Das Buch
Bewegend. Faszinierend. Spannend.
Gordon Smith hat bisher nie erzählt, unter welch außergewöhnlichen Umständen er seine spirituellen Kräfte entdeckte. Er glaubte, seine Mutter schäme sich für die ärmlichen Verhält-nisse, aus denen die Familie stammte, und für die Brutalität, die der Sohn erleiden musste. Erst nach ihrem Tod entschloss er sich, seine unglaubliche Geschichte von Anfang an zu erzählen: von der harten Kindheit in Glasgows Armutsvierteln bis zur Gegenwart, in der er ein international angesehenes und gefeiertes Medium ist.
Dieses Buch bietet beeindruckende und überraschende Einblicke in das Leben von Gordon Smith und seine Entwicklung zum Medium. Es rührt zu Tränen und bringt einen gleichzeitig zum Lachen.
Der Autor
Gordon Smith stammt aus Schottland, wo er als siebter Sohn eines siebten Sohnes geboren wurde und schon als Kind seine übersinnliche Begabung entdeckte. Mit seiner besonderen Fähigkeit ist er zum bekanntesten Medium Großbritanniens geworden und hat Tausenden von Menschen geholfen, mit verstorbenen Angehörigen zu kommunizieren. Die BBC widmete ihm eine eigene TV-Dokumentation, und seine Bücher wurden zu internationalen Bestsellern. Gordon Smith nimmt für seine medialen Sitzungen kein Geld und geht zwischen seinen Vorträgen und Seminaren in Glasgow seinem erlernten Beruf als Friseur nach.
www.gordonsmithmedium.com
Von Gordon Smith sind in unserem Hause erschienen:
Wie man ein Medium wird
Mein Blick ins Jenseits
Medium
Spirit Messenger
Gordon
SMITH
Das Beste aus beiden Welten
Meine Lebensgeschichte als spirituelles Medium
Aus dem Englischen übersetzt von Gabriel Stein
Ullstein
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Titel der Originalausgabe: THE BEST OF BOTH WORLDS
Erschienen 2014 im Verlag Coronet, London, UK
Ullstein Taschenbuch ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH
Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage April 2015
© der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
© der Originalausgabe 2014 by Gordon Smith
Übersetzung: Gabriel Stein
Lektorat: Marita Böhm
Umschlaggestaltung: FranklDesign, München
Coverabbildungen: Paul Gill (Porträt Gordon Smith), John Cleare/fotolibra (Abbildung unten)
ISBN 978-3-8437-1089-3
Alle Rechte vorbehalten.
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Verbreitung, Speicherung oder Übertragung
können zivil- oder strafrechtlich
verfolgt werden.
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Für meine Eltern »Lizzy« und »Sammy«: Glasgower Dickschädel, die aufgrund dieses Buches niemals wirklich sterben werden.
Mit Liebe und Dank von der ganzen Familie.
Einleitung
Nichts zieht unsere Gedanken tiefer in die Vergangenheit als ein Todesfall in der Familie. Er gehört zu jenen Ereignissen, durch die wir ein besseres Verständnis darüber gewinnen möchten, wer wir sind und wohin wir im eigenen Leben gehen. Ja, gewiss veranlasst uns der Tod, nach Antworten auf solche Fragen zu suchen. Genau das tat ich, als ich in der Kabine direkt über meinem Kopf die Ansage hörte, deren durchdringende Lautstärke mich in meinem Sitz förmlich nach vorn katapultierte: Crew fertig machen zum Abflug.
Das Begräbnis meiner Mutter sollte am nächsten Tag stattfinden. Als sie starb, arbeitete ich gerade auf einer spirituellen Tagung in der Schweiz. Die Nachricht ihres Todes hatte mich zurückgelassen mit dem schrecklichen Gefühl der Hilflosigkeit und Trennung von dem Menschen, der in meinem Leben immer völlig präsent gewesen war.
Während der vergangenen vier Tage seit der telefonischen Mitteilung meiner Schwester Joan, dass Mutter von uns gegangen war, hatte ich etliche Geschichten mit dieser sehr besonderen und doch äußerst schwierigen Frau noch einmal vor dem inneren Auge Revue passieren lassen. Sie übte nicht nur auf mich, sondern auf alle ihre Kinder einen großen Einfluss aus.
Auf jener Tagung war die Rede gewesen vom Leben nach dem Tod und dem Überleben des menschlichen Geistes; ich sollte den zahlreichen Teilnehmern die nötigen Antworten geben, worum ich mich nach besten Kräften auch bemühte, jetzt jedoch wollte ich einfach ganz in Ruhe über meine Mutter nachdenken.
Die Drinks waren soeben serviert worden, und der Fremde neben mir unternahm keinen Versuch, ein Gespräch zu beginnen, starrte nur gebannt auf seinen Gin Tonic – als läse er in einer Kristallkugel, dachte ich, ehe ich mich wieder meinen Erinnerungen hingab. Meine Mutter hatte eine derart starke Persönlichkeit, dass offenbar jeder, der ihr begegnete, den Drang verspürte, sie nachzuahmen. Sie war stets voller Elan, der ansteckend wirkte. Lizzy (unter diesem Namen kannte sie jeder in der Familie) war immer größer als das Leben – leicht zum Lachen zu bringen und ebenso leicht in Wut zu versetzen. Sicherlich würden alle Familienmitglieder zustimmen, dass unsere Mutter nie als gewöhnlich, unentschieden oder ausgeglichen zu bezeichnen gewesen wäre; sie war entweder begeistert oder niedergeschlagen, schwarz oder weiß. Bei Lizzy gab es kaum etwas, das zwischen den Extremen lag.
Auf diesem kurzen Flug von Zürich nach London muss ich die gesamte Bandbreite menschlicher Gefühle durchlebt haben. Ich lachte laut auf bei der Erinnerung daran, wie meine Mutter jenen Friseursalon in Glasgow betrat, in dem ich damals vor etwa zwanzig Jahren gearbeitet hatte. Ihr Gesicht bebte vor Zorn, als sie das Kopftuch herunterriss und eine wuschelige Masse hellgrünen Haars enthüllte. Die Farbe kontrastierte mit dem hochroten wutentbrannten Ton auf ihren Wangen und dem Weiß des Tuches, das auf ihre Schultern gefallen war. In diesem Moment ähnelte sie einer zerzausten Version der italienischen Flagge.
