Das Buch
Was für eine Karriere! Mit 17 führt Bill McDermott seinen eigenen Delikatessenladen, arbeitet sich dann bei Kopiererhersteller Xerox vom Verkäufer zum jüngsten Vorstandsmitglied der Firmengeschichte hoch und ist seit 2014 alleiniger Vorstandsvorsitzender des Softwareunternehmens SAP.
Aus einfachen Verhältnissen, aber mit unbändigem Aufstiegswillen erzählt Bill McDermott von seinem Weg an die Spitze des größten deutschen Softwarekonzerns und davon, was ihn antreibt, sich und sein Unternehmen immer wieder neu zu erfinden.
»Bill McDermott hat eine unglaubliche Karriere vorzuweisen – von Xerox bis zu SAP. In seiner Autobiographie beschreibt er alle Geheimnisse, die ihn erfolgreich gemacht haben.«
Jack Welch
»Statt Rivalen sind Zielstrebigkeit und Mitgefühl Bill McDermotts Begleiter am Arbeitsplatz. Das ist selten. Er behauptet, das sei einfach gesunder Menschenverstand … ich sage, es ist der Ire in ihm.«
Bono
Der Autor
Bill McDermott studierte Betriebswirtschaftslehre am Dowling College in New York und erhielt seinen MBA von der Kellogg School of Management der Northwestern University in Illinois. Er arbeitete 17 Jahre bei Xerox und brachte es dort im Alter von 36 Jahren zum jüngsten Vorstandsmitglied seit Bestehen der Firma. Nach leitenden Positionen beim Marktforschungsinstitut Gartner Inc. und Softwarehersteller Siebel Systems wurde er 2002 US-Chef von SAP. Seit Mai 2014 ist Bill McDermott alleiniger Vorstandsvorsitzender von SAP.
Joanne Gordon ist Bestsellerautorin. Die frühere Forbes-Journalistin porträtiert seit mehr als 15 Jahren Wirtschaftsführer. Sie hat bisher sieben Bücher geschrieben.
www.winnersdream.org
Bill McDermott
gemeinsam mit Joanne Gordon
MEIN WEG ZU SAP
Die Autobiographie
Aus dem Amerikanischen von Stephan Gebauer
Econ
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Die Originalausgabe erschien 2014
unter dem Titel Winners Dream:
A Journey from Corner Store to Corner Office
bei Simon & Schuster, New York
Econ ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH
ISBN 978-3-8437-1070-1
© 2014 by Winning Dream, LLC
© der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015
© der deutschen Übersetzung von Konstantinos Kavafis’
»Ithaka« durch Wolf Josing: Romiosini Verlag, Köln 2009
Umschlaggestaltung: FHCM GRAPHICS, Berlin
Originalfoto: © Blake Little, Los Angeles
Alle Rechte vorbehalten.
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E-Book: LVD GmbH, Berlin
Für meine Mutter Kathy McDermott.
Alles was ich war, bin und je sein werde,
verdanke ich Dir.
Manche Leute sehen Dinge, die sind,
und fragen: Warum?
Ich träume von Dingen, die nicht sind,
und frage: Warum nicht?
Robert F. Kennedy zitiert George Bernard Shaw,
University of Kansas, 1968
TEIL 1
ERFOLGSHUNGRIG
1
Zuversicht
Großartiges vollbringen nur jene, die mutig genug sind zu glauben, dass in ihnen etwas schlummert, das den Umständen überlegen ist.
Bruce Barton
Ich höre meinen kleinen Bruder schreien. Ich drehe mich um und sehe Rauch durch das Treppenhaus quellen. Kevin ist oben und macht sich für das Zubettgehen bereit. Unsere kleine Schwester Gennifer, die noch ein Baby ist, schläft im angrenzenden Raum. Ihr Zimmer befindet sich an der Rückseite unseres kleinen Hauses. Mom und ich waschen in der Küche das Geschirr ab. Mein Vater, der bei Con Edison arbeitet, hat Nachtschicht.
