eBook, Oktober 2015
Erstausgabe
Copyright © 2015 by Theodor Boder Verlag,
CH-4322 Mumpf
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung und Fotografie: Theodor Boder
Zeichnungen: Shawna Hux
Lektorat: Sandra Schneider
ISBN 978-3-905802-56-6
www.boderverlag.ch
Die Schule war aus und Lisa machte sich auf den Nachhauseweg. Der laue Sommertag und der Weg entlang des Getreidefeldes verlockten zum Hüpfen. Als Lisa in den Weg zum Haus, in dem sie wohnte, einbog, sah sie, wie ein Hund kläffend die Straße überquerte. Das heranrollende Auto schwenkte ruckartig auf die andere Seite und der Fahrer verlor die Kontrolle. In Sekundenschnelle preschte das Auto auf den Gehweg und erfasste Lisa ungebremst, sie flog einige Meter durch die Luft. Der Aufprall war furchtbar. Lea Berger, Lisas Mutter, die vom Einkaufen zurückkam, musste diesen schrecklichen Unfall mitansehen. Lea konnte nicht glauben, was sie sah, die gleichen Zöpfe hat doch Lisa. Mit raschen Schritten näherte sie sich der Unfallstelle und sah auf die Kleine hinunter, und das Unfassbare war zur grausamen Wahrheit geworden. Lisa lag vor ihr. Starr und ohne jede Bewegung blickte sie auf Lisa und weinte.
Die von anderen Passanten herbeigerufenen Rettungskräfte trafen schnell ein. Endlich kam Leben in Lea. Sie ließ die Helfer vorbei und verfolgte alles genau. Als Lisa die Augen aufschlug, sah sie ihre Mutter und viele andere Menschen in weißen Kitteln, die sie auf eine Bahre legten. Lisa war froh, ihre Mutter zu sehen. Schwach, wie sie war, schloss sie die Augen.
Mami ist da, es wird sicher alles gut, dachte sie. Mit heulenden Sirenen wurde Lisa ins Krankenhaus gebracht und sofort behandelt. Nach einigen Stunden kam ein Arzt zur wartenden Mutter und teilte ihr ganz nüchtern mit, dass Lisa viel Glück gehabt hätte und außer einer Gehirnerschütterung und einem Beinbruch keine schwereren Verletzungen hätte. Die vielen Blutergüsse wären auch nicht so schlimm. Lisa müsse sicher zwei bis drei Wochen im Krankenhaus bleiben. Sie könne jetzt unbesorgt nach Hause gehen und morgen wieder vorbeischauen. Mit bleiernen Füßen bewegte sich Lea nur mühsam zum Ausgang. Der Nachhauseweg kam ihr unendlich lang vor. Bei der Unfallstelle blieb sie reglos stehen, Tränen flossen über ihre Wangen.
Träge schloss sie die Haustür auf und ging in die Küche. Ihr Mann, Norbert, saß wie immer betrunken am Küchentisch. Die Flasche Wein war bereits leer und im Glas war nur noch ein kleiner Rest.
«Lebt sie?», fragte Norbert mit schwerer Zunge.
«Ja, sie lebt. Ein Wunder, dass du überhaupt weißt, was mit ihr geschehen ist.»
«Nachbarn haben es mir erzählt.»
«Lass sie in Ruhe, gehe ja nicht zu ihr ins Krankenhaus.»
Torkelnd ging er zur Küchentür, drehte sich um, und sagte: «Keine Sorge, ich werde nicht mehr lange hier sein. Wenn ich fort bin, kann ich vielleicht wieder zu leben beginnen.»
Jahre später.
Lea stand vor dem Spiegel, zupfte Hut und Mantel zurecht, kontrollierte ihre Handtasche, ob alles drin war, nahm die Handschuhe und verließ das Haus. Der Weg zur Kirche war nicht weit, sie würde mit verbundenen Augen hinfinden. Sie kannte die Termine der Kirchenaktivitäten fast für das ganze Jahr auswendig und war meist mit von der Partie, wenn es um den Verkauf von Weihnachtsschmuck, Osterdekorationen und Second Hand Artikel ging. Bei Anlässen mit Kaffee und Kuchen half sie freudig mit. Musste die Kirche für einen besonderen Anlass geschmückt werden, stand sie immer auf der Freiwilligenliste. Auf Lisas Mutter war eben Verlass. Alles im Dienste Gottes. – Es waren nicht nur die Aktivitäten, die sie fast täglich zur Kirche lockten. Lea war fromm. Sie war eine anständige Bürgerin und ein treues Schaf Gottes, sehr gläubig. Die Zehn Gebote waren ihr heilig. An diesem Tag wurde ihre Hilfe jedoch nicht benötigt. Sie ging nur zum Beten hin.
In der Kirche setzte sie sich immer in den vorderen Teil, aber nie in die erste Reihe, als ob sie nicht würdig wäre, so nahe bei Gott zu sein. Trotz Gelenkschmerzen kniete sie nieder und schloss die Augen. In Gedanken versunken bewegten sich ihre Lippen wie zum Gebet. Sie öffnete die Augen nur kurz und schloss sie gleich wieder. Nach einer Weile setzte sie sich auf die Bank und ihr Blick schweifte ruhig durch die Kirche. Danach ging sie in Richtung Weihwasserbecken und bekreuzigte sich. Der Pfarrer, der soeben aus der Sakristei kam, entdeckte sie und ging auf sie zu: «Guten Tag.»
«Guten Tag, Herr Pfarrer.»
«Wollen Sie zu mir?»
«Nein, nein.»
«Ich dachte, Sie wollten zur Beichte kommen. Ich hätte noch etwas Zeit. Da fällt mir ein, wie lange wir uns schon kennen. Ich bin vor dreizehn Jahren in diese Gemeinde gekommen. In meiner Beichtstunde durfte ich Sie aber noch nie willkommen heißen.»