Meine Mutter spielte oft mit Haarfärbemitteln herum, und so war es nicht das erste Mal, dass ich mit einer derartigen Situation fertigwerden musste. In Armut aufgewachsen, hielt sie immer wieder Ausschau nach einem Schnäppchen und durchstöberte in Geschäften leidenschaftlich gern die Wühltische mit Sonderangeboten. Aber in diesem Fall hatte sie wohl ein Tönungsmittel gekauft, dessen Haltbarkeitsdatum längst abgelaufen war. So bizarr diese Szene schien, wagte ich es doch nicht, meiner Mutter ins Gesicht zu lachen. Nein, Lizzy war aufbrausend und jähzornig, weshalb all meine Familienmitglieder und Freunde darauf achteten, diese ungestüme Seite in ihr nicht wachzurufen.
»Schau dir mal meine verdammt’n Haare an. Was meinst’n, was da passiert ist?«, fragte sie. Ihre hellgrünen Augen schienen stärker hervorzutreten denn je. (Habe ich bereits erwähnt, dass Lizzy häufig fluchte?)
Das iss bloß ’n Kamm, Mutter, kein Zauberstab!, wollte ich erwidern, meinen Kamm vor ihr schwenkend. Doch das natürliche Taktgefühl des Friseurs gewann die Oberhand, und so setzte ich dessen schockierte Miene auf, sagte zu ihr, welches Pech sie hatte mit diesem schlechten Tönungsmittel, aber wie einfach es sei, das Problem zu beheben.
Ich frage mich, was sie gedacht hätte, wäre ihr bewusst gewesen, was mir – und sicherlich auch meinen Kollegen – dabei durch den Kopf ging: all die witzigen Dinge, die im selben Moment hätten ausgesprochen werden können, etwa Hinweise auf Rasenmäher oder Heckenscheren oder auf Krusty, den Clown aus den Simpsons. Ich stellte mir sogar eine Ziege vor, die hinter ihr stand und von dem blattartigen Haar fraß. Mein Körper war so gepeinigt von unterdrücktem Lachen, dass ich nur mit größter Mühe meine Selbstbeherrschung wahren konnte.
Ich spürte, dass der Mann neben mir in meine Richtung schaute. Wahrscheinlich fragte er sich, was diesen verrückten Typ an seiner Seite derart belustigte. Anstatt einen Erklärungsversuch zu unternehmen, vollführte ich eine jener Gesten von Leuten, die an einem öffentlichen Ort dabei erwischt werden, wie sie in sich hineinlachen. Ich hüstelte, rieb mir die Nase und schniefte heftig, als hätte ich Heuschnupfen. Wahrscheinlich wedelte ich mehrmals mit der Hand vor meinem Gesicht und warf dem Mann einen mitleiderregenden Blick zu, ehe ich zurücksank in die Erinnerungen an meine grünhaarige Mutter.
Als würde ich die Schublade einer alten vertrauten Kommode öffnen und nach etwas suchen, das sich darin befinden musste, wollte ich in Gedanken einen sanfteren Charakterzug meiner Mutter zutage fördern. Ich konnte keinen erkennen, entsann mich jedoch, welche Traurigkeit ich für sie empfand, wenn sie uns Geschichten über ihre Erziehung in den Gorbals erzählte, jenem Glasgower Bezirk südlich des Flusses Clyde, wo man zwischen den 1920er- und 1940er-Jahren in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs. Viele solcher Geschichten bekamen meine Brüder und ich im frühen Kindesalter zu hören – etwa wie sie zusammen mit ihren jüngeren Geschwistern wartete, dass ihre Mutter am Weihnachtsabend vom Flohmarkt zurückkehrte, auf dem sie gebrauchte Kleidung verkaufte, und sehen wollte, ob ihr und den anderen Geschenke mitgebracht worden waren. Im glücklichen Fall entdeckten sie in einer mit Asche gefüllten Socke eine Orange oder eine Banane. Nie werde ich vergessen, wie mir dabei vor Mitleid schwer wurde ums Herz, wie ich die Tränen unterdrückte. Sammy und John, meine älteren Brüder, fingen an zu lachen und sie zu necken, worauf Lizzy mit ihnen lachte und hinzufügte, dergleichen sei für Leute ihrer Zeit und aus dieser armseligen Gegend ganz normal gewesen; aber ich hatte immer das Gefühl, dass während des Erzählens ein tiefer Kummer von ihr Besitz ergriff, wohl gerade wegen der Asche. Diese erschien mir gleichsam als Metapher für vergebliche Wünsche.
Ihre Zähigkeit angesichts der Dinge, mit denen sie zu kämpfen hatte, erweckte in mir das Bedürfnis, um sie zu weinen, vielleicht weil sie nie imstande war, um sich selbst zu weinen. Traurigkeit war in Lizzys Augen ein Ausdruck von Schwäche. Sie hatte gelernt, über ihre Entbehrungen zu lachen und auf Anhieb witzige Bemerkungen zu machen, die ihr eine gewisse Kontrolle über die eigene Vergangenheit verliehen. Tatsächlich hatten meine Brüder, Schwestern und ich dank ihrer Fürsorglichkeit ein sehr privilegiertes Leben, und möglicherweise wollte sie uns genau diese Einsicht vermitteln, wenn sie uns ihre Geschichten erzählte.
Der Mann neben mir starrte mich erneut an, aber das war mir jetzt, da ich Tränen von meinem Gesicht wischte, ziemlich egal. Ich überlegte, was Lizzy dazu sagen würde. Wahrscheinlich hätte ihr Ausruf gelautet: »Wo schau’n Sie denn verdammt nochmal hin?« Kurz darauf suchte ich Zerstreuung im Bordmagazin. Wie sich herausstellte, war es eher eine Art Bildschirm als Quelle für Lesestoff.
Das Signal zum Anschnallen leuchtete über unseren Köpfen auf, während die Maschine den Anflug auf London begann. Erleichtert spürte ich, dass meine Heimat näher rückte, während das Brummen und Pfeifen der großen Motoren uns sanft auf die Erde zurückbrachte. Ich musste noch den Anschlussflug nach Glasgow erreichen, um mich dem Geist meiner Mutter wirklich verbunden zu fühlen. Keine Ahnung, warum diese Empfindung auftauchte, aber sie war da. Zwar hatte ich den größten Teil meines Erwachsenenlebens damit verbracht, den Menschen mitzuteilen, dass der Geist derer, die wir lieben, uns nah ist und begleitet, wohin wir auch gehen. Obwohl ich davon nach wie vor fest überzeugt bin, hatte ich doch den Geist meiner Mutter seit ihrem Tod nicht mehr nah bei mir gefühlt.
