Teil I:
Die vier Tyranneien

1. Kapitel: Macht

Die vier Tyranneien und die Wurzeln der Herrschaft

Es ist toll ein Herrscher zu sein!
Bedienungsanleitung für das Computerspiel Civilization IV

Stellen wir uns die Zeitspanne seit dem ersten archäologisch dokumentierten Auftauchen des Homo sapiens vor etwa 200.000 Jahren bis heute als einen einzigen Tag vor: Dann nimmt die Zeit, in der Menschen ausschließlich als Jäger und Sammler gelebt haben, fast 23 Stunden ein. Die Epoche seit Beginn des Ackerbaus vor gut 10.000 Jahren – der »neolithischen Revolution« – umfasst dagegen nur die letzte Stunde. Jäger und Sammler lebten und leben in kleinen Verbänden, die relativ egalitär organisiert sind, nicht zuletzt, weil bei der Jagd Kooperation überlebensnotwendig ist.1 Der Übergang zum Ackerbau und zur sesshaften Lebensweise ließ dagegen weitaus größere Organisationsformen zu und ermöglichte es unter Umständen Einzelnen, größeren Reichtum zu akkumulieren – was jagende und sammelnde Nomaden kaum konnten, weil ihr Besitz leicht transportabel sein musste. Der Übergang zum Ackerbau gilt als eine Voraussetzung für gesellschaftliche Schichten- und Klassenbildung; und doch ist er bei weitem nicht der einzige, ja vielleicht nicht einmal der ausschlaggebende Faktor. Bis zum Beginn der Bronzezeit zwischen 4000 und 3000 v. Chr. zeigen die archäologischen Befunde in den Gebieten, wo damals bereits die sesshafte Lebensweise dominierte, noch kaum Spuren größerer sozialer Unterschiede oder hierarchischer Organisation.2 Selbst in der größten bisher entdeckten neolithischen Siedlung, Çatal Höyük in Anatolien, die um das Jahr 6000 v. Chr. etwa 3000 Einwohner umfasste, haben alle Häuser ungefähr die gleiche Größe. Paläste oder zentrale Tempel fehlen vollkommen. Auch Hinweise auf größere militärische Zurüstungen gibt es nicht.3

Mit Beginn der Kupfer- und der Bronzezeit ändert sich diese Situation aber. Anschaulich zeigt sich diese Weggabelung an der Pfahlbautenkultur am Bodensee: Hatten die frühesten Bewohner dieser Bauten alle etwa die gleichen Technologien zur Verfügung, die auf der Nutzung von Holz und Stein beruhten – Ressourcen, die allen zugänglich waren –, kam es mit Beginn des Einsatzes von Metallen, besonders der Bronze, zu einer Teilung der Gesellschaft in Wenige, die in der Lage waren, Bronze zu beschaffen und zu bearbeiten, und andere, die keinen Zugang dazu hatten. Während einige Menschen in aufwändigen Bronzerüstungen bestattet wurden, fehlte bei anderen eine solche Ausstattung. Zeigten die Essensreste der Pfahlbautenbewohner aus der Vor-Bronze-Zeit noch, dass alle in etwa das Gleiche aßen, fanden sich in der Bronzezeit bereits erhebliche Unterschiede: Die einen ernährten sich überwiegend von Getreide, die anderen (die Metallbesitzer) auch in großen Mengen von Fisch. Das Aufkommen ähnlicher Ungleichheiten findet sich überall dort, wo ein Übergang zur Bronzezeit stattgefunden hat: in Mesopotamien und Ägypten ebenso wie – fast tausend Jahre später – in Mitteleuropa und am Gelben Fluss in China.4

Zwischen der vergleichsweise egalitären Phase, die den größten Teil der Menschheitsgeschichte umfasst, und dem Aufkommen von sozialer Schichtung und Dominanzbeziehungen liegen einschneidende Veränderungen, die bei weitem nicht nur die Metallverarbeitung betreffen. Im Übergang zur Bronzezeit wurden die Grundlagen dessen geschaffen, was wir heute unter »Zivilisation« verstehen. Im mesopotamischen Sumer am Persischen Golf entwickelten sich aus Siegelzeichen um 3200 v. Chr. die ersten Schriftsysteme.5 Zur selben Zeit entstanden dort die ersten Städte und mit ihnen die ersten Staaten. War Çatal Höyük noch ein großes Dorf mit wenigen Tausend Einwohnern, so handelte es sich bei Uruk mit 50.000 Einwohnern bereits um eine Stadt, in der es komplexe Arbeitsteilung und Verwaltung gab. Die sozialen und rechtlichen Unterschiede in diesen Stadtstaaten waren zunächst noch nicht allzu groß, eine Oligarchie von reichen Familien entwickelte sich erst langsam. Das Zentrum dieser ersten Städte bildeten große Tempelanlagen, deren Verwalter die landwirtschaftliche und handwerkliche Produktion organisierten und die Erzeugnisse an die Bewohner zurückverteilten. Doch innerhalb weniger Jahrhunderte entstand neben den Tempeln eine parallele Zentralstruktur: die Herrscherpaläste. Um 2800 v. Chr. hatten sich alle sumerischen Stadtstaaten – Eridu, Uruk, Nippur, Lagasch, Kisch, Ur – bereits in Königreiche verwandelt, die von einem »Lugal« regiert wurden, der zunehmend über despotische Macht verfügte.

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Herrscher von Uruk und gefesselte Gefangene (um 3000 v. Chr.).