«Ja, wir kennen uns wirklich schon lange. Ich kann mich noch an Ihren ersten Gottesdienst erinnern. Sie haben Ihre Sache gut gemacht. Es war sicherlich nicht einfach, vor so vielen Menschen zu stehen, Menschen, die man noch gar nicht kannte. Ich kann mir vorstellen, dass Sie nervös waren. Man hat es Ihnen aber nicht angesehen. Sie waren sehr überzeugend. Ja, ich kann mich wirklich noch sehr gut erinnern: Es war ein wunderschöner Frühlingstag. Die Sonne schien und auf dem Weg zur Kirche sind mir die frischen grünen Knospen der Sträucher aufgefallen. Wenn ich heute zur Kirche gehe, sind viele Sträucher und Bäume verschwunden. Schade, aber das ist der Lauf der Zeit. Altes verschwindet, Neues kommt.»
«Ach, wissen Sie, mit dem sich kennen ist es so eine Sache. Es gibt Menschen, mit denen ist man einen Tag zusammen und man hat ein offenes Buch vor sich. Dann gibt es Menschen, die man schon sehr lange kennt, aber ihre Seelen sind verschlossen. Aber Gott sieht in alle Seelen. Vor Gott sind alle nackt, und das ist auch gut so. Zu den alten und neuen Dingen kann ich nur so viel sagen: Vieles Alte, das verschwindet, verschwindet gar nicht ganz. Es hinterlässt Spuren. Wie die Sträucher mit den grünen Knospen. Sie sind zwar optisch nicht mehr zu sehen, aber in der Erinnerung bleiben sie haften. Alles, was man an Erinnerungen mit sich herumträgt, ist alt und gleichzeitig neu, wie die wirklich neuen Dinge.»
«Oh, ich habe Sie schon viel zu lange aufgehalten, bitte entschuldigen Sie. Ich muss noch einige Einkäufe machen. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag. Morgen werden wir ja die Basarflugblätter verteilen», sagte Lea noch so nebenbei.
«Ja, viel Spaß dabei. Ach ja, Frau Berger, wenn Sie doch einmal beichten möchten, wissen Sie ja, wo Sie mich finden. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Nachmittag und viel Erfolg bei Ihrem Einkauf.»
Freudig machte sich Lisa auf den Weg zur Arbeit. Heute war ihr Geburtstag. Sie überlegte, wer ihrer Kolleginnen wohl daran dachte. Als Lisa in der Gärtnerei ankam, waren alle sehr mit den Setzlingen und den Blumenzwiebeln beschäftigt. Lisa trällerte in den Raum: «Guten Morgen zusammen, wünsche einen wunderschönen Tag.»
Von einer Mitarbeiterin kam ihr nur ein kurzes «Guten Morgen Lisa, komm schnell, wir müssen noch einiges erledigen, bevor die Kunden kommen», entgegen.
Enttäuscht sah Lisa in die Gesichter der fleißig arbeitenden Kolleginnen und Kollegen.
Die haben doch tatsächlich meinen Geburtstag vergessen. Na ja, wenn es nur das ist, dachte sie.
«Welche Arbeit muss ich denn übernehmen? Ihr seid ja schon sehr weit mit den Tagesvorbereitungen.»
«Lisa, geh doch in den Keller und richte die Samen, die wir für den Nachmittag brauchen.» Vanessa sagte dies ohne ein Lächeln. «Mach rasch, die Zeit rennt uns davon.»
«Bin ja schon unterwegs», brummte Lisa.
Kaum war Lisa aus der Tür, machte sich Vanessa, die Vorgesetzte der Gärtnereiarbeiterinnen, auf in den Nebenraum und begann, die Weingläser zu zählen: «Oh, wir haben die Wassergläser vergessen. Wenn wir nur Wein trinken, können wir bald nicht mehr klar denken und die Kunden würden sich wundern. – Habt ihr den Orangensaft?»
«Ja, zwei Flaschen», rief Alessandra, eine der drei Mitarbeiterinnen. Sie widmete sich wieder den Brotscheiben, die es zu belegen gab.
Alessandra war fast fertig: «Nun noch ein paar Gurken- und Tomatenscheiben, dann bin ich zufrieden.»
Claudia, die Auszubildende, rief: «Ich hole die Wassergläser.»
Schon nach wenigen Minuten war der Geburtstagstisch für Lisa vorbereitet.
Thomas, der Chef, betrat den Raum und staunte, wie schön der Tisch für Lisa gedeckt war. Ja, mit seinem Personal hatte er viel Glück. Alle hatten Freude an der Arbeit. Selten hörte er: «Oh, wenn nur der Tag schon vorbei wäre.» Höchstens die Lehrlinge jammerten ab und zu.
Thomas sagte: «Ihr habt mir ja für die Geschenke gar keinen Platz gelassen und wer soll das alles essen und trinken?»
«Dieser runde Tisch ist doch perfekt für die Geschenke», meldete sich Alessandra.
«Großartig! Vielen Dank, dass ihr das alles so schön hergerichtet habt.» Thomas stellte eine Flasche und zwei Geschenkpakete auf den kleinen Tisch. «Wo ist eigentlich das Geburtstagskind?»
«Ich habe sie in den Keller geschickt, damit sie die Samen für heute Nachmittag vorbereitet.» Vanessa sagte dies mit einem verschmitzten Lachen.
Claudia und Alessandra standen mit lächelnden Gesichtern da. Sie waren neugierig, wie Lisa wohl reagieren würde, denn sie hatten bemerkt, wie sehr Lisa am Morgen enttäuscht gewesen war, als niemand ihr gratuliert hatte.
«Ich hole sie», rief Vanessa, und schon war sie weg.
«Lisa! Lisa! Komm zum Kaffee rauf. Bist du schon fertig?»
«Noch nicht ganz, aber einen Kaffee kann ich schon mal gebrauchen.»
Vanessa ging zu den anderen. Alle warteten gespannt auf Lisa. Als diese den Raum betrat, traute sie ihren Augen nicht: «Ihr seid so was von schrecklich, kein Wort, kein Lächeln, nichts kam von euch heute Morgen, ich war so enttäuscht, und nun das. Mit was habe ich das alles verdient?» Lisas Augen leuchteten vor Freude.
Nun meldete sich der Chef mit tiefer Stimme: «Guten Morgen Lisa, auf dem Tischchen steht eine Kleinigkeit von uns allen.»