Der Anschlussflug war auf die Minute pünktlich. Das hätte Lizzy gefallen. Im Handumdrehen saß ich wieder angeschnallt auf meinem Platz mit gesenkter Armlehne und aufrechter Rückenlehne, um mich auf den nächsten Start vorzubereiten.
Mir fiel auf, dass es draußen zu dunkeln begann, als wir in den dunstig grauen Himmel über London emporschnellten. In dem Maße, wie das Flugzeug sich vorwärts bewegte, liefen meine Erinnerungen rückwärts, und ich wusste auch, warum. Ich wollte mein Gedächtnis nach jeder wertvollen Reminiszenz an das Leben meiner Mutter durchsuchen, die lustigen ebenso aufspüren wie die traurigen – und vor allem jene, die Lizzy genau erfassten und zu der Frau machten, wie jeder sie kannte.
Ich war gebeten worden, beim Trauergottesdienst über sie zu sprechen, und wünschte mir eine besondere Rede, denn trotz ihrer Fehler bedeutete sie uns wirklich alles. Einige Ereignisse aus ihrem Leben sollten in so authentischer Weise wiedergegeben werden, dass sie für einen weiteren Moment fühlbar bei uns war. Schließlich wollte ich ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen und jeden an die wesentlichen Qualitäten und Stärken erinnern, die sie im Laufe ihrer sechsundachtzig Jahre auf dieser Welt gezeigt und hoffentlich an uns weitergegeben hatte.
Als ich mich langsam an die neue Umgebung gewöhnte, kam mir der Gedanke, wie stark Lizzy sowohl physisch als auch mental in ihrem ganzen Leben gewesen war. Auf diesen Aspekt würde ich mich in meiner Rede gewiss konzentrieren. Wie sanfte Wellen zogen Erinnerungen durch meinen Kopf und gaben mir zu verstehen, dass eine wichtige Botschaft an die Oberfläche kommen wollte.
Plötzlich sah ich mich als kleinen Jungen. Ich war ungefähr drei Jahre alt und hielt die Hand meiner Mutter, die neben mir ging. Ich erinnerte mich, dass ich zu ihr aufschaute und redete – ja, zweifellos redete ich, denn meine Mutter hatte stets betont, dass ich vom ersten Augenblick an, da ich sprechen lernte, nie mehr den Mund hielt. Danke, Lizzy.
Wir beide setzten den Weg fort, bis ein vertrautes Gebäude in unseren Blick geriet – das Haus, in dem wir damals und die meiste Zeit meiner Kindheit wohnten: 97 Mansel Street im Stadtteil Balornock, ein großer schwarzer Kasten mit vier Apartments auf der nördlichen Seite von Glasgow. Dorthin waren wir umgezogen, als ich zwei war, weil Papa unbedingt einen Garten wollte. Seltsam, wie lang der Zugang zur Haustür in meiner Erinnerung schien, obwohl er in Wirklichkeit nur etwa fünf Meter maß.
Dann tauchte aus dem Nirgendwo ein schreckliches Ereignis auf, das ich ganz gewiss erlebt hatte, das aber aus irgendeinem mir unerfindlichen Grund in den fernen Tiefen meines Innern verborgen geblieben war. Ich stand auf jenem schwarz geteerten Gartenpfad, als eine heftige Regung mich überkam. Heute ist mir bewusst, dass ich dieses Gefühl zum ersten Mal empfand: Angst. Und mir dämmerte, warum ich mich so sehr fürchtete: Meine Mutter hatte unversehens meine Hand losgelassen. Im Rückblick erkannte ich, dass jenes Kind, das ich beobachtete, die Angst seiner Mutter gespürt haben musste, wohl infolge der abrupten Art, wie sie sich von ihm freimachte. Ich war erfüllt von der Angst des Kindes.
Lizzy ging nun langsam in unser leeres Haus und rief laut: »Wer iss da? Ich weiß, dass jemand hier drin iss.« Als ich mir die Szene vergegenwärtigte, war es, als spürte ich das Adrenalin durch den Körper meiner Mutter schießen. Vorsichtig bewegte sie sich weiter durch den schmalen Flur. Ein Kraftfeld nervöser Stärke, das zu pulsieren schien, hatte sich rings um sie gebildet, und als kleiner Junge fühlte ich mich mit dem Rhythmus dieses Pulsschlags verbunden. Dann verschwand Lizzy in einem der drei Schlafzimmer, das an den Flur grenzte. In diesem Moment vergrößerte sich noch die Angst des Kindes, weil es die Mutter aus den Augen verlor. Merkwürdig war, dass ich seine Angst von jener der Mutter unterscheiden und wahrnehmen konnte, in welcher Weise sie voneinander abwichen. Beide Ängste waren verknüpft und zugleich getrennt. Vor dem inneren Auge sah ich eine Löwin, die die drohende Gefahr wittert und sich anschickt, ihr Junges zu verteidigen, was immer auch geschehen mochte.
Meine Mutter wusste, dass an jenem Tag ein Fremder in unserer Wohnung war, weil sie bei unserer Rückkehr vom morgendlichen Einkauf bemerkt hatte, dass die Eingangstür einen Spaltbreit offen stand. Was ging ihr durch den Kopf, als sie sich in diese unbekannte und potenziell äußerst gefährliche Situation begab? Viele Leute hätten die Flucht ergriffen oder um Hilfe gerufen, aber meine Mutter war nicht wie andere, zumal wenn ihr Heim oder ihre Kinder betroffen waren.
Die völlige Stille, die inzwischen eingetreten war, wurde jäh durchbrochen von einem ohrenbetäubenden Brüllen, wie ich es später noch häufig hören sollte: »Ahhrrrrrrrrrr!« Die Jagd war vorbei, und der laute Schrei war der meiner Mutter. Sie hatte einen jungen Mann ertappt, der sich unter einem der Betten versteckte. Hinterher erfuhr ich, dass er in unsere Wohnung eingedrungen war, um aus der Garderobe meines ältesten Bruders Tommy Kleidungsstücke zu stehlen, wobei wir ihn durch unsere Ankunft gestört hatten. Ihm blieb keine Zeit mehr, um einen klaren Gedanken zu fassen. Er wollte gerade durch die Eingangstür Reißaus nehmen, als er mein Geplapper hörte und hastig unters nächste Bett kroch – wahrscheinlich in der Hoffnung, zu entkommen, sobald wir uns im Wohnzimmer aufhielten.
Aus der Sicht des Kindes konnte ich jetzt nur einen Körper erkennen, der sich über einen anderen beugte, und dieser kroch und krabbelte über den Boden unseres Flurs, wurde geschlagen und getreten wie ein alter Hund.
