladen wurden nicht nur im Schulunterricht behandelt, sie hatten ihm auch zur Erwähnung in Literaturkompendien verholfen. Aber ihm war doch klar, dass es für einen Menschen von Ambition nichts Niederdrückenderes gab als die Abhängigkeit der Armut, und dass es sich, selbst wenn man ein Poetenherz im Leibe hat, doch eher ohne Balladen, aber mit Geld, als mit Balladen, aber ohne Geld leben ließ.

Er war jetzt vierundfünfzig und hatte noch immer nicht erreicht, was er erreichen wollte, nämlich ein freier Schrift steller zu sein und nichts anderes als das. Die Jahre ver rannen, und gerade der Herbst, der trotz seiner lebendigen Farben nicht verhehlen konnte, dass die Blätter starben, erinnerte ihn daran.

Emilie beugte sich zu ihm und sprach leise und mit unüberhörbarer Besorgnis in sein Ohr: »Woran denkst du, Théodore?«

»Ich betrachte den See und denke nichts.«

»Das ist nicht wahr. An der Nasenspitze sehe ich dir an, dass du an Schwermut laborierst. Ist es wegen deiner Mutter?«, wollte Emilie wissen.

»Auch.« Fontane betrachtete das Schwanenpaar und spürte, wie rau seine Stimme klang. Er wagte nicht, seine Frau anzuschauen.

Nach einer fast zweimonatigen Sommerfrische in Thüringen hatte er sich mit Emilie noch einmal auf die Reise begeben, wenn auch nur nach Neuruppin. Er hatte vor, Material für die dritte Auflage von Die Grafschaft Ruppin zu sammeln, die er in den kommenden Wochen ergänzen und neu fassen wollte. Das war sein vordringliches Ziel, aber er musste sich selbst einräumen, dass er auch vor dem lärmenden, noch immer vom Börsenfieber erfassten und von Gestank erfüllten Berlin geflohen war.

Noch vor vier Jahren hatte er in Neuruppin seine Mutter besuchen können. Jetzt musste er sich auf den Friedhof beim Ruppiner Tor bemühen, wenn er ihr nahe sein wollte. Am Vormittag, bevor sie den Kahn bestiegen, hatte er gemeinsam mit Emilie das Grab aufgesucht, und wie immer hatte es ihn deprimiert.

Plötzlich zerriss ein Schuss die friedliche Stille.

Fontane erschrak so heftig, dass er aufsprang. Emilie schrie auf, nicht des Knalles wegen, sondern weil sie immer noch die Hand ihres Mannes hielt und beinahe mit hochgerissen worden wäre. Der Kahn geriet gefährlich ins Wanken.

Stoltze, den nichts so leicht aus der Ruhe brachte, rückte nach rechts, um die Bewegung des Bootes auszugleichen. Die Schwäne flogen davon; die Stille nach dem Schuss war so tief, dass man den Schlag ihrer Flügel hören konnte.

»Pardon!« Fontane schüttelte den Kopf, atmete tief und setzte sich wieder. »Ich war nur … der Schuss … er kam so unerwartet. Man wird wohl jagen.«

»Nee, nee«, entgegnete Stoltze. »Jagen tut man in der Dämmerung. Vielleicht hat sich ein Fuchs auf eines der Anwesen gestohlen. Machen Sie sich man keine Sorgen.«

»Théodore, alles in Ordnung?«, wollte Emilie wissen. Ihr schmales Gesicht, gerahmt von langem, aufgestecktem schwarzen Haar war blass.

»Ja.« Fontane wischte ein Stäubchen von seinem Reisemantel. »Aber der Schreck sitzt mir noch in den Gliedern.«

»Gleich haben wir festen Boden unter den Füßen.« Emilie deutete über den Bug des Bootes hinweg zum Ufer.

Fontane spürte das Klopfen seines Herzens noch bis in die Fingerspitzen, aber er empfand seine übermäßige Reak tion als unangemessen, wenn nicht gar albern. Stoltzes Erklärung klang einleuchtend. Doch jagten nicht auch Füchse erst in der Dämmerung?

Vor ihnen, am Südzipfel des Sees, grüßte die Wasser seite von Schloss Zieten die Reisenden. Die Fassade des Gebäudes war weiß gestrichen und leuchtete kalt in der tief stehenden Herbstsonne. Die Bäume im Schlosspark trugen gelbe, rote und braune Blätter, der kurz geschorene Rasen, der sich vom Schloss bis an die Anlegestelle erstreckte, war von einem satten Grün. Nahe beim Schilf schwammen ein paar Stockenten.