Lisa konnte nichts erwidern, denn alle fingen an zu singen: «Happy Birthday, happy Birthday liebe Lisa ...»
Ungeduldig meldete sich Vanessa zu Wort: «Nun kommt schon, wir stoßen an, dann können wir endlich die feinen Sachen genießen, bald stehen die Kunden vor der Tür und wir haben keine ruhige Minute mehr.»
In der Zwischenzeit kamen auch die Gärtner mit den Lehrlingen herein und gesellten sich zu den Anderen. Alle nahmen sie eines der Gläser, die Vanessa mit Sekt gefüllt hatte. Das fröhliche Zuprosten konnte losgehen.
Ein heftiges Geklapper von Besteck und viel Geplauder ließen auf eine gemütliche Runde schließen. Lisa schlich sich heimlich zum Gabentischchen, beäugte alles, und hoffte, dass es nicht bemerkt wurde. Doch schon hörte sie die tiefe Stimme von Thomas: «Pack aus, wir wollen sehen, ob wir deinen Geschmack getroffen haben. Eines kann ich dir sagen, es war sehr, sehr schwierig, das Passende zu finden.»
Mit zitternden Fingern nahm Lisa zuerst das größte Päckchen. Umständlich löste sie die Schleifen.
Gespannt nahm sie das Papier weg und staunte, als sie den Titel des Buches las: Die berühmtesten und schönsten Gärten der Welt
«Ohhhh, das wollte ich mir schon lange kaufen, wie kommt ihr auf die Idee, ausgerechnet dieses Buch mir zu schenken?»
«Wir haben unsere Quellen und die verraten wir nicht», meldete sich Thomas zu Wort.
«Natürlich Eric, nur er hat von meinem Wunsch gewusst. Da muss ich wohl heute Abend ein ernstes Wörtchen mit meinem Ehemann sprechen, dieser Heimlichtuer.»
Thomas meldete sich erneut zu Wort: «Lisa, die nächste Überraschung steht schon auf dem Programm. Haben noch alle zu trinken? Dann bitte ich um vollste Aufmerksamkeit! Du bist schon seit einiger Zeit bei uns in der Gärtnerei und wir haben dich und deine Liebe zu den Pflanzen schätzen gelernt. Deine Ausdauer und deine Geduld mit den Lehrlingen machen dich zu einer unentbehrlichen und geschätzten Mitarbeiterin. Vanessa ist mit ihren Aufgaben schon extrem überlastet und wäre froh, wenn für sie etwas Arbeit wegfallen würde. Aus diesem Grund habe ich beschlossen, dass du, liebe Lisa, befördert wirst. Ab sofort bist du unsere offizielle Lehrlingsausbilderin. Wir hoffen, dass du dies annimmst und mit Freuden deinen neuen Job erfüllst.»
Verlegen strich Lisa sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und ein paar Freudentränen liefen ihr über die rot gefärbten Wangen. Unfähig zu sprechen räusperte sie sich.
Nur Mut, mach schon, mahnte sie sich in Gedanken.
«Danke, vielen Dank, ich nehme diese Beförderung gerne an. Ich werde mich mit viel Liebe um die Lehrlinge kümmern, auf dass diese motiviert und mit Bestnoten abschließen werden.»
Das ganze Team stürzte sich auf Lisa, umarmte sie, und gratulierte ihr von Herzen.
Sie könnten sich niemand Besseren wünschen, meinten die Lehrlinge.
«Toll Lisa, wir werden dir nur Freude machen!», rief Claudia von hinten, die schon am Aufräumen war.
Das schrille Klingeln des Telefons unterbrach das Geplauder und hallte durch das ganze Gewächshaus. Alessandra lief hin und nahm das Gespräch entgegen.
«Lisa, es ist deine Mutter!»
Lisa eilte heran.
«Hallo Mama? – Ja, ja danke ... ja, es geht mir gut. – Wir kommen dich dann nach Arbeitsschluss abholen. Wir gehen Essen ... – Nicht? Aber warum nicht ... warum denn nicht? – Nie hast du Lust. Was ist denn los? Ich habe heute Geburtstag und ich wollte dich wenigstens an meinem Geburtstag mal einladen. Hörst du? Ich möchte dich an meinem Geburtstag sehen! Mal wieder rauszukommen tut dir auch gut! Wir fahren zum Restaurant beim Kloster. Du könntest dort in die Kirche gehen. Dort warst du schon lange nicht mehr. – Wir hätten genügend Zeit. Wir wären im Restaurant in einer Ecke ganz für uns. Ich habe einen Tisch reserviert ... – Nein, ich weiß nicht, wann wir das nächste Mal vorbeikommen. – Ja, Eric holt mich ab. – Morgen? Nein, morgen und am Sonntag gehen wir in die Berge. – Ja, vielleicht nächste Woche. – Gut, bis dann also.»
Sie legte auf, setzte sich auf das kleine Ablagetischchen und weinte.
Vanessa unterbrach ihr Gespräch mit einer Kollegin, sie ahnte, was los war und ging zu Lisa: «Hast du Probleme?»
«Immer das Gleiche, nie hat Mama Zeit. Ach lassen wir das, ich möchte an einem so schönen Tag nicht über sie reden. Bitte verstehe das, Vanessa.»
Besorgt sah Thomas zu Lisa hin, sagte aber gleichzeitig zu den anderen: «Nun an die Arbeit, alles Schöne hat mal ein Ende.»
So kam keine peinliche Stimmung auf. Alle zogen in eine andere Richtung ab und widmeten sich wieder ihren Pflichten.
Am Abend holte Eric Lisa von der Arbeit ab.
«Na, wie war's?»
«Du Heimlichtuer, nichts hast du mir verraten. Es hat mich riesig gefreut, dass du daran gedacht hast, dass ich mir dieses Buch so sehr gewünscht habe.»
«Gehen wir vor dem Essen in die Klosterkirche?», fragte Eric.
«Ja, das würde mich freuen.»
Sie fuhren durch die Stadt zum Kloster. Sie parkten und liefen den kurzen Weg zur Klosterkirche. Die gregorianischen Gesänge konnte man bereits hören.
Lisa blieb stehen und sagte: «Schön diese Gesänge, ich könnte stundenlang zuhören.»