»Du Dreckskerl, ich bring dich um, du verfluchter kleiner Tagedieb!«
»Bitte, Mrs Smith, bitte lass’n Sie mich lauf’n, tut mir leid.«
Der junge Mann rollte durch die Eingangstür, krümmte sich und rappelte sich auf, hielt sich den Magen mit der einen Hand, wollte mit der andern noch immer sein Gesicht schützen, während er an mir vorbeizueilen versuchte.
»Leid tut’s dir? Dir wird’s noch mehr leidtun, wenn unser Tommy nach Haus kommt, du verdammter feiger Gauner!«
Es handelte sich um einen unserer Nachbarn, der wusste, dass die Prügel meiner Mutter nichts waren im Vergleich zu dem, was mein Bruder ihm später antun würde.
Es war eine andere Zeit und eine andere Generation, die mit den Dingen des Lebens auf andere Weise verfuhr.
»Stärke und Mut«, flüsterte ich vor mich hin, als mir wieder einfiel, wie schnell Lizzy die Einkaufstüte vom Gartenpfad holte, nachdem der Einbrecher davongeschlichen war. Zuvor hatte sie die Tüte neben mir stehen lassen, um ihn zu ergreifen. Dann sah sie zu mir herab, als wäre ich eine weitere Einkaufstüte, die sie abgesetzt hatte, und sagte: »Los, mach schon, komm rein, ich kann nicht den ganzen verdammten Tag hier rumsteh’n.« Sowohl in der Gegenwart wie auch als Kind in der Erinnerung fühlte ich mich voller Energie; ein überschwängliches Gefühl in den Eingeweiden, gepaart mit der Gewissheit, dass man von dieser starken Person wirklich beschützt wurde. Mit drei Jahren weiß ein Mensch nicht, was richtig und was falsch ist, wohl aber, ob er beschützt wird. Das war die Art, wie meine Mutter ihre Liebe zeigte.
Die Maschine setzte nun zum Sinkflug an, und es erleichterte mich, ein Thema zu haben, auf das ich meine Rede aufbauen konnte. Unter mir tauchten die Lichter von Glasgow auf, ein weithin sichtbares orangefarbenes Meer. Als wir in die ersten Turbulenzen gerieten, wusste ich, dass ich meiner Heimatstadt nah war. Sicherlich ist im Himmel über Glasgow ein Loch, denn selbst bei klarer Nacht wird das Flugzeug auf dem Weg zur Landebahn immer über den Campsie Hills hin und her geworfen. Der Stoß rüttelte mein Denken wach, und mir wurde bewusst, dass ich zum ersten Mal ohne Lizzys physische Gegenwart in Glasgow sein würde. Ein weiterer Schlag, ein Scheppern, ein Ruck. Die Stöße fühlten sich an wie die Klapse oder Ohrfeigen meiner Mutter, die mir damit zu verstehen gab, dass ich nicht so denken oder handeln sollte. Manchmal konnte sie äußerst streng sein, dann wieder beruhigend wirken, wenn man es brauchte.
Während der Landung stiegen vielerlei Gedanken, Erinnerungen und Überlegungen in mir hoch. Mit vier Jahren befand ich mich an einem geschäftigen Samstagnachmittag mit Lizzy im Zentrum von Glasgow. Es war eine meiner frühesten und emotional am stärksten aufgeladenen Erinnerungen. Wie üblich hielt ich ihre Hand fest, das hatte sie mir immer wieder beigebracht. Ich sah mich um, musterte all die Leute in der belebten Straße. Dieser Anblick erfüllte mich mit Aufregung und Staunen. Plötzlich ließ ich aus irgendeinem Grund die Hand los. Ein oder zwei Sekunden lang war mir, als käme in der Straße voller Menschen, die in mehreren Richtungen an mir vorbeieilten, die Welt zum Stillstand: Das hektische Treiben ringsum war zu viel für einen Vierjährigen. Dann erst wurde mir klar, dass ich Lizzys Hand losgelassen hatte und ganz auf mich allein gestellt war. Die gleiche Angst ergriff mich jetzt bei dem Gedanken, meine Mutter zu verlieren, und zum zweiten Mal in den vier Tagen, seit ich die Nachricht von ihrem Tod erhalten hatte, kam ich mir so hilflos vor wie jener kleine Junge in meiner Erinnerung.
Ich entsann mich, wie ich aus purem Entsetzen »Mami, Mami, Mami, Mami, Mami!« schrie, und empfand diesen schrecklichen Moment so, als wäre er gestern gewesen. Mitten auf der überfüllten Argyll Street hielten Passanten inne und reagierten. »Hat wer ’n kleinen Jungen verlor’n?«, rief jemand über die Köpfe der Menge hinweg, und sofort war Lizzy zur Stelle, brüllte und fluchte. Sie kauerte sich vor mich, hielt mich an beiden Armen, wahrscheinlich genauso erleichtert wie ich, und sagte: »Alles okay, ich hab dich jetzt, Sohn.« Ich war in Sicherheit. Wie merkwürdig, dass mich gerade in dem Augenblick, als das Flugzeug in Glasgow landete, das gleiche Gefühl von Erleichterung überkam, wieder bei meiner Mutter zu sein. Es spielte keine Rolle, dass ich nun fünfzig Jahre alt war oder dass ich etwas wusste vom Leben nach dem Tod. Während ich die Stimme des Chefstewards sagen hörte: »Meine Damen und Herren, willkommen in Glasgow!«, fühlte ich mich wirklich wie jener kleine Junge, der von seiner Mutter wohlbehalten in Empfang genommen worden war.
* * *
Mutter, Musik und Chaos
Es war der Sommer 1966, und ich war vier Jahre alt. Ein sehr heißer Tag, alle Fenster im Haus geöffnet und die Straße erfüllt von Geräuschen spielender Kinder. Einige Jungen kickten einen aufgeplatzten Lederfußball von einem Bürgersteig zum andern, während ein Hund dem alten, luftleeren Objekt hinterherjagte und in tiefer Frustration dauernd bellte.
Weiter unten auf dem Bürgersteig spielten Mädchen mit Hüpfseilen und sangen beim Springen kleine Lieder wie dieses: »On the mountain stands a castle and the owner Frankenstein with his daughter Pansy Potter she my only valentine.« (Auf dem Berg, da steht ein Schloss und der Schlossherr Frankenstein mit der Tochter Pansy Potter, mein geliebter Sonnenschein.) Von meinem Aussichtspunkt in unserem Wohnzimmer konnte ich vieles überblicken, was in der Straße vorging, und der Lärm, der aus verschiedenen Richtungen kam, schien voller Lebenskraft und Freude. Alles Geschehen schien das auszudrücken, was für mich nichts anderes bedeutete als LEBEN.
