Hans Bemmann
oder:
Die Gefährlichkeit der Sprache
Roman
Es geschah, dass der Gutsherr Ivan Tscherkoff im Spätherbst auf der Jagd in seinen Wäldern von einem Unwetter überrascht wurde. Vom einen zum anderen Augenblick wurde es stockfinster und ein Schneesturm fegte durchs Holz, dass man kaum die Hand vor den Augen sehen konnte. Tscherkoff wurde von seinen Begleitern getrennt, verlor auch seine Hunde und wäre wohl erfroren, wenn der Erbarmer nicht seine Hand über ihn gehalten und die Schritte des Gutsherrn zu einem Dorf geführt hätte. Hier klopfte Tscherkoff an die Tür des ersten Hauses, das vor seinen verklebten Augen aus dem Schneetreiben auftauchte, und forderte Einlass. Es war aber so gefügt worden, dass dies das Haus war, in dem Rabbi Menachem wohnte.
Der Rabbi war nicht sonderlich beglückt, Tscherkoff vor seiner Tür zu finden, doch er erbarmte sich und bat den Gutsherrn in die warme Stube; denn das Wetter war von einer Art, dass er nicht einmal einen Kosaken hätte draußen stehen lassen. Er half Tscherkoff aus dem steifgefrorenen Pelz, bot ihm einen Platz am Ofen an und forderte seine Frau auf, Tee aufzugießen und die Kohlsuppe auf das Feuer zu schieben.
Nachdem der unerwartete Gast sich von außen und innen aufgewärmt hatte, wurde er gesprächig und suchte eine Unterhaltung mit dem Rabbi. Da er sah, dass dieser ein dickes Buch vor sich liegen hatte, fragte er ihn, womit er sich da beschäftige.
»Was tut ein Rabbi?«, sagte Menachem. »Ich suche zu erkennen, was wirklich ist.«
»Indem du in diesem Buch liest?«, sagte Tscherkoff und lachte. »Da wirst du schon was Rechtes erfahren!«
»Warum lacht Ihr?«, sagte der Rabbi. »Wisst Ihr denn, was wirklich ist?«
»Dazu brauche ich kein Buch«, sagte Tscherkoff. »Ich gehe zu den Dingen hin, packe sie an und nehme sie mir. Soll das nicht wirklich sein, was ich besitze?«
»Fragt Ihr das nicht selbst?«, sagte der Rabbi. »Werden Dinge dadurch wirklich, dass man sie sich nimmt?«
»Natürlich nicht«, sagte Tscherkoff. »Sie sind einfach da und was da ist, ist auch wirklich und man kann es sich nehmen. Ist es nicht so?«
»Was fragt Ihr mich?«, sagte der Rabbi und hob die Hände. »Wollt Ihr, dass ich Euch widerspreche?«
»Versuch es doch, wenn du anderer Meinung bist«, sagte Tscherkoff. »Ich erlaube es dir.«
»Es würde nichts nützen«, sagte der Rabbi. »Besser wäre es, wenn Ihr Euch selbst widersprecht.«
»Das möchte ich erleben!«, rief Tscherkoff und schlug sich lachend auf den Schenkel.
»Möchtet Ihr das wirklich?«, sagte der Rabbi. »Das ist gut. Ich will Euch dabei helfen. Ihr habt doch einen Wald?«
»Das weißt du doch«, sagte Tscherkoff. »Oder willst du vielleicht behaupten, ich hätte in Wirklichkeit keinen?«
»Will ich etwas behaupten?«, sagte Menachem. »Ich frage nur. Stellt Euch vor, Ihr hättet in diesem Wald einen einzigen, wunderbaren Hirsch, schöner und stärker als alle Hirsche, die Ihr je gesehen habt. Vielleicht einen mit schneeweißem Fell und einem gewaltigen Geweih, dessen Sprossen man nicht zählen kann.«
»Hätte ich nur einen!«, sagte Tscherkoff. »Nicht einmal den Schwanzwedel eines Hirschs habe ich heute zu sehen bekommen.«
»Nun«, sagte der Rabbi, »stellt Euch vor, in Eurem Wald wäre ein solcher Hirsch. Was würdet Ihr tun?«
»Das fragst du noch?«, sagte Tscherkoff. »Ich würde meine Meute auf ihn hetzen und ihn jagen.«
»Das dachte ich mir«, sagte der Rabbi. »Und wenn Ihr ihn erlegt habt, was habt Ihr dann?«
»Einen Braten!«, sagte Tscherkoff und lachte aufs Neue. »Gibt es etwas Wirklicheres als einen guten Hirschbraten?«
»Das ist die Frage«, sagte der Rabbi. »Was ist aber, wenn Ihr den Braten gegessen habt? Wie steht es dann mit der Wirklichkeit des Hirschs?«
»Dann ist er weg und den Rest scheiße ich in den Abort«, sagte Tscherkoff grob. »Muss denn alles Bestand haben, was wirklich ist?«
»Seht Ihr«, sagte der Rabbi, »jetzt stellt Ihr die Frage schon besser. Vielleicht ist in Wahrheit nur das wirklich, was nicht vergeht? Meint Ihr denn, Ihr hättet die Wirklichkeit dieses Hirschs schon begriffen, wenn Ihr ihn aufgegessen habt?«
»Was ist da schon zu begreifen?«, sagte Tscherkoff. »Du redest über Dinge, von denen du nichts verstehst. Was würdest denn du mit diesem Hirsch anfangen?«
»Habe ich denn einen?«, sagte der Rabbi. »Ich habe ja nicht einmal einen Wald.«
»Jetzt werde ich dein Spiel spielen!«, sagte Tscherkoff und grinste. »Stell dir vor, du hättest einen großen Wald und in diesem Wald gäbe es diesen fabelhaften Hirsch, von dem du gesprochen hast. Was würdest du tun? Würdest nicht auch du ihn schießen wollen?«
»Der Heilige soll mich schützen!«, rief der Rabbi und hob abwehrend die Hände. »Wie soll ich einen Hirsch jagen, wenn ich nicht einmal ein Gewehr habe? Darf denn unsereiner jagen?«
»Ich erlaube es dir«, sagte Tscherkoff gönnerhaft. »Du besitzt also den Wald samt dem Hirsch und darfst jagen. Was wirst du tun?«
»Weiß ich denn, ob der Hirsch da ist?«, fragte der Rabbi.
»Natürlich weißt du das«, sagte Tscherkoff ungeduldig. »Man weiß, wenn ein Hirsch im Wald steht. Es gibt Spuren, Losung liegt am Weg und im Herbst zur Brunftzeit hört man ihn röhren.«
»Man weiß also, dass er da ist, ohne dass man ihn zu Gesicht bekommt?«, sagte der Rabbi. »Das ist gut! Das ist sehr gut! So stelle ich mir diesen Hirsch vor.«
»Willst du ihn nicht aufspüren und die Hunde auf ihn hetzen?«, fragte Tscherkoff.