Meine Mutter läuft die Treppe hinauf, ich folge ihr. Oben angekommen, sehen wir die Flammen.
Das passiert tatsächlich, denke ich. Ich bin zwölf Jahre alt, und unser Haus brennt. Wir müssen hier raus.
Ich packe Kevin an der Hand, während meine Mutter durch den dichter werdenden Qualm in Gennifers Zimmer stürmt, um die Kleine aus ihrer Wiege zu holen. Wir springen die Treppe hinab und rennen aus dem Haus. Wir retten uns auf die Straße und warten auf die Löschwagen.
Wenn ich an diese Augenblicke zurückdenke, höre ich weniger das näher kommende Heulen der Sirenen, sondern vor allem die ruhige Stimme meiner Mutter. Ich erinnere mich noch genau daran, was sie uns sagte, als wir auf dem Gehweg standen und in die Flammen starrten, die das Obergeschoss unseres Hauses verschlangen.
»Alles in Ordnung, alles in Ordnung«, sagte sie immer wieder. Auf dem einen Arm hielt sie Gennifer, den anderen hatte sie um meinen Bruder und mich gelegt. »Das ist kein trauriger Moment. Es ist ein wunderbarer Moment. Wir sind unversehrt herausgekommen. Wir haben schon Schlimmeres durchgemacht, wir werden es überstehen.« Dieses Versprechen wiederholte sie wieder und wieder, so als wäre es ein Schlaflied. Und ich glaubte ihr, weil sie es glaubte. Mom hatte Recht: Wir hatten schon Schlimmeres überstanden.
Home Base
Ich wurde im Jahr 1961 in Flushing geboren, einem Stadtteil des Bezirks Queens in New York. Meine ersten zehn Lebensjahre verbrachte ich mit meinen Eltern, meinen zwei Brüdern und meiner Schwester auf Long Island, wo wir in Mietwohnungen in den Arbeitervierteln College Point, Hicksville, Babylon und Brentwood lebten. Schließlich landeten wir in einem kleinen Haus an der Meadow Lane in dem Küstenstädtchen Amityville im Bundesstaat New York. Als wir dorthin zogen, kannte noch niemand jenes im holländischen Kolonialstil gebaute Haus in der Ocean Avenue, das durch den Film Amityville Horror berühmt werden sollte. Zu jener Zeit kannten die Einwohner von Amityville dieses Haus noch nicht als »Haus des Schreckens«, und es kamen noch keine Touristen in den Ort, um es zu besichtigen.
Unser Haus war nur ein Viertel so groß wie das Horrorhaus, aber es war geräumiger als alle Wohnungen, in denen wir bis dahin gelebt hatten. Meine Eltern mieteten es mit einer Kaufoption. Das Haus stand in einem Arbeiterviertel und war von seinen früheren Bewohnern, die es schließlich durch eine Zwangsversteigerung verloren hatten, vollkommen vernachlässigt worden. Als wir begannen, es instandzusetzen, stießen wir in den Wänden auf tote Eichhörnchen und Ratten. Wir brachten das Haus in Schuss, während wir schon darin lebten; es war, als würde man den Keilriemen seines Autos während der Fahrt austauschen. Aber wir hatten keine andere Wahl. Wir waren froh, ein Haus gefunden zu haben, das wir uns leisten konnten, und empfanden es als Privileg, diesen Ort gemeinsam wieder bewohnbar machen zu dürfen.
* Deutscher Titel: Der einzige Zeuge.