Die Lugal waren ursprünglich Feldherren, die militärische Führungsrollen in den zahlreichen Konflikten zwischen den Stadtstaaten übernahmen. Diese Konflikte nahmen in dem Maße zu, wie sich hinter den Mauern der befestigten Städte, in den Vorratsspeichern der Tempel und Paläste, Reichtümer an Naturalien und Edelmetallen anhäuften. Um diese Besitztümer zu verteidigen (oder sich weitere anzueignen), waren die Lugal zunächst nur für eine befristete Zeit eingesetzt. Doch nach und nach gelang es ihnen, ihre Position zu einer kontinuierlichen Herrschaft auszubauen. Der umverteilende Tempel und die Militärdiktatur verschmolzen zum ersten autoritären Staat. Spätestens an diesem Punkt war der Staat – erstmals in der Geschichte der Menschheit – in der Lage, Zwangsgewalt über seine Einwohner auszuüben, am offenkundigsten durch die Autorität des Königs, Todesurteile auszusprechen. Einer der frühesten Texte, der über diese Zwangsgewalt spricht, ist das Gilgamesch-Epos aus dem 24. Jahrhundert v. Chr. Es handelt von einem der frühen Könige von Uruk, laut Bericht »zwei Drittel Gott, ein Drittel Mensch«:

Nicht lässt Gilgamesch den Sohn zum Vater.
Nicht lässt Gilgamesch die Jungfrau zum Geliebten.
Keinen Nebenbuhler hat seiner Waffen Macht.
Er ist nun der Hirte von Uruk-Gart
und dennoch unterdrückt er die Stadt.6

Die drei Tyranneien

Wie ist es zu diesem radikalen gesellschaftlichen Wandel gekommen, der für die weitere Geschichte bis heute prägend wurde? Warum hat die Mehrzahl der Menschen zugelassen, dass sich Eliten bilden, die über sie herrschen und einen Teil ihrer Erträge in Form von Steuern einziehen, um damit Armeen zu finanzieren und gewaltige Paläste zu bauen? Warum haben Menschen es zugelassen, dass solche Eliten ihre Beziehungen untereinander reglementieren und sogar über ihr Leben verfügen können? Wie und warum, mit einem anderen Wort, haben die Menschen gelernt zu gehorchen? Denn vor der Entstehung von autoritären Staaten und Armeen, vor der Einführung von Zwangsarbeit und Sklaverei gab es keine Gesellschaften, die auf dem Mechanismus von Befehl und Gehorsam beruhten. Die Ältesten einer Jäger- und Sammlergesellschaft verfügten zwar über Prestige und Autorität, sie konnten versuchen etwas durchzusetzen, aber sie verfügten über keine Macht, sie konnten nicht befehlen.

Der britische Soziologe Michael Mann hat in seinem Buch Geschichte der Macht darauf hingewiesen, dass die Entstehung einer »Zivilisation« – und damit von Macht und Herrschaft – keineswegs eine natürliche, unvermeidliche Entwicklung ist, sondern historisch eine erstaunliche Ausnahme darstellt.7 In praktisch allen nicht-staatlich verfassten Gesellschaften gibt es Mechanismen, um solche Machtballungen zu verhindern. Selbst die frühen sumerischen Stadtstaaten zeugen in ihrer Bemühung, die Macht des Lugal zu begrenzen, noch von solchem Widerstand.

Was aber hat diesen Widerstand überwältigt? Wie konnte sich der Befehl, und mit ihm die Macht, durchsetzen? Oder umgekehrt gefragt: Was muss der Fall sein, damit Menschen in Positionen geraten, in denen sie einem Befehl gehorchen?

Es gibt im Prinzip drei Arten von Gründen, die einen Menschen dazu bringen können, einen Befehl auszuführen. Der erste, offensichtlichste Typ ist die Angst vor physischer Gewalt: vor der Erniedrigung, dem Schmerz und schließlich der körperlichen Verletzung oder dem Tod. Die zweite Kategorie von Gründen umfasst die Angst vor ökonomischem Schaden oder sozialer Herabsetzung bis hin zum Entzug der Lebensgrundlagen – bzw. umgekehrt den Wunsch nach sozialem Aufstieg und Anerkennung. Die dritte Art von Gründen zu gehorchen, beruht auf der Annahme, es sei richtig und notwendig, dass es Menschen gibt, die befehlen, und andere, die gehorchen – sei es, weil die Befehlenden ein höheres Wissen besitzen, sei es, weil eine natürliche, gottgegebene Ordnung solche Hierarchien vorsieht.

Das Pendant zu diesen drei Gründen zu gehorchen sind die drei Typen von Macht, die ich als die drei Tyranneien bezeichne:

  1. Physische Macht, besonders in der Form von Waffengewalt. Diese Macht konsolidiert sich im Laufe der Geschichte unter anderem im militarisierten Staat.
  2. Strukturelle Gewalt, besonders in der Form ökonomisch-sozialer Macht. Diese Art der Machtausübung beruht auf einer systematisch ungleichen Verteilung von Rechten, Besitz, Einkommen und Prestige. Damit solche Ungleichheiten und die auf ihnen beruhende Machtausübung akzeptiert werden, bedarf es sowohl der ideologischen Macht, die solche Zustände rechtfertigt, als auch der physischen Macht, die im Zweifelsfall einschreiten kann.
  3. Ideologische Macht. Diese Form der Macht reicht von der exklusiven Beherrschung der Schrift über die Kodifizierung religiöser, moralischer oder wissenschaftlicher Ideologien bis zur modernen »Expertokratie« und der Kontrolle von Massenmedien. Sie dient dazu, die ersten beiden Formen der Macht zu legitimieren – oder sogar unsichtbar zu machen –, indem sie definiert, was »wahr«, »normal«, »relevant« und »wirklich« ist.