»Woher nehme ich Hunde?«, sagte der Rabbi. »Habe ich denn welche?«
»Ja!«, brüllte Tscherkoff, dem allmählich die Geduld ausging. »Du hast auch Hunde, die den Hirsch verbellen können.«
»Was heißt verbellen?«, fragte der Rabbi, und als er merkte, dass dem Gutsherrn die Zornröte ins Gesicht stieg, setzte er entschuldigend hinzu: »Man will doch wissen, wovon man redet.«
»Verstehst du denn gar nichts?«, rief Tscherkoff. »Sie wittern die Fährte und verfolgen sie, bis sie das Wild gestellt haben und dann bellen sie auf eine Weise, dass man hören kann: Sie haben den Hirsch.«
»Aber sie tun ihm nichts zuleide?«, fragte der Rabbi.
»Nicht, wenn sie gute Jagdhunde sind«, sagte Tscherkoff. »Sie stellen den Hirsch und warten auf den Jäger.«
»Das gefällt mir«, sagte der Rabbi. »Diese Hunde gleichen den Wörtern, die von der Wirklichkeit reden. Sie geben mir Nachricht, dass da etwas ist, und ich kann mir dann noch besser vorstellen, dass es dies in Wirklichkeit geben könnte.«
»So ist es«, sagte Tscherkoff befriedigt. »Und nun machst du dich auf den Weg, um den Hirsch zu schießen.«
»Bin ich ein Narr?«, rief der Rabbi. »Soll ich diesen Hirsch umbringen, nur um zu wissen, dass ich danach in meinem Wald keinen solchen Hirsch mehr haben werde?«
»Ich bin also ein Narr, weil ich dergleichen tue«, sagte Tscherkoff böse.
»Das habt Ihr gesagt«, erwiderte Menachem. »Ich hingegen sprach nur von mir. Ich würde mich damit zufriedengeben zu hören, dass es diesen Hirsch wirklich gibt. Und ich würde zu meinem Buch zurückkehren, um den Einen, der mich und alles andere erschaffen hat, besser begreifen zu lernen, den Einen, der nicht zu begreifen ist.«
»Was hat das mit dem Hirsch zu tun?«, fragte Tscherkoff, und man konnte ihm ansehen, dass diese Sache anfing, ihm über den Verstand zu gehen.
»Hat dies nicht mit allem zu tun?«, sagte der Rabbi. »Findet nicht die Wirklichkeit aller Wesen ihren letzten Grund in Ihm?«
»In Ihm, der – wie du eben gesagt hast – nicht zu begreifen ist?«, sagte Tscherkoff. »Das verstehe, wer will!«
»Verstehe ich es denn?«, sagte Menachem und breitete die Arme aus.
So musste der Gutsherr Ivan Tscherkoff schließlich nach Hause gehen ohne erfahren zu haben, was wirklich ist. Später soll er einmal gesagt haben: »Rede mit einem Rabbi und du beginnst an deinem eigenen Verstand zu zweifeln!«
War Menachem nicht ein wahrer Wunderrabbi?
Zu diesem Text gibt es noch einen Anhang, in dem berichtet wird, wie in späterer Zeit ein anderer Rabbi eben jene Geschichte seinen Schülern erzählte. Da hob einer dieser Schüler die Hand und als der Rabbi ihn zum Reden aufforderte, sagte er: »Warum nennt Ihr Menachem einen Wunderrabbi, obwohl er nicht einmal diesen Gutsherrn belehren konnte?«
»Konnte er das nicht?«, sagte der Rabbi. »Genügt es dir nicht, dass ein solcher Mann an seinem Verstand zu zweifeln begann? Ich will dir eine andere Geschichte erzählen, damit du dich künftig erst bedenkst, ehe du redest. Höre also: Rabbi Jaakob Jizchak, der Jehudi, ging mit seinem Schüler Perez über eine Wiese, auf der weidende Rinder brüllten, während aus dem hindurchfließenden Bach eine Gänseschar schnatternd und flügelschlagend hervorstieg.
›Könnte man doch all diese Rede verstehen!‹, rief der Schüler.
›Wenn du‹, sagte der Rabbi, ›dahinkommst, aus dem Grunde zu fassen, was du selber redest, wirst du die Sprache aller Wesen verstehen lernen.‹ Begreifst du jetzt, warum Rabbi Menachem sich zufriedengab und sich wieder seinem Buch zuwendete?«
B., am 12. Dezember
Meine Taube in den Felsenschlüften,
im Versteck des Steigs, lass mich Dein Angesicht sehen, lass mich Deine Stimme hören, denn süß ist Deine Stimme, anmutig Dein Gesicht. Diese Verse finde ich noch im Klang Deiner Stimme aufbewahrt in meinem Gedächtnis, meine liebste Rachel, und ich wüte nicht, mit welchen Worten sich besser ausdrücken ließe, wie mir zumute ist, während ich in Erwins Badezimmer an seinem provisorischen Schreibpult sitze und diesmal den Spiegel in seiner eigentlichen Bestimmung benutze, nämlich den Zustand meines wachsenden Bartes zu betrachten. Er wuchert mir inzwischen ziemlich verwegen (wenn auch von breiten Grausträhnen durchzogen) um Kinn und Backen und ich muss ihn um den Mund herum schon ein bisschen beschneiden, damit mir beim Essen die Haare nicht zwischen die Zähne geraten. Also, wenn ich mir so ins struppige Gesicht schaue: Ich würde mich selber nicht mehr erkennen, falls ich mich auf der Straße träfe.
Erwin ist – wie ich, wenn auch aus anderem Grund – der Ansicht, dass ich möglichst bald aus B. verschwinden sollte. Nicht, dass er mich los sein will, aber hier kennen mich doch zu viele Leute. Immerhin hat er schon mit Helmut wegen neuer Papiere für mich gesprochen und das lässt mich auf eine baldige Freilassung aus meinem Stubenarrest hoffen. Vorerst soll ich wie Amelie im Haus von Onkel Max Asyl finden und mir klopft schon das Herz bei dem Gedanken, dass ich dann in L. aussteigen und mich den liebevoll-kundigen Händen einer dort wohnhaften Ärztin anvertrauen könnte. Ich kann Dir nicht sagen, wie oft ich jeden Augenblick meines Besuchs bei Dir und noch mehr die wenigen Stunden, die Du hier bei mir verbracht hast, aus meiner Erinnerung hervorgeholt und nacherlebt habe, bis mich dann doch manchmal mitten in der Nacht die Angst überfiel, dass sich so etwas nicht wiederholen lässt. Wie soll das weitergehen mit uns, einem entsprungenen Untersuchungsgefangenen und einer angesehenen Ärztin? Ich weiß es nicht und versuche mich mit dem zufriedenzugeben, was gewesen ist; denn das ist schon so viel, dass es mich von Grund auf umgekrempelt hat. Aber wie soll ich meiner Sehnsucht entfliehen, die kein anderes Ziel kennt als Rachel, Rachel, Rachel? Das bisschen Vernunft, über das ich verfüge, hilft mir da nicht viel.