An den Wochenenden tauchten auf unserem schmalen Grundstück Verwandte und Freunde auf, die Hämmer, Leitern und Hilfsbereitschaft im Gepäck hatten. Manchmal brachten meine Großeltern aus Queens meine Lieblingskrapfen mit Marmeladenfüllung mit, die sie bei der deutschen Bäckerei Stork’s kauften. Gemeinsam verstärkten sie Tragebalken, tauschten Gipskartonplatten aus und verkleideten das Haus mit einer Aluminiumfassade. Als ich Jahre später den Film Witness* sah, in dem eine amische Gemeinde zusammen ein Haus baut, erinnerte ich mich an die Stimmung emsiger Kameradschaft, die an jenen Tagen bei uns herrschte. Mein Vater stellte Schecks für den Kauf des Baumaterials aus, wann immer genug Geld hereinkam, und dank der Großzügigkeit von Freunden und Verwandten war ein Großteil der Arbeitszeit kostenlos. Mein Großvater war Bauunternehmer und arbeitete als Bauleiter bei jenen Hochhäusern, die auf der nahegelegenen Halbinsel Rockaway in den Himmel schossen. Für spezielle Arbeiten rief er einen guten Elektriker oder Installateur, der diese für einen kleinen Zusatzverdienst erledigte.
Die Renovierung erhöhte den Wert unseres Hauses, und schließlich gelang es meinen Eltern, genug Geld für eine Anzahlung auf eine 30 Jahre laufende Festzinshypothek über 18 000 Dollar aufzutreiben. Der Hausbesitz war für meine stolzen Eltern gleichbedeutend mit sozialem Aufstieg. Ich hatte nun ein richtiges Zuhause, und trotz all seiner Mängel war ich dort so glücklich wie an keinem anderen Ort auf der Welt.
Selbst als wir es wieder in Schuss gebracht hatten, war dies eines der Häuser, an denen man hunderte Male vorbeifahren konnte, ohne sie zu bemerken. Und dann waren da die Überschwemmungen, die immer wieder Reparaturen nötig machten. Das Haus stand auf einem unebenen Betonfundament, das an einen hinter dem Haus verlaufenden Kanal grenzte. Jedes Mal, wenn es stark regnete, lief Wasser in unser Erdgeschoss. Der Kanal lief so zuverlässig über, dass meine Mutter immer, wenn im Wetterbericht heftige Regenfälle angekündigt wurden, vor dem Haus eine kleine Statue des Heiligen Judas aufstellte. Sie dachte, wenn jemand die Flut aufhalten könne, dann der Fürsprecher in ausweglosen Notlagen! Am Ende stand auch die 60 Zentimeter hohe Statuette bis zum Hals im Wasser.
Die wiederholten Überschwemmungen setzten die Wände und das Fundament unter Druck und verursachten Risse. Schließlich fand das Wasser auch seinen Weg ins Haus, ohne dass der Kanal überlief. Schon bei leichtem Regen musste einer von uns zur Eisenwarenhandlung laufen, um einen Nasssauger zu mieten. Das Aufsaugen von Pfützen im Wohnzimmer war für uns so normal wie Schneeschaufeln für andere Leute.
Verlust
Als die Ärzte meinen Eltern eröffneten, dass ihr neugeborener Sohn, mein kleiner Bruder James Michael, unter Umständen nur wenige Tage leben würde, bestand meine Mutter darauf, Jamie mit nach Hause zu nehmen und ihn selbst zu pflegen. In den folgenden fünf Jahren musste der arme kleine Kerl mehrere schwierige Operationen über sich ergehen lassen, darunter eine Kolostomie. Trotz seiner gesundheitlichen Probleme schenkte er der Familie viel Freude. Wir liebten den kleinen Jamie mit seinem gewellten hellbraunen Haar und seinen hellblauen Augen so sehr. Ich schwöre, dass er all das Leid lächelnd durchstand. Für uns war er ein Engel.
Ich war sieben Jahre alt, als Jamie uns im Schlaf verließ. Er war fünf Jahre alt. An dem Tag, an dem er auf einer Bahre aus unserer Wohnung in Babylon getragen wurde, sammelte meine Mutter all ihre Kraft, um die Familie aufzurichten und ihre Trauer zu besiegen. Sie sagte uns, Jamies Tod sei Gottes Wille, weil Jamie als Engel im Himmel viel Arbeit vor sich habe. Sie wiederholte das ein ums andere Mal, so lange, bis sich dieser Refrain in meinem Kopf und meinem Herzen festsetzte und sich in die Wahrheit verwandelte.