Lisa und Eric betraten die Klosterkirche, bekreuzigten sich und blieben bei einer der hinteren Säulen stehen. Die gregorianischen Gesänge hallten durch den Kirchenraum. Es waren Mönche, die übten. Langsam gingen Lisa und Eric zur hintersten Bankreihe und setzten sich. Es waren gut ein Dutzend Menschen in der Kirche, die in stiller Andacht beteten oder auch nur den Mönchen zuhörten.
Lisa schaute sich die Deckenmalereien an, während Eric die Leute beobachtete. Er versuchte zu ergründen, was in jedem Einzelnen vor sich ging. Ihm fiel eine junge Frau auf, die in sich gekehrt und sehr verloren wirkte. Zwei Reihen hinter ihr saß ein Mann, der ebenso verloren schien, und mit scheuen Blicken zu der jungen Frau sah.
In Gedanken stellte Eric sich vor: Vielleicht haben sie sich gestritten oder der Mann hat an ihr Gefallen gefunden und wird sie sicher außerhalb der Kirche ansprechen. Hoffentlich würde die Frau dem Mann die Möglichkeit geben. Sicher käme sie dann auch wieder auf fröhlichere Gedanken.
Erics Augen schweiften zur nächsten Bank. Dort sah er eine ältere Frau, die in schon beinahe routinemäßigem Beten versunken war, konzentriert und innig. Doch abrupt stand sie auf und verließ die Kirche, ohne sich auch nur einmal nach links oder rechts umzublicken.
«Möchtest du noch bleiben, Lisa? ... oder gehen wir noch zur Kapelle hinüber?»
«Ich würde noch gerne in die Kapelle gehen.»
Vorsichtig standen sie auf und versuchten, so leise wie möglich zum Ausgang zu gelangen. Der Weg zur Kapelle führte an einem Feld entlang. Mit hochgeschlagenen Mantelkrägen gingen sie sehr langsam durch die Vollmondnacht. Obwohl sie sich nicht an der Hand hielten, waren sie sich sehr nahe.
Plötzlich unterbrach Eric die Stille und sagte: «Ich befürchtete schon, dass du dir das Buch kaufen würdest, ohne mir etwas davon zu sagen. In letzter Zeit kaufst du oft Dinge, die du mir erst viel später zeigst oder von denen ich nichts weiß.»
«Du hast eben wenig Zeit und bist oft sehr müde.»
«Ja, die viele Arbeit schafft mich immer mehr. Schade, dass Mutter wieder nicht mitkommen wollte. Sie wird sich wohl kaum noch ändern. Gib die Hoffnung auf, dass sie dir jemals näher kommen wird.»
«Eric bitte, lassen wir das. Ich möchte heute Abend nicht darüber reden. Lass uns einfach den Abend genießen.»
Eric nickte nur und sie gingen schweigend weiter.
Als sie die Kapelle betraten, stellten sie fest, dass niemand, außer ihnen, da war. Sie lasen die Inschrift auf der Tafel beim Eingang:
Maria hat geholfen
In tiefer Dankbarkeit
A. M.
Mit glänzenden Augen flüsterte Eric: «Ich bin nicht sehr gläubig, aber wenn ein Wunder geschähe, ich würde im Kloster auch eine Tafel anbringen lassen.»
Sie setzten sich in die hinterste Bankreihe.
Flüsternd sagte Lisa: «Ich würde nicht nur eine Kapelle, sondern eine ganze Kirche bauen. Leider kann ich mich nicht mehr an diese Geschichte erinnern. War die Person krank? Und wurde sie dann geheilt?»
«Ich erzähle es dir beim Essen.»
«Können wir noch ein wenig hier sitzen?»
«Natürlich.»
Beide waren tief in ihre Gedanken versunken. So verweilten sie noch einige Minuten.
Auf dem Weg zum Parkplatz fragte Eric: «Hast du den Tisch reserviert?»
«Natürlich.»
Gespannt betraten Lisa und Eric das Restaurant. Fragend sahen sie sich in die Augen.
«Sind wohl noch die gleichen Angestellten da? Wir sind sicher zwei Jahre nicht mehr hier gewesen», sagte Lisa leise, damit es niemand hören konnte.
Strahlend kam der Wirt auf die beiden zu und sagte: «Schön, dass Sie den Weg wieder zu uns gefunden haben, ich habe Sie schon vermisst.» Er führte Eric und Lisa an den schön gedeckten Tisch. Er freute sich so sehr, dass er den Aperitif spendierte. «Was darf ich denn bringen?»
Lisa überlegte kurz, bestellte dann einen Martini. Eric brauchte keine Zeit zum Überlegen: «Für mich einen Pernod bitte.»
«Kommt sofort.»
Als Eric und Lisa alleine waren, sah Eric ihr tief in die Augen, auf seinem Mund hatte er ein geheimnisvolles Lächeln.
«Ist was?» Lisa sah ihn forschend an.
«Du bist wundervoll. – Ich bin glücklich und zufrieden, wenn ich dich ansehen kann. – Ich weiß, du magst das nicht. Du willst nicht, dass man dich zu lange ansieht. – Ich weiß, dass du es damals immer gespürt hast, wenn ich dich beobachtet habe. Jene Woche in der Gärtnerei war für mich nicht leicht, ich bin beinahe verrückt geworden. Aber du hast genau gewusst, dass ich dich kennenlernen wollte. Ich habe versucht, das Fotoshooting hinauszuzögern. Der Chef hat mich dann schon gefragt, ob ich mich in der Zeitkalkulation verrechnet hätte. Du kennst ihn ja. Hat immer den Taschenrechner dabei. Dass aber Fotografen ihre kreativen Momente manchmal abwarten müssen ... na ja. – Warum bist du mir eigentlich immer ausgewichen? Ich hätte mich beinahe nicht mehr bemüht. Ich dachte schon, du magst mich vielleicht nicht.»
«Warum wohl bin ich dir ausgewichen. – Du hast es zu auffällig angestellt. – Aber auch, weil ich es fast nicht mehr ausgehalten habe, wenn du mich angesehen hast. Die Liebe war zu stark.»
«Die Liebe?», fragte Eric.