Nun, einstweilen habe ich immerhin einen langen Brief von Dir und das ist auch schon etwas. Danke, mein Herz! Ich hatte schon vermutet, dass ich mit dieser Geschichte von Rabbi Menachem bei Dir Erinnerungen an Deine Kinderzeit wachrufen würde, und jetzt, wo Du mir ausführlicher darüber geschrieben hast, versuche ich mir vorzustellen, wie Du als kleines Mädchen zu Füßen Deines Großvaters sitzt und seinen Geschichten zuhörst. Ich sehe wahrhaftig, wie der Schein der Kerzen auf dem siebenarmigen Leuchter über Deine heißen Backen huscht! Besonders freut mich, dass dieser bärtige alte Mann dabei auch die kurze Geschichte von jenem Rabbi erzählt hat, den man den Jehudi nannte. (Sie stand in einem kleinen, dicken Buch, schreibst du, dessen Autor Hunderte solcher Geschichten gesammelt hatte. Schade, dass Du es nicht besitzt!) Du schreibst, dass Dein Großvater gerade diese Geschichte besonders geliebt habe, und das nimmt mich noch mehr für ihn ein und lässt ihn mich – obwohl er schon lange nicht mehr lebt – zu unseren Freunden zählen. Ich möchte sogar so weit gehen zu vermuten, er könnte mit solchen Erzählungen bei Dir den Grund dazu gelegt haben, dass Du von Anfang an bereit warst, über das Unvermögen der Sprache, Wirklichkeit zu fassen, zusammen mit mir nachzudenken. Muss ich diesen Großvater nicht lieben, der Dich mir auf diese Weise zugeführt hat? Da kann man doch wieder einmal sehen, welch unerwartete Folgen das Geschichtenerzählen nach sich ziehen kann!
Eben höre ich, dass Erwin nach Hause gekommen ist. Ich will meinen Brief unterbrechen und mich erst einmal erkundigen, wie es mit meinen Papieren steht.
am 13. Dezember
Erst jetzt komme ich dazu, an diesem Brief weiterzuschreiben, meine liebe Rachel; denn inzwischen hat sich hier allerlei ereignet. Ich ging gestern also hinüber ins Wohnzimmer zu Erwin und er sagte mir, dass gleich ein Mann kommen würde, der unser Lesegerät reparieren könne. (Seit Tagen gibt’s da einen Wackelkontakt, der das Licht zum Flackern bringt.) Ich fragte Erwin, ob es nicht zu riskant sei, irgendeinen Techniker in unser Geheimkabinett zu lassen, doch er meinte, ich solle mir keine Sorgen machen. Dieser Mann sei ihm von einem Freund als durchaus vertrauenswürdig empfohlen worden und habe wohl auch allen Grund, den Leuten von der Sprachüberwachungsbehörde aus dem Weg zu gehen.
Einstweilen machten wir uns über den Kühlschrank her und setzten uns im Wohnzimmer zum Abendessen zusammen. Zwischen Heringssalat, Salami und Käse erfuhr ich dann, dass auch Helmut, der Blödler, noch an diesem Abend vorbeikommen wolle, um meine perfekt und unter amtlicher Kontrolle gefälschten Papiere zu bringen. Mein Herz machte gleich wieder einen Sprung, als mir bewusst wurde, dass damit meine Reise zu Dir schon ganz nahe gerückt ist.
Bald darauf schellte es an der Tür, Erwin ging hinaus, um zu öffnen und kehrte mit einem Riesen zurück, der in einen etwas knapp sitzenden blauen Overall gekleidet war und einen Werkzeugkasten am langen Riemen über der Schulter trug. Ich stand auf, um ihn zu begrüßen und während er mir die Hand mit seiner gewaltigen Pranke fast zerquetschte, sagte dieser Hüne: »Irgendwie kommen Sie mir bekannt vor. Hatten Sie schon immer diesen Bart?«
»Den müssen Sie sich wegdenken, wenn Sie mich schon früher einmal gesehen haben«, sagte ich und schaute mir diesen Elektrotechniker genauer an. Zunächst war mir nur der enorme Zinken seiner vorspringenden Hakennase aufgefallen, die seinem Gesicht etwas Vogelähnliches verlieh. Jetzt kam es auch mir so vor, als ob er mich an jemanden erinnere, aber es wollte mir nicht einfallen, wo ich ihm begegnet sein sollte. Doch als er mich dann fragte, ob ich in letzter Zeit Schwierigkeiten mit der Sprachüberwachungsbehörde gehabt hätte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. »Ihnen habe ich meine Freiheit zu verdanken!«, sagte ich. »Ohne Ihre Zirkusnummer säßen wir jetzt beide im Irrenhaus.«
»Sie waren das also!«, rief der Riese lachend. »Ich habe mich schon gefragt, was aus Ihnen geworden sein mag.«
»Ein bärtiger Stubenhocker, wie Sie sehen«, sagte ich und konnte nicht umhin, diesen langen Laban aus lauter Dankbarkeit und Wiedersehensfreude zu umarmen. Er drückte mich an seine muskelbepackte Brust, dass mir die Rippen krachten, und ich sah eine Zeitlang nichts weiter vor meinen Augen als den blinkenden Reißverschlussnippel, der am Halsausschnitt seines Overalls baumelte. Dann ließ er mich endlich frei aus seiner Umklammerung und sagte: »Wieso Stubenhocker? Blass genug sehen Sie ja aus. Sie sollten mal an die frische Luft gehen!«
»Erwin lässt mich erst dann unter die Leute, wenn mein Gesicht völlig zugewachsen ist von diesem Gestrüpp«, sagte ich. »Wieso wagen Sie sich eigentlich nach alledem auf die Straße?«
»Gesucht wird ein bekannter Fußballstar«, sagte unser Freund, »nicht ein schlichter Handwerker.« Er klopfte auf seinen Werkzeugkasten. »Das ist meine Verkleidung. Wenn die Leute einen blauen Overall mit einem solchen Kasten über der Schulter sehen, machen sie sich kaum noch die Mühe, das Gesicht des Mannes zu betrachten, der drinsteckt. Sie haben mich ja schließlich auch nicht erkannt und dabei haben Sie das Bild von Nasenski mit dem Superbein sicher schon oft in der Zeitung oder der Sportschau gesehen.«
»Das sind Sie?«, sagte ich verblüfft. »Gehört habe ich allerdings schon von Ihnen, aber die Sportseiten in der Zeitung pflege ich zu überblättern und mein Fernsehgeschmack geht auch in eine andere Richtung. Tut mir leid, wenn ich Sie enttäuschen muss.«
Doch der Mann mit dem Superbein lachte nur und freute sich geradezu, einmal jemanden zu treffen, der noch nie sein Bild gesehen hatte. Jetzt endlich machten wir uns richtig miteinander bekannt und Erwin wollte meinen Retter gleich zu einem Glas Wein einladen, aber der wehrte ab und sagte: »Nachher gern«, aber zunächst wolle er erst einmal unser Lesegerät in Ordnung bringen.
»Können Sie das überhaupt?«, fragte ich.