Der Park war menschenleer und auch das Schloss wirkte auf den ersten Blick verlassen. Trotz der angenehmen Temperaturen waren alle Fenster geschlossen, zumindest jedenfalls die seeseitigen, und auf dem Balkon an der Stirnseite des Seitenflügels stand nur ein einsamer Tisch. Da Fontane sich dem Schlossherrn brieflich angekündigt und der Graf ihm mitgeteilt hatte, er sei herzlich willkommen, konnte der Eindruck von Leere nur ein trügerischer sein, aber trotzdem erregte der Anblick in ihm eine eigentümliche Stimmung: Er stellte sich vor, wie er mit Emilie am Arm durch verlassene Gänge und Räume irrte, wie sie nach dem Gesinde und dem Grafen riefen, aber nichts fanden außer mit dicken Staubschichten bedeckte Möbel. Wieder entrang sich ihm ein leiser Seufzer, aber diesmal sagte Emilie nichts.

Stoltze legte sich kräftig in die Riemen. Wenn Fontane den Kopf so weit hob, dass er das Wasser nicht mehr sehen konnte, wirkte es, als würde sich nicht der Kahn dem Anwesen, sondern als würden sich Schloss und Park mit beachtlicher Geschwindigkeit dem Boot nähern.

Schon war die Wasserbrücke erreicht. Stoltze holte die Ruder ein und griff nach einem Hanfseil, das in einer Schlinge endete. Geschickt warf er die Leine um einen Holzpflock, klammerte sich mit seiner knorrigen Linken an eine Planke des Stegs und zog das Boot so heran, dass es längsseits zu liegen kam.

Fontane erhob sich als Erster. Nicht ohne Mühe kletterte er aus dem schwankenden Boot auf den Anleger und reichte dann seiner Frau die Hand, um ihr beim Ausstieg behilflich zu sein.

Emilie war mit einem Bein bereits auf die Planken gestiegen, das andere befand sich noch im Boot, und in diesem Moment bewegte sich der Kahn ein Stück vom Steg fort. Stoltze zog ihn sofort wieder näher. Emilie nahm noch einmal Schwung, Fontane hielt sie fest, und einen Moment später stand sie sicher neben ihm.

Er blickte zum Schloss. Ihre Ankunft war nicht ver borgen geblieben. Die Tür über der schmalen Freitreppe stand nun offen und ein groß gewachsener Mann trat aus der Tür, stieg leichtfüßig die Treppe hinab und kam auf seine Gäste zu: der Besitzer von Schloss und Gut Wustrau, Graf Albert Julius von Zieten-Schwerin. Angetan mit Tweed sakko, Hemd und Vorhemd sowie Knickerbockers, sah er eher wie ein englischer Lord als wie ein märkischer Landadeliger aus. Als er die Anlegebrücke betrat, breitete er gastfreundlich die Arme aus.

»Willkommen auf Gut Zieten, meine Gnädigste«, rief er, sich sofort an Emilie wendend, beugte den Kopf und küsste ihr die Hand. »Es ist mir eine Ehre, Sie zum ersten Male auf meinem bescheidenen Anwesen begrüßen zu dürfen.«

»Meine Frau«, stellte Fontane vor, obwohl er dem Graf natürlich seine Begleitung angekündigt hatte. Die überschwängliche Begrüßung machte nicht nur Emilie, sondern auch ihn verlegen. »Sie bemühen sich selbst, Herr Graf?«

»Mein lieber Fontane, ich möchte behaupten, dass es mir ein außerordentliches Vergnügen bereitet, Sie persönlich an meinem Seehafen in Empfang zu nehmen.« Von Zieten-Schwerin lächelte. Er hatte graue Augen und ein offenes, freundliches Gesicht. »Es fehlt natürlich die Militärkapelle. Aber die Wahrheit ist: Mein Kammerdiener liegt mit einer kapitalen Grippe im Bett. Wir mussten noch in der Nacht nach dem Arzt schicken. Pardon, gnädige Frau! Darf ich Ihnen meinen Arm leihen?«

Emilie nickte und hakte sich unter. Stoltze hatte mittlerweile das Gepäck aus dem Boot geladen und Fontanes englische Reisetasche stand neben Emilies Lederkoffer auf dem Steg. Fontane reichte dem Fährmann eine Münze und sagte ihm Lebewohl. Dann schickte er sich an, Tasche und Koffer aufzunehmen.

