1. Einleitung
Die Geschichte der Lösungsversuche der Palästina-Frage ist eine Geschichte der fortlaufenden Minimierung palästinensischer Rechte. Nach der ethnischen Säuberung Palästinas 1948 zielten die internationalen Lösungsversuche auf die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge und die Lösung der Jerusalem-Frage. Seit der israelischen Besetzung der Westbank und des Gazastreifens 1967 ging es unter der Führung der USA nur noch um die Aufhebung dieses neuen Unrechts, das zuvor begangene wurde stillschweigend als Fait accompli »normalisiert.«
Die Zwei-Staaten-Option, die in den 1970er Jahren von den USA und Europa ins Spiel gebracht wurde, sollte anfangs die palästinensischen Rechte auf Selbstbestimmung und Rückkehr zumindest teilweise verwirklichen. Während des Oslo-Prozesses wurden die Rechte weiter beschnitten und es ging es nur noch um begrenzte Selbstverwaltung in einem Teil der von Israel weiterhin kontrollierten, 1967 besetzten Gebiete. Die Verhandlungen drehten sich in zunehmendem Maße nur noch darum, wie groß der Teil der selbstverwalteten Gebiete und wie eng oder weit die Grenzen der Selbstverwaltung sein sollten. Durch die Fixierung auf Konfliktlösung statt auf Rechte wurde das Wesentliche aus den Augen verloren: die Erlangung des Rechte der Palästinenser innerhalb und außerhalb des historischen Palästinas auf Rückkehr und Selbstbestimmung.
Die Möglichkeit zur Realisierung eines souveränen palästinensischen Staates an der Seite Israels im Rahmen einer Zwei-Staaten-Lösung hat sich als Illusion herausgestellt. Alles deutet darauf hin, dass es überhaupt keine Lösung der Palästina-Frage geben wird, solange der Zionismus weiter besteht.
Nach dem Scheitern der letzten, unter Druck der USA zustande gekommenen Verhandlungsrunde zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde im April 2014 wird auch in europäischen diplomatischen Kreisen zunehmend davon ausgegangen, dass die Zwei-Staaten-Lösung passé ist, dass Israel durch fortgesetzten Siedlungsbau, Landraub und die faktische Annexion von 60% der Westbank (Zone C) die Möglichkeit zur Errichtung eines palästinensischen Staates zunichte gemacht hat. Durch die Siedlungen und die Integration der Infrastruktur und Verkehrsverbindungen ist faktisch bereits ein Staat auf dem Boden des historischen Palästinas entstanden. Dem ethnokratischen Charakter Israels gemäß ist dies ein Apartheidstaat, in dem die palästinensische Minderheit innerhalb der Grünen Linie einer systematischen institutionellen Diskriminierung unterworfen ist, während die Palästinenser in der Westbank in Ghettos eingesperrt und der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen sowie ethnischen Säuberungsprozessen ausgesetzt sind.
Da dies auf die Dauer keine Perspektive sein kann, schlägt die aus Palästinensern und anti-zionistischen Israelis bestehende Ein-Staat-Bewegung als Alternative dazu einen demokratischen, säkularen Staat auf dem Boden des historischen Palästinas vor, in dem Christen, Juden und Muslime – einschließlich der 1948 und 1967 vertriebenen Flüchtlinge – auf der Basis von gleichen Rechten und gemeinsamer Staatsbürgerschaft zusammen leben.
Viele bezeichnen die Ein-Staat-Lösung als unrealistisch. Als Hauptargument für die Unrealisierbarkeit des demokratischen säkularen Staates auf dem Boden des historischen Palästinas wird stets angeführt, dass die Mehrheit der jüdischen Israelis sie nicht wolle. Dieses Argument zeugt von statischem Denken. Es bleibt dem Ist-Zustand verhaftet und schließt die Möglichkeit der Veränderung aus. Da es in Palästina um die Abschaffung kolonialer Privilegien geht, ist es selbstverständlich, dass diejenigen, die in ihren Genuss kommen – nämlich alle jüdischen Israelis –, diese zunächst nicht freiwillig aufgeben wollen. In anti-kolonialen Kämpfen kann jedoch der aktuelle Ist-Zustand niemals als unveränderbar gegebene, gleichsam in Stein gemeißelte Realität betrachtet werden. Situationen, Kräfteverhältnisse und Menschen verändern sich. Die Meinung der Siedlerbevölkerung ist nicht der einzige und am Ende auch nicht der entscheidende Faktor, der über den Ausgang des Konflikts entscheidet. In Südafrika war die überwiegende Mehrheit der Siedlerbevölkerung fast bis zum Schluss gegen die Aufhebung der Apartheid. Die Veränderung der internationalen Kräfteverhältnisse und die internationale Boykottbewegung waren ausschlaggebend dafür, dass das Apartheidregime dennoch aufgehoben werden musste. Heute befürwortet das die Mehrheit der weißen Südafrikaner.