Sie biss sich auf die Unterlippe. «Ich konnte es kaum erwarten. – Aber was fragst du eigentlich so blöd?»
«Keine Ahnung. Das heißt, manchmal möchte ich gewisse Dinge auch hören und nicht nur spüren. Gefühle sind eben schwer zum Ausdruck zu bringen.»
«Wie bitte?»
«Ach nichts.»
Für einige Zeit sagte keiner etwas. Beide waren froh, als der Kellner endlich das bestellte Essen brachte.
Schweigend aßen sie, doch zwischendurch sahen sie sich fragend und um Verständnis bittend in die Augen.
«Welche Geschichte steht nun hinter der Tafel im Kloster?», brach Lisa das Schweigen.
«Die ganze Geschichte kenne ich nicht, aber die junge Frau wurde geheilt. Alles ist schwer zu verstehen, man könnte tatsächlich beginnen an Wunder zu glauben.»
Sie bezahlten und verabschiedeten sich vom Wirt, mit dem versprechen, bald wieder vorbeizukommen.
Auf dem Weg zum Auto hielten sie sich an den Händen, doch keiner sprach ein Wort.
Zu Hause angelangt half Eric Lisa aus dem Mantel und fragte: «Möchtest du noch einen Kaffee oder Tee?»
Lisa überlegte nicht lange: «Nein danke, ich gehe ins Bad und dann zu Bett.»
Kaum hatte sie dies gesagt, war sie auch schon im Bad verschwunden und ging dann zu Bett.
Eric runzelte die Stirn, sagte aber nichts mehr. In der Küche holte er sich ein Glas aus dem Schrank und schenkte noch vom Wein ein, den sie gestern nicht leer getrunken hatten. Seine Gedanken wanderten zur Arbeit in der Werbeagentur, wo er nur Probleme hatte.
Langsam wurde sein Kopf schwer und auch er ging zu Bett.
Eric kam, wie immer, als Erster in die Werbeagentur. Wie jeden Morgen schaltete er die Kaffeemaschine an, dann den PC, öffnete die Fenster, und ging zurück in den Aufenthaltsraum. Die Kaffeemaschine hatte den Spülvorgang beendet. Er nahm seine Tasse aus dem Schrank und drückte die Taste für einen großen Kaffee, den er heute sicher brauchen würde als Start in den Tag. Während der Kaffee durchlief, holte Eric die Speichersticks mit den Dateien einer Modekollektion, die es noch zu bearbeiten gab.
Schnell wollte er dann den Kaffee holen und mit der Arbeit beginnen, doch kein Kaffee war in der Tasse, sondern die Maschine meldete eine Störung. «Scheiße! Elende Scheiße! Das darf doch nicht wahr sein!» Aus der Beschreibung war ersichtlich, dass der Grund beim Mahlwerk lag. Die Maschine war blockiert, nichts ging mehr. Eric überlegte, wie er nun zu seinem Kaffee käme. Da erinnerte er sich an die Filtermaschine von früher. Er suchte in der Abstellkammer. Und tatsächlich, etwas verstaubt stand sie auf einem Regal. Auch Filtertüten waren noch da. Schnell reinigte er die Maschine und holte sich im Laden gegenüber eine Packung gemahlenen Kaffee.
Er war stolz, als alles bereit war und er die Maschine starten konnte. Während diese lief, durchstöberte er im PC seine privaten Dateien. Er klickte auf den Ordner mit den Bildern von Lisa: Lisa beim Malen von Blumen und Landschaften, Lisa beim Radfahren, Lisa flanierend in einer Altstadt. Er war mit seinen Gedanken bei Lisa. Das Blubbern und Zischen der Kaffeemaschine nahm er gar nicht wahr. Der Kaffee lief über das Tischchen und bahnte sich schon einen Weg auf den Boden, wo er als kleines Rinnsal ankam.
Mit Schwung wurde die Tür geöffnet und ein fröhliches «Guten Morgen, Eric» schallte in den Raum. Christine, seine engste Mitarbeiterin, kam herein.
Er sprang vom Stuhl hoch: «Verdammt nochmal, der Kaffee!» Fluchend schaltete Eric die Kaffeemaschine aus und begann mit der Reinigung von Tisch und Boden.
Christine prustete los: «Ich habe gehört, es soll neu Kaffeekochkurse für Anfänger geben. Für den Fortgeschrittenenkurs reicht es wohl noch nicht.»
«Ha, ha, sehr witzig. Ich habe noch nie zu jenen gehört, die immer alles im Griff haben.»
«Tut mir leid, war nicht so gemeint. Aber weshalb diese Maschine? Ist was mit der anderen?»
«Ja, leider defekt, alles blockiert.»
Das Handy klingelte und Eric nahm das Gespräch entgegen.
«Guten Morgen Herr Mirkovic.»
Am anderen Ende wurde sofort losgequasselt. Von Eric hörte man nur: «Ja, ja, möchten Sie denn, dass ich zwei Vorschläge mitbringe? Erst später? Aber ich ... Ja, ich komme sofort.»
Das Gespräch wurde vom Anrufer beendet.
Ganz aufgeregt fragte Christine: «Schon so früh zum Chef?»
«Ja», kam es zögernd von Eric. «Ich habe keine Ahnung, was er will. Da er mich auf dem Handy angerufen hat, obwohl er weiß, dass ich schon da bin, wird sicher wieder eine Intrige im Spiel sein. Wie ich das hasse. Jetzt macht er mich zur Schnecke. Ich habe schon beim Aufstehen gespürt, dass dieser Tag nichts Gutes bringen wird. Ich bin hier am falschen Platz. Eigentlich wollte ich nie in die Werbung. Scheiße, was soll's, wenn er mich rausschmeißt, dann kann ich endlich machen, was ich will.»
«Hör auf zu philosophieren, geh endlich.»
«Aber bevor er mich feuert, sollst du noch eines wissen, es war immer schön, mit dir zusammenzuarbeiten.»
«Mein Gott, mir kommen die Tränen. Hau endlich ab!»
Den Blick auf den Boden gesenkt, verließ Eric das Büro.