Meine Mutter hatte die Gabe, sich selbst in Zeiten tiefer Traurigkeit oder Unsicherheit nicht verflucht, sondern gesegnet zu fühlen. Sie verstand es, die Mühsal des Lebens von den Geschenken zu trennen, die diese Mühsal mit sich brachte. Nachdem sie Jamie all die Jahre liebevoll umhegt und für ihn gebetet hatte, brachte sie sogar an dem Tag, an dem wir ihn verloren, genug Kraft auf, um den Schmerz der Familie zurückzudrängen, indem sie uns eine Idee schenkte: Unser süßer Engel Jamie war nun an einem besseren Ort, und für uns war die Welt ein besserer Ort, weil wir ihn gekannt hatten. Nun war er an der Reihe, über uns zu wachen.
Als fünf Jahre nach Jamies Tod unser Haus in Flammen aufging, kam die unerschütterliche Zuversicht meiner Mutter erneut zum Vorschein: »Wir werden es wieder aufbauen. Wir haben es in der Vergangenheit geschafft, und wir werden es wieder schaffen.« Ich stand an ihrer Seite und wusste, dass sie nicht nur versuchte, uns aufzumuntern. Sie ließ ihren Zauber wirken und weigerte sich, vor dem tragischen Augenblick zu kapitulieren. Stattdessen erhob sie sich wieder und sagte mit absoluter Überzeugung: In diesem Haus gibt es nichts, was wichtiger wäre als uns, die wir hier draußen stehen.
Selbst in dieser finsteren Nacht, in der sich die Sterne hinter schwarzen Rauchwolken verbargen, überzeugte mich meine Mutter, dass der Himmel blau und grenzenlos war.
Opfer
Es geschah einige Jahre vor unserem Umzug nach Amityville. Mein Bruder Kevin und ich saßen auf der Rückbank unseres grünen Chevrolet Impala. Unsere Eltern brachten uns nach Bayshore auf Long Island. Dad bog in eine schöne Straße ein und fuhr ganz langsam an einem eingeschossigen Ranch-Style-Haus vorbei. Häuser dieser Art gab es auf Long Island wie Sand am Meer – nur musste man sie sich leisten können. Meine Mutter verliebte sich sofort in dieses Haus, aber mein Vater bekam keinen Kredit, obwohl er sein Einkommen durch einen nächtlichen Zweitjob als Wachmann aufbesserte und obendrein Taxi fuhr. Sogar der Neunjährige auf dem Rücksitz begriff, wie enttäuscht die beiden waren. Als wir mit zehn Stundenkilometern an dem Haus vorüberrollten, konnte ich die Traurigkeit meiner Mutter spüren. Sie sagte immer: »Das Geld ist nur so viel wert wie das Glück, das du dir und denen, die du liebst, damit kaufen kannst.« Es tat mir im Herzen weh, dass sich meine Eltern dieses Glück nicht leisten konnten. Als ich Jahre später ein eigenes Auto besaß, brachte ich meine kleine Schwester in die wohlhabenden Gegenden von Long Island und fuhr ebenfalls langsam durch die malerischen Straßen. »Eines Tages werden wir in einem dieser Häuser leben«, sagte ich zu ihr. Aber obwohl mir diese schönen, großen Häuser sehr gefielen, war ich glücklich in unserem bescheidenen Häuschen. Für mich war es das Taj Mahal. Ich war meinem Vater dankbar dafür, dass er es geschafft hatte, uns dieses Zuhause zu bieten.