Bei genauerer Betrachtung zeigt sich auch im Falle Israels eine Dynamik, die die Überwindung des Zionismus in absehbarer Zeit durchaus möglich erscheinen lässt. Seit dem Beginn der zweiten Intifada im Herbst 2000 ist der Zionismus in eine Krise geraten, die sich vor allem an drei Punkten zeigt: in mehreren verlorenen Kriegen gegen arabische Widerstandsbewegungen, im Verlust der jüdisch-israelischen Bevölkerungsmehrheit auf dem Boden des historischen Palästinas und der Entwicklung der internationalen Boykott-Desinvestment-Sanktionen-Kampagne. Als weitere Faktoren kommen hinzu: die ersten Risse und Brüche im zionistischen Konsens der jüdisch-israelischen Bevölkerung, die Abwendung vieler US-amerikanischer und europäischer Juden vom Zionismus und die Schwächung der USA.
Unter dem Etikett »Ein-Staat-Lösung« kursieren indessen die verschiedensten Vorstellungen und Modelle, die nicht alle mit den Prinzipien einer emanzipatorischen Ein-Staat-Bewegung, die auf fortlaufenden internationalen Konferenzen sowie von ihren Vordenkern formuliert werden, übereinstimmen. So wird zum Beispiel auch auf der zionistischen Rechten eine »Ein-Staat-Lösung« propagiert, die jedoch mit den Vorstellungen der fortschrittlichen Ein-Staat-Bewegung nur wenig zu tun hat. Diese Variante der Ein-Staat-Lösung lässt sich auf den Begriff Groß-Israel bringen: sie beinhaltet die Annexion der Westbank mit teilweisen Bürgerrechten für die palästinensische Bevölkerung. Der palästinensische Intellektuelle Sari Nusseibeh, der der Palästinensischen Autonomiebehörde nahe steht, brachte ein auch in Deutschland wahrgenommenes Buch heraus, in dem er ebenfalls für eine Annexion der 1967 besetzten Gebiete durch Israel eintritt, wobei die Palästinenser auf das Recht auf Rückkehr und alle anderen politischen und nationalen Rechte verzichten sollten. Dieser Vorschlag kommt den Ein-Staat-Vorstellungen der israelischen Rechten sehr nahe, die allerdings den annektierten Palästinensern noch weniger Rechte einräumen möchten als Nusseibeh. Von der Mehrheit der Palästinenser werden Nusseibehs Vorschläge als Verstöße gegen den nationalen Minimalkonsens abgelehnt und sie haben keinerlei Gemeinsamkeit mit der sich entwickelnden Ein-Staat-Bewegung, die auf Entkolonisierung zielt. Daneben gibt es verschiedene Vorschläge von kritischen Israelis und internationalen Wissenschaftlern zu einer Ein-Staat-Lösung, die stärker zionistisch geprägt sind. Aber einzig die emanzipatorische Ein-Staat-Bewegung kann einen Weg zu einer tatsächlichen Lösung des Konflikts aufzeigen, in der sowohl die Rechte der einheimischen palästinensischen Bevölkerung als auch die Rechte der eingewanderten Siedlerbevölkerung und ihrer Nachkommen gewahrt werden. An drei Punkten werden die Widersprüche zwischen der Linie der genuinen demokratischen Ein-Staat-Bewegung und stärker zionistisch geprägten Vorschlägen zu einer Ein-Staat-Lösung am deutlichsten. Der erste Punkt ist die Frage, ob der neue gemeinsame Staat ein formal binationaler Staat sein soll, in dem Ethnie und Religion weiterhin bestimmend sind oder ob er ein demokratischer Einheitsstaat sein soll, in dem Demokratie und Staatsbürgerschaft über ethnischer Zugehörigkeit, Nationalismus und Religion stehen. Die Ein-Staat-Bewegung hat sich für die zweite Option entschieden. Der zweite Punkt, an dem sich stärker zionistisch geprägten Vorschläge von der emanzipatorischen Ein-Staat-Bewegung scheiden, ist das Recht auf Rückkehr der 1948 und 1967 vertriebenen Palästinenser. Während mehrere Vorschläge von einzelnen jüdischen Israelis oder internationalen Wissenschaftlern das Recht auf Rückkehr ausklammern oder reduzieren möchten, misst die emanzipatorische Ein-Staat-Bewegung diesem eine zentrale Bedeutung bei. Der neue gemeinsame Staat wird gedacht als demokratischer Staat all jener, die jetzt in dem Land zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan-Fluss leben UND der zurückgekehrten palästinensischen Flüchtlinge sowie ihrer Nachkommen. Der dritte Punkt, an dem sich die verschiedenen Ein-Staat-Vorschläge voneinander unterscheiden, ist die Frage der Entkolonisierung. In den Reihen der Ein-Staat-Bewegung wird ein Prozess der Entkolonisierung – der in Israel gleichbedeutend mit der Entzionisierung ist – als unverzichtbare Voraussetzung für eine Ein-Staat-Lösung angesehen. Die emanzipatorische