Das Haus am Kongo
Erste Auflage
© 2015 Louisoder Verlagsgesellschaft mbH
Müllerstraße 27, 80469 München
© 1934 Robert M. McBride & Company
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
www.louisoder-verlag.de
Originaltitel: Congo landing
Übersetzung: Bettina Arlt
Korrektorat: Ilona Buth
Covergestaltung: Cosmosnet
ISBN: 978-3-944153-19-3
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Dolly lief so lange auf dem Deck entlang, bis sie das Ende erreicht hatte. Es war ein sehr kleines Deck. Dolly nannte es „intim“.
Sie blieb stehen und sah zum Himmel hinauf. Sie zog lange an der Zigarette, ging zur Reling und lehnte sich mit einem Seufzer darüber. Auf einmal war ihr ein wenig melancholisch zumute. Es musste die Hitze sein oder der Whiskey, den Bill ihr aufgedrängt hatte. Jemand hatte ihr geraten, in Afrika vor Sonnenuntergang keinen Alkohol zu trinken. Doch diesen Rat hatte sie in den Wind geschlagen.
Sie nahm ihren schmutzig weißen Tropenhelm ab und schüttelte ihr blondes Haar. Ihr Kopf fühlte sich heiß und verschwitzt an. Was würde sie nicht für eine kalte Dusche geben? Ein schönes sauberes, gefliestes Badezimmer und einen Duschkopf, der ihren nackten Körper mit Wasser bespritzte. Mit einem ironischen Lächeln dachte sie bei sich, wie gern sie nur fünf Minuten lang den Lärm und das Getöse von Manhattan im Ohr hätte. Danach würde sie freiwillig nach Afrika zurückgehen.
Aber dieser Wunsch würde ihr nicht erfüllt werden. Keine Chance, dachte Dolly und setzte sich den Tropenhelm wieder auf den Kopf.
Sie stellte ihre Ellbogen auf die Reling, stützte ihr Gesicht auf die Hände und starrte hinab ins schlammige Flusswasser. Das gleichmäßige Klopfen der Motoren und das Platschen des Schaufelrads im trüben Wasser drangen zu ihr herauf. Am Ufer sonnten sich träge riesige Krokodile und wirkten dabei so selbstvergessen, dass Dolly ganz fasziniert war und sich wünschte, sie wäre als Krokodil im Kongo geboren worden.
In einiger Entfernung hörte sie vom Flussufer das Schlagen und Spalten von Äxten, mit denen die schwarzen Einheimischen Holz hackten. Dann und wann gelang es ihr, einen Blick auf sie zu erhaschen, während sich der Dampfer Elizabeth langsam und mühsam durch den Fluss kämpfte, der im Sonnenlicht schimmerte wie dunkle, heiße, aufgerührte Schokolade. Das Sonnenlicht selbst war auch verdammt heiß, dachte Dolly. Es verbrannte einem die Haut und man sehnte sich nach dem Klimpern von Eiswürfeln in einem kalten Drink. Sie sah, wie den Einheimischen der Schweiß die schwarzen Rücken hinablief, und hier und da blitzte das Weiß ihrer Lendenschurze zwischen den Bäumen hervor, die sich von ihrer ebenholzfarbenen Haut abhoben.
Sie warf ihre halb aufgerauchte Zigarette über die Reling und sah zu, wie sie einen Bogen beschrieb, bevor sie ins Wasser fiel. Sie steckte die Hand in die Tasche ihrer Leinenjacke, holte eine zerknautschte Packung Zigaretten hervor. Sie zündete sich eine an, nahm einen Zug nach dem anderen und fragte sich, wie viele Stunden es noch dauern würde, bis der Kahn endlich auf den Fluss Kongo stoßen würde.
Und wo war eigentlich Bill, das lange Elend? Sie hätte lieber in London bleiben und als Barmädchen arbeiten sollen oder zum König gehen und sich von ihm Geld leihen, um das Schiff zurück nach New York zu nehmen.
Die Sirene des Dampfers heulte heiser. Dolly erschrak und drehte sich ruckartig zu den beiden Schornsteinen um, die aus dem seltsam geformten Schiff aufstiegen wie zwei dicke Holzpfähle. Sie stießen schwadenweise Rauch von verbranntem Holz aus. Dolly konnte ihn riechen und musste an die Kamine zur Weihnachtszeit denken, wenn draußen Schnee lag.