Er schaute mich verständnislos an, dann begriff er und lachte dröhnend. »Sie meinen, weil ich Fußballspieler bin? Vorher war ich Fernsehtechniker!«
Als wir später zusammen im Wohnzimmer saßen (unser neuer Freund hatte den Fehler bald gefunden und beseitigt; er war übrigens sehr beeindruckt von Erwins Badezimmereinrichtung!), erzählte er uns, wie er vom Fernsehen auf das Spielfeld und schließlich in die Fänge der Sprachüberwachungsbehörde geraten war, eine ziemlich lehrreiche Geschichte, finde ich. Er hat wirklich eine abgeschlossene Ausbildung als Fernsehtechniker und war ursprünglich bei einem Sendestudio angestellt. Dort hatte er die Geräte, Monitoren und all dieses Zeug, von dem ich nichts verstehe, zu überwachen und in Ordnung zu halten und war auch bei den Aufnahmen dabei. Aus dieser Zeit kennt er eine Menge Regisseure und Schauspieler, natürlich auch die Nachrichtensprecher und Moderatoren, die unsereinem nur auf dem Bildschirm begegnen. »All das«, sagte er, »hat mich anfangs ungeheuer fasziniert und ich bestaunte die Leute, deren Worte überall im Sendebereich von jedermann gehört wurden und deren Gesichter jedem Menschen so vertraut waren, als gehörten sie zu seiner eigenen Familie. Geradezu aufregend fand ich die Arbeit im Studio, wenn ich beobachten konnte, wie aus kurzen Spielepisoden nach und nach ein Stück entstand, das der Zuschauer am Bildschirm fast wie ein wirkliches Ereignis erlebt.
Ich erinnere mich an die Abschiedsszene in einem Fernsehspiel, deren Aufnahme der Regisseur plötzlich unterbrach, weil ihm die Hauptdarstellerin zu unbeteiligt schien. ›So wird das nichts mit deinen künstlichen Glyzerintränen!‹, schrie er wütend. ›Du darfst den Schmerz nicht nur spielen, du musst ihn wirklich fühlen! Wenn die Sendung läuft, darf im ganzen Land kein Taschentuch trocken bleiben! Denk von mir aus an den Tod deines Jungen voriges Jahr bei dem Verkehrsunfall! Dann kriegst du das schon hin.‹
Natürlich fand ich das auch damals schon ziemlich brutal, wie dieser Regisseur seine Schauspielerin zum Heulen brachte, aber zugleich bewunderte ich, wie er es darauf anlegte, ein lediglich von irgendeinem Autor ausgedachtes Gefühl so zu realisieren, dass während der Sendung Millionen von Zuschauern die Tränen übers Gesicht laufen würden. Ich meinte damals, es müsse wohl dafürstehen, solche Macht über die Empfindungen der Menschen zu gewinnen und dieser Preis sei nicht zu hoch dafür.«
Als er das erzählte, musste ich an die widerstreitenden Gefühle denken, die sich bei mir oft nach einem vor dem Bildschirm verbrachten Abend eingestellt hatten. Jetzt, wo ich den Einflüssen dieses Geräts schon seit einiger Zeit nicht mehr ausgesetzt bin, beginne ich die Gründe dafür erst richtig zu begreifen. Manchmal war mir nach irgendso einem Rühr- oder Kriminalstück zumute, als hätte man mir für eine Weile eine andere Identität eingepflanzt, unter deren Einfluss ich mich zu Reaktionen gezwungen sah, die mir völlig fremd, manchmal sogar zuwider waren. Es kann ja sein, dass dies alles tatsächlich als Möglichkeit in mir drinsteckt (sonst könnte ich wohl überhaupt nicht so empfinden), aber meine eigene Identität besteht wohl doch gerade darin, dass ich mich – mehr oder minder bewusst – dafür entschieden habe, eine ganz bestimmte Ordnung unter den Anlagen herzustellen, die in meinem Unterbewusstsein schlummern. Jedenfalls hat es mich hinterher zumeist regelrecht geärgert, dass dieser Apparat irgendeinem mir wildfremden Menschen erlaubt, auf diese Weise mit meinem Innenleben zu spielen. Warum hast du dich dann immer wieder davorgesetzt? wirst Du jetzt fragen. Darauf weiß ich keine klare Antwort. Vielleicht liegt dies an unseren normgeregelten Lebensumständen, die einem nur selten erlauben, die eigenen Emotionen auszuleben. Mag sein, dass man sich deshalb immer wieder zu einem solchen Seelentheater verführen lässt. Unsere Staatsideologen setzen es ja offenbar auch bewusst dazu ein, die Bevölkerung von solchen Lebensumständen auf eine Weise abzulenken, dass ihr dieser Zustand gar nicht mehr voll ins Bewusstsein tritt.
Was richtiges Theater eigentlich bewirken könnte, habe ich auch erst während meines Studiums der Vor-Literatur begriffen. Bei manchen Stücken, die es in Erwins Badezimmer zu lesen gibt, habe ich mir vorzustellen versucht, wie sie auf der Bühne wirken müssten. Auch hier wird mit den Emotionen der Zuschauer gespielt – anders kann ja Theater gar nicht funktionieren –; sie sollen erschüttert oder auch zum Lachen gebracht werden, aber stets auf eine Weise, die ihnen in hohem Maße die Freiheit lässt, sich innerhalb der vorgespielten Ereignisse und der dabei gesprochenen Wörter und Sätze zu bewegen. Es bleibt dem Zuschauer dabei bewusst, dass dies Theater ist, und gerade deshalb beginnt er sich zu fragen, was dieses Stück, das da in Szene gesetzt wird, hier und jetzt für ihn selbst zu bedeuten hat, etwa auf ähnliche Weise, wie es einem auch geht, wenn man eine gute Geschichte liest oder erzählt bekommt. Aber genau das soll ja in diesen Fernsehspektakeln vermieden werden und deshalb wird alles so distanzlos inszeniert, dass der Zuschauer überhaupt nicht zum Nachdenken kommen kann. Seit meiner Einführung in Erwins Badezimmer und noch mehr seit der Begegnung mit Dir habe ich jedenfalls keinerlei Verlangen nach solchen Scheineskapaden mehr verspürt.
Doch nun weiter mit Nasenskis Geschichte. Nachdem er noch ein paar Episoden aus seiner Zeit beim Fernsehen erzählt hatte, kam er zu dem, was er sein Schlüsselerlebnis nennt. »Wissen Sie«, sagte er, »wenn man tagaus tagein an seinen Geräten hockt, gehört man schließlich dermaßen zum Inventar, dass einen manche Leute überhaupt nicht mehr wahrnehmen und auf eine Weise miteinander reden, als geschähe dies unter vier Augen. So kam es, dass ich eines Tages zum Zeugen eines Gesprächs wurde, das mir zu denken gab.