»Aber ich bitte Sie!« Der Graf von Zieten-Schwerin schüttelte den Kopf. »Das können wir getrost dem Jungen überlassen. So ungeschickt ist er nicht, dass er mit Ihrer Bagage in den See stürzen wird. Êtes-vous d’accord?«

Fontane nickte. Während von Zieten und Emilie der Freitreppe entgegenschritten, so musste man ihr Defilee wohl nennen, folgte er ihnen in einigem Abstand. Emilie trug eines der gerade in Mode gekommenen Kapotthütchen, die man eher als Scheitel- denn als Kopfbedeckung bezeichnen musste, und Fontane entdeckte ein paar graue Haare in ihrem Nacken. Wieder empfand er einen Stich ins Herz.

Kurz vor der Treppe drehte er sich noch einmal um. Stoltze war schon gute fünfzig Meter vom Ufer entfernt und hob die Hand zu einem letzten Abschiedsgruß. Fontane winkte zurück. Das Schwanenpaar schwamm gemächlich am Ufer entlang.

»Sie hatten eine angenehme Reise?«, erkundigte sich der Herr des Hauses bei Emilie. Mit seinen achtunddreißig Jahren war er aus Fontanes Sicht noch ein junger Mann.

»Ja, ausgezeichnet«, erwiderte sie.

»Das freut mich.« Der Graf deutete durch die geöffnete Tür in die Vorhalle. »Ich habe auf der Terrasse decken lassen. Es ist so ein wunderbares Wetter, man kann noch draußen sitzen. Sie werden sicher nichts gegen einen kleinen Imbiss einzuwenden haben?«

»Wenn es Ihnen keine Umstände macht.«

»Gewiss nicht. Die Köchin ist ja nicht krank. Und der Junge muss bedienen. Da lernt er es endlich einmal.«

»Und die Frau Gemahlin?«, fragte Fontane, der selbstredend wusste, dass von Zieten-Schwerin seit vielen Jahren mit der Baronesse Constance von Derschau verheiratet war.

»Wird sie den Imbiss mit uns einnehmen?«

»Bedaure, das ist unmöglich. Meine Frau weilt auf dem elter lichen Gut in Kurland. Wegen des herrliches Wetters, so teilte sie mir in ihrem letzten Brief mit, verlängert sie den Aufenthalt bis zum Oktober.«

Von Zieten-Schwerin stieg die altmodische Treppe aus Eichen holz hinauf, die bei jedem Schritt ächzte und knarrte. Emilie ging an seiner Seite, Fontane hielt sich weiter hinter ihnen. Er kannte das Schloss und hatte es in einem Kapitel der Grafschaft, das in der Kreuzzeitung erschienen war, beschrieben. Mit dem Blatt hatte er längst gebrochen, aber für die Buchausgabe wollte Fontane auch an den Abschnitt über Schloss und Gut Wustrau noch einmal den Federhalter ansetzen.

»Voilà!« Der Graf öffnete eine zweiflügelige Tür, die zum Saal führte. Eine Reihe von fünf Fenstern spendete dem Raum großzügig Licht. Emilie trat ein und hob den Blick zu der vergoldeten Stuckdecke.

»Wunderschön!«, rief sie. »Théodore, das musst du sehen.«

Fontane kannte auch den Saal bereits, und er wusste, dass seine Frau Herrenhäuser über alles liebte. Ihre Jugendfreundin Johanna Treutler hatte den Besitzer des Zuckerrübengutes Neuhof bei Liegnitz geheiratet, und Emilie verbrachte dort oft ausgedehnte Sommerfrischen. Manchmal, in Zeiten einer Krisis, warf sie Fontane vor, dass er zu wenig verdiene, und sprach dann vom herrschaftlichen Leben ihrer Freundin, die ein großes Gesinde kommandieren konnte, während sie alles selbst besorgen musste; nur die Wäsche gab sie zu einer Waschfrau oder zu Spindler.

»Bitte, sich nach rechts zu wenden«, sagte Graf Albert Julius. Er zeigte auf eine Tür, über der sich ein Ölbild befand, die Kopie eines niederländischen Meisters. »In dem Zimmer dort starb der letzte Zieten.«

»Aber Sie sind doch auch ein Zieten«, entgegnete Emilie.