Sie sagte: „Schnee? Wie kommst du jetzt auf Schnee, Dolly?“ Sie hob ihren Leinenrock, bekam ihren Unterrock zu fassen und zog kräftig daran. Er schien an ihren Beinen zu kleben. Nachdem sie fertig gezupft hatte, drehte sie sich um und sah auf das untere Deck hinab.
Bixby, der Maschinist, lehnte über der Reling und sah zu ihr herauf. Sein wettergegerbtes Gesicht hatte einen ungläubigen Ausdruck. Als er sah, dass Dolly zu ihm herunterschaute, wirkte er verlegen, steckte seine Hand in die Tasche seiner verknitterten Leinenhose und zog aus irgendeinem Winkel eine abgenutzte Pfeife hervor.
Dolly rief zu ihm hinab: „Ich geh hier oben ein in der Hitze, und Sie, junger Mann?“
Bixby grinste. „Mir geht’s ganz gut, Miss.“
„Ganz gut?“, rief Dolly zurück. „Bei dieser Hitze würde jedes Mädchen freiwillig einen Striptease machen. Ich kann ja schneller laufen, als dieser Kahn segelt. Der ist wie ein Mädchen nach einer wilden Nacht: fix und fertig. Was meinen Sie, mein Freund?“
„Wir haben Probleme mit dem Heizkessel“, brüllte der Maschinist nach oben. „Das ist das älteste Schiff auf dem ganzen Fluss, und wenn wir nicht aufpassen und ihn überlasten, fliegt der Kessel in die Luft.“
„Du meine Güte“, entgegnete Dolly, wobei sie den Tropenhelm zurückschob und sich an der Nasenspitze kratzte. „Glauben Sie, er schafft es noch bis Kinshasa?“
„Ich denke schon“, rief Bixby zu ihr hoch.
„Sie wollen mich bloß beruhigen“, sagte Dolly. „Wenn der Kahn hier im Schlamm versinkt, wissen die Krokodile sofort, dass ich da bin. Ich hab mal ein Buch über Afrika gelesen und da stand, dass Krokodile eine Blondine riechen können, sobald ihr Fuß auch nur das Wasser berührt. Würde mir nicht gefallen, wenn mich eins der Viecher in den Schritt beißt. Wenn mich so ein Brummer küsst, ist mein ganzer Sex-Appeal auf einmal flöten.“
„Heute ist nicht viel Dampf dahinter“, brüllte Bixby zurück. „Deshalb fahren wir auch nicht schneller.“
„Was hat das mit meinem Sex-Appeal zu tun?“, schrie Dolly. „Sie müssen versuchen, an die schönen Dinge im Leben zu denken. Hat dieses Schiff jemals an einer Regatta teilgenommen?“
„Als es vom Stapel lief, war es das schnellste Schiff auf dem Kongo“, brüllte der Maschinist, wobei er die Hände um den Mund legte und einen Trichter formte.
„Wann war das?“, rief Dolly zurück.
„Vor dem Krieg.“
„Ach was“, war Dollys Reaktion. „Das war noch, bevor Rhodes Afrika entdeckt hat. Ist mein Partner eigentlich irgendwo da unten bei Ihnen?“
„Hier ist außer mir nur noch der Captain. Er passt auf den Heizkessel auf, während ich kurz Pause mache.“
„Na gut“, sagte Dolly. „Verzeihung, aber mein Unterrock klebt schon wieder am Körper.“ Sie entfernte sich von der Reling, begab sich unter das Dach des wackeligen Deckhäuschens, zog ihren Rock hoch und zupfte an ihrem Unterrock.
Sie fand einen Stuhl, schleppte ihn auf die andere Seite des Decks und setzte sich hinein. Dann schob sie sich den Tropenhelm ins Gesicht, atmete tief ein und zog ihren Rock über die Knie. Wieder wühlte sie in einer Tasche nach ihrer Zigarettenpackung, zündete sich eine an und starrte in den afrikanischen Himmel, der inzwischen an eine goldene Feuersbrunst erinnerte.
Und wieder ertönte das heisere Heulen der Sirene. Dolly fragte sich, was wohl aus Lady Essex geworden war, dem einzigen anderen weiblichen Passagier an Bord der Elizabeth. Lady Essex hatte Dolly von oben herab behandelt, von dem Augenblick an, als sie in Stanley an Bord des Dampfers gegangen war. Lady Essex schien sich für was Besseres zu halten, vermutete Dolly. Aber letztendlich war ihr das völlig egal.
