Für Hans-Otto Boie,
meinen lieben Opa
 
Al up Stee.

PROLOG

23. SEPTEMBER 2013, HAFEN VON CARTAGENA, KOLUMBIEN

Das Thermometer zeigt keine Temperaturen mehr an, das Quecksilber ist verdampft. Wir haben den Klüver in den Schlafsaal geholt, um den Riss zu flicken, den er sich auf der letzten Fahrt zugezogen hat. Im Sturm hatte sich ein anderes Segel losgerissen und wild um sich geschlagen. Dabei hatte es den Klüver erwischt. Durch die Luken auf dem Hauptdeck kann ich den Käpt’n hören, wie er mit den Stoffbahnen kämpft.

Nachdem er das Segel instand gesetzt hat, gibt er mir die Aufgabe, es wieder anzuschlagen. Doch als er sieht, wie ich es zunächst falte und mit Seilen verknote, um es leichter die Bugtreppe hinaufzubekommen, reißt er es mir aus den Händen. In einem Ruck hievt er sich den Stoff auf die bulligen Schultern, schiebt mich zur Seite und drängt sich an mir vorbei.

»Alles, wirklich alles muss man auf diesem Schiff selber machen! Zu nichts ist dieses Pack …«

Anstatt ihm zu antworten, eile ich die Treppe zur Messe hoch, um ihm beim Verladen des Segels ins Bugnetz zu helfen. Doch Lale will sich nicht helfen lassen. In einem wilden, jähzornigen Schwung schmeißt er das Segel über die Bordwand und trifft mich dabei mit einem Mastrutscher ins Gesicht.

»Ahhh!«, rufe ich und spüre, wie die Haut platzt. Ein schmales Rinnsal Blut fließt meine Augenbraue hinab.

Lale blickt mich herablassend an. »Was bist du denn eigentlich für ein Seemann?«

Er will sich umdrehen, davongehen, doch diesmal verliere ich die Haltung.

»Lale, das ist dein Problem!«, schreie ich. »Verdammt, ich bin kein Seemann! Ich bin ein Student, ein kleiner, mieser Student, Lale. Aber ich gebe mein Bestes hier! Glaub mir, ich versuche alles! Wenn das nicht langt, und das tut es offenbar nicht, dann tut es mir leid. Ich bin nie zur See gefahren. Nie! Ich hab keine Fische gefangen, ich hab keine Stürme erlebt! Den Anspruch kannst du nicht haben. Weißt du, wie scheiße es sich anfühlt, wenn man dir nie genügen kann? Man hört nie, niemals ein Lob von dir! Alles ist nur Dreck! Schau dich um. Da sind ein Student, eine Touristin und ein fauler Kiffer! Keine Seemänner. Das ist dein Material. Arbeite damit!«

An Deck herrscht Totenstille. Selbst Tío und Rebecca, die am Heckaufbau beschäftigt waren, schauen mit offenen Mündern herüber. Ich habe deutsch gesprochen, sie haben kein Wort verstanden, aber allein die Tatsache, dass ich Lale die Stirn bot, ließ sie in ihren Aufgaben innehalten.

Gleich wird er losbrüllen, denke ich und blicke Lale fest in die Augen. Gleich wird er mich über Bord werfen.

4. JUNI 2013, ESCHEBURG, SCHLESWIG-HOLSTEIN

Ich sitze im offenen Wohnzimmer im Haus meines Vaters. Einzelne Lichtstrahlen fallen durch die Fenster von der Terrasse herein. Auf dem zerlebten Eichenholztisch vor mir liegen eine Zigarrenschachtel voller Briefe und ein offenes Notizbuch.

»Seekrank«, steht da geschrieben. »Verfluchte Seefahrt. Seefahrt ist beschissen, mit Verlaub gesagt. Steuermann ganz meiner Meinung.«

Das Notizbuch gehörte meinem Großvater. Ich habe es von ihm geerbt. Tagebuch und Küchenbuch von Hans Otto Boie lese ich auf der Innenseite des Einbands. Fünf Jahre lang war er zur See gefahren, für die Hamburg Süd. Die Hamburg Südamerikanische Dampfschifffahrts-Gesellschaft damals.

Opa Hans war eine ruhige Seele. Er hatte eine große Nase, die von seiner Neugierde kam, und eine Brille und einen Bauch, wie ihn nur Opas tragen können. Gerade groß genug, um einem oder zwei Enkelkindern darauf Platz zu bieten. Mit einem Wollpulli darüber, der weich und verfilzt war und an der Wange kratzte. Opa sagte Dinge wie »Du Gans hast recht« und »Das muss einem dummen Menschen doch gesagt werden«, und als vor ein paar Jahren klar war, dass er an Krebs sterben würde, verkündete er, dass er wohl langsam alt werde.

Bald aß er nur noch Milchsuppe. Als er dann seinen letzten Atemzug tat, atmete er so tief ein, als wäre es die erste und beste Luft, die er jemals gekostet hatte. Mein Vater, der dabei war, bekam damals unheimliche Angst vor dem Tod. Er hatte erwartet, dass irgendetwas Bedeutendes passieren würde, irgendein Zeichen, etwas Mystisches, doch nichts. Opa atmete einfach, und dann nicht mehr. Dieses Übergangslose, das fehlende Ende, machte Papa arg zu schaffen.

Ich selbst hatte zeitlebens kein besonders enges Verhältnis zu meinem Großvater. Ich bin bei meiner Mutter in Bremen aufgewachsen. Das ist da, wo die Weser in einem letzten großen Bogen Richtung Nordsee fließt. Meine Hamburger Familie sah ich dementsprechend selten. Ich erinnere mich, wie Opa mir anhand eines Legoautos den Unterschied zwischen Pneumatik und Hydraulik näherbrachte, wie er mir Rechenaufgaben stellte, bei denen ich die Wurzeln aus schwierigen Zahlen ziehen musste, und wie er mir einen Apparat erklärte, mit dem man bei Seegang die Sterne fotografieren konnte. Aber ich wusste nicht, wie viel mehr dort in ihm schlummerte.

Am Tag von Opas Beerdigung wetterte es schwer über Hamburg. Die Kiefern verneigten sich vor dem Himmel, die Wellen der Elbe brandeten Applaus, im Radio sagten sie durch, das Tief Hans ziehe über Norddeutschland hinweg. Und da war mein Opa nun also: Er zog über die Norddeutsche Tiefebene, fegte über die Marschen seiner Heimat und regnete sich über der kleinen sich findenden Trauergemeinde am Friedhof am Höchelsberg, direkt über dem Geesthang, ab.

Mein Vater parkte sein Auto im nächsten Seitengraben und weinte eine Flut ins Elbtal.

Ich hatte immer schon den Wunsch, einfach abzuhauen. Rucksack auf und los. Ich wollte auf dem Mast eines Schiffes stehen. Ich hatte aber auch immer schon den Wunsch, ein echtes Pokémon zu besitzen. Und beide Wünsche kamen mir lange Zeit gleichermaßen realistisch vor.