»Nicht eigentlich.« Der Graf lächelte. »1854 starben die Zieten aus. Der letzte echte Zieten ernannte mich testamentarisch zu seinem Erben. Mich, einen Schwerin. Fünf Jahre später wurde ich unter dem Namen Zieten-Schwerin in den Grafenstand erhoben. Ich kam dazu praktisch wie die Jungfrau zum Kinde. Bitte!« Der Graf öffnete die Tür zu einem sehr schlicht eingerichteten Raum, der nur über ein ein faches Bett verfügte, über einen Tisch mit Waschschüssel und einen Stollenschrank. »Die Zieten waren Soldaten«, erklärte er. »Für sie war ein Feldbett schon Luxus.«

»Aber das Gut«, wagte Emilie einen Einwand.

»Natürlich, das Gut. Sie waren auch hervorragende Landwirte. Das Gut wirft einiges ab. Es ist wohlorganisiert. Schon der berühmte alte Zieten hat Wert auf einen gebildeten Verwalter gelegt, einen Mann, der die Landwirtschaft studiert hat. Wert gelegt auf Wissenschaft.«

»Und darauf legen Sie sicher auch Wert?«

»Selbstverständlich.« Der Graf nahm Emilies Arm. Fontane beobachtete es mit einem gewissen, vermutlich bloß kin dischen Unbehagen. »Ich verwalte das Gut selbst«, fuhr von Zieten fort. »Doch nun wollen wir speisen.«

Der Junge, von dem der Graf bereits gesprochen hatte, trug einen Frack, der ihm um einiges zu groß war und wohl von dem kranken Diener stammte. Mit viel Wasser hatte er sein störrisches rötliches Haar in Fasson gebracht. Er mochte vierzehn oder fünfzehn sein, fuhr ständig mit den Fingern zwischen den hohen Kragen und seinen Hals, weil der Kragen scheuerte. So ein Bengel rannte lieber in abgeschnittenen Hosen und barfuß über die Felder, als dass er seine Herrschaft und ihre Gäste bediente. Nur weil sein Vater krank war, hatte er sich in den Frack kleiden müssen. Und nur deshalb wartete er auf Befehle.

Die Terrasse befand sich nicht an der Wasserfront des Schlosses, sondern an dessen nordwestlichem Flügel, sodass man zwar in den Park schauen konnte, sich aber vorbeugen musste, wenn man rechterhand den See erblicken wollte. Eine Freitreppe führte auch hier in den Lustgarten, ein Pavillon, der mit dem Schloss verbunden war, begrenzte die Terrasse nach links.

Zwischen der Flügeltür und der Treppe stand ein Gartentisch, den drei Stühle aus weiß gestrichenem Metall um gaben. Der Tisch war gedeckt: Ein frisch gestärktes weißes Tischtuch mit blauer Bordüre harmonierte mit weißem Porzellan, das ebenfalls einen blauen Rand hatte. Mit Veilchen hatten die Porzellanmaler die Teller, Tassen und Terrinen verziert.

»Voilà!« Graf Albert Julius rückte Emilie den Stuhl zurecht.

»Johannes«, wandte er sich an den Jungen, »trage nun die Krabbensuppe auf!«

»Jawohl, gnädiger Herr.« Der Knabe machte einen Diener, blieb aber stehen.

»Und warum gehst du nicht?«

»Die Schuhe drücken. Ich hab schon Blut im Schuh.«

»Wie beim Aschenbrödel?«

»Genau, gnädiger Herr.«

»Wessen Schuhe sind denn das?«

»Von Papa, gnädiger Herr. Aber meine Füße sind schon viel größer als seine. Und sie wachsen noch.«

»Es ist doch aber so«, sagte von Zieten-Schwerin, »dass du uns kaum im Frack, aber ohne Schuhe bedienen kannst.«

»Nein, Herr.«

»Was also tun wir?«

»Ich hole die Suppe humpelnd.«

»D’accord. Und morgen kommst du ins Bureau und holst dir Geld für neue Schuhe.«

»Danke, Herr Graf.« Der Knabe verschwand.

»Sie haben sich nun aber doch in Unkosten gestürzt«, sagte Emilie. »Krabbensuppe …«

»Rechnen Sie nicht mit einem Hauptgericht. Es gibt nur Kanapees. Nach der Suppe. Und die ist exzellent. Zubereitet aus frischen brandenburgischen Krabben und mit einem Schuss Wein verfeinert.«

Der Junge kam zurück – ohne Suppe. Aufgeregt, offenbar spürte er die drückenden Schuhe nicht mehr. Ihm folgte ein hagerer Mann von mittlerer Größe, der wie der Hausherr ein Tweedsakko trug, äußerst besorgt aussah und sich vor dem Grafen verbeugte.