Meines Erachtens habe ich ein gutes Gedächtnis, aber die meisten Erinnerungen an mich im Alter von vier Jahren sind, gelinde gesagt, bruchstückhaft. Aus irgendeinem seltsamen Grund ist mir jedoch die folgende Situation deutlich gegenwärtig. In einem Zimmer schmetterten die Beatles ihren neuesten Top-Hit, während mein ältester Bruder Tommy laut mitsummte und sich zum Ausgehen fertig machte. Aus einer anderen Richtung hörte ich ein Stück von Diana Ross und den Supremes, die mit den Beatles konkurrierten, derweil meine Schwester Betty ihrem Song zu folgen und mitzusingen versuchte. Meine Mutter hingegen konnte den ganzen Radau noch übertreffen, indem sie rief: »Sammy, sag denen, sie soll’n die verdammte Musik ausmach’n, ich kann hier ja nicht mal mehr meine eig’nen Gedanken hör’n!«
Es muss ein Sonntag gewesen sein, denn nur an diesem Tag der Woche schienen Vater und Mutter gleichzeitig in der Küche zu sein. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er in meinen frühen Jahren häufig da gewesen wäre. Nicht weil er ein abwesender Vater war, nein, sondern weil er all die von Gott gewährten Stunden arbeitete und gewöhnlich eine Art von schwerer körperlicher Tätigkeit ausführte. Den Sonntag verbrachte er gern mit der Familie und half Lizzy oft, das Mittagessen zuzubereiten, oder spielte mit einigen von uns im Haus oder im Garten, was uns natürlich am besten gefiel.
»Lizzy, um Himmels willen, die sind doch noch jung, lass sie ihre Musik spiel’n«, erwiderte er beschwichtigend.
Von der Stimmung meiner Mutter hing es ab, wie sie darauf reagieren würde. Wenn sie angespannt war, konnte sie dagegenhalten: »Meine Nerven lieg’n blank, also mach dies’n Mist aus!«
Während meiner gesamten Kindheit klagte meine Mutter ständig über ihr Nervenkostüm. Sie fluchte wie ein Landsknecht, aber bestimmte Worte kamen ihr nie über die Lippen. Was immer mit Geschlechtsteilen oder Frauenleiden zu tun hatte, durfte keinesfalls ausgesprochen und schon gar nicht erörtert werden. Wenn Lizzy dagegen glücklich war, lächelte sie Papa manchmal einfach an, schüttelte den Kopf und gab einen lauten Seufzer von sich. Bisweilen versuchte sie sogar, den Text eines Liedes mitzusingen, wenn sie es mochte – meine Mutter war, wie Betty, eine sehr gute Sängerin. An diesem besonderen Tag sang sie, und das war einer der wunderbarsten Augenblicke meiner frühen Kindheit: die ganze Familie vereint und die Luft rings um mich von Harmonie erfüllt.
Diese Erinnerung verbinde ich mit dem Gefühl, zum ersten Mal glücklich zu sein in der Welt. Sie hebt sich deutlich ab von anderen Erinnerungen an viel härtere emotionale Erfahrungen. Wenn ich auf mein junges Leben zurückblicke, empfinde ich gewiss eher Angst und Wut als Freude. Das wusste ich damals nicht, aber ich war ein sensibles Kind. Nicht weichlich oder zimperlich, doch äußerst empfänglich für die Atmosphäre, die mich umgab.
Im Sommer 1966 war ich gerade vier Jahre alt geworden und das jüngste von sieben Kindern: Tommy, Betty, Joan, Agnes, Sammy, Jonny und schließlich ich. Nach mehrmonatiger erfolgloser Behandlung eines Magenleidens war Agnes, nicht einmal zweijährig, einige Jahre vor meiner Geburt gestorben. Wir anderen lebten dicht aneinandergedrängt in dem Haus im nördlichen Teil von Glasgow. Und als wären wir nicht schon zahlreich genug gewesen, wohnte auch noch meine Cousine Sandra – zu jener Zeit etwa achtzehn oder neunzehn Jahre alt – bei uns. All diese menschliche Energie konnte eine Quelle der Freude sein, wenn der Alltag reibungslos und harmonisch verlief, aber auch ziemlich explosiv werden, wenn zwischen uns Konflikte ausbrachen.
Eine weitere frühe Erinnerung stammt aus der Zeit, als ich ungefähr sechs war. Sandra ärgerte sich zunehmend über die Art und Weise, wie der zehnjährige Sammy sein Abendessen verspeiste. Er konnte ein echter Störenfried sein, der die Leute gern schockierte, besonders die älteren Familienmitglieder. In jener Situation schlürfte er absichtlich seine Speise, wohlwissend, dass Sandra davon wirklich genervt wäre, und sich taub stellend, sobald sie ihn aufforderte, derlei zu unterlassen.
»Sammy, das dreht mir total ’n Magen um!«
»Ich tu doch gar nix!«
»Ich schwör bei Gott, dass ich dir deinen blöd’n Schädel einschlag!«
Vielleicht geschehen solche Dinge in allen großen Familien, aber was dann folgte, war bestimmt eher ungewöhnlich. Beim Abendessen saßen wir alle, wo sich uns Platz bot, im Wohnzimmer herum, balancierten die Teller auf dem Schoß und schauten meistens fern – die Serie Crossroads oder was sonst gerade lief. Ich merkte, wie sich mein Magen zusammenzog, bis mir schließlich der Appetit verging. Meine Mutter kam aus der Küche herein, wo sie für jeden die Speise zubereitet hatte. Sie hatte jene typische irische Blässe, die sich vor Ärger leicht rot färbte. Jetzt war sie knallrot, atmete hastig und schrie mich an:
»Iss die verdammte Mahlzeit, die du dir gewünscht hast!«
Ich war zu jener Zeit ein sehr wählerischer Esser – Gemüse schmeckte mir nicht – und bedurfte anderer Kost als die übrigen Familienmitglieder. An dem Tag lag vermutlich ein in Milch gekochter Fisch auf meinem Teller.
Doch diesmal war mein mangelnder Appetit auf die ringsum herrschende Spannung zurückzuführen. Ich ahnte, dass augenblicklich etwas Schlimmes passieren würde. Die Sticheleien zwischen meinem Bruder und meiner älteren Cousine genügten, um bei meiner Mutter schnell die Sicherungen durchbrennen zu lassen. Mit jedem weiteren Kommentar schien sich die Atmosphäre im Raum noch stärker aufzuladen.