In ihrem Zusammenwirken bilden diese drei Formen der Macht das, was der Soziologe Max Weber »Herrschaft« genannt hat: eine Beziehung zwischen Menschen, in der ein Befehlender damit rechnen kann, Gehorsam zu finden.8

Physische Macht

Physische Gewalt gibt es in allen menschlichen Kulturen, wenn auch in sehr unterschiedlichem Ausmaß. Mit physischer Macht haben wir es aber erst zu tun, wenn diese Gewalt systematisch ausgeübt werden kann, wenn also Menschen andere dauerhaft zu etwas zwingen können, und zwar durch Androhung oder Anwendung physischer Gewalt.

Physische Macht ist heute so alltäglich, dass wir sie beinahe für naturgegeben halten. Gesellschaften ohne Gefängnisse und Armeen etwa erscheinen uns als utopisch. Die Staatstheoretiker der frühen Neuzeit wie Thomas Hobbes behaupteten, dass die physische Macht des Staates notwendig sei, um den »Krieg aller gegen alle«, wie er im »Naturzustand« herrsche, zu zähmen – und dass es daher für alle vernünftig sei, dem Gewaltmonopol des Staates zuzustimmen.9 Doch solche Vertragstheorien haben einen Haken: Die Gründung eines Staates aus diesen Motiven ist noch nirgendwo beobachtet worden. Und auch einen »Naturzustand«, in dem alle gegeneinander Krieg führen, gab es in der Menschheitsgeschichte nicht. Im Gegenteil, die systematische Gewaltanwendung nimmt mit der Entstehung von staatlicher Macht in Form von Armeen und Polizeikräften zu, nicht ab. Dazu schreibt Michael Mann:

Die vergleichende Anthropologie macht sichtbar, daß die Häufigkeit von Kriegen, ihr Organisationsgrad und ihre Härte, gemessen an der Zahl von Toten, zunächst mit der Seßhaftigkeit von Menschen und dann mit ihrer Zivilisierung sprunghaft zunehmen. Quantitative Studien haben zudem ergeben, daß die Hälfte der Kriegshandlungen primitiver Völker relativ sporadisch, unorganisiert, ritualistisch und ohne Blutvergießen getätigt werden (…), wohingegen sämtliche Zivilisationen, deren Geschichte uns schriftlich überliefert ist, sozusagen routinemäßig in hochorganisierte und blutige Kriege verstrickt sind.«10

Staaten und ihre Armeen sind natürlich nicht die einzigen Institutionen, in denen sich physische Macht organisiert. Räuberbanden und Mafias – aus denen auch Staaten hervorgehen können – gehören ebenso dazu wie autoritär organisierte Familien, in denen das Familienoberhaupt sogar bisweilen, wie einst im Römischen Reich, über Leben und Tod der anderen Familienmitglieder entscheiden kann.11 Bei keiner dieser Formen der Macht werden diejenigen, die ihr unterworfen werden, nach ihrer Zustimmung gefragt. Im Gegenteil: Physische Macht ist gerade dadurch definiert, dass sie gegen den Willen der Unterworfenen ausgeübt wird. Wie aber ist es dann dazu gekommen, dass sich systematische physische Macht von Menschen über Menschen überhaupt verbreiten und festigen konnte? Wo liegen die Ursprünge?

Wenn wir zu den Pfahlbauten in Süddeutschland und den Trägern von Bronzerüstungen zurückkehren, liegt der Schluss nahe, der Ursprung physischer Macht bestehe in der überlegenen Waffentechnik durch Metallverarbeitung. Zweifellos bildete die Bronzetechnik eine wichtige Voraussetzung für die Möglichkeit von gesellschaftlicher Dominanz von Menschen über Menschen; denn nicht alle hatten gleichermaßen Zugang zu den Metallen und ihrer Verarbeitung, und der technologische Graben konnte sich zu einem Machtgefälle entwickeln. Der Machtzuwachs durch solche Technologien ist allerdings sowohl innerhalb von Gemeinschaften als auch nach außen zunächst begrenzt. In kleinen Gemeinschaften ist es schwierig, eine Technologie dauerhaft zu monopolisieren, besonders wenn die Gemeinschaft soziale Mechanismen zur Verhinderung von Machtkonzentrationen kennt. Selbst wenn eine Monopolisierung gelingt, können sich – zumindest dort, wo die Bevölkerungsdichte gering ist – diejenigen mit unterlegenen Waffen leicht in andere Gegenden zurückziehen und so einer dauerhaften Beherrschung entgehen. Diese Rückzugsstrategie sehen wir bis auf den heutigen Tag bei vielen indigenen Gruppen, die sich in immer entlegenere Wald- und Bergregionen zurückziehen, um der Beherrschung zu entgehen. Durch die Sesshaftigkeit wird diese Freiheit allerdings eingeschränkt. Und besonders im Schwemmland der Flusstäler von Euphrat, Tigris und dem Nil mit ihrer außerordentlichen Fruchtbarkeit und einem hohen Bevölkerungswachstum gab es gute Gründe, zu bleiben. Michael Mann nennt solche Gründe »Käfigfaktoren«. Sie sind entscheidend dafür, dass Menschen es letztlich zugelassen haben, von anderen beherrscht zu werden.