Doch nun werde ich Opa folgen. Nicht in den Himmel – zur See. Am 13. Juni 2013 verlasse ich die Inseln vor San Blas, Panama. Kurs auf Kolumbien. Es gebe dort Schildkröten, habe ich mir sagen lassen. Und Inseln mit nur einer Palme darauf, wie ich sie als Kind immer gemalt habe. Mich tragen ein Stahlzweimaster – erbaut zu Bismarcks Zeiten –, der Wind und die Hoffnung auf einen Ausstieg.

Ich werde Rum über den Sonnenuntergang gießen. Und ich werde eine Zeit erleben, die ich nicht für möglich gehalten hätte.

TEIL 1

FLUG

»Do you want anything else to drink, Sir?«

10. JUNI 2013, AN BORD DER AA 9960 RICHTUNG MIAMI

Das Flugzeug ruckelt durch eine Turbulenz in der Luft und lässt das Plastikgeschirr auf meinem Tablett klappern. Es ist Tag geworden. Wenn die Sonne auf das Meer scheint, sieht es aus wie das knittrige Ballkleid meiner Mutter. Eine Stewardess wackelt durch den Gang und erkundigt sich nach dem Befinden. Ich frage nach einem Glas Orangensaft und befeuchte meinen Gaumen, der wieder zu kratzen begonnen hat.

Ich bin kein sonderlich begeisterter Flieger. Vor allem die Flugzeugluft ist mir unangenehm: Kalt und steril und tausendmal umgewälzt, sie macht mir jedes Mal Schnupfen. Außerdem habe ich eine nervöse Blase. Ständig muss ich aufstehen, mich entschuldigen, an Hunderten Passagieren vorbeidrücken, anstehen, aushalten, nur um dann ein paar Tropfen in das winzige Becken unter mir zu drücken und dabei mein blasses Gesicht im Spiegel zu beobachten. Ich pinkle im Flugzeug stets im Stehen. Seit jeher habe ich diese irrationale Angst, dass ich, wenn ich mich setzte, beim Spülgang mit hinausgesaugt würde.

Dazu kommt das Hermetische, dieses Frachtguthafte des Fliegens, das mich abschreckt: Du steigst in ein Flugzeug ein, und vielleicht regnet es. Dann steigst du aus, es ist ein paar Stunden später, und die Hitze, die dir entgegenschlägt, nimmt dir fast den Atem. Doch dazwischen gibt es keinerlei Grund zu der Annahme, dass ein Ortswechsel stattgefunden hat: Es gab immer genug Luft zum Atmen, drei Mahlzeiten, aluverpackt und konserviert. Temperaturschwankungen und Änderungen der Luftfeuchtigkeit wurden nivelliert, genauso wie der Geschmacksunterschied zwischen Fleisch und Gemüse beim Mittagsgratin. Du hast unter einer dünnen Fleecedecke geschlafen, hast die Sonne aufgehen sehen und das Bordprogramm mit Charlie Sheen in der Rückenlehne vor dir. Und dann bist du plötzlich auf einem anderen Kontinent. Es riecht nach Sand und Teer, die Menschen sprechen ganz anders als zu Hause, und du wunderst dich, denn zu Hause ist jetzt neuntausend Kilometer entfernt.

Der Herr neben mir erwacht an einem verschluckten Husten. Er reibt sich die Augen mit seinen massigen Unterarmen und blinzelt an mir vorbei nach draußen.

»G’Morning«, sagt er.

»G’Morning«, antworte ich.

Es folgt ein kurzer Moment der Stille, in dem wir beide überlegen, ob es noch etwas anderes zu sagen gibt. Dann entscheiden wir uns dagegen und starren weiter aneinander vorbei nach draußen. Fliegen ist wie Fahrstuhl fahren, denke ich. In Gedanken summe ich The Girl from Ipanema.

Nur etwas über einen Tag ist es her, seit ich mit Julian und dem schönen Mädchen über die Havel paddelte. Das Wasser war kühl, zu kalt zum Baden, Julian lag auf einer Luftmatratze, die wir an das Heck meines Boots gebunden hatten, das schöne Mädchen paddelte zu meiner Rechten. Die Sonne schien uns in den Nacken, wir tranken Alster aus Flaschen, und Julian trug den unsäglichen Hut seines Vaters. Das schöne Mädchen und ich sangen Michel war ein Lausejunge.

Es mag irgendwann gegen sechs Uhr morgens gewesen sein, als ich gemeinsam mit dem schönen Mädchen an der Bushaltestelle stand. Wir warteten auf den Bus, der mich zum Flughafen bringen sollte. Die Augen brannten uns von zu wenig Schlaf, hinter den Bäumen dämmerte es langsam, und plötzlich fiel dem schönen Mädchen ein, dass es mich vermissen würde. Von einem Moment auf den anderen veränderte sich ihr Blick, und sie sah tieftraurig aus. Als hätte sie noch nie zuvor darüber nachgedacht. Sie legte mir den Kopf auf die Schulter und kuschelte sich an meinen Hals. Wir saßen auf rostigen Welldrahtsitzen. Vor uns auf den Pflastersteinen klebten Kaugummireste. Ich war wirklich ungemein verliebt.

»Do you want anything else to drink, Sir?«

»Another orange juice, please. Thanks.« Ich zwinkere mir eine Träne aus dem Augenwinkel.

Langsam, aber sicher schiebt sich Miami in unser Blickfeld. Die von Einfamilienhäusern eingefassten Straßen der Vororte säumen die Stadt wie unsaubere Nähte. Lauter angelegte Seen und Kanäle. Dahinter die Salzwiesen. Alles viereckig, denke ich. Künstlich und viereckig.

Auf der Oberfläche meines Orangensaftes bilden sich kleine Kreise. Sie schwappen gegen die Innenwand des Plastikbechers und schlagen zurück. Hinter mir liegt ein ganzes Leben. Und vor mir liegt ein ganzes Leben. Und am Ende werden beide eins sein. Am Ende ist immer alles eins.

PROBLEME

»Scheiße. Und jetzt?«

11. JUNI 2013, PANAMA CITY

Ein neuer Kontinent. Ich öffne das Fenster des Taxis und rieche die Luft. Abgase und Staub wehen mir entgegen, gepaart mit Feuchtigkeit und dem Duft des Vanillebaums, der vor der gesprungenen Windschutzscheibe schaukelt. Alles rauscht an mir vorbei. Hoch aufschießende Bürohäuser, Wolkenkratzer, die in alle erdenklichen Richtungen streben, riesige Werbebildschirme. Dazwischen Flüsse, unter deren Brücken Bauarbeiter dösen. Palmen, Mango- und Papayabäume.

Der Fahrer redet, wild gestikulierend, auf mich ein, ohne sich auch nur im Geringsten darum zu scheren, ob ich ein Wort verstehe: »¡… no hablan nada, los gringos! ¡No español, no portugués, no inglés, nada! ¿Y tú, amigo? ¿Adónde vas?«

Mein Spanisch habe ich mir mit einem Power-Sprachkurs von Pons beigebracht, Spanisch lernen in vier Wochen.