Ein-Staat-Lösung zielt auf die Befreiung vom zionistischen Siedlerkolonialismus, während die verschiedenen zionistisch geprägten Ein-Staat-Modelle auf dessen Fortsetzung in modifizierter Form zielen. Angesichts des Scheiterns der Zwei-Staaten-Lösung bleibt jetzt nur noch der Weg in einen gemeinsamen demokratischen Staat, wenn der Konflikt nicht für die eine oder andere Seite in eine Katastrophe führen soll. Alle Versuche, die israelische Apartheid aufrechtzuerhalten, werden nur zu einem Andauern des Konflikts mit neuen vorhersehbaren blutigen Höhepunkten und einer anhaltenden Destabilisierung der arabischen Welt führen. Alle Konfliktlösungsstrategien, die eine Befriedung der Palästinenser und Stabilität in der Region erreichen wollen, ohne die international garantierten Rechte der Palästinenser – primär das Recht auf Rückkehr und Selbstbestimmung – zu verwirklichen, sind zum Scheitern verurteilt. Das gilt insbesondere für die verschiedenen Vorschläge zu einer regionalen Lösung, bei der die arabischen Nachbarstaaten Israels einbezogen werden sollen. Die arabischen Aufstände von 2010/2011 haben nicht zuletzt gezeigt, wie radikal und tief verankert der Antizionismus in der arabischen Bevölkerung ist. Eine so weit gehende Normalisierung der Beziehungen mit dem Kolonialstaat Israel ist für die arabischen Regierungen nicht möglich, wenn sie nicht erneut unter starken Druck ihrer Bevölkerungen geraten wollen.
Die positive Rezeption meines ersten Buches1 hat gezeigt, wie sehr sich der Blick der kritischen Öffentlichkeit auf Palästina und Israel in den vergangenen zehn Jahren verändert hat. Die alten »Antisemitismus«- Vorwürfe greifen längst nicht mehr in dem Maße wie zuvor. Sie vermögen kaum mehr, die kritische Auseinandersetzung mit dem zionistischen Siedlerkolonialismus zu verhindern. Die demagogische Trickkiste hat jedoch noch mehr auf Lager. So wird Kritikern der israelischen Politik gerne vorgeworfen, sie wären einseitig, und unablässig wird »Ausgewogenheit« eingefordert. »Ausgewogenheit« bedeutet jedoch in diesem Fall einzig, dass die vorgegebenen roten Linien nicht überschritten werden dürfen, was nichts anderes heißt als dass zwar hier und da Kritik geübt werden, aber nicht außerhalb des zionistischen Narrativs gedacht werden darf. Da sowohl die Politiker aller Parteien, die Mainstream-Medien und die bürgerliche Wissenschaft im Wesentlichen auf der Grundlage der zionistische Sichtweise argumentieren, erscheint diese als objektiv, obwohl sie ihrem Wesen nach einseitiger ist als jede Kritik am zionistischen Siedlerkolonialismus. Wenn zum Beispiel Israel als »Demokratie« bezeichnet wird, so ist das keine neutrale Feststellung, sondern die Wiedergabe dessen, wie Israel sich selbst sieht. In der Forschung wird Israel als Ethnokratie oder Siedlerdemokratie bezeichnet. Ethnokratie bedeutet, dass Israels Staatsverständnis auf einer ethnisch-religiösen Grundlage basiert und nur Juden volle Staatsbürgerrechte und uneingeschränkten Zugang zu Ressourcen haben. Siedlerdemokratie bedeutet, dass die exklusive Siedlergesellschaft unter sich demokratisch ist, die einheimische Bevölkerung aber, die im Kernstaat Israel immerhin über 20% der Bevölkerung ausmacht, daran nicht beteiligt wird. Wer Israel als Demokratie bezeichnet, argumentiert aus der Perspektive der Siedlergesellschaft und zeigt, dass er Partei ergreift.
In einem kolonialen Konflikt wie in jedem anderen Konflikt, dem fundamentale Ungerechtigkeiten und Unterdrückung zugrunde liegen, dient die Forderung nach Ausgewogenheit nur dem Schutz des Aggressors. Ausgewogenheit heißt, dass über die Untaten der Kolonialisten nur berichtet werden darf, wenn zugleich auch reale oder vermeintliche Untaten der Kolonisierten erwähnt werden. Unterdrücker und Unterdrückte werden auf die gleiche Stufe gestellt. Wenn überdies den Narrativen beider Seiten die gleiche Berechtigung und der gleiche Wahrheitsgehalt zugeschrieben werden, wird Erkenntnis unmöglich. Ausgewogenheit ist das Gegenteil von wissenschaftlicher Arbeit, deren Aufgabe die Erkenntnis ist oder, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel es formulierte, »die Anstrengung des Begriffs.«
Petra Wild
Berlin, im Januar 2015
1. Petra Wild, Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina. Der zionistische Siedlerkolonialismus in Wort und Tat. Wien 2013