Mein Vater Bill McDermott war ein fleißiger Mann. Für ihn bedeutete Erfolg, jeden Tag zur Arbeit zu gehen, weil er gebraucht wurde. Er war beim New Yorker Stromversorger Con Edison dafür verantwortlich, technische Probleme in den Hochspannungsleitungen zu lösen. Sein Arbeitsplatz waren die dunklen Tunnel unter dem Boden von Queens und Manhattan. Manchmal stieg er in Löcher hinab, in denen es nach einer unterirdischen Explosion immer noch brannte. Er erklärte mir seine Arbeit so: Um die gewaltigen Zubringerleitungen der Stadt instandzuhalten, schmolz er mit einem Schweißbrenner Kupfer, um die Leitungen damit zu isolieren, so dass kein Wasser oder andere Stoffe in den Stromkreislauf eindringen konnten. Für seine Kollegen war er nur »die Spinne«, weil er im unterirdischen Kabelnetz New Yorks zu Hause war, aber auch, weil er sich beim Aufbringen von heißem flüssigem Kupfer auf dicken Stromleitungen so geschickt bewegte wie Spiderman, der aus seinen Handgelenken Netze schießt, um Bösewichte einzufangen. Mein Dad war sehr stolz auf sein Können beim Schweißen und Kabelspleißen. Für mich war er ein Superheld im wirklichen Leben.
Aber seine Arbeitszeiten waren so wenig vorhersehbar wie Stromausfälle. Manchmal klingelte um 1 Uhr morgens das Telefon, und Dad stieg aus dem Bett, zog Hose und T-Shirt an, schlüpfte in einen Blaumann und ging hinaus, um das Eis von der Windschutzscheibe zu schaben und sich auf den Weg nach Manhattan zu machen, um die Stromversorgung wiederherzustellen, bevor am Morgen in der New Yorker Börse die Glocke geläutet wurde. Seine Arbeit war anstrengend und gefährlich. Einmal landete er im Krankenhaus, weil ein betrunkener Autofahrer eine Sicherheitsabsperrung durchbrochen und in einen oberirdischen Transformator gerast war, den mein Vater gerade reparierte. Als wir im Krankenhaus eintrafen, hatten sie ihn schon mit 65 Stichen zusammengenäht.
»Wie geht’s dir, Dad?«
»Alles bestens«, antwortete er im Tonfall eines Mannes, der abends von der Arbeit heimkehrt. »Wie war eure Fahrt hierher?« Genau wie meine Mutter hielt sich auch mein Vater nicht mit Gejammer auf.
Aber so hart er auch arbeitete, finanzielle Stabilität blieb unerreichbar für uns. Er versuchte, mit dem Einkommen eines Kabelmonteurs eine Familie mit vier Kindern und Hunden zu ernähren, die Hypothekenraten und den Kredit für das Auto pünktlich zu zahlen und all die unerwarteten Ausgaben zu bestreiten, die im Lauf der Jahre anfielen. Er führte ein typisches Leben in der Arbeitertretmühle. Während seiner 37 Jahre bei Con Edison schraubte er seinen Einsatz niemals zurück und erhielt so Beförderungen, die ihm letztlich einen gut bezahlten, gewerkschaftlich abgesicherten Posten verschafften. Und trotzdem, den unaufhörlich neu auftauchenden Ausgaben war nicht vollends beizukommen.
Meine Familie war nicht arm. Es ging uns besser als vielen anderen Familien, die trotz aller Anstrengungen auf Lebensmittelmarken oder Sozialhilfe angewiesen waren. Aber der Lohn meines Vaters war immer schnell aufgezehrt. In manchen Monaten reichte das Geld einfach nicht, um alle Rechnungen zu bezahlen.
All das verstand ich, denn ich sah aus nächster Nähe, welchem Druck Menschen ausgesetzt sind, die von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck leben, und erlebte am eigenen Leib, welche Herausforderungen eine junge Familie bewältigen muss. Als ich zur Welt kam, war meine Mutter 18 und mein Vater 21 Jahre alt, weshalb wir drei in gewissem Sinn gemeinsam aufwuchsen. Deshalb viel es mir leicht, ihre Lebenssituation zu verstehen, und das war vermutlich der Grund dafür, dass ich an jenem Tag, als sie durch das Autofenster einen Blick auf ihr Traumhaus warfen, von derselben Sehnsucht ergriffen wurde wie sie. Wie sehr ich mir wünschte, dass sie dieses Haus bekämen!