»Sí, sí, me llamo Nils, soy de Alemania«, sage ich.

Bisher habe ich es auf Seite zwei geschafft.

»¿No, no, Panama by Luís, eh?«

»Ahhh … Claro, Panama by Luís, sí.«

»¿Via Corredor Sur?«

Ich erinnere mich an die senfgelben Straßen in Google Maps, die den Weg zu meinem Hostel beschrieben. »Via Corredor Sur, sí.«

Panama City ist der wirtschaftliche Puls Mittelamerikas. Millionen von Gütern fließen durch den Panamakanal in die Stadt und werden von dort in die umliegenden Lande gepumpt. Die Stadt atmet Autos. Wir folgen der Corredor Sur durch eine Brack- und Mangrovenlandschaft Richtung City, rechts eine ausgewaschene Flussmündung, Wellblechsiedlungen, die wie hohle Zähne in die Landschaft ragen.

Wir biegen von der Hauptstraße ab, dann noch einmal, dann halten wir vor einem gedrungenen, weiß gestrichenen Holzbau, der seltsam eingeschüchtert angesichts der riesigen Betonklötze um ihn herum wirkt. »Panama by Luís« steht auf einem mannsgroßen Banner vor dem Maschendrahtzaun. Ich bezahle, sage auf Wiedersehen und schultere meinen Rucksack.

Das Hostel, in dem ich mich befinde, ist eine ehemalige Tanzschule. An den Wänden hängen noch die Spiegel, eine Ballettstange ist auch dort. Ich weiß nicht, ob ich schwitze oder ob es die Feuchtigkeit der Luft ist, die sich in meinem Brusthaar verfängt. Meinen Rucksack habe ich unten in einem Sechserzimmer geparkt. Ich sitze auf einem abgezerrten Sofa im Aufenthaltsraum und versuche, den spärlichen Internetempfang zu nutzen, um Julian eine Nachricht zu schicken. Gerade geht ein gewaltiges Gewitter nieder.

»Lui!«, schreibe ich. »Lui, ich brauch deine Hilfe!«

Keine Antwort.

Es kann sein, dass es etwas naiv von mir war, ohne gültige Kreditkarte auf einen fremden Kontinent zu reisen, nur mit fünfzig Euro in der Tasche, aber ich meinte, irgendwann einmal gehört zu haben, dass ich mit meiner Postbankkarte auch im Ausland abheben könne. Dass es sich dabei allerdings nur um das europäische Ausland handelt und dass es auch da nur in Ausnahmefällen möglich ist, davon hatte ich nichts mitbekommen. Das musste mir erst der Geldautomat auf dem International Airport Tocumen klarmachen.

Man kann sich nicht vorstellen, was für ein Gefühl es ist, in einem fremden Land plötzlich ohne jegliche finanzielle Mittel dazustehen, wenn man es noch nicht selbst erlebt hat. Hundertmal schob ich meine Karte in den Automaten, probierte alle möglichen Funktionen aus, doch nichts passierte. Der Automat spuckte nichts aus. Hinzu kam, dass ich seit der Landung keinen Handyempfang hatte.

»Julian, meine Bankkarte funktioniert nicht.«

Nichts.

»Und mein Handy auch nicht.«

Die Frau an der Rezeption schaut mich mitleidig an. Ich habe ihr die Situation bereits erklärt. Draußen geht der Regen nieder. Donner grollt, Blitze zucken. Ich weiß nicht, wie sicher hier das Stromnetz ist.

Mit einem Mal erregt ein Pling! meine Aufmerksamkeit. Eine Antwort auf meinem Computer poppt auf: »Alter, weißt du, wie spät es ist?«

Verdammte Zeitverschiebung.

»Hör auf«, schreibe ich erleichtert. »Du sollst nicht so dick sein! Hilf mir lieber! Mein Handy und meine Geldkarte funktionieren nicht.«

»Ich weiß. Steht oben.«

»Ich brauch Geld.«

»Wie viel?«

»Keine Ahnung …«

Ich stelle mir vor, wie Julian sein Handy zur Seite wirft und genervt seinen Computer hinter dem Bett hervorkramt.

»Liegt eine Frau neben dir?«, tippe ich.

»Nerv nicht.«

Er stellt mir ein paar schwer verständliche Fragen zu meiner Bankkarte und meinem Telefon, dann schreibt er: »Also, ich hab das mal gecheckt. Dein Handy ist Dualband. Du brauchst Quadband, wenn du in Amerika Empfang haben willst.«

»Scheiße. Und jetzt?«

»Jetzt funktioniert dein Handy nicht, du Olchi. Und natürlich kannst du mit einer einfachen Bankkarte kein Geld abheben! Du brauchst eine Kreditkarte!«

»Oh«, schreibe ich.

»Du fährst also ohne Handy, ohne Geld, ohne Spanischkenntnisse und ohne jemals auf einem Schiff gearbeitet zu haben in ein spanischsprachiges Land, um auf einem Schiff zu arbeiten?«

»Korrekt. Und?«

»Wie viel Geld soll ich dir schicken?«

»Vierhundert Euro?«

»Ich kümmer mich drum.«

Wir schreiben hin und her, wie und wo ich das Geld am besten bekomme und was die nächsten Schritte sind, während eine neue Besucherin das Hostel betritt. Sie wühlt vollkommen durchnässt und tief gebeugt vor der Rezeption, beziehungsweise vor meinem Gesicht, in ihrem Gepäck und sucht nach ihrem Ausweis.

»Lui?«, schreibe ich. »Da vorne steht die ganze Zeit eine Frau in durchsichtigen rosa Leggins mit Leopardentanga. Und ihr Hintern ist in meinem Gesicht.«

»Ist sie schön?«, fragt Julian.

»Leider nicht so sehr.«

»Hmpf. Sonst hättest du mit ihr schlafen und dafür Geld verlangen können.«

Kurz denke ich darüber nach, ob Prostitution im Notfall okay ist und ob ich das mit dem schönen Mädchen abklären müsste, dann streiche ich den Gedanken aus meinem Kopf.

»Ich geh also morgen zu Western Union, sag meinen Namen und krieg fünfhundert-noch-was Dollar, richtig?«

Keine Antwort.

»Sag, dass du’s gelesen hast, dass ich recht habe und dass ich gut schlafen soll. Sonst kann ich nicht gut schlafen.«

Wieder keine Antwort.

Dann, nach einigen Minuten: »Du hast voll recht. Schlaf gut.«

STREIFZUG

»But I am hungry, baby!«

11. JUNI 2013, IMMER NOCH PANAMA CITY

Am Morgen, als ich wegen des Jetlags nicht schlafen kann, höre ich die Papageien schreien. Jalousien dämpfen das Licht, im Zimmer riecht es nach Schlaf und Schweiß.