»Mein Jagdpächter«, stellte von Zieten ihn vor. »Was gibt es?«

»Wir haben einen Toten im Wald zwischen Wustrau und Altfriesack gefunden. Sieht nach Selbstmord aus.«

»Der Schuss!«, rief Fontane spontan und schaute zu seiner Frau.

»Welcher Schuss?«, fragte der Graf.

»Wir haben auf dem See einen Schuss gehört.«

»Der Mann hat sich tatsächlich erschossen«, meinte der Pächter. »Mit einer Jagdpistole.«

»Johannes!« Der Graf war aufgestanden und wandte sich an den Knaben. »Trage Sorge dafür, dass der Landrat und der Amtsrichter in Neuruppin verständigt werden.«

»Aber wie, gnädiger Herr? Soll ich anspannen lassen?«

»Ja, für uns. Du nimmst das Boot.«

»Aber meine Füße …«

»Häng den Frack an den Nagel und die Schuhe sonstwohin. Mach, dass du fortkommst. Den Landrat und den Amtsrichter, hast du verstanden?«

»Natürlich, Herr.« Der Junge lief davon. Trotz des Blutes in den Schuhen humpelte er nicht.

»Wo ist es passiert?«, wollte der Graf von seinem Pächter wissen.

»Jagen dreiundzwanzig.«

»Da brauchen wir keinen Wagen«, sagte von Zieten. »Gnädigste«, wandte er sich an Emilie, »Sie erlauben, dass wir uns dieser Sache annehmen und Sie sowie Ihren Herrn Gatten für den Moment verlassen?«

»Ich würde mir die Sache selbst gern anschauen«, erwiderte Fontane. Es gehörte zum Beruf des Schriftstellers, sich auch den schrecklichen Dingen nicht zu verweigern.

»Aber es ist kein schöner Anblick«, sagte der Jagdpächter.

Der Knabe trug unterhalb der Knie abgeschnittene Hosen und war barfuß, als er ins Boot sprang, um nach Neuruppin zu rudern. Er sah sehr glücklich aus. Fontane nickte ihm zu. Der Jagdpächter gesellte sich zu ihm.

»Hermann Krage«, stellte er sich vor.

»Fóntan«, erwiderte Fontane gedankenlos. »Théodore Fóntan.«

Krage runzelte die Stirn.

»Franzose?«, erkundigte er sich in einem Ton, als hätte er eigentlich fragen wollen: Erbfeind?

»Nein, nein.« Fontane hätte sich dafür verfluchen können, dass er es bevorzugte, seine Namen französisch auszusprechen, eine Marotte, oder, wie es die Engländer ausgedrückt hätten: ein Spleen. »Meine Familie stammt aus der französischen Kolonie Berlins.«

»Also Hugenotte. Dann sind Sie ja gut protestantisch wie jeder anständige Preuße.«

»Mhm«, brummte Fontane. Seine Vorfahren waren Calvinisten gewesen und Luther war ihm seit jeher suspekt; seiner Ansicht nach hatte der Reformator nichts anderes in die Welt gebracht als neue Dogmen, Unduldsamkeit, Hexenprozesse und langweilige Nüchternheit. Doch behielt er seine Anschauung lieber für sich. »Theodor Fontane«, korrigierte er sich.

»Der Graf sagte, Sie seien Schriftsteller?«

»Ja, das bin ich. Im Moment verdiene ich mein Brot allerdings mehr mit der Zeitungsschreiberei als mit dem Verfassen von Romanen. Doch das wird sich ändern«, sagte Fontane im Brustton der Überzeugung und übertönte damit die Zweifel, die ihn manchmal für Wochen aufs Krankenbett warfen.

»Ich für meine Person lese gern Gustav Freytag«, er klärte Krage. Bevor der Pächter Fontane nach seiner Meinung über Freytag fragen konnte, erschien der Graf auf der Freitreppe.