Auf dem Korridor atmete er tief durch, dann machte er sich auf den Weg. Im gleichen Moment kam Viktor, ein kleiner dürrer Mann, ihm entgegen: «Hallo Chef!» Viktor hatte ein schmutziges Grinsen im Gesicht.
Eric sah erschrocken auf. «Mein Gott, hör auf, ich bin nicht dein Chef, wie oft soll ich dir das noch sagen. Ich mag es nicht, wenn das andere hören. In unserer Abteilung gibt es keine Chefs. Wir sind ein Team und kreieren alles zusammen.»
«Ach ja, dann stimmt aber trotzdem etwas nicht. Du bist nicht mein Chef, aber ich bin dein Assistent?»
«Du schaffst mich. Aber wenn es dir Spaß macht, lassen wir es eben. Hier meine Anweisung als Chef: Heute Abend um 21 Uhr ist die Präsentation mit den Leuten von der Mundsprayfirma. Du wirst die Sache leiten, das ist deine große Chance. Ich glaube nicht, dass ich dazu in der Lage bin.»
«Wie bitte?! Habe ich richtig gehört? Habe ich tatsächlich richtig gehört?! Heute soll ich die Chance meines Lebens bekommen?! Ich Glückspilz.»
«Sag mal, hast du was?»
«Ich kann es nicht fassen. Ich habe schon gedacht, dass ich ewig dein Sekretär bleiben würde, dein Gedächtnis, dein Terminkalender, deine Inspiration.» Viktor sagte dies mit einem zynischen Unterton.
«Viktor, du bist genial und hast großes Talent. Und nur aus diesem Grund machst du das heute.»
Eric ging weiter und Viktor folgte ihm.
«Ich werde es schaffen. Ich glaube zudem, dass wir grundsätzliche Dinge ändern sollten, in der Art unserer Präsentationen wie auch in den Konzepten. Du weißt, Werbung bedeutet mir alles. Ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Nach Feierabend habe ich einige Konzepte ausgearbeitet, die uns bestimmt weiterbringen werden.»
Eric blieb abrupt stehen. «Nach Feierabend? Sag mal, lebst du nur für diesen Kram hier? Wie sieht es denn mit dem Privatleben aus?»
«Ich bin ein Single. Frauengeschichten bedeuten mir nichts. Früher habe ich es mal versucht, aber es bringt nur Probleme, man kann den Kopf nicht mehr für wichtige Dinge freihalten, die Ideen kommen abhanden.»
«Nicht Frauengeschichten. Ich rede von einer Freundin, einer Partnerin, die mit dir lebt. Verstehst du? Mit der man alles besprechen und austauschen kann. Vom Leben rede ich, mein Freund.»
«Ich werde mich nie mehr zu so was hinreißen lassen. Mich nie mehr zurückwerfen lassen.»
«So, wie du das sagst, wird mir Angst. Mein Gott, nein, es läuft mir sogar eiskalt den Rücken hinunter. Pass auf, du bist noch nicht verloren. Aber wenn du so weitermachst, gehst du an den wirklich wichtigen und schönen Dingen vorbei. Ich habe schon lange vermutet, dass du nur für deine Ideen lebst. Aber das geht nicht gut. Wirkliche Kreativität braucht das Leben und nicht das Studierzimmer.»
«Jetzt reicht es aber. Deine ewigen Predigten. Du redest wie ein alter Mann. Nein, du kommst mir eher vor wie ein großer Häuptling, der die Weisheit mit dem Löffel gefressen hat. Unser Beschützer, unser Ratgeber. Sag mal: Wo stehst du wirklich? Im Gegensatz zu dir will ich nämlich etwas erreichen. Und ich werde es erreichen. Durch nichts und niemanden werde ich mich davon abbringen lassen. Eines Tages werde ich meine eigene Agentur leiten. Ich habe noch tausend Ideen, die ich nur abzurufen brauche. Es kommt der Tag, da werde nur ich den Preis bestimmen. Abgesehen davon, wessen Vorschläge waren es, die in deiner Abteilung immer das Rennen machten?»
«Weißt du was? Geh doch deinen Weg, und ich wünsche dir viel Glück dabei. Ach, nur noch eine Frage, hm, du kannst es mir im Vertrauen sagen. Wie viele hast du schon kalt gemacht?»
«Wie bitte?»
«Ja, du hast schon richtig verstanden. Wie viele hast du schon umgelegt? Ich meine solche, die dir im Weg gestanden haben. Du kannst es mir ruhig sagen.»
Eric ging weiter und Viktor blieb nachdenklich stehen.
«Sag ich dir nicht, aber du wirst der Nächste sein! Ich werde nämlich spätestens ab heute Mittag überlegen müssen, ob ich dich noch länger gebrauchen kann, großer Häuptling!»
Eric bog um die nächste Ecke im Korridor und schon war er aus Viktors Blickwinkel verschwunden. Er blieb stehen und runzelte die Stirn, während er tief Luft holte.
Eric stand vor der Cheftüre. Die großen, fetten Buchstaben Dobrosav Mirkovic flößten ihm großen Respekt ein. Er klopfte.
«Ja, bitte!», dröhnte es von drinnen mit tiefer Stimme.
Eric trat ein und sagte: «Da bin ich, Herr Mirkovic.»
Mit einem überfreundlichen «Hallo Eric» begrüßte ihn der Chef.
Diese Stimme ließ Schlimmes erahnen.
Der Chef stand auf und winkte Eric zu sich. «Setzen Sie sich.»
Eric setzte sich.
«Hatten Sie ein schönes Wochenende?», fragte Dobrosav Mirkovic zuckersüß.
«Ja – ja doch.»
«Erzählen Sie! Erzählen Sie ein wenig. Sie wissen, ich mag Geschichten. Die besten Geschichten schreibt das Leben. Ha, ha. Ist nicht von mir.»