Dann hörte sie Schritte auf dem Deck. Sie schob den Tropenhelm zurück und wandte müde den Kopf. Es war Bill Shane. Er ging auf die Reling zu und schien in Gedanken versunken zu sein. Die Hände hatte er in die Hosentaschen gesteckt und seine Pfeife klemmte fest zwischen seinen weißen Zähnen. Er hatte sie nicht gesehen.
Dolly beobachtete ihn von ihrem Platz aus und lächelte ihr schiefes Lächeln, als er die Reling erreichte und das schlammige Ufer betrachtete, das sich langsam von dem kleinen Dampfer entfernte. Bill wirkte sehr groß in seinem zerknitterten Leinenanzug und mit dem Tropenhelm auf seinem hübschen Kopf. Während sie seinen Rücken betrachtete, fragte sich Dolly beinahe unbeteiligt, warum sie bei ihm niemals schwach geworden war. Aber sie hatte in ihrem Leben schon so viele Männer getroffen, dass es sie vermutlich deshalb kalt ließ, wenn sie einen neuen traf. Bill hatte zu oft versucht, sich mit irgendwelchen Tricks als ihr Bettnachbar aufzudrängen. Doch Dolly hielt an ihrem vor vielen Jahren gefassten Entschluss fest, niemals Arbeit mit Vergnügen zu verbinden oder umgekehrt. Bill war ein toller Kerl, aber Dolly war eine kluge und anspruchsvolle Blondine, die eine harte Schule durchlaufen hatte. Sie kannte die Männer, und sie kannte Bill Shane. Sie wusste um das dunkle Kapitel in seinem Leben. Das wiederum ahnte Bill nicht. In seinem Hotelzimmer in Kapstadt hatte sie einen Brief gefunden von einem Mädchen aus den Staaten namens Kyra.
Bill wirkte gedankenverloren, wie er so an der Reling stand und an seiner Pfeife zog. Dolly fragte sich, was er wohl gerade dachte. Sie machte sich immer Gedanken darüber, was andere Menschen dachten.
Nach einer Weile rief sie ihm zu: „Hör auf zu träumen, du langes Elend!“
Shane wirbelte herum, nahm die Pfeife aus dem Mund und musterte sie mit gerunzelter Stirn. Dann ging er auf sie zu, fand einen klapperigen Stuhl, zog ihn zu ihr herüber und setzte sich darauf. Der Stuhl knarrte laut.
„Hoffentlich bricht er unter dir zusammen“, sagte Dolly schnippisch. „Was fällt dir ein, einfach wegzulaufen und mich mutterseelenallein auf diesem alten Kahn herumwandern zu lassen?“
Bill lächelte und sagte: „Ich habe mich mit dieser Frau unterhalten, die sich Lady Essex nennt.“
„Ach, die scharfe Schnalle“, erwiderte Dolly frotzelnd. „Du hast es doch nicht auf die abgesehen, oder? Ich weiß, vor dir ist nichts sicher, was einen Rock trägt, aber diese Frau lässt jede Spur von Leidenschaft im Keim ersticken.“
„Ach, halt den Mund“, entgegnete Bill.
„Selber“, gab Dolly zurück. Eine Weile musterte sie ihn schweigend. Er nahm einen Tabakbeutel aus Kautschuk aus der Tasche und stopfte etwas Tabak in seinen Pfeifenkopf. Nachdem er die Pfeife angezündet hatte, setzte er seinen Tropenhelm ab und wedelte sich damit Luft zu.
Dolly betrachtete sein verschwitztes, schwarzes Haar und sein schmales, sonnengebräuntes Gesicht, das beinahe schon zu attraktiv war.