»Ich habe Ihre Frau Gemahlin in die Bibliothek geleitet und die Köchin angewiesen, sie mit Kaffee und Gebäck zu traktieren«, sagte er. »Mit fast schlafwandlerischer Sicherheit hat die Gnädigste sogleich Ihr Werk Der Krieg gegen Frankreich entdeckt. Man wird Sie dafür schelten, Fontane. Wie können Sie nur dem Feind so viel Gerechtigkeit widerfahren lassen?«

»Er hat sie verdient.«

»Das sagen Sie mal dem Kriegsminister. Oder dem Herrn Ministerpräsidenten, von Ihrer Majestät ganz zu schweigen.« Von Zieten-Schwerin warf seinem Jagdpächter einen kurzen Blick zu. »Nun aber los, Krage. Sie übernehmen die Tête.«

Krage nickte, dann führte er Fontane und den Grafen von Wustrau in Richtung auf Altfriesack, ein Fischerdorf, das ebenfalls an der Südspitze des Ruppiner Sees gelegen war. In der Grafschaft Ruppin hatte Fontane es erwähnt, ohne näher auf den Ort einzugehen. Die Altfriesacker waren bekannt für ihre Sagen. Auch den Selbstmörder würde man vermutlich bald in eine Legende verwandeln, womöglich eine, in der der Teufel eine Rolle spielte.

»Wissen Sie denn, wer der Tote ist?«, fragte Fontane den Pächter.

»Nein. Mir ist er nicht bekannt.«

»Niemand aus der Gegend?«

»Eher nicht. Aber ich habe nicht so genau hingeschaut.«

Krage bog nach rechts von der Chaussee, die Wustrau mit Altfriesack verband. Nun ging es wirklich in den Wald.

Der Weg war schmal, sodass sich die drei Männer nur im Gänsemarsch fortbewegen konnten. Er zwang sie hin und wieder zu einer Verbeugung vor niedrigen, über den Pfad ragenden Ästen; ohnehin war es ratsam, den Kopf gesenkt zu halten, um nicht über eine der vielen Wurzeln zu stolpern, die sich aus dem Boden hervorgewagt hatten.

Schließlich führte der Weg auf eine kleine, grasbewachsene Lichtung.

»Dort.« Krage blieb stehen und deutete auf eine Wildschweinsuhle. Sein Gesicht hatte sich entfärbt. Irgendwo hoch über ihnen pickte ein Specht nach Käfern.

Obwohl er an den Kriegsschauplätzen, die er in den letzten Jahren besucht hatte, viele verstümmelte Leichen gesehen hatte, fühlte sich Fontane äußerst unwohl.

»Da dies mein Wald ist, werde ich als Erster nähertreten«, sagte der Graf mit gesenkter Stimme.

Behutsam einen Fuß vor den anderen setzend, begab er sich an den Rand der Suhle. Er schaute hinein – und wandte sich sofort wieder ab. Für einen Moment schloss er die Augen und atmete tief durch.

»So schrecklich?«, entfuhr es Fontane.

Der Graf nickte. »Ein Schuss in die Schläfe«, konstatierte er. Er sprach so leise, als wolle er die Ruhe des Toten nicht stören. »Ersparen Sie sich den Blick in die Grube.«

Fontane zögerte. Schließlich nahm er jedoch all seinen Mut zusammen und trat an die Vertiefung im Waldboden heran. Es war feucht auf ihrem Grund und die Wildschweine hatten den Schlamm um und um gewühlt. Dort wo sich die Tiere normalerweise suhlten, lag ein Mann auf dem Bauch, das Gesicht halb im Schlamm. Um seinen Kopf hatte sich eine Blutlache gebildet, mit schmutzigem Wasser vermischt, die schwach rötlich glänzte. Nahezu absurd war der Umstand, dass der Mann einen Frack und Lackschuhe mit leicht gerundeten Spitzen trug.

Etwa einen Meter neben ihm lag eine Jagdpistole. Fontane bemerkte sofort, dass es sich um eine ungewöhnliche und kostbare Arbeit handeln musste: Der Griff war mit dünnen Silberplatten beschlagen, die der Büchsenmacher mit einer Treibarbeit versehen hatte. Was diese Gravuren darstellten, konnte er allerdings nicht erkennen, da er auf Abstand hielt. An den Rand der Grube zu treten hatte bereits genug Kraft gekostet, hinein würde er sich nicht begeben. Obwohl kein Waffenkenner, schätzte Fontane das Alter der Pistole auf etwa hundert Jahre; eher ein Sammlerstück, das die Wand im Salon eines Gutshauses zierte, als dass man sie für einen Fangschuss benutzte. Dass sie funktionstüchtig war, bewies der Leichnam.