»Sammy«, sagte Sandra, »hör lieber auf damit! Ich warn dich. Wenn du das nochmal machst, kriegste ’ne Tracht Prügel, du kleines Miststück!«
Sobald Sandra wütend wurde, traten ihre Augen hervor, was ihr ein ziemlich furchterregendes Aussehen verlieh. Aber da Sammy nie den Anfeindungen von jemand anders nachgab, fuhr er in seinem Treiben fort und sah mit dem unschuldigsten Gesichtsausdruck zu unserer Mutter auf.
»Mama, weiß nicht, was die meint, ich tu überhaupt nix, Ehrenwort. Die denkt sich irgendwas aus – und iss total übergeschnappt.«
So ging es weiter, bis Lizzy schließlich genug hatte und explodierte.
»Was seid ihr nur für Dreckschweine!«
Ein Teller voller Essen krachte gegen die Wand und zersplitterte in tausend Stücke, direkt über der Stelle, wo mein Bruder saß. Mutter hatte das Porzellan Sammy und Sandra entgegengeschleudert, ohne darauf zu achten, wen sie damit treffen würde. Ehe irgendein Protest sich erheben konnte, hatte sie die eine Hand um Sandras Kehle gelegt, während die andere in Sammys Richtung schlug. Joan, Betty und Jonny gelang es, auszuweichen und in den Flur zu entkommen, aber ich, starr vor Schreck, blieb wie angewurzelt auf meinem Stuhl. Mittlerweile war das ganze Essen über den Boden verteilt, da Cousine und Bruder wild gestikulierten, um sich zu schützen. Lizzy hielt den beiden eine Strafpredigt, die zugleich eine Art Monolog war und im Rhythmus der ausgeteilten Schläge erfolgte:
»Ich-hab’s-euch-schon-mal-gesagt-hab-euch-Lumpenpack-tausendmal-eingetrichtert-dass-ich-beim-Abendessen-keinen-Streit-will!«
Ihre Tobsucht war ausgebrochen, und die verzweifelte Reaktion des Sohnes bestand im Gegenangriff.
»’s iss bloß wegen ihr, Mami, die iss einfach durchgeknallt!«, brüllte Sammy von irgendwo unter dem Körper meiner Mutter hervor.
»Halt-dein-verdammtes-Maul-wenn-ich-dich-verdresch-du-elende-Nervensäge!«, erwiderte Lizzy, während sie ihn weiter malträtierte.
Sandra hingegen verstand sich offenbar darauf, stillzuhalten und die Schläge einzustecken. Sie wusste, dass die leidige Sache schneller vorbei wäre, wenn sie sich zusammenkrümmte und keine Silbe sagte.
Ich erinnere mich nicht genau, wie oft sich solche Szenen während meiner frühen Jahre ereigneten, aber es waren gewiss viele. Zweifellos fühlte ich die emotionalen Auswirkungen dieser Szene und anderer Streitigkeiten so tief in mir, dass ich heute den jeweiligen Vorfall noch einmal durchlebe, wenn ich davon erzähle. Jede Empfindung der groben Wirklichkeit, die den damaligen Moment kennzeichnete, ist mir deutlich bewusst und füllt mich aus. Es ist, als würde ich blitzschnell zurückbefördert in die Vergangenheit, an die früheren Orte.
Nachdem Lizzy die beiden endlich losgelassen hatte, eilte sie in die Küche, um Lappen und Schaufel zu holen und die Unordnung zu beseitigen. Dabei redete sie erneut laut vor sich hin. Unterdessen richtete Sandra sich mühsam wieder auf, wandte sich mit rotem Gesicht und wirrem Haar Sammy zu und brach in hysterisches Lachen aus. Sie konnte nicht aufhören damit, und ihr schallendes Gelächter war äußerst ansteckend. Dann fiel sie auf die Knie, wobei ihr Tränen über die Wangen liefen. Sie lachte derart heftig, dass ihre Schultern zitterten und manchmal der Eindruck entstand, als würde sie nicht mehr atmen, nur um sogleich wieder prustend loszulachen. Sie schaute mich an, und ich lachte mit ihr, obwohl ich gar nicht wusste, warum eigentlich. Vielleicht um die Anspannung zu lösen? Zugleich aber fürchtete ich mich davor, Lizzy könnte zurückkommen, uns ertappen und abermals außer sich geraten. Sandra indes lachte einfach weiter und drehte völlig durch, als Sammy, der den Witz nicht verstand, ihr zurief: »Du blöde Kuh, ah, ich hasse dich!«
Daraufhin rannte er aus dem Wohnzimmer, während sie und ich vor Lachkrämpfen über den Boden rollten. Es stellte sich heraus, dass meine Mutter Sandras Lachen irrtümlicherweise für Weinen hielt und meinen Schwestern im anderen Zimmer aufgeregt mitteilte, derlei würde jedem widerfahren, der sie in Rage brächte und ihre Warnungen nicht todernst nähme.
Im Rückblick erkenne ich natürlich, dass all diese Geschehnisse auch ihre komischen Seiten hatten. Die Schilderung einer solchen Szene erinnert an Kaspertheater wie Punch and Judy oder an alte Slapstickkomödien, aber zu jener Zeit war ich vor Angst wie gelähmt. In diesem Zustand verbrachte ich den größten Teil meiner Kindheit, betete dafür, dass die Auseinandersetzungen enden mögen, oder befürchtete, sie könnten erneut beginnen. So zog ich mich tief in meine Innenwelt zurück und versuchte, mit den Gedanken abzuschweifen, irgendwo anders zu sein.
***
In unserer Familie gab es viele Kämpfe, aber egal, wie heftig wir innen und außen rangen, schlossen wir uns doch immer wieder zusammen, wenn jemand anders unsere Gemeinschaft bedrohte. Selbst Sammy und Sandra legten dann ihre Streitigkeiten bei. Lizzy war natürlich besonders ungestüm.
Der erste dieser Kämpfe ereignete sich, als ich noch ein Baby war und auf Armen herumgetragen wurde. Wie mein Bruder Tommy erzählte, stand eines Morgens eine stämmige Nachbarin aus der Straße, in der wir damals wohnten, vor unseren Fenstern und schrie nach oben:
»Mrs Smith, Mrs Smith, komm’n Sie sofort runter, ich will mit Ihnen red’n.«
Tommy hatte das Gebrüll gehört und erkannt, dass es von der Mutter eines Jungen stammte, mit dem er sich angefreundet hatte. Ihm sei fast schlecht geworden, denn er hatte nichts Gutes im Schilde geführt. Meine Mutter befand sich gerade auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock, hielt mich auf dem Arm, redete mit Mrs MacKay, die unter uns wohnte, und merkte nicht, dass sie von jener Frau angeschrien wurde:
»Ihr Sohn, dieser verdammte Gauner, hat meinen Sohn beklaut. Wenn Sie nicht runterkomm’n mit Ihr’m Verbrecher, komm ich hoch und schleif Sie raus, hab’n Sie mich gehört?«
Kampfsprache, in der Tat.