Manchmal fand Dolly, dass Bill aussah wie ein Filmschauspieler. Doch er hatte etwas Finsteres an sich, sodass sie bei ihm stets auf der Hut war. Seine Augen waren dunkel und fast hypnotisch, wenn er seinen durchdringenden Blick auf einem ruhen ließ. Dolly konnte sich gut vorstellen, wie sehr Bills Augen die Frauen faszinierten. Und während der acht Monate, die Dolly mit ihm und ihrer Wahrsager-Nummer durch Afrika gezogen war, waren so einige Damen schwach geworden. Bill handelte sich immer wieder Ärger mit Frauen und vor allem mit deren Ehemännern ein. In Katanga, wo sie eine Woche geblieben waren, hatte sich Bill mit der Frau eines englischen Plantagenbesitzers eingelassen. Dolly hatte die beiden zusammen im Speisesaal des Hotels gesehen. Sie war ein hübsches Ding, ziemlich sexy und mit liebeshungrigem Blick, wie Dolly fand. Sie warnte Bill immer wieder, dass er die Finger von den Ehefrauen anderer Männer lassen sollte. Und nachdem sie Katanga mitten in der Nacht Hals über Kopf hatten verlassen müssen, hatte sie wütend zu ihm gesagt: „Bill, du bist wie ein großer Hund, der hübschen Hündinnen hinterherläuft. Aber wenn du willst, dass ich bei dir bleibe, dann hörst du jetzt damit auf. Sonst wird dich eines schönen Tages ein wütender Ehemann umlegen, weil du seiner Frau die schönste Nebensache der Welt gezeigt hast. Verlass dich drauf.“
Bill lächelte plötzlich und bedachte sie mit einem kurzen, fragenden Blick. „Und was geht dir so durch den Kopf?“
Dolly zuckte mit den Schultern. „Du“, sagte sie vorwurfsvoll. „Du machst mir nur Ärger. Ich habe gerade daran gedacht, wie wir bei Nacht und Nebel in dieser Blechkiste aus Katanga fliehen mussten.“
„Fang nicht schon wieder damit an“, sagte Shane mürrisch. „Als wir aus London abgereist sind, habe ich dir gesagt, wenn du ein echter Kumpel bist und dir mit mir ein Bett teilst, gucke ich keine andere an.“
„Du Knallkopf“, erwiderte Dolly. „Ich brauche keinen Mann in meinem Leben. Geschäft ist Geschäft, und ich habe keine Lust, mich so weit weg von zu Hause von Typen wie dir mit der Schlafkrankheit anstecken zu lassen.“
Shane grinste sie amüsiert an. Er musterte ihren schlanken Körper auf dem Stuhl, ihre wohlgeformten Beine, das weiße Fleisch oberhalb der Strümpfe und ihr dichtes blondes Haar. Mit ihren großen blauen Augen sah sie einen geradeheraus an. Sie strahlten Klugheit aus und konnten einen manchmal aus der Fassung bringen. Bill hatte schon öfter gedacht, dass sie ein hübsches Ding war, fast schön. Sie war anders als andere Frauen und das erste Mädchen, das ihn austricksen konnte. Sie war ihm stets einen Schritt voraus, ganz gleich, in welcher Situation. Am Anfang, als Madeline ihn in London sitzen lassen hatte und er Dolly in der Lobby vom Crown Hotel aufgegabelt hatte, dachte er, dass die abgebrühte Blondine ihn bloß hinhalten wollte. Aber Dolly bestand auf ihrer Abmachung, dass sich jeder aus den Angelegenheiten des anderen heraushalten sollte.
Er hörte, wie Dolly feierlich verkündete: „Weißt du, Bill, mit Männern wie dir nimmt es immer ein böses Ende.“
Da brummte Shane: „Hör auf, mir die Zukunft weiszusagen. Du bist eine lausige Wahrsagerin. Madeline hatte wenigstens Talent und kannte sich aus.“
„Kann schon sein“, erwiderte Dolly. „Aber dann hatte sie die Nase voll von dir und ist mit einem Kerl durchgebrannt, der eine Spielhölle in Shanghai hat. Kann sein, dass ich als Wahrsagerin nichts tauge, aber wir haben in diesem Land der schwarzen Kartoffeln doch ganz gut Geld gemacht.“
„Stimmt“, räumte Bill ein. „Aber ich habe keine Ahnung, wie du das anstellst.“
„Das liegt an meinem Sex-Appeal“, gab Dolly zurück.
„Mit dem du aber ziemlich geizt“, sagte Bill sarkastisch.
„Das habe ich mir so angewöhnt“, erklärte Dolly beiläufig. „Von dem Augenblick an, als ich geboren wurde, wusste ich, dass meine Tage gezählt sind und dass ich jede Minute ausnutzen muss.“
„Wozu ausnutzen?“
„Um Erfolg zu haben“, antwortete Dolly. „Du bist ja schwer von Begriff. Mit achtzehn wusste ich, dass ich alles habe, wovon Männer träumen. Und dass ich ihnen nichts davon abgeben werde.“
„Und was hat dir das bisher gebracht?“, fragte Shane lächelnd.