Es war kein Geheimnis, dass das Geld bei uns knapp war. In unseren kleinen Häusern und Wohnungen war ich den realen Problemen des Lebens ausgesetzt: Ich hörte Gespräche, die die meisten Kinder nicht hören, und machte mir meine Gedanken über das, was ich erfuhr. Ich glaube, dass ich sehr viel neugieriger und reifer war als die meisten Gleichaltrigen. Ich hörte mehr zu als ich selbst sprach. Meine Eltern jammerten nicht über ihre Schwierigkeiten und gaben niemandem die Schuld an ihrer Geldnot, aber sie bemühten sich nicht, ihren ältesten Sohn von der Realität abzuschirmen. Ich wurde nicht auf die Straße geschickt oder vor das Fernsehgerät gesetzt, sondern blieb am Küchentisch sitzen und war dabei, als meine Eltern nach Wegen suchten, um die Rechnungen zu begleichen und den Alltag zu bewältigen.
Der ungefilterte Blick auf die Lebensumstände meiner Familie lehrte mich, dass sich harte Arbeit nicht immer auszahlt. Ich begriff auch, dass man alles, was man erwirbt oder geschenkt bekommt, wieder verlieren kann – ein Haus, eine Arbeit, einen Bruder. Ich entwickelte eine Vorliebe für die Wahrheit, vor allem für Nachrichten, die niemand hören wollte, denn je mehr ich über ein Problem in Erfahrung brachte, desto schneller konnte ich eine Lösung dafür finden, anstatt mich ewig damit herumzuschlagen.
Freude
Mein Vater schaffte es, jedes Jahr genug Geld zurückzulegen, um mit der Familie im Sommer ein oder zwei Wochen nach New Jersey ans Meer zu fahren. Wir mieteten im Küstenort Stone Harbor einen Bungalow und verbrachten die Tage am Strand. Dad liebte es, mir den Gehaltsscheck zu zeigen, der zusätzlich zu seinem normalen Wochenlohn den Urlaubszuschlag enthielt. Die Zahl auf dem Scheck wirkte so groß! Selbst wenn wir kaum genug Benzin im Tank hatten, um es nach dem Urlaub zurück nach Amityville zu schaffen, waren wir begeistert darüber, dass Dad die Familie ans Meer brachte.
Die schönen Erinnerungen sind zahlreicher als die bedrückenden. Ich sehe noch vor mir, wie mein Vater freitagabends heimkehrt und »I’m Busted« von Ray Charles auflegt, während meine Mutter das Abendessen zubereitet. Wie ich mir mit meinen Eltern die Wiederholungen von The Honeymooners ansehe und hysterisch lache, weil sie lachen, obwohl ich nicht verstehe, was daran so lustig sein soll. Wie mein Vater, Kevin und ich nach einer weiteren Überschwemmung im leeren Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzen, den wir auf einen Picknicktisch gestellt haben, weil die Möbel zum Trocknen im Vorgarten stehen: Wir schauen Football und jubeln den New York Jets zu. Wie die ganze Familie eine filetierte Flunder verzehrt, die ich gefangen habe – mein dreieinhalb Meter langes Gamefisher-Boot mit seinem 7,5-PS-Motor hat mich nur mit Müh und Not vom Kanal in die Great South Bay hinaus und zurück gebracht. Wie ich vor dem Haus, wo Dad einen Korb aufgehängt hat, mit Kevin Basketball spiele. Wie ich mit meiner Schwester Gennifer im Kino sitze und zum ersten Mal sehe, wie Rocky Balboa die 72 Stufen zum Philadelphia Museum of Art hinaufläuft. Wie mich meine Mutter anstößt und sagt: »Bill, der beste Teil von dir bist du.«
Wir lachten viel. Meine Oma erzählte bei jedem Familientreffen die Geschichte von einem ihrer Besuche in Amityville. Sie hatte sich mit Gennifer ein Bett geteilt und war mitten in der Nacht von einem Trippelgeräusch in der Wand geweckt worden.
»Was ist das?!«, fragte meine Großmutter.