Ich saß hinter der Glasscheibe und bastelte am Mischpult herum, während der Autor des Stücks, das gerade aufgenommen wurde, sich im Studioraum mit dem Intendanten unterhielt. Der Ton war abgeschaltet; ich sah die beiden nur gestikulieren, als seien sie in Streit geraten. Während ich noch darüber nachdachte, worüber sie einander in die Wolle gekriegt hatten, spielte ich an den Knöpfen herum und hatte unversehens den Ton in meiner Kabine. ›Das ist es ja gerade!‹, hörte ich den Intendanten sagen. ›Diese Szene ist zu doppelbödig und Sie scheinen sich auf diese offene Textanlage auch noch was einzubilden! An dieser Stelle weiß doch keiner mehr, was er davon halten soll!‹
›Genau!‹, sagte der Autor. ›Oder können Sie mir sagen, welche Entscheidung in einer solchen Situation die richtige ist? So ist doch das Leben!‹
Der Intendant blickte ihn fassungslos an. ›Sind Sie wirklich so verantwortungslos oder nur einfach dumm?‹, sagte er. ›Die ganze Geschichte entspringt doch nur Ihren verquasten Gehirnzellen und jetzt behaupten Sie auch noch, so sei das Leben! So ist es eben nicht, jedenfalls nicht in diesem Land, in dem dafür gesorgt wird, dass jeder Bürger zufrieden ist mit dem, was er ist und tut. Merken Sie sich das! Hier bestimmen wir, was die Leute vom Leben zu halten haben und da gibt es keine Zweideutigkeiten, sondern einzig und allein klare, eindeutige Antworten!‹ Das Letzte hatte er geradezu geschrien. Dann beruhigte er sich ein bisschen und fuhr in fast väterlichem Ton fort: ›Kommen Sie doch endlich herunter aus Ihrem Wolkenkuckucksheim und stellen Sie sich einmal die Leute an den Bildschirmen richtig vor! Wenn wir diese Schlussszene so lassen, wie sie auf dem Papier steht, sitzen all die bedauernswerten Menschen dann ratlos in ihrem Wohnzimmer und wissen nicht mehr, wo’s lang geht. Das kann man doch nicht machen! Unzufriedenheit gibt das, sage ich Ihnen, Unruhe, wenn nicht gar Revolution! Und das wollen Sie doch nicht. Es täte mir leid, Sie zu verlieren, denn Sie sind ein durchaus begabter Schriftsteller, mein Lieber. Aber wenn man an den Schalthebeln der Macht sitzt – und das trifft bei uns im wahrsten Sinne des Wortes zu, falls Ihnen das noch nicht klar sein sollte! – dann muss man lernen, Verantwortung zu tragen wie dieser junge Mann in Ihrem Stück, selbst wenn es gilt, dabei über den eigenen Schatten zu springen.‹
Ich hatte die fragliche Szene während der Proben verfolgt. Es ging in dem Stück um ein ganz alltägliches Problem: Ein junger Mann rückt in einem Betrieb in eine verantwortungsvolle Position auf, die ihm nicht mehr hinreichend Zeit lässt, die Abende mit dem Mädchen zu verbringen, das er liebt. Nicht sehr originell, zugegebenermaßen, wie auch das Folgende. Natürlich nimmt das Mädchen an, eine andere Frau stecke dahinter, es gibt die üblichen Eifersuchtsszenen, Missverständnisse und dergleichen. Aber man konnte durchaus die Gefühle dieser zurückgesetzten Geliebten nachvollziehen, als sie ihm zum Schluss ihren Standpunkt klarzumachen versucht. Doch der junge Mann will sich nicht in seiner Karriere behindern lassen, versucht ihr das begreiflich zu machen und ruft schließlich: Ja, wo leben wir denn eigentlich? So hört das Stück auf.
Manches hatte ich recht banal und abgedroschen gefunden, aber dieser Schluss hatte mir imponiert. Diese Frage war bei mir hängengeblieben und darauf hatte es der Autor wohl auch abgesehen. Jetzt sah ich ihn dort draußen hinter meiner Glasscheibe stehen und er tat mir richtig leid, wie er unter dem Blick des Allgewaltigen immer mehr zusammensackte. Er hatte wohl auch keine Wahl, wenn er im Geschäft bleiben wollte. Jedenfalls hatte das Stück dann einen anderen Schluss, als es gesendet wurde: Einsicht in die klaren Tatsachen bei dem Mädchen, das sich letzten Endes damit zufriedengeben musste, geduldig darauf zu warten, dass sein geliebter Aufsteiger etwas Zeit erübrigen konnte. Zum Kotzen!«
»Wahrhaftig!«, sagte Erwin. »Und dieses Erlebnis hat Sie also dazu gebracht, darüber nachzudenken, wo wir eigentlich leben.«
»So ist es«, sagte Nasenski, »und je länger ich darüber nachdachte, desto mehr verlor ich die Lust, Handlangerdienste für diesen Intendanten zu leisten, der dem armen Schwein von Autor den einzigen vernünftigen Satz in seinem Stück vermasselt hatte.«
»Und dann haben Sie sich dem Fußball zugewendet?«, sagte Erwin und stand auf, weil es draußen an der Tür geschellt hatte. »Warten Sie mit Ihrer weiteren Geschichte, bis ich zurück bin«, sagte er. »Das wird Helmut sein.« Er ging hinaus und kam gleich darauf mit dem Blödler vom Standesamt zurück. Helmut drückte mir die Hand, wendete sich dann unserem Elektriker zu, schaute ihm einen Augenblick lang verblüfft ins Gesicht und rief: »Das ist ja Superski mit dem Nasenbein!«
Nasenski nahm diese Begrüßung mit Fassung entgegen. »Letzten Winter«, sagte er, »kam ich nicht nur mit einem Gipsbein, sondern auch noch mit einem grauenhaften Schnupfen aus dem Skiurlaub zurück und da war ich dann Suppennase mit dem Skibein.«
Helmut drehte sich zu uns um und sagte: »Hört euch das an! Der ist ja einer von uns, dieser Fußballakrobat!«
»Ist uns nicht neu«, sagte Erwin. »Er wollte uns gerade erzählen, wie er zum Helden der Nation und anschließend beinahe zum Insassen der Klapsmühle geworden ist. Hast du ein bisschen Zeit? Dann hör dir’s an!«
Wir setzten uns wieder, Erwin stellte auch für Helmut ein Glas hin, schenkte ihm ein, und dann fuhr Nasenski mit seinem Bericht fort. Er hatte, wie er sagte, schon während seiner Schulzeit Fußball gespielt und war später in einen Amateurclub eingetreten, in dem er auch während seiner Anstellung beim Fernsehen geblieben war. Nebenbei trainierte er noch eine Liebhabermannschaft des Senders, die gelegentlich zu Freundschaftsspielen gegen die Männer vom Hörfunk oder irgendwelche Staatsbeamten antrat, die sich den Sitzspeck vom Hintern laufen wollten. (So formulierte er das wenigstens.)