„Nun ja“, gab Dolly zurück. „Zwei Dinge: Dass ich keine Babys bekommen habe und nicht als Jungfrau gelte. Den Rest kannst du dir selbst zusammenreimen.“
Shane lachte. „Eine Jungfrau wird dich bestimmt keiner nennen.“
„Sag ich doch“, ergänzte Dolly. „Der Schein trügt.“ Sie streifte ihre hochhackigen Schuhe ab und warf sie auf den Boden. „Warum hast du mich zum Wahrsagen in dieses Land mitgenommen? Warum arbeiten wir nicht in England oder gehen zurück in die Staaten?“
Shane sah sie durchdringend an. „Du weißt genau, dass ich nicht zurück in die Staaten kann, und aus England musste ich auch eine Weile raus.“ Er beugte sich vor und packte sie am Handgelenk. „Hör gut zu, Dolly. Ich habe dich durchschaut. Du bist ein neugieriges, freches Ding. Du weißt doch längst, warum ich nach Afrika musste.“
Dolly schob ihren Tropenhelm zurück und betrachtete Shane mit einem spöttischen Lächeln: „Bill, was du tust und denkst, geht mich nichts an. Ich mag dich. Du bist ein toller Typ. Wir verdienen Geld mit der Wahrsagerei, was vermutlich daran liegt, dass die armen einsamen Jungs hier in diesem gottverlassenen Teil der Welt so froh sind, eine Blondine zu sehen, dass sie schon dafür bezahlen, dass ich ihre Hände halte oder wenn sie ihren Kopf an meinen lehnen dürfen, während wir in die Glaskugel starren.“
„Jetzt sag schon!“, drängte Shane sie, und der Griff um ihr Handgelenk wurde fester.
Dolly sah ihn ernst an. „Du tust mir weh, Bill. Reg dich ab. Was war die Frage?“
„Ich habe gesagt: Du weißt genau, dass ich nicht zurück in die Staaten kann.“
Dolly nahm langsam eine Zigarette aus ihrem zerknitterten Päckchen und zündete sie an. Bill sah sie mit funkelnden Augen unverwandt an, und Dolly wusste, dass es ihm ernst war.
„Ja, ich weiß, dass du nicht zurückkannst, Bill“, antwortete sie. „Die näheren Umstände interessieren mich nicht. Ich weiß nur, dass du vor ein paar Jahren einen umgelegt hast und immer noch gesucht wirst.“
Da lachte Shane freudlos. „Du hast also einen von den Briefen gelesen.“
Dolly lächelte. „Als Blondine bin ich von Natur aus neugierig, und ich wollte mehr über dich wissen, das ist alles.“
„Und falls du mich mal irgendwann in die Pfanne hauen willst, hast du was gegen mich in der Hand, nicht wahr?“, fügte Shane gereizt hinzu.
Dolly sah ihn vorwurfsvoll an. „Jetzt hör auf mit dem Quatsch. Warum sollte ich dich auffliegen lassen? Deine Angelegenheiten gehen mich nichts an, und du hältst dich aus meinen raus. Als ich in London nicht mehr weiter wusste, weil sie mir im Varieté den Laufpass gegeben hatten, bist du vorbeigekommen und hast mir von der Sache mit der Wahrsagerei erzählt. Was hatte ich zu verlieren? Irgendwann werden sich unsere Wege wieder trennen, denn wenn ich 5000 Mäuse zusammenhabe, gehe ich zurück in die Staaten, kaufe mir ein Häuschen auf dem Land und verbringe meine Tage als Mädchen mit rätselhafter Vergangenheit. Wir gehen beide unserer Wege und das war’s. Ich mag dich, Bill. Das habe ich dir schon oft genug gesagt.“
Da stand Shane plötzlich auf und sah mit einem bitteren Lächeln auf sie herab. Sein Gesicht wirkte plötzlich hart und verschlossen. Das Funkeln war aus seinen Augen verschwunden und er sah sie kalt an. „Du bist ein tolles Mädchen, Dolly. Manchmal würde ich dir am liebsten den Hals umdrehen, aber dann vergebe ich dir doch immer wieder. Ich werde dich vermissen, wenn du gehst.“
„Ich werde dich auch vermissen, Bill. Wenn wir in den nächsten Monaten gut verdienen, habe ich bis zum Frühling genug zusammen.“
Shane wandte sich von ihr ab und ging zur Reling, wo er auf das trübe Wasser hinabblickte.