Ich erhebe mich so leise wie möglich, was schwierig ist, da der Federrost unter meinem Rücken schon bei der kleinsten Bewegung jämmerlich aufbegehrt. Ich gähne, rücke meine Boxershorts zurecht und schlurfe samt Kulturbeutel ins Bad. Rechts eine Dusche ohne Duschvorhang, die Fliesen gelb und stockfleckig. Vor mir ein Waschbecken, unter dem ein Auffangbehälter für benutztes Klopapier steht. Müde lasse ich mich auf den Toilettensitz fallen. Die Tür zum Zimmer schließt nicht richtig. Oben und unten klaffen breite Spalte, die jede akustische Äußerung im Bad zum kollektiven Hostel-Erlebnis machen. Der Spiegel an der Wand muss kaputt sein. Ich sehe total fertig darin aus.

Nach der Morgentoilette trete ich nach draußen. Das Gewitter hat die Luft rein gewaschen. Gestern haben sie hier Monopoly gespielt, unter dem Wellblechdach, jemand hatte Geburtstag, ein Stück Torte steht noch auf dem Tisch. Ein riesiger Mangobaum breitet seine Äste wie ein Schutzheiliger über das Anwesen.

Mein Vater hat mir einmal erzählt, wie ich als Kind auf eine Pappel geklettert bin. Ich saß hoch oben zwischen den kahlen Ästen – niemand wusste, wie ich da hinaufgekommen war – und schaute auf all die Menschen, die so klein waren und wie Ameisen ihren täglichen Gewohnheiten nachgingen, herab. Es gab mir eine gewisse Gelassenheit, zu erkennen, dass das Leben zumindest von Weitem in geordneten Bahnen verlief.

Ich muss damals sehr jung gewesen sein, und Vater muss unheimliche Angst um mich gehabt haben. Doch anstatt mir das Klettern zu verbieten, schenkte er mir Seil und Schuhe und meldete mich bei unserem nächsten Urlaub in den Alpen zu einem Kletterkurs an. Die Geschichte ist sinnbildlich für meine Kindheit. So oft stand ich mit offenen Armen an der Schwelle zur Welt, und Vater gab mir einen kleinen Schubs, der mich hinüberführte. Seine Hände erschienen mir damals so groß wie die Welt. Ich dachte, er könne mich einfach am Kopf packen, hochheben, ein Stück tragen und dann wieder absetzen.

Ein Schmunzeln huscht über meine Lippen. Von der Veranda blicke ich durch ein geöffnetes Fenster in die Küche, wo Arosa, die Haushälterin, zwischen Töpfen und Pfannen hin und her springt, um das Frühstück zuzubereiten.

»¿Quiéres?«, fragt sie und deutet auf eine kleine Pfanne, die bei schwacher Flamme auf dem Herd steht. Bevor ich antworten kann, hat sie bereits drei Pfannkuchen auf einen Teller geladen und sie mir samt Sirup durchs Fenster gereicht. Erst jetzt merke ich, wie hungrig ich bin.

Zum Super99 in der Avenida Belisario Porras geht es immer geradeaus. Ein voll klimatisierter Konsumtempel samt Tankstelle, Handyschalter, ATM und elektrischem Pony. Es gibt Milch in Fünfliterkanistern, Orangensaft und Bier in Vierzigerpacks. Es gibt Energydrinks und Cola, Chips und Erdnüsse sowie lauter bunte unbekannte Süßigkeiten, und alles andere auch und sogar noch mehr. Ich kaufe eine Dose Bohnen, eine Flasche Wasser und einen Vorteilspack Snickers, dann bin ich pleite.

Kurz darauf hänge ich in einem völlig überfüllten Linienbus an einer leidlich befestigten Haltestange und spüre, wie wir schwankend Richtung Innenstadt gleiten. In Panama City gibt es keine gekennzeichneten Bushaltestellen. Wenn man nicht weiß, wohin, stellt man sich einfach zur nächstgrößeren Menschenmenge und wartet ab, was passiert. Wenn man Glück hat, kommt irgendwann ein Bus. Wenn nicht, wird man im schlimmsten Fall ausgeraubt. Ich hatte Glück, und nach einigen Minuten kam ein klappriges orangefarbenes Gefährt, an dessen Stirnseite »Albrook Via España« stand. Jetzt klemme ich zwischen haarigen Achseln und glatt gekämmten Scheiteln und versuche auf Zehenspitzen, einen Blick durch die beschlagenen Fenster zu erhaschen.

Der Verkehr fließt zäh, es ist Rushhour. Hin und wieder kommen Teile verfallener Ruinen in den Blick. Richtige Ruinen aus Stein und Vergangenheit, nicht die halb abgerissenen Wellblechbehausungen, die wir gelegentlich an den Straßenecken sehen und deren Haut so löchrig ist wie das Fell der alten Hunde, die vor ihnen in der Sonne dösen. Die Ruinen gehören zu Panamá Viejo.

1671 wurde Panama City vom britischen Piratenkapitän Henry Morgan zerstört. Derselbe Captain Morgan, der uns heute so verwegen von den Rumflaschen angrinst. Panamá Viejo zerfiel mit der Zeit, doch die Hänge der neuen Stadt, die man am Fuße des Cerro Ancón neu erbaute, füllten sich mit Geld. Die Raubzüge der Spanier sorgten dafür, dass die Stadt als Umschlagplatz für Gold und Silber florierte.

Im 19. Jahrhundert beschlossen die USA, eine Eisenbahnstrecke zu bauen, um die beiden Weltmeere miteinander zu verbinden und so den internationalen Handel voranzutreiben, und innerhalb von fünf Jahren wurden sechsundsiebzig Gleiskilometer unter herben Verlusten in den Dschungel geschlagen.

Nur wenige Jahre später entschied man sich, die Anlagen zu erweitern, und 1903 begann man mit dem Bau des Panamakanals.

Über fünfundzwanzigtausend Menschenleben und mehrere insolvente Baufirmen kostete das Projekt, bis es 1914 fertiggestellt wurde und eine neue Ära des transkontinentalen Handels einläutete. Viele der Toten waren nach Übersee verschifft und dort für teures Geld an die medizinischen Hochschulen verkauft worden, um so die Verluste im Rahmen zu halten. Wer hätte auch wissen können, dass bald der Große Krieg über die Welt hereinbrechen würde und damit die Leichen im Überfluss zu Dumpingpreisen zu haben sein würden?

Die Verwaltung des Panamakanals oblag derweil den USA. Nach den Unabhängigkeitserklärungen gegenüber Spanien und Kolumbien war Panama schon lange zu einem Ziehkind der Vereinigten Staaten geworden. Im Jahr 1984 kam durch einen Militärputsch der abtrünnige panamaische General Manuel Noriega an die Macht, und erneut waren es die USA, die ihren Verbündeten aus der Patsche halfen. Fünf Jahre nach seinem Putsch schlugen sie Noriegas Herrschaft gewaltsam nieder.

Das scheint diese Stadt auszumachen, denke ich: der politische Einfluss der Vereinigten Staaten und ein verkatertes Dösen, verursacht durch den Konsum fuseligen Supermarktrums.