»Und dann kam die Sache mit dem Reporter, der das Endspiel der Landesmeisterschaft kommentierte«, fuhr er fort. »FC Rakete gegen Glückauf 98. Rakete spielte in der ersten Halbzeit wahrhaft saumäßig; es gelang der Mannschaft einfach nicht, einen zügigen Angriff aufzubauen, die Spieler bolzten wild drauflos, Pässe gingen daneben und es war ein schlichtes Wunder, dass sie beim Abpfiff noch nicht im Rückstand lagen. Das sagte unser Reporter auch laut und deutlich in sein Mikrophon und als wieder einmal ein bombensicherer Schuss ins Leere traf, rief er: ›Gegen diesen müden Haufen holt sich sogar noch unser Fernsehteam die Meisterschaft!‹ Da hatten wir den Salat! Die Elf von Rakete nahm sich in der zweiten Halbzeit zusammen, vielleicht auch angespornt von dieser hämischen Reportage, die dem Trainer zu Ohren gekommen war, und gewann tatsächlich. Und dann nahm der Trainer unseren Reporter beim Wort, denn er wollte es nicht auf sich sitzen lassen, dass sich irgendein Liebhaberverein rühmen konnte, besser als der Landesmeister zu spielen.
So kam es dann zu dem ominösen Spiel, das sogar im Fernsehen übertragen wurde, wenn auch wohl nur spaßeshalber. Natürlich konnten wir den harten Burschen von Rakete nicht das Wasser reichen. Ich spielte als Libero, versuchte meine Leute zusammenzuhalten und einmal gelang es mir tatsächlich, während sich fast alle Spieler des Gegners in unserer Hälfte tummelten, mit einem überraschenden Gegenstoß durchzukommen und den 5:0-Rückstand wenigstens um ein Ehrentor zu verkürzen. Nach diesem Spiel kam der Trainer von Rakete zu mir und fragte mich, ob ich nicht Profi werden wolle. Das Zeug dazu hätte ich.
Damals hatte ich noch keine rechte Lust, weil mir meine Arbeit zu viel Spaß machte; aber später dann, als es mir beim Sender zu stinken anfing, kam ich darauf zurück und unterschrieb einen Vertrag mit FC Rakete. Dann fing die Schinderei an. Trainingslager – da hetzen sie einen den lieben langen Tag herum, dass man am Abend meint, man könne sein Leben lang kein Bein mehr heben. Dort merkte ich bald, dass dies was anderes war als das bisschen Sport, das ich bisher getrieben hatte. Hier wurden mit allen Schikanen Kämpfer ausgebildet, als solle demnächst ein Nacht- und Nebelangriff an einer feindlichen Küste stattfinden. Manche Tricks, die man uns beibrachte, kamen mir reichlich unsportlich vor, aber bei all dieser atemlosen Hektik fand ich kaum Zeit, mir darüber eine Meinung zu bilden. Zeitweise hatten wir allesamt einen solchen Hass in uns aufgestaut, dass wir einander am liebsten an die Gurgel gefahren wären wie tolle Hunde, aber irgendwann merkt man dann, dass es den anderen genauso dreckig geht, und so was schmiedet zusammen, das kann ich Ihnen versichern. Jedenfalls entsteht auf diese Weise eine Mannschaft, in der jeder das Letzte aus sich herausholt, damit sein Verein gewinnt, von der Prämie, die dann ausgezahlt wird, gar nicht zu reden.
Nun, ich brachte das hinter mich, dann kamen die ersten Spiele und ich wechselte von der Ersatzbank bald ins erste Glied, nachdem ich ein paarmal eingesetzt worden war und mit einigem Glück ein paar entscheidende Tore geschossen hatte. Die Zeitungen begannen über mich zu schreiben, ich bekam Verehrerpost und eines Tages war ich dann Nasenski mit dem Superbein, Kapitän der A-Mannschaft von FC Rakete und so was wie ein Held der Nation. Ich kümmerte mich um diesen Rummel nicht viel mehr, als für meinen Verein gut war. Das Einzige, was mich zu dieser Zeit interessierte, war das perfekte Zusammenspiel auf dem Feld, die Eleganz von gewagten Kombinationen und der Rausch des Sieges, wenn unter dem Gebrüll der Zuschauer das Leder in die Maschen knallt.
Nur eines störte mich: Das Theater, das meine Profis machten. Wahrscheinlich hatte ich zu lange in Amateurmannschaften gespielt, wo so was nicht üblich ist. Es gibt da ja auch weniger Zuschauer, für die man sich in Szene setzen kann. Aber vor zwanzig- oder gar vierzigtausend Fans auf den Rängen, die was zu sehen kriegen wollen, ist natürlich die Versuchung größer, sich für ein paar Minuten schreiend auf dem Rasen zu wälzen, wenn einem ein Gegenspieler beinahe auf die Zehen getreten hat. Auch sonst gab es da so ein paar einstudierte Spielchen, die bei den Zuschauern den Eindruck erwecken sollten, auf dem Spielfeld gäbe es im nächsten Augenblick Mord und Totschlag; denn sie konnten natürlich nicht erkennen, dass die beteiligten Spieler sich dabei heimlich zugrinsten. Meine Vorstellungen von Sportlichkeit waren wohl zu naiv; denn ich versuchte, mit dieser Schauspielerei Schluss zu machen und sagte das auch ins Mikrophon, als ich in einem Fernsehinterview von dem Reporter darauf angesprochen wurde. Das Schlimmste war, dass ich dabei unter anderem von einem Missbrauch des Wortes Sport redete. Noch am gleichen Abend bekam ich einen merkwürdigen Anruf. Ein Mann, der seinen Namen nicht nannte, sagte mir, dass ich höchstwahrscheinlich Ärger bekommen würde, und nannte mir eine Adresse, an die ich mich wenden könne, wenn ich in Schwierigkeiten geraten sollte. Ich hielt ihn für verrückt und hängte auf.
Es stellte sich jedoch heraus, dass ich mit aller Kraft in ein Wespennest gestochen hatte. Schon am nächsten Tag kreuzte ein Beamter der Sprachüberwachungsbehörde bei mir auf und nahm mich in die Mangel. Er fragte mich geradezu und das keineswegs in besonders freundlichem Ton, wie ich es zum Kapitän einer so bedeutenden Mannschaft habe bringen können und ob mir bisher noch niemand was über die staatspolitische Bedeutung der Spiele geflüstert hätte, gar nicht zu reden von der Sprachverwirrung, die durch meine unbedachte Äußerung ausgelöst worden wäre. Was Sport zu bedeuten hätte, würde andernorts festgelegt, und ich sei nicht befugt, diese Bedeutung anzuzweifeln. Dann folgte ein Haufen psychologisches Kauderwelsch von Emotionsstau, Aggressionsablenkung und notwendiger Interessenregulierung der Massen.
›Der Massen?‹, sagte ich. ›Für mich sind das lauter einzelne Menschen, die ein gutes Spiel sehen wollen und keine Scheinprügelei.‹
Der Beamte schaute mich an, als zweifle er an meinem Verstand. ›Wo leben Sie denn eigentlich?‹, sagte er und als ich mich bei diesen wohlbekannten Worten an den besagten Fernsehautor erinnerte und an die zynische Art, mit der man ihn fertiggemacht hatte, begann ich allmählich wütend zu werden. Inzwischen schwätzte dieser staatliche Emissär weiter und fragte mich, ob ich denn noch nicht gemerkt hätte, welche Reaktionen diese Profi-Mätzchen beim Publikum auslösen.