Darüber hinaus spielt auch die Fähigkeit, physische Gewalt zu organisieren, eine wesentliche Rolle. Die Herausbildung großer arbeitsteiliger Gesellschaften, die Bewässerung, Landwirtschaft und die Massenfertigung von Gütern mittels einer zentralen Verwaltung möglich machten, lieferte auch das organisatorische Know-how für den Aufbau von Armeen. War die Reichweite dieser Macht zu Beginn der frühen Zivilisationen noch gering, so hat sie sich bis zur Spätzeit des Römischen Reiches stetig ausgeweitet. Die Armee des ersten antiken Imperiums, des Akkadischen Reiches (um 2300 v. Chr.), bestand aus ganzen 5000 Mann. Die römischen Truppen der Kaiserzeit (1.–4. Jahrhundert n. Chr.) zählten dagegen Hunderttausende von Soldaten. Mit der Verbreitung von Feuerwaffen zu Beginn der Neuzeit erfuhr die Ausbreitung physischer Macht schließlich einen Schub, der das ganze Weltgefüge verändern sollte. Seither haben sich die Mittel zur physischen Beherrschung und Vernichtung von Menschen in explosionsartiger Weise vervielfacht. Heute legen 18.000 Atomsprengköpfe, deren jeder über die zigfache Zerstörungskraft der Hiroshima-Bombe verfügt, den Befehlshabern der Atomstaaten die Macht über Sein oder Nichtsein der gesamten Menschheit in die Hand.

Strukturelle Gewalt

Die Entstehung ökonomisch-sozialer Macht ist schwieriger zu fassen, weil sie indirekt funktioniert und teilweise sogar in die Unsichtbarkeit entgleitet. Sie ist uns heute oft nicht einmal als solche bewusst. Wer beispielsweise einer Lohnarbeit nachgeht, um seine Miete zu bezahlen, sieht sich nicht unbedingt als Objekt einer Tyrannei, sondern kann durchaus das Gefühl der freien Wahl haben. Die Arbeit ist schließlich freiwillig – man kann sie jederzeit kündigen – und die Miete beruht auf einer freiwilligen Vereinbarung von Vertragspartnern, die ebenfalls gekündigt werden kann. Niemand bedroht den Mieter oder Lohnarbeiter physisch. Und doch gehorcht der Arbeiter oder Angestellte den Anweisungen des Vorgesetzten, sogar dann, wenn er die Arbeit extrem ungern verrichtet oder die Anweisungen für unsinnig hält. Warum? Warum akzeptiert er diese Einschränkungen seiner Selbstbestimmung? Weil er weiß, dass er sonst seine Arbeit verliert, vielleicht nicht beim ersten Widerspruch, aber beim zweiten oder dritten. Und er weiß außerdem, dass er ohne Arbeit die Miete nicht mehr bezahlen kann und seine Wohnung aufgeben muss. Warum aber akzeptiert er, dass er seine Wohnung verlassen muss, sobald er nicht mehr genügend bezahlen kann? Warum gehorcht er dem Vermieter, der ihn auffordert, die Wohnung zu räumen? Weil er weiß, dass er sonst zwangsgeräumt wird – und jeder Widerstand dagegen eine Eskalation der Zwangsmaßnahmen herbeiführen würde.

Selbst hinter einem vollkommen harmlos erscheinenden Lohn- und Mietverhältnis in einem modernen Rechtsstaat steht also am Ende der Kette physische Gewalt. Von dieser latenten Drohung wissen im Prinzip alle, und doch ist die Kette lang genug, um sich der dahinter stehenden Gewalt nicht unmittelbar bewusst zu sein. Der Friedens- und Konfliktforscher Johan Galtung hat solche Verhältnisse »strukturelle Gewalt« genannt: Zwangsverhältnisse, die sich nicht unmittelbar in physischer Gewalt manifestieren.12

Damit strukturelle Gewalt dauerhaft wirksam sein kann und die hinter ihr stehende physische Gewalt nicht oder nur gelegentlich sichtbar wird, bedarf sie einer gewissen Kooperation und sogar eines weitgehenden Konsenses in der Gesellschaft. Die Menschen müssen bestimmte Prämissen als legitim akzeptieren, auch wenn sie deren Konsequenzen nicht mögen. Zu diesen Prämissen gehört zum Beispiel die Annahme, dass es legitim ist, wenn einzelne vermögende Personen Tausende, ja Hunderttausende von Wohnungen besitzen, während Millionen von Menschen über keinerlei Grundbesitz verfügen13; dass es legitim ist, jemanden, der nicht genug Geld bezahlen kann, vor die Tür zu setzen, und zwar zur Not auch mit Gewalt. Die Summe dieser Prämissen besagt, dass solches Eigentum nicht nur legitim ist, sondern dass es Vorrang vor fast allen anderen Rechten hat.

Eigentumsverhältnisse von diesem Typ, die mit Gewalt durchgesetzt werden können, haben sich historisch über Jahrtausende entwickelt – und mit ihnen die Ideologien, die sie legitimieren. Die Ursprünge reichen wiederum bis nach Sumer zurück. Über die Eigentumsverhältnisse in prähistorischer Zeit ist in Ermangelung schriftlicher Zeugnisse wenig bekannt. Die archäologischen Befunde aus den frühen sesshaften Kulturen, etwa in Çatal Höyük, zeigen weitgehend egalitäre Verhältnisse bei der Bebauung und den Grabstätten, was den Schluss nahe legt, dass es noch keine Konzentration von Landbesitz in den Händen Weniger gab.14 Mit Sicherheit existierte kein Begriff von Eigentum, der mit unserem heutigen Begriff vergleichbar wäre.15 Vermutlich wurden Äcker, Weiden und Wälder gemeinschaftlich genutzt – oder die Gemeinschaft verteilte Nutzungsrechte für das Land, die allerdings nicht verkäuflich oder verpfändbar waren. Ähnliche Wirtschaftsformen finden sich noch heute sowohl in traditionellen indigenen Gemeinschaften16 als auch in modernen Allmende-Systemen, wie sie von der Wirtschaftsnobelpreisträgerin Elinor Ostrom systematisch untersucht wurden.17 Auch die frühen Stadtstaaten in Sumer haben noch lange dieses Prinzip aufrechterhalten und zwar durch den Tempel, der die Bewirtschaftung großer Flächen koordinierte und die Erträge an die Bewohner – nach bestimmten Schlüsseln – verteilte. Zugleich aber entwickelten sich erste Formen von privatem Grundbesitz in der Hand einiger Familien. Die frühesten Zeugnisse von Landkäufen in Sumer datieren um die Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr.18