Noch etwas fiel Fontane auf: Die Gräser auf der Lichtung waren in einem großen Bogen um die Suhle herum niedergetreten. Gerade die Größe der Fläche war es, die ihn verwunderte. Wildschweine konnten das Gras nicht heruntergetrampelt haben, da sie ihre Suhlen erst in der Dämmerung aufsuchten. So musste diese breite Schneise von dem Selbstmörder stammen, der ja womöglich seine tödliche Entscheidung lange überlegt hatte und dabei auf und ab gegangen war. Das zumindest war eine Erklärung. Wie es aussah, hatte sich der Mann am Rand der Grube getötet und war dann mitsamt der Waffe hineingestürzt.

Fontane hörte den Pächter in seinem Rücken fragen: »Es ist doch Selbstmord, nicht wahr?« In seiner Stimme schwang ein leiser Zweifel mit. »Als ich den Schuss hörte, nahm ich an, dass ein Wilderer sein Unwesen treibt. Ich war also auf der Hut, schließlich hatte ich selbst keine Waffe bei mir, und mit diesen Leuten ist nicht zu spaßen. Vor zwei Jahren hat ein Wilddieb mir nichts, dir nichts eine Kräutersammlerin erschossen, die ihn auf frischer Tat antraf.«

Fontane wandte sich um. »Was wollen Sie damit sagen?«

Krage, noch immer bleich, entgegnete: »Wie gesagt, ich habe nicht so genau hingeschaut. Ein kurzer Blick in die Grube … dann bin ich stante pede zum Schloss.«

»Dafür müssen Sie sich nicht schämen«, erwiderte der Graf.

»In meinen Wäldern stolpert man für gewöhnlich nicht über Leichen, und seit jenem traurigen Fall hat es keine Wilderei mehr gegeben. Jedenfalls ist mir nichts Gegenteiliges bekannt geworden.«

Der Jagdpächter schluckte. »Mir auch nicht«, sagte er.

Fontane schaute abermals auf den Toten und die Pistole. Er wollte nun doch die Gravuren etwas näher in Augenschein nehmen, da sie vielleicht etwas über den Besitzer verrieten. Er machte einen Schritt in die Grube hinein, versank mit den Stiefeln im Schlamm und beschmutzte sich den Aufschlag der Hose. Obwohl der Schuss die Hälfte des Kopfes weggerissen hatte, war noch etwas vom Gesicht des Opfers übrig geblieben, und plötzlich hatte Fontane das entsetzliche Gefühl, den Mann zu kennen. Sofort sprang er zurück auf festen Boden. Er atmete schwer.

Den Mann kannte er tatsächlich.

»Aber mein Herr!« Der Graf eilte auf Fontane zu und fasste ihn unter die Arme. Auch Krage kam hinzu. Er hielt den Kopf von der Suhle abgewandt. »Herr Fontane, mein Gott!«

»Nichts. Es ist nichts.« Fontane richtete sich auf. »Der Mann … das ist Friedrich Georg Schwartz«, flüsterte er.

»Sie kennen ihn?« Der Graf schaute ihn fassungslos an. Noch immer pochte der Specht.

»Recht gut sogar. Er hat wie ich bei der Centralpresse stelle des Preußischen Ministeriums des Innern gearbeitet. Vor Jahren. Er ist natürlich älter geworden, aber …« Fontane verstummte.

»Schwartz, sagten Sie?«

»Friedrich Georg Schwartz, ja.«

»Der Schwartz von Gnewikow?«

Fontane blickte den Graf verwundert an. »Von Gnewikow?

Nein. Aus Berlin.«

»Ich glaube, ich weiß, wer er ist.« Von Zieten rieb sich das Kinn. »Die Vornamen sagen mir nichts, aber der Familienname. Ein gewisser Schwartz hat sich im Juli mit Antonia Freifrau von Blohm auf Gnewikow vermählt, was einige Zeit Gesprächsstoff in der Gegend bot. Sie wissen schon, ein Bürgerlicher und eine Frau von Familie, für manchen ist das fast Gotteslästerung.«

»Schwartz hat eine Freifrau geheiratet? Das passt zu ihm.«

»Wenn es dieser Schwartz dort in der Suhle ist … Ich persönlich kenne ihn nur vom Hörensagen, aber so viele seines Namens wird es in der Umgebung wohl nicht geben, und Gnewikow ist nicht weit. Seltsam.« Der Graf schaute noch einmal an Fontane vorbei in die Grube. »Was macht ein solcher Mann im Frack und mit Lackschuhen im Wald? Er ist für einen Empfang gekleidet, nicht für einen Waldspaziergang.«

Unwillkürlich trat von Zieten einen Schritt zurück.