Auf der Via España verlasse ich den Bus. Der Verkehr ist so träge, dass ich das Gefühl habe, besser zu Fuß voranzukommen.

Die gesamte Stadt ist auf den Beinen, doch niemand scheint zu wissen, wohin. Und wirklich bei jedem kommt es mir so vor, als ob er Kopfschmerzen hätte. Eine Frau, ich kann nicht sagen, wie alt sie ist, holt zu mir auf. Sie hat nur noch wenige Zähne im Mund, ihre Haut ist braun und gegerbt, die Hände hat sie zu einer Schale geformt, die sie mir entgegenschiebt, während sie fordernd auf mich einspricht.

»Sorry, I can’t give you anything«, sage ich. Meine Angst ist zu groß, dass ich bald selbst für den Rest meiner Tage von einem Sechserpack Snickers und ein paar kupfernen Minidollars leben muss. Doch die Frau redet weiter auf mich ein, die Hände bittend geöffnet, bis ich erneut ablehne und sie unter Fußstampfen und mit zornigem Gesicht schreit: »Man! But I am hungry, baby!« Hungrig und vehement.

Bilder schwirren durch meinen Kopf: wie ich selbst auf der Straße lebe, zahnlos und verwirrt, mit dreckigen Nägeln und dreckigen Füßen, kein Geld, keine Snickers, kein nichts. Das Hemd am Leib zerrissen, die Schuhe in Fetzen. Und dann meine Mutter, die sich sorgt.

Meine Mutter ist eine grazile Frau mit starkem Herzen. Sie hat vier Kinder geboren, die man ihr nicht ansieht, sie lacht viel, und wenn sie putzt, bindet sie sich die Haare zu zwei Zöpfen. Ihr gesamter Lebensinhalt scheint darin zu bestehen, ihre Umwelt glücklich zu machen. Wäre es nach ihrer Mutter gegangen, wäre ich in Bremen-Nord geblieben. »Wie kannst du ihn bloß gehen lassen?!«, hatte Oma Meme gefragt, als Mutter ihr von der Reise erzählte. Und Mutter hatte sie angeschaut und ihr keine Antwort gegeben, weil sie keine wusste.

Die Sorge meiner Mutter ist mir immer die größte Sorge gewesen. Während Vaters Aufgabe darin bestand, mir einen Stoß hinaus in die Welt zu geben, versuchte sie stets, mich festzuhalten. Als ich ein Jahr alt war, trennten sie sich.

Im Geiste sehe ich sie vor der Haustür stehen. Arm in Arm, die Gesichter zwischen Stolz und Melancholie. »Lebe wild und gefährlich, mein Junge!«, ruft mein Vater und winkt. Und Mutter fügt an: »Aber komm heil zurück!«

In der Nähe des Regierungspalastes, wo sich unter einer Autobahnunterführung die Armut tummelt, liegen Limetten- und Orangenschalen im Rinnstein. Schlepper rufen nach Kunden, Omnibusse preschen vorbei, ein Esel schaut mich aus fliegenumschwirrten Augen an.

Was mache ich hier?, denke ich. Wie soll ich das bloß vier Monate aushalten? Zu Hause am See ist immer ein Platz für mich frei, und am Südplatz gibt es Bier – wie konnte ich das einfach so hinter mir lassen? Und wie soll ich eigentlich auf dieses verdammte Schiff kommen? Alles, was ich habe, sind ein paar nichtssagende Mails, keinen Vertrag, keine Sicherheit, nichts. Nicht einmal Geld! Warum habe ich mich bloß auf das alles eingelassen?

Ja, warum eigentlich?

VON SPANIEN NACH DITHMARSCHEN ZUR SEE

»Dein Vater hat übrigens den Computer dagelassen.«

10. SEPTEMBER 2012, SCALA, SPANIEN

Wir saßen in der kleinen weiß gestrichenen Zweizimmerwohnung am Fuß der Pyrenäen, meine Knie waren braun gebrannt, und mein Nacken auch, das Fahrrad hatte ich im Hinterhof abgestellt. Tanja hatte Muscheln gekocht.

Ich befand mich auf einer Radtour von Italien nach Katalonien, wo ich einen alten Freund besuchen wollte, und Tanja, meine Cousine, war meine vorletzte Station. In zwei Tagen wollte ich weiter nach Barcelona fahren.

Meine Cousine war nach dem Abitur nach Spanien gegangen und hatte überall gejobbt, wo es ihr möglich war. Zurzeit leitete sie einen Campingplatz samt Surfschule in Sant Pere Pescador, zwei Stunden nördlich von Barcelona.

»Dein Vater hat übrigens den Computer dagelassen«, sagte sie, während sie auf ein Bündel auf dem Wohnzimmertisch deutete.

Mein Netbook war bei einem Regensturz vor ein paar Tagen kaputtgegangen, und ich hatte meinen Vater per Telefon darum gebeten, mir auszuhelfen. Er hatte Tanja einige Tage vor mir besuchen wollen und versprochen, sich etwas zu überlegen. Nun lag in ihrem Wohnzimmer, eingewickelt in die rot-gelb gestreifte Flagge Kataloniens, ein Laptop in der Größe eines Ufos. Es war ein altes Medion-Gerät, mattsilbern und anthrazit, mit dem Gewicht zweier Kürbisse und der Ästhetik eines Einbauschranks. Der alte Laptop meines Großvaters.

Ich pulte das Fleisch aus der Schale einer Muschel und tunkte es zusammen mit einem Stück Brot in die Sauce. Die Flüssigkeit hing mir überall im Bart. Muscheln kann man einfach nicht ordentlich essen.

»Hast du ihn schon ausprobiert?«, fragte ich, nachdem ich gekaut hatte.

Tanja schüttelte den Kopf.

Wir tranken Weißwein und spanisches Bier, und irgendwann holte ich den Computer an den Tisch. Ich stellte mir vor, wie er zu rattern beginnen würde, wie sich goldene Zahnrädchen in seinem Innern drehten, eine Dampfmaschine Rauch ausstieß und mit jedem Klicken ein Pfeifen und Schnaufen ertönte, sobald ich ihn einschaltete. Der Bildschirm würde flackern und rauschen, und dann würde das Gerät mit einem lauten Knall implodieren.

Doch nichts dergleichen geschah. Der Computer funktionierte einwandfrei. Das Eichhörnchen, das mich nach dem Hochfahren mit riesigen und glänzenden Augen vom Desktop aus anblickte, wirkte überlebensgroß und leicht irre. Nur ein einziger Ordner war auf dem Schreibtisch zu sehen: »Opa«. Darin waren Reden und Anekdoten verschiedener Trauergäste zu seiner Beerdigung gespeichert, Beileidsbekundungen, auch ein Text von mir war dabei. Papa hatte hier alles gesammelt.