Obwohl die Ursprünge der Landprivatisierung noch zum Teil im Dunkeln liegen, ist die Richtung der historischen Entwicklung in den folgenden Jahrtausenden eindeutig: In dem Maße, wie das Land zur Ware wurde, konzentrierte sich der Landbesitz in den Händen Weniger. Der Gipfel dieser Entwicklung waren die römischen Großgrundbesitzungen, die Latifundien, auf denen Tausende von Sklaven und landlosen Saisonarbeitern sich abmühten. Plinius der Ältere berichtet, dass zur Zeit Neros die Hälfte des Landes der Provinz Africa in der Hand von sechs Großgrundbesitzern lag.19 Die Besitztitel wiederum wurden – mit der fortschreitenden Kodifizierung des Eigentumsrechts – von der organisierten physischen Gewalt des Staates geschützt.

Diese Privatisierungswelle hatte weitreichende Folgen. Wo das Land in Privatbesitz war, waren es auch die Erträge. Wer über viel und besonders fruchtbares Land verfügte, konnte andere, die kein Land oder schlechtes Land besaßen, für sich arbeiten lassen und sich selbst anderen Tätigkeiten widmen, zum Beispiel dem Handel oder der Verwaltung. Von den Überschüssen kaufte man auch Sklaven, die zunächst vor allem aus Kriegsgefangenen rekrutiert wurden.

Die Privatisierung von Land und seinen Erträgen hatte auch noch eine andere Konsequenz, die für die Ausweitung der Macht von Menschen über Menschen im Allgemeinen und die Ausbreitung der Sklaverei im Besonderen von entscheidender Bedeutung war: die Erfindung der Schulden. Der Anthropologe David Graeber hat in seinem Buch Schulden. Die ersten 5000 Jahre deutlich gemacht, dass Kreditbeziehungen in vielen Gesellschaften anzutreffen sind, auch solchen, die über kein Geld verfügen. In nicht marktförmig organisierten Gesellschaften sind solche Kreditbeziehungen Teil des sozialen Gewebes, sie tragen dazu bei, ein Netz gegenseitiger Verpflichtungen zu knüpfen. Diese Form von Kredit weist aber zwei entscheidende Unterschiede zum kommerziellen Kredit auf: Er muss, erstens, nicht um jeden Preis zurückgezahlt werden; und er ist, zweitens, nicht handelbar. Kredite dieser Form bleiben also Teil einer persönlichen Beziehung, wie es auch heute noch Kredite unter Freunden sind.20 Würde jemand einen Freund mit Gewalt dazu zwingen, seine Schulden zurückzuzahlen, oder die Schulden an einen Geldeintreiber verkaufen, wäre die Freundschaft beendet. Mit der Privatisierung von Land und der Akkumulation von Vermögen hat sich jedoch eine andere, unpersönliche Form des Kredits verbreitet. Reiche Landbesitzer konnten ärmeren Bauern einen Teil der Ernte leihen, wenn deren eigener Ertrag nicht genügte. Als Sicherheit diente anfangs oft die nächste Ernte des ärmeren Bauern. Fiel diese so aus wie erhofft, konnte der Kredit zurückgezahlt werden; war sie jedoch abermals schlecht, musste der Bauer sein Land verpfänden – und schließlich sogar seine Familie und sich selbst. Auf diese Weise nahm zum einen die Konzentration von Land in den Händen Weniger zu, zum anderen fielen immer mehr Bauern in den Status von abhängig Beschäftigten und schließlich Sklaven. Besonders betroffen waren Frauen, die oft als Schuldpfand herhalten mussten und nicht selten in die Prostitution gezwungen wurden. Das im antiken Sumer am zweithäufigsten erwähnte Handelsgut nach Gerste waren Sklaven. Sie wurden gehandelt wie landwirtschaftliche Produkte oder Vieh. Darauf deutet jedenfalls die Tatsache hin, dass Sklaven in Güterlisten nach den gleichen Kategorien klassifiziert wurden wie Schweine oder andere Haustiere.21 Der Anthropologe Guillermo Algaze formuliert es so: »Die frühen Dorfbewohner des mittleren Ostens domestizierten Tiere und Pflanzen. Die städtischen Institutionen von Uruk dagegen domestizierten Menschen.«22 Es ist eines der schmutzigen Geheimnisse der Zivilisation, dass sie auf der systematischen Einführung der Sklaverei beruht.

Schulden sind strukturelle Gewalt par excellence, vor allem, wenn ihre Rückzahlung um jeden Preis durchgesetzt wird. Die Verschuldung und die damit einhergehende Verarmung und Versklavung wurde in den dreitausend Jahren vor Christi Geburt zu einer der größten Geißeln der Bevölkerungen. Zahlreiche Revolten hatten einen Schuldenerlass als zentrale Forderung; und tatsächlich sahen sich fast alle Potentaten der ersten Großreiche gezwungen, regelmäßig solche Erlasse zu verabschieden, um ihr System vor dem Zerfall zu bewahren23 – schließlich waren die Armeen noch nicht mächtig genug, um Revolten dauerhaft mit Gewalt zu ersticken. In diese Tradition gehören auch das biblische Jobeljahr, das alle sieben mal sieben Jahre eine Annullierung sämtlicher Schulden vorsah – und die Rückkehr der landlosen Bauern zu ihrem Besitz.24

Ideologische Macht

Die dritte Form der Herrschaft von Menschen über Menschen nahm ebenfalls in Sumer gegen Ende des vierten und Anfang des dritten Jahrtausends vor Christus Gestalt an: die Schaffung einer Schicht von Experten, die privilegierten Zugang zu Wissen hatten, und die Herausbildung einer autoritären Religion, die sich zusammen mit dem Königtum entwickelte.