Dolly hob ihre Schuhe auf und streifte sie sich über die heißen Füße. Sie rief Bill zu: „In diesem Land kriegt man in null Komma nichts Plattfüße. Wie spät ist es, Bill? Ich habe heute Morgen vergessen, meine Uhr aufzuziehen.“
Shane sah auf seine Uhr und antwortete: „Kurz vor fünf. Wenn wir in dem Tempo weiterfahren, ist es Mitternacht, bis wir den nächsten Posten erreichen oder über Nacht an einer Sandbank festmachen.“
„Was ist der nächste Halt?“, fragte Dolly. Sie ging zur Reling und stellte sich neben ihn.
„Ich glaube Dina“, antwortete Shane. „Da tanken sie auf. Wir hätten nicht in den Kongo kommen, sondern lieber auf der anderen Seite des Kontinents bleiben sollen. Die Dörfer liegen alle so weit auseinander und es gibt nur wenige Weiße.“
„Kopf hoch, Bill“, sagte Dolly gelassen. „Ich hab dich beobachtet, und du bist nicht ganz auf dem Damm. Du wirst immer dünner und wirkst irgendwie deprimiert.“
Shane fasste sich an den Kopf. „Deprimiert? Meine Güte, Dolly, hab ich etwa keinen Grund, deprimiert zu sein?“ Er drehte sich um und sah sie an. „Um Himmels willen, fühlst du dich denn niemals einsam oder wünschst dir, du wärst wieder in den USA? Sitzt du nicht auch manchmal nachts in dieser verfluchten afrikanischen Finsternis, starrst die Sterne an und wünschst dir, du wärst woanders, irgendwo, wo es Leben und Menschen gibt, Menschen wie dich, mit denen du reden kannst, die deine Sprache verstehen? So ein Mädchen wie du ist mir noch nie untergekommen. Du bist nie einsam, du bist nie deprimiert, du bist immer gelassen und fröhlich.“ Dann wandte er sich jäh ab, steckte die Hände in die Taschen und ging davon.
Dolly sah ihm hinterher. Bill hatte sich in den letzten drei Wochen verändert. Die Situation schien ihm an die Nieren zu gehen. Er trank zu viel und dachte zu viel nach.
Sie steckte die Hand in die Tasche ihrer Leinenjacke und holte ihr zerknittertes Zigarettenpäckchen hervor. Sie zündete sich eine Zigarette an und nahm einen langen, nachdenklichen Zug.
Dann sagte sie zu sich selbst: „Schräger Vogel. Manchmal ist er mir unheimlich. Ich wüsste gerne, warum er den Typen damals umgebracht hat. Ob sie ihn jemals erwischen?“
Sie blickte zum Himmel auf, der sich langsam zu einem dunklen Rotgold verfärbte. Entlang des Flussufers schien es dämmerig zu werden. Sie fragte sich, ob in dem undurchdringlichen Dschungel, der das Ufer des trüben Flusses säumte, wohl wilde Tiere herumschlichen.
Dann wandte sie sich von der Reling ab und ging zu einer klapperigen Leiter. Sie zog ihren Rock über die Knie und stieg die Leiter zum zweiten Deck hinunter.
Dort saß Lady Essex auf einem Liegestuhl unter einem zerfledderten Baldachin und las in einem Buch. Sie hob den Kopf, als Dolly auf sie zukam. Doch als sie sah, wer es war, nahm sie ihre Lektüre wieder auf. Dolly betrachtete sie neugierig. Die Lady hatte ein schmales, strenges Gesicht und das Haar unter ihrem Tropenhelm war stahlgrau. Sie wirkte etwas hochmütig und Dolly fragte sich, wie sie wohl so geworden war. Während ihrer gemeinsamen Reise über den Fluss war Lady Essex alles andere als umgänglich gewesen.
Dolly ging zur Reling und stützte sich darauf, während sie Lady Essex mit einem leichten Lächeln beobachtete. Die Maschinen hatten ihr unaufhörliches Klopfen eingestellt, und es kam Dolly so vor, als wäre das Schiff stehen geblieben.