›Natürlich habe ich das gesehen!‹, sagte ich schon ziemlich laut, ›und es hat mir nicht gefallen, wenn die Sportsfreunde auf den Rängen so aufgeheizt werden, dass sie einander die Bierflaschen über den Schädel hauen. Oder finden Sie das richtig?‹
›Ich sehe schon‹, sagte der Beamte und zog vor Erstaunen über so viel Begriffsstutzigkeit die Stirn in Falten, ›dass es Ihnen an der nötigen staatsbürgerlichen Reife fehlt. Die Leute brauchen das!‹
›Bierflaschen über den Kopf?‹, sagte ich.
Der Mann hob abwehrend die Hände und sagte: ›Nun, nicht so direkt. Diese Prozesse lassen sich schwer kontrollieren und überschreiten zuweilen die wünschenswerten Grenzen. Aber im Prinzip werden solche Reaktionen bewusst angesteuert.‹
›Von wem denn?‹, fragte ich und meinte das damals noch ehrlich.
›Fragen Sie lieber, zu welchem Zweck‹, sagte er. ›Der Mensch ist so geartet, dass man seine Gedanken und Gefühle beschäftigen muss, damit sie nicht in die falsche Richtung hin explodieren. Wir wollen Ruhe und Ordnung in unserem Staat, also lassen wir die Massen sich im Fußballstadion austoben. Ist das so schwer zu begreifen?‹
Ich starrte ihm ins Gesicht und sah ihn doch nicht, sondern ein spinnenbeiniges, automatisiertes Wesen, das mit seinen dürren Fingern an Tausenden von Fäden all die Leute, die Menschen zappeln ließ und einmal hierhin, einmal dorthin führte und ich hörte sein unbeteiligtes Lachen, wenn die gebündelten Puppen mit den Köpfen zusammenstießen und mir wurde kalt vor Entsetzen. ›Was reden Sie für eine Sprache?‹, sagte ich. ›Ich kann Sie nicht verstehen. Ich kenne die Wörter, die Sie gebrauchen, aber ich finde keinen Sinn darin, jedenfalls keinen, der irgendeinem Menschen Freude machen könnte.‹
›Freude?‹, hörte ich ihn sagen. ›Was meinen Sie mit diesem Wort? Die einzige Freude, die wir kennen, liegt darin, ein Teil des Ganzen zu sein, nur dafür sind wir da‹, und während er noch sprach, spürte ich, wie eine zähe Masse rings um mich aufstieg, die mich bis zur Bewegungslosigkeit umschloss, stieg und stieg und mir bald bis an die Lippen reichte, und ich schrie und hörte nicht auf zu schreien, bis ich mich mit gefesselten Händen in einem Auto wiederfand, das rasch durch die nächtlichen Straßen fuhr. Dann folgten Verhöre, Verhöre, Verhöre und den Rest kennen Sie ja.«
Er lehnte sich schwer atmend zurück und erst jetzt, wo das Licht voll auf sein Gesicht fiel, sah ich, dass dieser anfangs so unbekümmert erscheinende Mensch plötzlich völlig erschöpft aussah. Schweiß stand in Perlen auf seiner blassen Stirn und er tastete mit unsicherer Hand nach seinem Glas. Als er den Wein auf einen Zug hinunterstürzte, rann er ihm rot von den Mundwinkeln und tropfte auf seinen Overall, wo er Flecken hinterließ wie von Blut.
Auch uns hatte dieser unvermittelte Ausbruch betroffen gemacht, ja geradezu erschreckt. Eine Zeitlang saßen wir schweigend beieinander und mir wurde wieder einmal (wie so oft in letzter Zeit!) in voller Schärfe bewusst, unter welchen Verhältnissen wir eigentlich leben. Ich weiß nicht, ob es Dir auch so geht, Rachel, aber ich frage mich jedenfalls immer wieder, wie ich gelebt habe, ehe ich in all das hineingeriet, was für mich jetzt schon das eigentliche Zentrum meiner Existenz bedeutet. Und wie leben jene Leute, die keine Ahnung haben von Erwins Badezimmer und den Schätzen, die es birgt? Was mir heute so widersinnig, ja unmenschlich erscheint, hielt ich noch vor einem halben Jahr für völlig normal. Das kann ja eigentlich auch gar nicht anders sein; denn diese Zustände herrschen ja seit über zwei Jahrhunderten und man hat sich dermaßen daran gewöhnt, dass man diese heimlichen Steuermechanismen überhaupt nicht mehr spürt. Sie bilden für jeden von Kindheit an, unmerklich reguliert über Fernsehkanäle, Morgenzeitungen und andere Medien, vor allem aber über die Sprache selbst, den Rahmen seiner Lebenserfahrung und lassen ihm kaum eine Wahl, andere Lebensentwürfe auch nur ins Auge zu fassen. Mag sein, dass der eine oder andere gelegentlich ein dumpfes, nicht näher bestimmbares Unbehagen spurt. (Ich entsinne mich durchaus solcher Zustände, ohne dass es mir damals gelungen wäre, die Ursache dafür zu ergründen.) Und wenn dies der allgemeine Bewusstseinszustand unserer Bevölkerung ist, dann erscheint es eigentlich nur logisch, wenn man Leute wie uns für verrückt erklärt und ins Irrenhaus sperrt.
Nun, wenigstens diesem Schicksal sind Nasenski und ich mit knapper Not entgangen und ich fragte ihn schließlich, wo er untergetaucht sei. Da erinnerte er mich an den seltsamen Telefonanruf am Abend nach dem Interview und sagte, dass ihm, während er durch die nächtlichen Straßen spurtete, jene Adresse eingefallen sei, die ihm der Anrufer genannt hatte. Er habe gar nicht weit zu laufen brauchen und auf sein Klingeln habe man ihn dort wie einen lieben Gast empfangen, der schon sehnlichst erwartet wurde. Der geheimnisvolle Anrufer sei einer von Erwins Freunden. Er lasse übrigens ausrichten, dass in seiner Wohnung inzwischen ein Kopiergerät für Mikrofiches installiert sei und mit der Vervielfältigung von unserer Badezimmerbibliothek begonnen werden könne.
Von diesem Vorhaben habe ich Dir noch gar nicht erzählt. (Erwin hat mir erst vor Kurzem davon berichtet.) Es ist geplant, den gesamten Bestand mehrfach zu kopieren und mit diesem Material an verschiedenen Orten unseres Landes ähnliche Stützpunkte einzurichten wie unseren hier. Es scheint doch schon wesentlich mehr Freunde unserer Arbeit zu geben, als ich bisher vermutet habe. (Erwin spricht – sicher aus guten Gründen – nicht viel darüber.) »Das wird eine tolle Sprachverwirrung geben, wenn sich die Lektüre von Vor-Literatur immer mehr verbreitet!«, sagte ich lachend.