In seinem Buch Traurige Tropen schrieb der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss: »Die primäre Funktion der Schrift, als Mittel der Kommunikation, besteht darin, die Versklavung anderer Menschen zu erleichtern.«25 Dieser Satz ist verstörend, verbinden wir doch mit der Schrift menschliche Errungenschaften wie die Orestie des Aischylos oder die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Doch die Schrift entstand nicht, um Literatur oder ethische Grundsätze zu verewigen, sondern als eine logistische Technik.26 Die ersten Schriftstücke, die uns überliefert sind, bestehen ausschließlich aus Listen von Gütern, ihren Mengen und ihrem Tauschwert. Und da, wie wir bereits gesehen haben, Sklaven wie Güter gehandelt wurden, diente die Schrift tatsächlich von Anfang an auch zur Organisation der Sklaverei. Solche Listen wurden von hauptberuflichen Schreibern im Dienst des Tempels – und später auch des Palastes – angefertigt. Ihre Aufgabe bestand darin, Produktion und Distribution der zentralistischen Wirtschaft zu koordinieren. Schriftschulen waren die ersten Schulen überhaupt, und die Schriftgelehrten wurden zu einer privilegierten Schicht, die bald unverzichtbar für die Logistik der Herrschaft war.27

Die Schrift erlaubte auch die Festschreibung von Schuldtiteln auf Tontafeln und später Papyrus und Pergament. Diese Titel verfestigten nicht nur das Schuldverhältnis, sie ermöglichten es auch, dass Schuldscheine selbst zum Handelsgut – und damit zu einer Vorform des Papiergeldes und moderner Kreditderivate – wurden. Das Verhältnis von Schuldner und Gläubiger wurde abstrakter. Gab es zuvor vielleicht noch eine persönliche Beziehung, die einer rücksichtslosen Durchsetzung der Forderungen im Wege stand, so kannte der Inhaber eines Schuldscheins den Schuldner und seine Familie oft gar nicht mehr: Der Weg in die Schuldsklaverei wurde noch ein Stück kürzer. Nicht zufällig war die Vernichtung von Schuldenregistern in der Antike oft Ziel von Revolten.28

Die Schrift diente später auch zur Kodifizierung des Rechts. Die berühmteste mesopotamische Rechtssammlung, der Codex Hammurapi aus dem 18. Jahrhundert v. Chr., widmet sich über weite Strecken dem Eigentumsrecht und den Schulden. In dem Maße, wie diese Rechte kodifiziert und garantiert wurden, standen der Staat und die in ihm organisierte physische Macht hinter der Durchsetzung von Eigentumsansprüchen. Die schriftliche Kodifizierung von Recht ist daher von Anfang an zweischneidig: Zum einen werden Bürger, zumindest in der Theorie, vor Willkür geschützt und genießen eine gewisse Rechtssicherheit; zum anderen aber werden die zur Zeit der Niederschrift existenten Machtverhältnisse fixiert, verstetigt, legitimiert und systematisiert. Die Schrift kann daher auch zur Verrechtlichung von Unrecht dienen.

Im Laufe der Jahrhunderte nahm die Schrift zahlreiche andere Funktionen an, darunter die Aufzeichnung von Mythen und Epen, in denen die tonangebenden Schichten ihre Kosmologie darlegten. Die Schrift erlaubte den Angehörigen der des Schreibens und Lesens fähigen Kasten, ihre Vorstellungen der metaphysischen Welt in Stein zu meißeln und ihnen damit sowohl Dauer als auch eine besondere Autorität zu verleihen. Gegen in Stein gemeißelte oder in Ton gravierte Texte, deren Schreiber sich womöglich gar auf göttliche Inspiration berufen, haben es mündliche Überlieferungen schwer. Ohne die Schrift, ohne heilige Bücher, wären universelle Wahrheitsansprüche, wie sie von einigen Religionen geltend gemacht werden, unmöglich. Autorität erhält das geschriebene Wort aber nicht nur vom Schreibenden und seinen Auftraggebern, sondern auch durch den Umstand, dass es der Interpretation durch Schriftkundige bedarf. Zwischen den Experten, die über die Auslegung der Schriften debattieren, und den Laien, die nicht mitreden können, öffnet sich ein Graben, der sowohl für die Theologie als auch für die modernen Formen der Expertokratie charakteristisch geworden ist.

Doch die Schrift ist im Laufe der Geschichte kein Privileg der Eliten geblieben. Die frühen biblischen Propheten, die gegen Ausbeutung und Unterdrückung durch Landbesitzer und Könige revoltierten, bedienten sich ihrer ebenso wie die Landbesitzer und Könige selbst. Seither ist die Schrift ein umkämpftes Terrain. Sie kann – ebenso wie später die Druckerpresse, die audiovisuellen Medien und das Internet – zur Legitimation von Herrschaft dienen oder zu ihrer Demontage. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Kontrolle dieser Mittel bis auf den heutigen Tag ein zentrales Anliegen sowohl von staatlichen als auch von ökonomischen Mächten ist. In industrialisierten Staaten, die sich auf eine liberale Tradition berufen, kann zwar die Mehrheit der Menschen lesen und schreiben und Meinungen mehr oder minder frei äußern; die Verbreitung jedoch durchläuft die Filter von Verlagen, Nachrichtenagenturen und Rundfunkanstalten (auch wenn diese Filter durch das Internet etwas löchriger geworden sind).29 Ein Großteil der Medienunternehmen befindet sich entweder im Besitz des Staates oder von privaten Großunternehmen und damit in den Händen der zentralen Akteure physischer und ökonomischer Macht.