Sie bemerkte: „Ich wette, dieser Kahn kommt niemals ans Ziel. Was meinen Sie?“
Lady Essex hob den Kopf und bedachte Dolly mit einem kalten, stahlgrauen Blick. Dann antwortete sie unterkühlt: „Ich hoffe sehr, dass uns dieses Schiff wohlbehalten zum verabredeten Zielhafen bringen wird.“
Dolly dachte über ihre Worte nach und schwieg eine Weile, während sie die Frau weiter musterte. Lady Essex trug ein weißes Leinenkostüm und Schnürschuhe mit flachem Absatz. Ihre Füße sahen ziemlich groß aus.
Nach ein paar Minuten setzte Dolly wieder an: „Sind Sie vorher schon mal durch dieses Elendstal geschippert?“
Lady Essex antwortete, ohne aufzusehen. „Ja.“
Dolly hob den Rock, um sich zu kratzen. „Verzeihung, aber das juckt wie die Hölle. Gehen die Ihnen auch so auf die Nerven?“
„Wer?“, fragte Lady Essex eisig.
„Diese stechenden Viecher“, sagte Dolly. „Die haben es auf mich abgesehen. Ich wette, sie sind auf Mädchen scharf, die keinen an sich ranlassen. Sie reisen alleine, nicht wahr?“
„Ja“, antwortete Lady Essex. „Ich reise allein.“
„Aha“, entgegnete Dolly. „Scheinbar können Sie mich nicht leiden. Bitte verzeihen Sie, wenn ich mich Ihnen aufgedrängt habe.“
Sie drehte sich um, sah über die Reling aufs Wasser hinunter und dachte bei sich: „Die Frau ist sicher eine Missionarin. In ihren Augen bin ich die Sünde selbst.“
Während sie aufs trübe Wasser des Kasai hinabschaute, kam Dolly mit sich überein, dass sie Lady Essex nicht mochte. In dieser Hinsicht war sie ziemlich rigoros. Sie hatte mit ihren fünfundzwanzig Jahren schon viel erlebt und war inzwischen eine exzellente Menschenkennerin. Sie kam zu dem Schluss, dass sich die Engländerin schlicht und ergreifend zu ernst nahm. Und solchen Menschen stand Dolly schon per se skeptisch gegenüber. In ihren Augen waren sie bloß Wichtigtuer. Irgendwann musste schließlich jeder sterben. Was hatte es also für einen Sinn, auf andere herabzuschauen?
Dolly zündete sich noch eine Zigarette an. Sie wusste, dass sie zu viel rauchte, aber nur so konnte sie ihr seelisches Gleichgewicht bewahren. Solange eine Zigarette zwischen ihren roten Lippen steckte, konnte sie lässig, optimistisch und sogar tolerant sein.
Sie wandte sich wieder um, sah Lady Essex an und lächelte. „Sind Sie Missionarin?“
Lady Essex warf Dolly einen bösen Blick zu, richtete sich in ihrem Stuhl auf und schnaubte verächtlich. „Ganz gewiss nicht, Miss Bretton.“
„Woher kennen Sie meinen Namen?“, fragte Dolly.
„Ich habe gehört, dass Captain Finch Sie so genannt hat.“
„Wie genannt?“
„Miss Bretton.“
„Das geht ja noch“, sagte Dolly. „Solange er mir keinen anderen Namen gegeben hat … Aber Ihr Gesicht kommt mir irgendwie bekannt vor. Sind wir uns schon mal irgendwo begegnet?“
„Das kann ich mit Sicherheit ausschließen.“
„Ich vergesse niemals ein Gesicht“, entgegnete Dolly. „Und ich bin sicher, dass sich unsere Wege schon mal gekreuzt haben. Warum sagen eigentlich alle ‚Lady‘ zu Ihnen?“
„Weil ich eine Lady bin, Miss Bretton.“
„Und wie wird man eine Lady?“, fragte Dolly.
Lady Essex zuckte lediglich mit den Achseln und fuhr fort zu lesen. Dolly betrachtete sie ernst, und ein schwaches Lächeln umspielte ihre roten Lippen. Sie spürte, dass sie der Engländerin auf die Nerven ging, aber das machte ihr irgendwie Spaß. Dolly hatte einen boshaften Sinn für Humor, und der machte sich immer wieder unvermutet Luft.