In dem Augenblick, da meine Mutter mitbekam, was los war, wusste Tommy, dass Unheil drohte, und hielt es für am besten, die Initiative zu ergreifen.
»Mama, da iss ’ne Frau draußen, die ruft, ich hätt was gestohl’n. Ehrlich, Ma, das war ich nicht, ich schwör’s.«
Als Lizzy ihr Gespräch mit Mrs MacKay abgebrochen habe, um ihn zu befragen, sei das Gezeter von draußen in den Eingang unseres Wohnhauses geplatzt.
»Okay, wo iss dieser verfluchte Dieb, liefern Sie ihn mir aus!«
Die Frau eilte die Stufen hoch, das Gesicht leuchtend rot vor Wut.
»Wo iss er denn, versteckt der sich vielleicht im Klo und hat die Hos’n zu voll, um rauszukommen und sich zu stell’n?«
Meinem Bruder zufolge passierte dann alles sehr schnell und ohne Umschweife.
»Scher dich zum Teufel«, erwiderte Lizzy, machte offenbar eine halbe Körperdrehung und schlug eine kurze rechte Gerade, die direkt auf dem Kinn ihrer Gegnerin landete. Dadurch fiel diese in der Ecke des unteren Treppenabsatzes auf ihr Hinterteil. All das geschah, während Lizzy mich mit dem linken Arm an sich presste und zugleich noch imstande war, beim Reden ihre Zigarette zwischen den Zähnen festzuklemmen.
»Mein Sohn iss kein verdammter Dieb, also zieh Leine, raus hier, wenn du nicht willst, dass ich den Kleinen da ableg und dich so richtig in die Mangel nehm!«
Ein anderes Mal – ich war etwa fünf – spielte ich Fußball im Garten und hatte meine Jeansjacke am Zaun des Nachbarn aufgehängt. Als der Ball erneut in seinen Garten flog, gab er seinem Ärger dadurch Ausdruck, dass er meine Jacke auf den Boden schleuderte und mich ermahnte, nie wieder Bälle in seinen Garten zu kicken. Plötzlich schoss meine Mutter aus dem Haus und streckte mit einem heftigen Schlag diesen Mann nieder, der doppelt so groß war wie sie. Als er auf dem Rücken lag und mit den Beinen in der Luft herumstrampelte, stand Lizzy breitbeinig über ihm und befahl ihm, meine Jacke aufzuheben, was er dann auch unterwürfig tat. Bei Lizzy gab es keine Widerrede. Sie maß nur eins sechzig, kämpfte aber mit ihren Fäusten wie ein Mann.
Der erste Kampf, an dem ich direkt beteiligt war, fand irgendwann im Jahr 1967 statt. Das Datum ist mir deshalb in Erinnerung, weil ich eine Schulkrawatte trug, also musste ich bereits in die Grundschule von Balornock eingetreten sein. Der Kampf richtete sich gegen eine andere Familie in unserer Straße, die Urquharts.
Meine Schwester meint, es sei ein Freitagabend gewesen. Sie machte sich gerade zum Ausgehen fertig. Betty war eine Blondine mit großen blauen Augen, damals ungefähr siebzehn Jahre alt. Sie sang in Pubs oder Klubs und nahm manchmal an Gesangswettbewerben teil. Sie erübrigte ziemlich viel Zeit für ihr Outfit, Frisur und Make-up, damit sie auf der Bühne so gut wie möglich aussah. Man bedenke, es waren die 1960er-Jahre, und allein die künstlichen Wimpern anzukleben dauerte mindestens eine Stunde.
Wieder spielte ich Fußball, diesmal mit meinem Freund Ian Harvey in unserem vorderen Garten. Nichts schien ungewöhnlich. Die Harveys wohnten neben uns, und seine wie meine Mutter sprachen miteinander, während sie den Weg fegten. Plötzlich kam ein älteres Mädchen namens Anna Barr schreiend in unsere Richtung gelaufen.
»Mrs Smith, Mrs Smith, beeil’n Sie sich! Zwei Jungs raufen mit Sammy! Sie sollten ihm aus der Patsche helf’n, denn die andern sind größer, es sind die Urquharts!«
Meine Cousine Sandra, die rauchend vor der offenen Haustür stand, hörte dies ebenfalls und rief meiner Schwester zu:
»Betty, beweg dich, einige Dreckskerle schlagen unsern Sammy, es sind die verflucht’n Urquharts!«
Sie schnippte ihre Zigarette weg und rannte den Weg hoch, nachdem Lizzy schon losgerast war, kampfbereit die Bürste in der Hand. Ich, der in diese Sache mit hineingezogen wurde, jagte ihnen hinterher. Dann tauchte mein Bruder Jonny aus dem Nirgendwo auf, überholte mich und peilte das Ende der Straße an, wo die Familie Urquhart lebte.
Eine kleine Gruppe hatte sich versammelt, um zuzuschauen, wie Sammy, erst etwa neun Jahre alt, mit den beiden Urquhart-Brüdern kämpfte, die, weit über zwanzig, gerade von der Arbeit nach Hause gekommen waren. Seltsame Vorstellung, aber die Leute taten früher solche Dinge, bildeten einen Kreis um die Kampfhähne, benahmen sich wie Zuschauer und riefen ihnen manchmal sogar aufmunternde Worte zu. Wenn ich mich recht entsinne, sah es überhaupt nicht danach aus, als würde mein älterer Bruder zusammengeschlagen. Vielmehr hielt er wacker stand, aber zwei gegen einen ist niemals fair. Bis ich den Schauplatz erreicht hatte, waren sämtliche Mitglieder der Familie Urquhart auf die Straße getreten: Sie waren ebenso viele wie wir, wenn nicht noch mehr.