Die Erfindung des herrschenden Gottes

Mit der Entstehung gesellschaftlicher Hierarchien in Sumer und wenig später in Ägypten veränderte sich auch der metaphysische Kosmos radikal. Hinweise auf die religiösen Vorstellungen und Praktiken der vorgeschichtlichen Zeit können wir in Ermangelung von schriftlichen Zeugnissen nur aus archäologischen Funden erschließen – oder aus Analogien zu anderen Kulturen, von denen wir annehmen, dass sie aufgrund ähnlicher Lebensweisen auch verwandte metaphysische Vorstellungen hatten. Trotz aller Unsicherheiten erkennen wir aber sehr deutlich, dass etwas in den prähistorischen Zeugnissen fehlt: Die Darstellung eines herrschenden übermenschlichen Wesens, das wir als »Gott« bezeichnen würden. Die Idee eines herrschenden Gottes erscheint in der Geschichte erst in dem Moment, wo irdische Herrschaft entsteht und sich konsolidiert. Von den altsteinzeitlichen Höhlenmalereien in Lascaux und Chauvet (Frankreich) über die Funde von Lepenski Vir (Serbien) bis zu den Fresken in Çatal Höyük sind Darstellungen von thronenden, männlichen Herrscherfiguren, die später die Götterpantheone bevölkern werden, unbekannt. Stattdessen finden wir Tierdarstellungen, tanzende Gestalten und verschiedene Typen von weiblichen Figuren, von denen die »Urmutter« und die »Dolmengöttin« die bekanntesten sind.30 Die Situation ändert sich radikal mit der Entstehung der ersten Staaten in Sumer. Eine Hymne an den sumerischen Gott Enlil aus dem späten 3. Jahrtausend gibt einen Eindruck davon, wie die metaphysische Welt nach dem Vorbild irdischer Herrschaft geformt wurde:

Die Befehle Enlils sind bei weitem die erhabensten, seine Worte sind heilig, sein Spruch unabänderbar. (…) Alle Götter der Erde beugen sich vor Enlil, dem Vater, nieder, der komfortabel auf dem heiligen Thron sitzt. (…) Die Götter treten vor ihn und gehorchen treu seinen Befehlen.31

Wie ein irdischer Herrscher, so verfügt auch ein Gott über einen Thron, ein Reich, sein Wille geschieht, er entscheidet über Sein oder Nichtsein, er ist in der Lage, Strafen zu verhängen, Gnade walten zu lassen und Schuld zu vergeben – wobei Schuld hier zunächst ursprünglich im Sinne von Schulden zu verstehen ist. Die Projektion des Hofstaates im Himmel ist so auffällig, dass man sich fragt, ob sie den Zeitgenossen selbst nicht als zu durchschaubar erschienen sein muss, um wirklich ernst genommen zu werden. Tatsächlich deutet vieles darauf hin, dass die herrschaftliche Religion in Mesopotamien zunächst vor allem von den Eliten selbst zelebriert wurde und nicht wirklich populär war, während sich in der breiteren Bevölkerung ältere Traditionen erhielten.32 Dieses Muster ist bis in die Jetztzeit zu beobachten: Auch im Christentum hat die sogenannte Volksfrömmigkeit, wo sie überlebt hat, meist einen anderen Charakter als die offizielle Hochreligion. In ihr erhalten sich viele vorchristliche, ja vorgeschichtliche Bezüge, in denen die Idee von Befehl und Gehorsam eine weit weniger ausgeprägte Rolle spielt. Bis auf den heutigen Tag sind unter dem Dach der großen Religionen zwei sehr verschiedene Typen von Religiosität zu finden, die sich in der polemischen Gegenüberstellung von »Glauben« und »Aberglauben« spiegeln. (In römischer Zeit bezeichnete der Begriff religio die Ausübung der offiziellen Rituale einschließlich des Kaiserkults, wogegen superstitio für ekstatische und schwer kontrollierbare Kulte stand, die immer wieder Gegenstand von Verboten waren.) Daher wäre es sicher falsch, einen klaren historischen Bruch in der kollektiven Imagination anzunehmen, der in einigen Jahrhunderten vollendet war. Vielmehr handelt es sich um einen Prozess, der gleichzeitig mit der Steigerung weltlicher Herrschaftsgewalt über Jahrtausende immer tiefere Schichten durchdringt und schließlich – mit dem Zenit weltlicher Herrschaft in der römischen Kaiserzeit – seinen Höhepunkt in der Vorstellung eines allmächtigen Gottes findet, wie sie für die monotheistischen Religionen und besonders für das Christentum charakteristisch wurde.

Diese Verschiebung des metaphysischen Bezugssystems ist von enormer Tragweite für die kollektive Imagination. An die Stelle von Kräften, die auf Augenhöhe mit den Menschen eine Beziehung eingehen – Ahnen, »Geister«, »Elementarkräfte« und dergleichen –, trat ein pyramidenförmiges System, das auf der Idee von Befehl und Gehorsam und damit von linearer Machtausübung beruhte.

Diese Denkweise hat sich durch alle Säkularisierungen und Demokratisierungen hindurch als prägende Vorstellung vom Kosmos bis in die heutige technokratische Zivilisation fortgesetzt. Wie wir im 7. Kapitel sehen werden, trat im Laufe der Neuzeit an die Stelle des Herrschergottes der herrschende Mensch, der sich durch Wissenschaft und Technik die Erde untertan macht. Charakteristisch sowohl für die theologische als auch die technokratische Version der Allmacht ist die Vorstellung, dass die Natur – auch die menschliche – beherrscht werden muss und kann. Wie der König seinem Untertan und der Gott seinem Geschöpf befiehlt, so gebietet der Ingenieur über die Natur, die sich seinem Willen fügt.