»Das ist in der Tat verwunderlich. Schwartz hat in der Gründerzeit eine enorme Karriere gemacht. Kurz nach dem Sieg über Frankreich hat er die Arbeit bei der Centralpressestelle an den Nagel gehängt und sich aufs Spekulieren verlegt.«

»Da war er nicht der Einzige«, meinte der Jagdpächter.

»Das ist wohl wahr. Ich weiß nicht genau, woher er das Kapital hatte …«

»Na ja, das Kapital lag ja quasi auf der Straße«, behauptete Krage.

Fontane schüttelte den Kopf. »So einfach ist es nun auch wieder nicht. Schwartz hat natürlich Aktien ausgegeben, wie es ja selbst kleine Mühlenbesitzer für gigantische Unternehmungen taten. Seines heißt BEFABAG. Die Abbreviatur steht für Berlinische Familienhaus Bau AG. Sie wissen, Herr Graf, dass man die Mietskasernen in Berlin euphemistisch Familienhäuser nennt?«

»Nun, auch auf Gut Wustrau liest man Zeitung«, sagte von Zieten-Schwerin. »Außerdem halte ich mich gelegentlich in der Hauptstadt auf.«

»Verzeihung, ich wollte wirklich nicht …«

Der Graf winkte ab. »Er hat diese grässlichen Häuser gebaut? Beziehungsweise bauen lassen?«

»Blockweise. In ganz großem Stil. Und ich habe mich immer gefragt, wie der Mann es geschafft hatte, quasi über Nacht zum Millionär zu werden. Ich weiß, anderen ist es auch gelungen, aber Schwartz? Ich kannte ihn als mittelmäßigen Duckmäuser, mit anderen Worten: als den idealen Preußen.«

»Na, na!« Von Zieten lächelte zwar, aber dieses Lächeln geriet ihm ein wenig schief. »Ich fühle mich auch als guter Preuße, halte mich aber weder für mittelmäßig noch für einen Duckmäuser.«

»Das unterscheidet den guten vom idealen Preußen«, entgegnete Fontane, und auch über sein Gesicht huschte ein Lächeln.

»Millionär war der Mann also?«, fragte der Graf.

»Mehrfacher. Er befand sich auf dem Höhepunkt seines Erfolgs. Die Geschäfte liefen prächtig, jedenfalls wenn man der Presse Glauben schenkt.«

»Und warum bringt sich ein solcher Mensch um?«

»Genau das«, sagte Fontane, »frage ich mich auch.«

Zweites Kapitel

»Unglaublich.« Amtsgerichtsrat Frölich schob seine Brille zurecht. Gemeinsam mit Landrat Heinrich Loewe und dem Arzt Doktor Friedrich Kölling war er soeben am Ort des Geschehens eingetroffen. Er hatte einen oberflächlichen Blick auf den Toten geworfen – und auch er hatte ihn erkannt.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ausgerechnet Freiherr Schwartz von Blohm schießt sich in den Kopf? Ein Mann, der alles hatte? Geld, Glück und eine Frau von Familie? Un-glaub-lich!«

Nachdem Johannes den Landrat und den Richter aufgesucht und diese nach dem Arzt geschickt hatten, waren die drei Männer im Landauer des Landrates aufgebrochen und hatten, da sie im Wald eines Führers bedurften, wohl oder übel den Jungen mitnehmen müssen; eher übel, dachte Fontane, als er dessen schmutzige Füße betrachtete. Johannes hatte es vermieden, sich der Grube zu nähern. Stattdessen lehnte er an einem Baum und trat von einem Bein auf das andere, denn mittlerweile war die Dämmerung hereingebrochen und der Boden kühlte rasch aus. Auch die Luft war keineswegs mehr so angenehm mild wie am Tage.

»Man wird nach Gut Gnewikow schicken müssen«, sagte der Landrat. »Der Major wird außer sich sein, dass er keine drei Monate nach der Hochzeit seinen Schwiegersohn verloren hat.«

»Und die Gattin erst«, bemerkte der Arzt, der hier nur eines noch hatte tun können: das Offensichtliche bestätigen. »Ihr Mann hat sie durch seine Tat zur Witwe gemacht.«