«Nun, äh, wir waren in den Bergen. Ich habe zum ersten Mal auf einem gefrorenen See gefischt. War ganz interessant. Es ist unglaublich, wo im Sommer nur Wasser ist und Boote fahren, steht man auf zentimeterdickem Eis vor einem kleinen Loch, mit der Angelrute in der Hand, und wartet frierend, dass irgendein großer fetter Fisch anbeißt. Ich muss schon sagen, ganz wohl war es mir bei der Sache nicht. Da war immer ein leises Knirschen und Zischen unter unseren Füßen. Aber man sagte uns, es bestünde überhaupt keine Gefahr. Man muss sich vorstellen, was diese paar Zentimeter Eis alles tragen können. Sogar Pistenfahrzeuge waren auf dem See unterwegs. Die hatten Spuren für die Langläufer präpariert, die etwa eine Stunde später in Scharen auf dem gefrorenen See im Kreis liefen. Später kamen noch ganze Familien mit Kindern dazu, die den See zu Fuß umwanderten. Ja, es war ein schönes Wochenende. Ich liebe die Berge und das gute Essen dort. Die Berge stellen alles wieder ins rechte Lot, weisen den Menschen den rechten Maßstab zu. Ich genieße diese Welt dort ohne Werbung. Die Natur braucht keine Werbung, sie muss sich nicht verkaufen, sie ist einfach
da.»
«Das haben Sie wirklich schön gesagt. Schreiben Sie es auf. Es wird in genau dieser Form ein genialer Werbespot für irgendeinen Kurort in den Bergen abgeben. Diese kleine Geschichte, in zwanzig Sekunden erzählt, könnte alles aussagen, was das Leben lebenswert macht. Die Natur mit ihrer Ruhe, und dann das Abenteuer eines Stadtmenschen, wie er unter dem Eis hervor einen fetten Fisch fängt. Dann die Nacht im Hotel am See, mit den Silhouetten der Berge vor dem Fenster. Das gute Essen mit einem edlen Tropfen Wein. An der Seite eine wunderschöne Frau. Auf dem Teller die am Tag selbst gefangene Forelle, die der Küchenchef zum Abendessen höchstpersönlich zubereitet und voller Stolz serviert hat. Eric, schreiben Sie es auf. Wir nehmen es ins Archiv. Zu gegebener Zeit werden wir das Konzept verkaufen und groß rauskommen damit.»
«Ich weiß nicht so recht. Ich wollte mein Erlebnis eigentlich nicht vermarkten.»
«Sehen Sie, schon sind wir beim Thema unseres Gesprächs. Sie laufen an den Ideen vorbei. Sie verschenken zu viel. Eric, Sie sind in der Werbung am falschen Platz!»
«Ja, ja, das weiß ich schon lange!»
«Nicht so, wie Sie denken. Sie sind natürlich nicht der Produktivste hier, das habe ich schon lange bemerkt.»
«Ja, wie könnte es auch anders sein. Es gibt sicher auch Leute, die böse über einen reden.»
«Warten Sie, warten Sie. Es geht nicht immer darum, schnell zu sein, zehn oder zwanzig Ideen im Monat zu haben. Was ich sagen will, ist: Ihr Talent liegt wahrscheinlich eher darin, Leute zu motivieren. Sie sind ein, Inspirator, deshalb habe ich mir gedacht, dass Sie in Zukunft vermehrt Leute zusammenführen sollten. Nicht nur hier im Betrieb, sondern auch vermehrt in Form einer Talentsuche.»
Eric saß mit einem nachdenklichen Gesicht da und man sah ihm deutlich an, dass seine Gedanken rotierten und er nicht wusste, wie er das Ganze bewerten sollte.
«Kann ich für diese neue Aufgabe meinen bisherigen Arbeitsplatz behalten?»
«Hm, nein. Ich habe da eher an den dritten Stock gedacht.»
«Haben wir denn dort noch ein Büro?»
«Ja, haben wir.»
Eric nickte nachdenklich. «Wann beginne ich mit dieser Talentsuche?»
«Ab nächster Woche. Sie werden auch viel auf Reisen sein. Wir müssen uns anstrengen. Nicht, damit jede Idee, die man sich aus den Fingern saugt, schon am Abend von einem anderen über den Bildschirm flimmert. Es gibt keine Entschuldigung, die Werbebranche ist sehr, sehr hart.»
Gequält lächelte Eric und sagte: «Sie möchten tatsächlich, dass ich mit der Talentsuche beginne?»
«Ja, und zwar sofort! Ich könnte mir auch vorstellen, wenn Sie viele Talente finden, wir eine zusätzliche Agentur nur für Talente gründen könnten, mit einem neuen Namen. Das wäre sicher nicht schlecht, und wenn es schief geht, könnte man diese ohne großen Schaden wieder schließen. Die jetzige Werbeagentur wäre davon nicht betroffen. Unsere Firma könnte etwas Aufschwung vertragen.»
«An und für sich nicht schlecht, ich werde mir Mühe geben. Sie wissen ja, ich gebe immer mein Bestes.»
In Gedanken versunken stand Eric vom Sessel auf und wollte sich verabschieden.
«Noch eine Frage», meldete sich der Chef. «Findet heute Abend nicht die Präsentation statt? Um wie viel Uhr ist das?»
«Um neun.»
«Ich würde vorschlagen, Sie beauftragen Viktor mit dieser Arbeit.»
«Sie werden es nicht glauben. Ich habe bereits heute Morgen Viktor beauftragt, diese Präsentation zu leiten. Auch habe ich ihm gesagt, dass er ein Naturtalent und für diese Aufgabe wie geschaffen sei.»
«Großartig, dann ist das also auch schon geklärt! Alles Weitere können wir dann nach Ihrem Umzug in den dritten Stock besprechen.»
Eric verließ das Chefbüro und machte sich auf den Weg in sein eigenes, das er mit Christine teilte. Als Eric eintrat, traute er seinen Augen nicht: Viktor und Christine saßen gemütlich plaudernd bei Kaffee und Hörnchen.
Viktor sah Eric mit einem arroganten Augenaufschlag an und fragte: «Wie ist es gelaufen? Hast du den Job angenommen?»
Staunend sah Eric zu den beiden hin. «Schmeckt der Kaffee?»
Während Viktor überschwänglich Christines Kaffee lobte, schaute diese verlegen in Richtung Kaffeemaschine.
Eric sagte zu Viktor kalt: «Ich hätte mir ja denken können, dass du in alles eingeweiht bist, oder es sogar dem Chef vorgeschlagen hast. Na ja, zu deiner Beruhigung, ich habe den Job mit Freuden angenommen.»