Die vierte Tyrannei

Aus den bisher genannten drei Tyranneien erwächst auf diese Weise eine vierte: die Tyrannei des linearen Denkens. Lineares Denken beruht auf der Annahme, dass sich die Welt nach berechenbaren Gesetzen von Ursache und Wirkung verhält, und folglich beherrschbar ist. Eine actio A bringt in vorhersehbarer Weise eine reactio B hervor. Diese Annahme erweist sich in der Welt der unbelebten Materie oft als plausibel: Der Schlag des Hammers formt das Metall in einer vorhersagbaren Weise; der Stoß einer Billardkugel bewegt eine andere in einer Weise, die sich berechnen lässt, und die Energie, mit der sich Kugel B bewegt, verhält sich proportional zu der Energie, mit der sie von Kugel A getroffen wird; die Bahn der Raumsonde lässt sich durch eine planbare Folge von Zündungen vorherbestimmen, usw.

So erfolgreich diese Annahmen für die Beherrschung der unbelebten Materie sind, so irreführend zeigen sie sich in der Sphäre lebendiger Wesen. Ich kann zwar versuchen, einen Menschen wie eine Billardkugel zu bewegen, aber ich werde feststellen, dass es seltsame Rückstöße gibt und ich seine Bewegungen nicht wirklich kontrollieren kann, zumindest, solange er am Leben und wach ist.33 Der amerikanische Anthro­pologe Gregory Bateson erklärte das einmal so: »Wenn ich gegen einen Stein trete, dann gebe ich dem Stein Energie, und er bewegt sich mit dieser Energie. Wenn ich einen Hund trete, bewegt er sich mit der Energie, die aus seinem Stoffwechsel kommt.«34

Die einzige Form, in der Menschen sich scheinbar wie Billardkugeln verhalten, ist das Befehlsverhältnis. Der Kommandant sagt: »Stillgestanden!«, und in absolut vorhersagbarer Weise steht der Rekrut still. Der Vorarbeiter sagt: »Schneller!«, und die Arbeiterin legt an Tempo zu. Die Lehrerin sagt: »Kevin, du bleibst noch da«, und Kevin bleibt da. Befehle simulieren in der Welt der belebten Wesen die Mechanik der unbelebten Welt. Doch die Menschen, die Befehle ausführen und ein mechanisches Verhalten simulieren, werden damit nicht zu Maschinen. Das Lebendige, das verdrängt werden musste, um den Anschein der Maschine zu erwecken, bricht sich auf unvorhersehbare – und oft unerfreuliche – Weise anderswo Bahn. Wenn Kevin oft genug dableiben musste, die Arbeiterin oft genug schneller machte, der Rekrut oft genug stillstehen sollte, werden diese Menschen möglicherweise irgendwann überraschende Dinge tun, die sich niemand erklären kann. Dass Kevin seine kleine Schwester quält, die Arbeiterin heimlich Psychopharmaka nimmt oder der Rekrut im Vollrausch einen Obdachlosen halb tot schlägt, werden sich Vorarbeiter, Lehrerin und Kommandant nicht erklären können.

Befehlsstrukturen verleiten zu der irrigen Annahme, dass man Menschen ihr Leben lang wie Automaten behandeln kann, ohne dass sie sich eines Tages rächen werden. Elias Canetti hat in seinem Buch Masse und Macht Befehle als Stacheln beschrieben, die im Befehlsempfänger stecken bleiben und die er anderswo wieder loswerden muss.35 Doch dieses Anderswo bleibt in der Perspektive linearen Denkens unsichtbar.

Aus diesem Grund verstellt das lineare Denken, so nützlich es in der Welt der unbelebten Materie auch sein mag, den Blick auf die Wirklichkeit der lebendigen Welt. In dem Maße, wie durch die Ausübung von Macht vorhersagbares Verhalten bei Befehlsempfängern erzeugt wird, nehmen auf der anderen Seite unerklärliche, »irrationale« Verhaltensweisen überhand, über die sich Psychologen, Soziologen und Pädagogen den Kopf zerbrechen.

Das betrifft nicht allein das soziale Leben, sondern auch die Ökologie. Wenn ich einen Fluss wie ein totes, im Raum beliebig verschiebbares und in seinem Verhalten vorhersehbares, kontrollierbares Objekt behandle und ihn also durch Begradigungen, Uferbefestigungen, Staustufen usw. meinem Willen zu unterwerfen suche, dann kann es geschehen, dass der Fluss, in dem Maße, wie ich ihn unter meine Kontrolle bringen will, sich immer unkontrollierbarer und unvorhersehbarer verhält und plötzlich nie dagewesene Überschwemmungen verursacht.

Die Anwendung linearen Denkens auf lebendige Systeme hat sowohl gesellschaftlich als auch ökologisch eine Verwüstungsspur auf dem Planeten hinterlassen. Eine Überwindung der ersten drei Tyranneien – der physischen, ökonomischen und ideologischen Macht – kann nur gelingen, wenn unser Denken über Mensch und belebte Natur diese vierte Tyrannei überwindet und fähig wird, die Lebendigkeit der Welt – und das bedeutet auch: ihre Nicht-Kalkulierbarkeit – zu erkennen. Erst wenn wir die Vorstellung von der Beherrschbarkeit der Natur aufgeben, können wir hoffen, zu Formen der sozialen und ökologischen Kooperation zu gelangen, die diesen Planeten auf Dauer bewohnbar bleiben lassen.