Es gab auch Fotos, die zur Gestaltung der Todesanzeige verwendet worden waren: die Hände meines Opas, zum Sterben gefaltet, gelb und knotig, den Ehering an der rechten Hand. Ohne den dazugehörigen Körper sahen sie seltsam starr aus. Ich fand Bilder seiner letzten Tage, von meiner Familie und meinen Großeltern, Fotos von Silvester und von einem Heißluftballon.

Und dann war darin noch ein weiterer Ordner: »Erinnerungen«. Mein Vater, in Windeln, auf dem Schoß meines Großvaters; Opa, das Haar spärlich, der Bauch stattlich. Ein Familienfoto mit Oma Gustel und meiner Tante Petra mit Schleife im Haar. Und dann Fotos aus der Heimat: von Marne, von der Deichstraße 20, vom Gasthaus Boie.

Opa Hans wurde in Dithmarschen geboren. Zwei Meter über Null. In einem kleinen Ort zwischen Heide und Helse, mittendrin in Schleswig-Holstein, nur ein paar Meter weiter zum nächsten Kohlfeld. Die Häuser waren flach, die Schuppen blechgedeckt, und wenn man sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte man bis zum Ende der Südermarsch blicken.

Das war 1934. Hier aß man Blutsuppe, Mehlbüdel und Birn’, Bohn’ un’ Speck. Während die Kumpel im Saarbecken nie wussten, für wen sie ihre Kohle gerade abbauten, schritt hier der Kohlanbau wunderbar voran. Die Kinder spielten Tüdelband und Kibbel-Kabbel, und während des Kriegs sammelten sie Granatsplitter. Die besten waren die, die noch warm waren.

Die Alliierten kamen und gingen wieder, sie hinterließen Blockschokolade und Kaffeepulver, und dann kamen die Flüchtlinge, und es wurde eng in Marne, wo Opa lebte. Doch der Kohl stand gut, und die Bauern konnten Hilfe gebrauchen. Es war eine glückliche Kindheit, wenn man große Augen und einen jungen Verstand hatte. Und abgesehen von Kniestrümpfen und Sonntagsanzügen, muss es wohl sehr gut auszuhalten gewesen sein.

Käthe und Hermann Boie, die Eltern meines Großvaters, waren angesehene Menschen in Marne. Sie waren die Eigentümer des Gasthauses Boie, samt Kneipe, Fremdenzimmern und Viehwaage. Noch heute wird Großtante Karen dafür gerühmt, die schnellste Krabbenpulerin Norddeutschlands gewesen zu sein.

Uropa Hermann war zunächst Wäscher. Sein Vater hatte ein Wirtshaus mit Tanzgelegenheit in Meldorf gehabt, wo es eine große Waschküche gab. Als junger Mann fuhr Hermann mit dem Fahrrad über die Dörfer, sammelte Kleider und Laken ein, reinigte sie und fuhr sie anschließend wieder aus. Nachdem ein Brand während des Zweiten Weltkriegs das Wirtshaus in Meldorf zerstört hatte, folgte Uropa Hermann dem Vorbild seines Vaters und eröffnete ein neues Wirtshaus in Marne.

Mein Großvater Hans war als Erstgeborener von sechs Kindern dazu bestimmt, das Gasthaus Boie später zu übernehmen. Aber Opa wollte eigentlich nie Koch werden. Er wollte die Welt sehen. Und so besuchte er zwar noch die Kochschulen in Flensburg und Kiel, doch dann ergriff er die erstbeste Möglichkeit, dem kleinbürgerlichen Horizont seiner Heimat zu entfliehen, und fuhr zur See. Die Hamburg Südamerikanische Dampfschifffahrts-Gesellschaft hatte damals eine neue Flotte für den Liniendienst zwischen Amerika und Europa in Auftrag gegeben, und Opa heuerte als Kochsmaat an.

»Um sieben Uhr sollten wir auslaufen«, schrieb er kurz vor der ersten Reise in sein Tagebuch und Küchenbuch:

An Bord wird jetzt krampfhaft gerechnet, ob wir es bis Donnerstag bis nach Jersey schaffen. Da erkennt man die Optimisten und die Pessimisten, denn keiner hat Lust, Weihnachten auf See zu feiern. Die E-Maschine läuft jetzt wieder, sodass einem Auslaufen nichts im Weg steht. Heute Nachmittag werden wir Proviant nehmen. Zu Mittag: Königsberger Klopse.

Ich sehe ihn vor mir: als jungen Mann mit vollem Haar an der Reling eines Schiffes. Er muss damals so alt wie ich gewesen sein. Er steht am Geländer, den Körper in Richtung des Fotografen gedreht, im Hintergrund ein opulenter Viermaster. »Blick auf Pamir (abgesoffen)«, steht darunter.

Tanja und ich klickten uns durch den gesamten Ordner. Alles war abfotografiert und digitalisiert worden. Es waren so viele Bilder, dass es Stunden gedauert haben muss, bis wir damit fertig waren. Ich sah Opa in Kittel und mit Kartoffelschälmesser in der Kombüse sitzen, im Bug, gegen einen Anker gelehnt, seine Schwester auf der Reling im Hamburger Hafen. Bis dahin hatte ich kaum etwas über Opas Seefahrtzeit gewusst. Erst jetzt konnte ich mir das Fernweh vorstellen, das ihn sein Lebtag begleitet haben musste, und das Heimweh, das ihn mit jedem Auslaufen ergriff. All die Brücken, die er fotografiert hatte, die fremden Häfen und Küsten. Fünf Jahre lang war er zur See gefahren. Dann hatte er meine Tanten, meinen Vater und damit indirekt auch mich gezeugt.

Die Sonne verschwand hinter den Hausdächern der Vorstadt. Tanja und ich hatten Tränen in den Augen. Wir saßen da, in der kleinen weiß gestrichenen Zweizimmerwohnung am Fuß der Pyrenäen, in geschnürten Schuhen und dreckigen T-Shirts, und wussten nicht, was wir sagen sollten.

Opa Hans hatte die Weltmeere besegelt. Er hatte Australien, Argentinien und den Zuckerhut gesehen. Dabei war für ihn eigentlich nur das Gebiet zwischen Jadebusen und Nord-Ostsee-Kanal vorgesehen gewesen.

Gerade hatte ich mein Grundstudium in der Regelstudienzeit abgeschlossen. Während meiner Schulzeit hatte ich für eine Lokalzeitung geschrieben, anstatt selbst Zeitungen auszutragen, und während des Studiums verdiente ich mein Geld als Slam-Poet. Meine Finger habe ich selten für etwas anders benutzt als zum Schreiben. Ich hielt mich brav an die gesellschaftlichen Vorgaben und würde bald bereit für ein anständiges Berufsleben sein. Das war nie mein Plan gewesen.

Kurz vor seinem Tod hatte mein Vater Opa gefragt, ob es noch irgendetwas gebe, was er der Welt mitteilen möge. Irgendetwas Großes, das noch gesagt werden müsse. Und Opa hatte sich einen gebührenden Moment Zeit gelassen, hatte tief Luft geholt, und dann hatte er gesagt: »Man muss nicht immer alles mitmachen.«

Und plötzlich stand mein Entschluss fest: Ich wollte zur See fahren.