Nachdenklich und wütend auf Viktor machte sich Eric auf den Weg in den dritten Stock. Er kannte diese Etage, war jedoch schon lange nicht mehr oben gewesen. Nach der Umstellung auf EDV, vor langer Zeit, wurde dieses Büro, das man ihm nun zugeteilt hatte, sowie der kleine Nebenraum, nur noch als Archiv genutzt.
Eric verließ den Lift, der ihn in den 3. Stock gebracht hatte, und machte sich auf die Suche nach dem Büro.
Er kam an beschrifteten Türen vorbei: Fotoarchiv, Filmarchiv, Requisiten. Dann, die vierte Tür, nicht beschriftet, öffnete Eric gespannt und staunte, denn das Büro war größer als er gedacht hatte.
Wenn die Scheiben geputzt sind und alles entstaubt ist, dann konnte man sich hier recht gemütlich einrichten. Vielleicht könnte ich ja den Chef überreden, ein paar modernere Möbel zu kaufen, dachte Eric.
Herrlich, wenn man aus dem Fenster sah, konnte man den spielenden Kindern im Park zusehen. Es war ein lebendiger Park, nicht sehr groß, doch für die Augen eine Erholung.
Er öffnete die Tür zum Nebenzimmer. Auf dem Regal standen noch einige Archivordner und eine verstaubte Kaffeemaschine. Da gab es noch einiges zu tun. In Gedanken richtete er schon Büro und Nebenraum ein, vielleicht noch mit einem Sofa, wo er hin und wieder einen Mittagsschlaf halten könnte. Ein Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit und die anfängliche Skepsis war wie weggeblasen.
Lea saß vor dem Fernseher. Sie hatte sich soeben die 15 Uhr-Nachrichten angesehen. Sicher hatte sie nicht alles mitbekommen, denn sie war tief in ihre eigenen Gedanken versunken. Die junge, adrette Ansagerin nahm sie gar nicht mehr wahr. Mit schlurfenden Schritten ging sie zum Fernseher und schaltete den Apparat aus. Sie überlegte, was sie anziehen sollte, denn sie wollte noch auf den Friedhof gehen und nachsehen, ob alles in Ordnung war. Sie ging ins Schlafzimmer, öffnete den Kleiderschrank und sah Stück für Stück durch. Nach kurzem Zögern wählte sie einen schwarzen Rock, eine beigefarbene Bluse und für darüber einen Pullover, denn es war kalt draußen. Man konnte glauben, sie treffe sich mit einem Freund, so sorgfältig wählte sie ihre Garderobe aus.
Mit einem tiefen, schweren Seufzer strich sie sich abwechselnd über die Handrücken, es schien so, als wollte sie die Falten wegglätten. Schwerfällig nahm sie den warmen Wintermantel vom Haken und schlüpfte hinein, den Schal auf der Ablagefläche benutzte sie als Kopftuch. Nur noch ein paar graue Haarsträhnen ließen sich nicht darunter verbergen, vorwitzig kringelten sie sich um das Kopftuch. Lea öffnete die Tür und erschrak. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass es schneite. Große, schwere Flocken fielen herunter, und das schon länger. Lea konnte noch nicht fort, zuerst musste sie den Weg freischaufeln. Mühsam kämpfte sie mit der weißen Masse. Schaufel um Schaufel schippte sie den Schnee schwerfällig zur Seite, bis ein kleiner schneefreier Weg den Vorgarten freigab. Kraftlos stellte sie die Schneeschaufel zurück an die Wand. Sie beugte sich etwas und streckte die Arme in die Höhe, sodass sie wieder unverkrampft gehen konnte. Denn das Schneeschaufeln war mühsam gewesen und ihre Wirbelsäule schien zuerst gekrümmt bleiben zu wollen, doch nun ging es wieder. Den Mantelkragen hochgestellt verließ sie das Vorgärtchen, das links und rechts noch mit einer dicken Schneeschicht bedeckt war. Dick eingepackt machte sie sich auf den Weg, auch das kalte Wetter konnte sie nicht aufhalten. Zielstrebig bahnte sie sich ihren Weg zur Kirche, ging vorbei an der Holzbank und dem Brunnen, der ganz zugefroren war. Die Schneepracht hatte alle Pflanzen auf dem Friedhof unter sich begraben. Die Tannen und die kleinen kahlen Sträucher sahen aus wie Skulpturen. Ab und zu wurde ein Strauch von seiner Schneelast befreit, weil er von einem Vogel als Landeplatz ausgesucht worden war. Es war eine unheimliche Stille. Die dunklen Grabsteine und Kreuze bildeten einen extremen Kontrast und sahen von weitem aus wie viele starre Augen. Alles wirkte viel bedrohlicher, doch gleichzeitig auch viel friedlicher. Lea durchstreifte gedankenverloren die Grabreihen. An einem Grab blieb sie stehen, lief dann weiter und ging dann wieder zurück. Ganz steif stand sie da, bewegte sich nicht. Nur ihren Atem konnte man sehen. Wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass sich ihre Lippen ein wenig bewegten. Ihre Wangen hatten sich rot gefärbt und leuchteten ein wenig. Die Nase begann nun auch noch zu tropfen, und mit dem Handschuh trocknete sie diese. Sie verließ das Kirchengelände und schaute sich nochmal die verschneite Bank und den zugefrorenen Brunnen an. Es sah alles so friedlich aus, sodass sie sich nicht sattsehen konnte. Eilig machte sie sich dann aber auf den Weg, denn die Kälte drang nun schon durch ihren dicken Mantel. Sie musste sich unbedingt bewegen, damit ihr ein wenig warm wurde. In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken um frühere Zeiten. Die Krankheit ihrer Schwester Laurie und das Schreckliche, was sie Laurie angetan hatte. Sie konnte bis heute mit niemandem über dieses Ereignis sprechen.
Kurz vor dem Haus klopfte sie sich noch den restlichen Schnee vom Mantel, und man hätte meinen können, die Gedanken wären wie der Schnee zu Boden gefallen. Rasch betrat sie das Haus, und war froh, wieder in ihren vier Wänden zu
sein.