»Aber eine heilsame«, antwortete Erwin. »Die eigentliche, geradezu babylonische Sprachverwirrung hat ihre Wurzel doch darin, dass man hierzulande seit Langem die Sprache wie eine staatlich streng festgelegte Verwaltungsstruktur handhabt und dadurch die Menschen daran hindert, dass jeder einzelne auf seine Weise Sprache wie ein lebendiges Instrumentarium benützt, das ihm hilft, sich dem Begreifen der Wirklichkeit anzunähern.«
Der Begriff babylonische Sprachverwirrung ließ mich aufhorchen, wie Du Dir denken kannst; denn er spielt ja offenkundig auf jene Geschichte aus Deinem alten Buch an, die Du Deinem letzten Brief beigelegt hast in der berechtigten Annahme, dass mich das hier geschilderte Sprachphänomen interessieren würde. Zunächst vermutete ich, dass Erwin doch etwas von diesem Buch wisse und so fragte ich ihn, was er eigentlich unter dem Adjektiv babylonisch verstünde.
»Eine gute Frage, auf die ich keine genaue Antwort weiß«, sagte er. »Das ist eines der ungeklärten Adjektive, deren Wurzeln im Dunkel der Geschichte vor der Großen Nationalen Sprachreinigung liegen. Sie werden bezeichnenderweise in der öffentlichen Sprache überhaupt nicht benützt, sondern tauchen nur gelegentlich im mündlich verwendeten Sprachschatz auf, der ja relativ häufig Relikte aus überkommenem Familienjargon enthält. Es gibt eine Gruppe ähnlicher Wörter wie zum Beispiel pharisäisch im Sinne von selbstgerecht oder messianisch im Sinne von sendungsbewusst, die sich gleichfalls jeder sprachlichen Ableitung entziehen. Unter babylonisch, das merkwürdigerweise stets nur in der Verbindung mit Sprachverwirrung gebraucht wird, kann ich eigentlich nur ein quasi superlativisches Adjektiv verstehen etwa in der Bedeutung von umfassend oder ganz und gar.«
Ich muss Dir gestehen, dass ich ein besserwisserisches Lächeln nicht unterdrücken konnte, und platzte ihm mit meiner frisch erworbenen Weisheit fast noch ins Wort. Erwin hörte sich meine Erklärung mit steigendem Interesse an und bat mich, die Geschichte vorzulesen.
Das tat ich dann, nachdem ich Deinen Brief aus meiner Schlafkammer geholt hatte, und dieser kurze Text beeindruckte meine drei Zuhörer sichtlich. »Unglaublich!«, sagte Erwin, als ich zu Ende gelesen hatte. »Diese uralte Geschichte beschreibt doch genau das, was heute bei uns geschieht! Sobald die Menschen meinen, sie hätten eine eindeutige Sprache, mit der sie die ganze Wirklichkeit fassen können, wollen sie sich einen Namen machen, wie es da heißt, und dieser Turm steht doch wohl für die Absicht, sich über die gesamte Welt zu erheben und kein anderes Gesetz anzuerkennen als jenes, das sie sich selber gemacht haben. Es heißt ja, dieser Turm sei erst der Beginn ihres Tuns und dass ihnen kein weiteres Vorhaben zu hochfahrend sein würde. Und da verwirrt Er ihre Sprachen! Sie reden aneinander vorbei und können einander nicht mehr verstehen wie unser Fußballfreund und sein Befrager von der Sprachüberwachungsbehörde. Dies scheint in der Tat der einzige Weg zu sein, den Menschen klarzumachen, dass sie weder mit ihrer Sprache, ja nicht einmal mit ihren Gedanken die ganze Wirklichkeit erfassen können. Aber wer ist Er?«
»Vermutlich der Gleiche, der in der Geschichte von Rabbi Menachem der Erbarmer oder einfach der Eine genannt wird«, sagte ich. »Einer, der zu groß ist, als dass man ihn begreifen oder mit einem Namen fassen könnte.« Habe ich das richtig erklärt? Du hast mir damals davon erzählt, aber ich bin noch weit davon entfernt, eine Vorstellung von diesem Einen zu haben, der im Grunde das einzige Thema in Deinem alten Buch zu sein scheint.
Wir sprachen noch eine Weile darüber, aber da mein geringes Wissen das einzige war, das uns zur Verfügung stand, brachten wir dabei eher weitere Fragen als Antworten zustande. »Wenn es wirklich einen solchen Angelpunkt gäbe«, sagte Erwin schließlich, »auf den alles bezogen ist, dann müsste man weiter nach ihm suchen, wenn man die Bestimmung des Menschen erkennen will.«
Helmut hatte sich wenig an diesem Gespräch beteiligt. Er saß über sein Glas gebeugt und starrte auf die dunkelrot spiegelnde Fläche des Weins, als beobachte er dort das Ertrinken einer Fliege oder suche nach irgendetwas auf dem Grund des Glases. Dann hob er mit einem unvermittelten Ruck den Kopf und rief: »Jetzt hab ich’s! Der Ziegelträger!«
Wir konnten mit dieser rätselhaften Äußerung nichts anfangen und Erwin fragte, was es mit diesem Ziegelträger auf sich habe und ob das einer seiner Blödelfreunde sei.
»Ein Freund?«, sagte Helmut. »Ja, in gewissem Sinne ist er das, obwohl es diesen Ziegelträger überhaupt nicht gibt und vermutlich nie gegeben hat. Er ist die Titelfigur einer Geschichte, die ich neulich in deinem Badezimmer gelesen habe. Ich hatte nur keine Ahnung, auf welches Ereignis sie sich bezieht. Das habe ich erst jetzt durch den Text aus Rachels altem Buch erfahren.«
Als wir ihn baten, diese Geschichte für uns herauszusuchen, blickte Helmut auf seine Uhr und sagte, dass er leider nicht länger bleiben könne. »Das Buch, in dem die Geschichte steht«, sagte er, »findet ihr auch selber. Es trägt den Titel Denkwürdige Ereignisse.« Eigentlich sei er ja nur gekommen, um mir meine Papiere zu bringen. Er gab mir ein Kuvert, in dem alles an Unterlagen enthalten war, was man zur Gründung einer neuen Existenz benötigt und ich vergaß beinahe, ihm zu danken, weil ich mich unversehens schon im Bahnhof von L. aus dem Zug steigen und über die große Treppe auf Dich zugehen sah, meine liebe Rachel.
Helmut war inzwischen aufgestanden und fragte Nasenski, ob er ihn ein Stück begleiten wolle. »Dann können wir gleich besprechen, wie man Ihnen eine neue Identität verschaffen könnte. Wie hätten Sie’s denn gern? F. C. Kickfuß, Installateur von sanitären Anlagen? Oder vielleicht Irenäus Irrwitz, Freistilringer?«
Nasenski lachte und sagte, dass er diesen behördlich konzessionierten Fälscherservice gern in Anspruch nehmen würde. Ehe die beiden sich verabschiedeten, verstaute Erwin noch den ersten Packen der zum Kopieren bestimmten Mikrofiches in Nasenskis Werkzeugkasten und als wir dann nur noch zu zweit waren, suchten wir die Denkwürdigen Ereignisseungeklärten Adjektive––