AUF ABSPRUNG

»Alles ist aufregend und andersartig und neu.«

11. JUNI 2013, PANAMA CITY

Wenn ich jetzt an die Probleme der ersten Tage denke, kommt mir alles so banal vor. Ich hätte nur ein wenig Vertrauen haben müssen. Natürlich gab es noch weitere Krisen: Ich brauchte einen Zugangscode, um das Geld bei der Western Union abzuheben, den Julian mir nicht gegeben hatte. Ich eilte zwischen Botschaft und Western Union hin und her, um mich nach anderen Methoden der Geldbeschaffung zu erkundigen, in dem Wissen, dass in Deutschland jetzt Nacht und mein Handy funktionsuntüchtig war. Ich fuhr zurück zum Hostel, um all meine Nachrichten nach einem eventuellen Code zu durchsuchen. Schließlich flirtete ich so lang mit der Dame vom Empfang der Botschaft, bis sie mir erlaubte, in Deutschland anzurufen und Julian aus dem Bett zu klingeln, damit er mir die nötigen Infos gab.

Die ganze Zeit hing mir dabei das Herz in der Hose. Außerdem hatte ich nur noch zwei Snickers.

»Guten Tag, hier spricht Mariaxenia Vargas Lopez von der Deutschen Botschaft in Panama City«, meldete sich Mariaxenia Vargas Lopez von der Deutschen Botschaft in Panama City. »Sind Sie wach? Gut. Ich werde Sie nun mit einem Freund verbinden, wenn Sie damit einverstanden sind.«

»…«

»Hallo? Julian?«

»Wuff.«

»Du hast mir irgendeinen Code nicht gegeben, den ich brauche, um an mei…, also, an dein Geld zu kommen.«

»Hm?«

»Irgendein Code, der auf der Quittung stehen müsste.«

»Ist das dein Ernst?«

»Jepp.«

»Ooooch, du Palme.«

»Ey, das ist nicht meine …«

»Warte.«

Ich hörte Julian rascheln, die Dame vom Empfang war weiterhin sehr nett, und bald hatte ich nicht nur den benötigten Code, sondern auch den Kontakt zu Frau Mariaxenia Vargas Lopez, falls weitere Probleme auftreten sollten. Außerdem steckte nun ein sehr beruhigender und unglaublich grüner Haufen Dollar unter meinen Fußsohlen.

»Alles ist aufregend und andersartig und neu«, schreibe ich am Abend in einer langen Mail an meinen Vater. Und plötzlich habe ich das Gefühl, dass ich jedes Problem auf der Welt lösen kann.

Am folgenden Morgen nehme ich den Bus nach Casco Viejo, in die neue Altstadt. Dorthin, wo laut Reiseführerintelligenz das Herz der Stadt am intensivsten schlägt.

An der Plaza Cinco de Mayo, am Ende der Avenida Central, steige ich aus. Der Platz markiert den Anfang einer in die Jahre gekommenen Fußgängerzone. Grünspan klebt an den Häusern, die allmählich abblätternden Werbeträger über den Ladenzeilen erzählen von einstiger Blüte und schwindender Kaufkraft.

Geht man von der Plaza aus nach Süden und folgt der Avenida Balboa Richtung Osten, gelangt man zum Mercado des Mariscos, wo in einer geräumigen Markthalle Fisch und Meeresfrüchte aller Art serviert werden. Man sitzt auf weißen Plastikstühlen entlang einer weißen Balkonbalustrade und speist an einfachen Plastiktischen. Ich entscheide mich für Corvina, Bratfisch mit Reis und Bohnen, dazu frittierte Bananen und eine Limettenscheibe. Unter mir, zwischen den Eismaschinen und Fliesengängen, die wedelnden Arme der Händler.

Draußen über dem Hafengelände heben sich die Umrisse von Geiern und Fregattvögeln gegen den Himmel ab. In niedriger Höhe kreisen sie über ihrer Beute. Es ist Ebbe, viele der Fischerkähne liegen trocken. Sie sehen aus wie Schildkröten, die auf den Rücken gepurzelt sind.

Nach dem Essen folge ich der Avenida Eloy Alfaro in die Altstadt. Ich passiere fahrende Händler und Segelbedarf in heruntergekommenen Schaufenstern, ein einsamer Alter sitzt an der Straße, trinkt Kaffee und spielt Schach gegen sich selbst. Hinter ihm, wo sich die Straße in einer Kurve langsam an den Hügel schmiegt, liegt das Withe Lion. Ein Stundenhotel mit Schreibfehler, in dem es billige Drogen und erfahrene Frauen gibt.

In der Calle 9a Este schallt Elektromusik an mein Ohr. Junge Kerle stehen auf den Balkonen eines von Seeluft zerfressenen Kolonialbaus, sie lachen und unterhalten sich in Backpackersprech über ihre letzten Aufenthalte im Norden des Landes, tragen Achsel-Hemden in verwaschenen Pastellfarben und Bart, wer ihn sich leisten kann. Die Mädchen daneben haben einzelne Dreadlocks im Haar. Panama City sei nur eine Zwischenstation, sagen sie, sie wollten weg, raus aus dem Moloch, vielleicht noch »den Stadtpark machen« und dann möglichst schnell nach Südamerika.

»You don’t wanna stay in Panama City! It’s crazy here! Too ugly! And the food? Ough. I stay with this«, sagt einer der Typen. Er prüft den Inhalt einer Dose Balboa in der Sonne, was keinen Sinn ergibt, da das Metall vollkommen blickdicht ist, dann nimmt er einen tiefen Schluck von dem Bier.

Der Balkon, auf dem er steht, gehört zum Luna’s Castle, dem Szenetreff für Hipster und Backpacker in Mittelamerika. »A bit looney and very friendly, it’s the kind of hostel people keep talking about long after their trip«, schreibt der Lonely Planet in seiner neuesten Ausgabe. Es geht die Legende um, dass sich ein Amerikaner vor ein paar Jahren nackt und unter Drogeneinfluss vom Balkon des Hostels gestürzt haben soll. Er habe sich für Superman gehalten und sei nur mit einem Handtuch in den Händen gesprungen. Von solchen Geschichten lebt dieser Ort.

Ich versuche, mir Opa hier vorzustellen.

Am 7. Oktober 1953 erhielt er sein erstes Seefahrtsbuch im Seemannsamt von Brunsbüttelkoog. Mit neunzehn Jahren. Bereits acht Monate später verließ er den Hamburger Hafen auf großer Fahrt.

Über Bremen verlief die Reise nach Rio de Janeiro. Der Michel versank in der Nordsee, und in der untergehenden Sonne tauchte der Zuckerhut auf. Die Häfen boten prachtvolle Straßen und schummrige Spelunken. Die Mädchen hatten klebrige Haut und dunkles Haar. Opa lernte Spanisch und schälte Kartoffeln.