Lizzy und Sandra gingen direkt auf das Haus der Urquharts zu. Sandra griff sich die Mutter, brachte sie zu Boden und rief: »Lizzy, willste auf die eindresch’n?«
Unterdessen flitzte Lizzy in die Küche, griff sich eine Bratpfanne, schlug damit einem der Söhne ins Gesicht und brüllte die Mutter an: »Schau dir bloß diese verschmierte Bratpfanne an, du dreckige, versaute Schlampe!«
Daraufhin wurde ich von Cathy, der Jüngsten der Urquharts, die nur ein Jahr älter war als ich, an der Krawatte gepackt und herumgewirbelt. Mein erster Kampf sollte also gegen ein Mädchen ausgetragen werden. Die Kleine drückte mir die Luft ab und zerrte mich zugleich an den Haaren. Meiner Erinnerung nach war es Betty, die mich rettete. Stark geschminkt, mit frisch gesprayter Frisur und in voller Montur für den Nachtklub warf sie sich ins Getümmel, wo ihr ein anderer Urquhart als Erstes einen Eimer mit schmutzigem Wasser übergoss und sie von Kopf bis Fuß durchnässte. Mit schriller Stimme schrie sie auf.
Die ganze Angelegenheit endete abrupt, als die Polizei eintraf. Die Kämpfenden wurden getrennt, ebenso die verfeindeten Familien. Niemand war schlimm verletzt, nur hier und da ein paar Prellungen und aufrecht stehende Haare, besonders die meinen. Außerdem erinnere ich mich, dass meine Krawatte enger um den Hals gezogen war. Aber alles in allem ging die Sache glimpflich aus, auch weil niemand Anzeige erstatten wollte … Beide Mütter kamen mit einer scharfen Rüge und Verwarnung durch einen Polizeibeamten davon, der offenbar erkannt hatte, dass die zahlreichen Personen nicht in seinen kleinen Kombi passen würden. Der einzige echte Verlust bestand in Bettys ruinierter Frisur und zerlaufener Schminke. An diesem Abend war ihr das Schicksal nicht gewogen, und sie musste sich damit begnügen, zu Hause zu bleiben.
Erneut lachen wir alle im Rückblick auf solche Situationen, weil sie wahrscheinlich äußerst komisch wirkten, aber wir lebten an einem Ort und in einer Zeit, wo man Meinungsverschiedenheiten handgreiflich klärte, ohne mit der Wimper zu zucken.
Mein armer Vater bekam oft nicht einmal die Hälfte derartiger Vorfälle mit, während er auf der Arbeit war. Wenn er abends nach Hause kam, hatten sich die Gemüter wieder beruhigt. Mutter befahl uns, ihm nichts zu sagen und für eine friedliche Atmosphäre zu sorgen, damit er unbehelligt sein Abendessen einnehmen könne. Dachte er etwa, wir wären kleine Engel? Ich weiß es nicht.
Doch im Gegensatz zu meiner launenhaften Mutter war er geradezu nachdenklich. Lizzy war eine ebenso ungestüme wie beschützende Kraft, er wirklichkeitsnah, stark und mutig, sodass man sich in seiner Gegenwart zwangsläufig sicher fühlte und den anderen auch mehr Respekt erwies. Wenn er das Zimmer betrat, verstummten wir alle. Er brachte uns bei, die Hausaufgaben zu machen, und überprüfte sie, bevor wir zu Bett gingen. Er zeigte uns, wie man die Krawatte für die Schule bindet oder die Uhrzeit liest, und machte uns mit vielerlei Dingen vertraut, die einem liebevollen Vater am Herzen liegen. Er erzählte uns Geschichten über seinen Dienst in der Marine und all die Orte, die er gesehen hatte, bereicherte unser Vorstellungsvermögen mit exotischen Bildern, die für angenehme Träume und ruhigen Schlaf sorgten. Ja, unser Vater war ein guter Mensch.
Manchmal setzte er mich auf sein Knie und sang schottische Liedchen. Ich erinnere mich an den Duft von Brylcreem, sein bevorzugtes Haargel, und von Arbeit – an Overalls und Ölgeruch. Obwohl ich sehr früh zu Bett gebracht wurde, widmete er mir immer etwas Zeit, ehe ich einschlief. Außerdem habe ich angenehme Erinnerungen daran, wie er mich und meine beiden älteren Brüder Jonny und Sammy auf Tagesausflüge zur Küste in Ayrshire mitnahm, im Sommer oder an Feiertagen auf Bootsfahrten über den River Clyde. Er liebte es, seine Kinder glücklich zu machen, und bis zum Tag seines Todes wurde er von ihnen vergöttert.
Sicherlich war er kein Heiliger – ja ich weiß, dass er es nicht war –, verfügte jedoch über einige kostbare Werte, die er an uns weiterzugeben versuchte.
Im Gegensatz zu meiner Mutter wollte mein Vater immer eine diplomatische Lösung finden. Wenn etwa Sammy in einen Kampf verwickelt war, ging er mit ihm zu den Eltern des anderen Jungen, und gemeinsam sprachen sie darüber, was vorgefallen war, um den Konflikt zu klären. Falls dieser weiterhin schwelte, fragte er die Jungs, ob sie bereit wären, die Angelegenheit durch einen fairen Faustkampf vor den Augen beider Elternpaare zu regeln. Das schreckte die Kampfhähne meistens ab, weil keiner in Gegenwart seiner Eltern verlieren wollte.
Im Rückblick auf meine frühe Kindheit kommt mir auch in den Sinn, wie sauber und schön eingerichtet unser Zuhause war. Mein Vater war ein großartiger Handwerker und Ausstatter, ein Tausendsassa, der vielerlei Metiers beherrschte. Er hatte unser Haus in der Mansel Street modernisiert, weshalb Nachbarn gern hereinkamen und staunten, wie er die Decke gesenkt, Spots daran befestigt und einen Kamin gebaut hatte, der ebenfalls kunstvoll ausgeleuchtet war. Er und meine Mutter waren stolz auf ihr Heim und bisweilen merklich von sich eingenommen, wenn die Leute ihnen dafür Komplimente machten.
Lizzy, der ein blitzblankes Zuhause das Allerwichtigste war, verbrachte jeden Tag viel Zeit damit, es auf Hochglanz zu bringen, und das meine ich wörtlich. Sicherlich gab es Krankenhäuser, die nicht so hygienisch waren wie 97 Mansel Street. Das lag meines Erachtens daran, dass sie aus derart ärmlichen Verhältnissen stammte und nur wenige oder gar keine materiellen Dinge besessen hatte. In völliger Armut ist die Sauberkeit einer der wenigen Vorteile, die man gegenüber anderen armen Familien haben kann. Nicht von ungefähr schrubbte sie stundenlang die Treppe zum Hauseingang, als würde sie ständig darum kämpfen, die schmutzige Flut zurückzudrängen, die durch die Eingangstür hereinzuschwappen drohte, zumal wenn es regnete. In der großen Industriestadt Glasgow schien selbst der Regen schwarz zu sein.
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