Also fragte sie weiter: „Warum reisen Sie mutterseelenallein durch dieses Land, Lady?“
„Ich besuche meinen Ehemann Sir Alfred Essex in Kinshasa. Er ist Bereichsdirektor der Kongo-Palmöl-Gesellschaft.“
Während Dolly darüber nachdachte, wurde der Dampfer plötzlich von einer starken Explosion erschüttert, die ihn von Bug bis Achtern erzittern ließ. Dolly schreckte hoch und rief: „Oh Gott, wir sind wieder im Kriegsgebiet!“
Das Deck war in eine Rauchwolke gehüllt. Lady Essex sprang mit einem Schrei von ihrem Stuhl auf, hielt sich an der Lehne fest und schrie hysterisch: „Was war das?“
Dolly hörte Maschinist Bixby auf dem unteren Deck rufen: „Captain, der Heizkessel ist explodiert. Ich hab’s Ihnen doch gesagt.“
Dann hörte sie die heisere Stimme von Captain Finch: „Verdammt, ich hab gesagt, du sollst ihn nicht überlasten, du Idiot! Dreh das Schiff Richtung Ufer und lass die schwarzen Teufel rudern. Wir haben zwei Ladies an Bord.“
Dolly versuchte, sich den Rauch aus dem Gesicht zu wedeln und rief fröhlich: „Haben Sie gehört, was der Captain gesagt hat? Jetzt bin ich auch eine Lady. Wo sind Sie denn? Ich kann Sie gar nicht sehen. Hey, Bill, du Faulpelz, ist alles in Ordnung oder gehen wir unter und können den Krokodilen guten Tag sagen?“
Sie hörte, wie Bills Stimme durch die Dampfwolke drang, die sie alle umgab. „Alles in Ordnung, Dolly?“
Dolly schrie zurück: „Klar, mir geht’s gut. Aber ich weiß nicht, wie’s bei der Lady aussieht. Hey, Lady, alles in Ordnung?“
Plötzlich verzog sich die Rauchwolke und Dolly sah, dass sich Lady Essex an ihrer Stuhllehne festklammerte. Sie war kreidebleich und zitterte.
Shane kam übers Deck gelaufen und Dolly hörte das Platschen der Ruder, die ins Wasser gelassen wurden. Sie beugte sich über die Reling und sah ein halbes Dutzend Schwarze, die mit schweißglänzenden Rücken die Ruder ins Wasser stießen. Der Dampfer änderte die Richtung und fuhr langsam aufs Ufer zu.
Bill sagte: „Der Kessel ist in die Luft geflogen, aber keiner wurde verletzt. Er hat ein Loch in die Schiffswand gerissen und Wasser ist eingedrungen. Wir fahren jetzt zum Ufer.“
Dolly sagte zu ihm: „Kümmer dich um die Lady, Bill.“ Sie sah Captain Finch, der – mit der Pfeife zwischen den Zähnen – auf dem unteren Deck stand und vor sich hin fluchte. „Verdammt noch mal!“, brüllte er. „Ihr Idioten seid unfähig, ein Schiff zu steuern. Ich hab gesagt, ihr sollt den Druck senken. Rudert, ihr faulen Schweinehunde!“
Dolly rief zu ihm hinunter: „Hey, Captain. Was ist unser nächster Halt?“
Der kräftige, rothaarige Gebieter über den baufälligen Dampfer hob den Kopf und sah Dolly an. Er stand breitbeinig da und fing plötzlich an zu lachen. „Das hier ist Ihr nächster Halt, Miss. Aber keine Sorge. In diesem Tümpel kann man nicht ertrinken. Nicht in der Trockenzeit. Wir kippen nur ein bisschen auf die Seite, bleiben im Schlamm stecken und warten, bis am Freitag die Royal kommt.“
„Und was machen wir so lange zur Unterhaltung?“, rief Dolly nach unten. „Kennen Sie ein paar Spiele?“
„Sie haben Glück“, schrie der Captain zurück. „Wir sind hier in der Nähe von Doc Warwicks Haus. Sie und Lady Essex sollten Ihre Sachen zusammenpacken. Wir bringen Sie an Land. Wenn die Arche hier umkippt, kriegen Sie nasse Füße.“
Dolly wandte sich von der Reling ab und sah nach Bill. Der hielt Lady Essex am Arm fest, die am ganzen Körper zitterte. Ihr Buch lag auf dem Deck.