»Du hast einen Teil deiner Sehnsucht erreicht«, schrieb Uroma Käthe 1954 an ihren Sohn. »Und wollen wir hoffen, dass es in deinem Leben immer nach deinen gesteckten Zielen geht.«

Ich sehe ihn am Balkongeländer des Luna’s Castle stehen, eine Zigarette rauchend, mit hungrigem Blick auf die Welt. In den Straßen hört man Akkordeonspieler statt Nicolas Jaar. Opa ist stiller als die Menschen hier, vielleicht auch ein wenig demütiger. Denn seine Welt ist noch eine Landkarte und keine Folge von Mausklicks.

Ich wandere weiter, zwischen blätterndem Putz und südlichen Farben, sehe den Regierungspalast, die Plaza de la Independencia und das Teatro Nacional, wo der Prunk der Kolonialzeit konserviert ist. Auf der langen Uferpromenade Paseo las Bovedas, deren Laubengänge den Blick auf die Skyline rahmen, spielt ein Mann Trompete. In der einen Hand hält er sein Instrument, in der anderen einen Regenschirm, den er gegen die Sonne aufgespannt hat. Niemand außer mir ist da, der ihm zuhört, und er gibt mit geschlossenen Augen das Konzert seines Lebens.

Es ist bröckelnder Reichtum, der hier in den Innenhöfen modert. Leere Mauern und Fenster, die Geschichten von Vergangenem erzählen. Da wohnt eine Familie von drei Generationen unter Wellblech, dort ein Bankenmogul hinter Marmor. Auf ein Stück Betonwand inmitten all der Gassen hat jemand auf den Putz geschrieben: »Rie suena canta siempre.« Lache, träume, singe immer.

Der Nachmittag führt mich nach Miraflores, zum Westende des Kanals, wo jährlich über vierzehntausend Schiffe die Verbindung zwischen Pazifik und Atlantik passieren. Hier riecht es nach Abgasen und Ferne. Pelikane umkreisen in trägem Flug die Anlage, riesige Containerschiffe werden von futuristisch anmutenden Lokomotiven durch die Schleusen gezogen. Wenn sich die Tore öffnen, stoßen die Pelikane nieder, um nach auftreibenden Fischen zu tauchen. Dahinter beginnt der Dschungel.

Ein Foto meines Großvaters zeigt einen Dampfer bei der Fahrt durch den Kanal. Ich stehe an etwa derselben Stelle, wo das Bild aufgenommen wurde. Und in diesem Moment verstehe ich, dass ich in seinen Spuren wandle. Ich bin hinterm Deich, weit weg von zu Hause, ich habe einen Teil meiner Sehnsucht erreicht. Hoffen wir, dass es immer nach meinen gesteckten Zielen geht.

ABFAHRT

»Stahlratte. Become a sailor.«

13. JUNI 2013,
DRITTER TAG NACH DER ANKUNFT IN PANAMA CITY

Es ist fünf Uhr morgens, die Stadt schläft, selbst Arosa ist noch nicht wach. Ich sitze auf der Terrasse des Panama by Luís, vor mir mein geöffneter Laptop, auf dem Tisch die Gläser der letzten Nacht. Irgendwo über mir raschelt ein Vogel.

Sobald ich weiß, wo du in Panama City steckst, kann ich die Transportleute anrufen, damit die dich dort aufgabeln. Die fahren dich dann nach San Blas, von wo aus es per Kanu weitergeht bis zum Schiff. Alle kennen mich dort, und wenn du sagst, du willst ›zur Stahlratte zu Lale‹, dann wissen alle Bescheid, und du wirst ohne Weiteres zu uns gelangen. So weit dann erst mal … bis in Kürze, Lars

Das hat mir der Kapitän geschrieben. Vor einer halben Stunde hätten die Transportleute da sein müssen.

Neben mir sitzen drei Italiener, braun gebrannt und sommersprossig, die Brust zu breit für ihre Schultern. Auch sie wollen nach San Blas. »Isla Robinson«, erzählen sie mit feierfreudiger Stimme. »Party at the beach. Party and coconuts, haha, and rum, yeah!« An ihren Handgelenken baumeln noch die Armbänder irgendeines Klubs, der seine Türen erst gegen Morgengrauen geschlossen hat.

Wir hören das Knirschen von Reifen auf Kies, dann Hupen.

»To San Blas?«, fragt der Fahrer durch das heruntergekurbelte Fenster.

Als er aussteigt, um uns beim Einladen des Gepäcks zu helfen, offenbart er uns einen stattlichen Bauch. Nacheinander schiebt er die vier Rucksäcke hinter die Rückbank, doch dann wird er stutzig.

»¡No, no! No quatro. ¡Tres!« Er hebt vier Finger der linken Hand und schüttelt den Kopf. Dann zählt er uns ab, hält drei Finger nach oben und nickt.

Wir schauen uns verwirrt an.

In diesem Moment kommt Luís, der Hostelbesitzer, die Treppe herunter in den Innenhof und schaltet sich in das Gespräch ein.

»You need to be three persons. Not four.«

»But we are four«, sage ich und halte zum besseren Verständnis vier Finger nach oben.

Der Fahrer schüttelt den Kopf. »Tres.« Er zeigt drei Finger.

Die Italiener machen ein komisches Gesicht, dann steigen sie an mir vorbei in den Wagen.

»No quatro. Tres«, wiederholt der Fahrer, an mich gewandt.

»Not four. Thr…«

»I know«, unterbreche ich Luís. »But I booked that taxi!«

»No quat…«

»YES

Der Fahrer grinst erleichtert, als ob alles geklärt wäre, dann schreitet er zur Fahrertür.

»But I need to go to San Blas!«, rufe ich. »To Stahlratte! To Lale!«

»To Stahlratte?« Der Fahrer dreht sich noch einmal um. Eine quälend lange Weile scheint er zu überlegen, dann antwortet er: »No. Ese carro va a San Blas.«

»I need to call«, wende ich mich an Luís, in der Aufregung beinahe meine Englischkenntnisse vergessend. »Can I use your phone?«

Unschlüssig reicht er mir sein Telefon. Ich reiße meinen Laptop aus dem Rucksack. Irgendwo habe ich doch die Nummer gespeichert!

Nach dem siebten Tuten meldet sich eine verschlafene Stimme.

»Hallo?«, frage ich. »Hallo, Lars?«

Ein tiefes Dröhnen zeugt von einer mit Inbrunst geputzten Nase. »Bidde?«

»Lars! Hier Nils, ich wollte doch heute auf die Stahlratte

»Is’ richtig.«

»Der Jeep ist voll. Die lassen mich nicht mitfahren!«

»Aha … Watt?«

»Keine Ahnung, ich sprech die Sprache nicht!«

»Gib mal her!«

Ich reiche das Handy weiter, und nach einigem unverständlichen Gerede höre ich lautes Gebrüll am anderen Ende der Leitung. Es klingt, als würde Lars die Situation deichseln.

Die Fahrer und er reden noch eine Weile weiter, dann wird mir das Telefon zurückgereicht.