»Alles in Ordnung, Oma«, antwortete ihr meine Schwester in gelassenem Tonfall. »Das sind nur die Ratten.«
Amityville war ein guter Ort für Ratten, vor allem in der Nähe des Wassers. Unsere Ratten waren groß. Und wenn sich diese Nager mit einem Ort einmal angefreundet hatten, beispielsweise mit einem verlassenen Haus, dann konnte man sich darauf verlassen, dass sie zurückkehren würden, selbst wenn wieder menschliche Bewohner in das Haus einzogen. Wir stolperten nicht über Ratten, aber einige tollten in unseren Wänden umher. Die Familie fand sich mit der Gegenwart der ungebetenen Gäste ab. Meine Schwester hasste Ratten, aber in jener Nacht verbarg sie ihre Furcht heldenhaft hinter einer Fassade der Gelassenheit, um ihre Oma zu beruhigen. Unsere Großmutter nahm an, eine tapfere kleine Soldatin an ihrer Seite zu haben. »Alles in Ordnung, Oma. Das sind nur die Ratten.« Diese Pointe wiederholte sie jahrelang.
Wenn es etwas zu feiern gab, hauten wir richtig auf den Putz. Zu Neujahr tanzte und aß die ganze Familie bis in die frühen Morgenstunden. Oft verbrachten wir diesen Abend im Haus einer befreundeten Familie, die das bekannte italienische Restaurant Angelo’s in der Mulberry Street in New York besaß; nur etwa eine Meile entfernt von unserem Haus veranstalteten sie die unglaublichsten Partys. Zu besonderen Anlässen zog meine Familie alle Register. Wenn die Kinder am Heiligen Abend im Bett waren, schlich Dad sich hinaus und warf Murmeln auf das Dach, um die Landung von Santas Rentieren zu simulieren. Er hatte uns eingeschärft, dass Santa keinesfalls gesehen werden wollte und unverrichteter Dinge wieder verschwinden würde, sollten wir aus dem Bett steigen, um nachzusehen, was er im Haus tat. Wenn am Weihnachtsmorgen das Geschenk, das ich mir gewünscht hatte, nicht unter dem Baum lag, setzte mein Vater die Inszenierung fort, die er am Vorabend begonnen hatte. »Komm mit, Bill«, sagte er und führte mich in einen Winkel des Hauses, wo eine neue Angelrute oder ein Fahrrad auf mich wartete. Die Feiertage bedeuteten zweifellos weitere Schulden für meine Eltern, aber sie ließen nie zu, dass die Weihnachtsstimmung darunter litt. Für uns Kinder waren es Tage voller Zauber.
Es wird besser
Sogar mein Bruder Kevin, der aus härterem Holz geschnitzt war als ich, teilte meine Meinung, dass meine Familie genug Liebe erzeugte, um eine große Villa damit zu füllen. Anstatt mich darüber zu ärgern, dass mich meine Eltern in Turnschuhe aus dem Discountladen steckten, statt mir die tollen Puma-Schuhe zu kaufen, dachte ich darüber nach, wie ich mich in ihrer Lage verhalten würde. Ich glaubte, dass sie ein besseres Leben verdient hatten. Damit meine ich nicht mehr materiellen Besitz – obwohl sich meine Eltern noch mehr nach den Pumas für mich sehnten als ich selbst –, sondern mehr Sicherheit. Ich sah, wie viel meine Eltern gaben und wie wenig sie zurückbekamen, und war fest entschlossen, nicht zuzulassen, dass das in der nächsten Generation so weiterging.
Dass ich mich in die Lage meiner Eltern versetzen konnte, lag wohl daran, dass ich ihr ältestes Kind war. Vielleicht war ich auch einfach so gestrickt. Und großen Einfluss auf mein Denken hatte meine Mutter, die wieder und wieder – oft im selben Atemzug – zu mir sagte: »Nichts Wertvolles kommt von allein.« Und: »Du kannst alles erreichen, was du dir vornimmst.« Was auch immer der Grund war: Ich wollte mich für meine Familie durchsetzen, ich wollte imstande sein, sie zu schützen, wenn sie mit einer Krise kämpfte. Und ich besaß genug Selbstvertrauen, um zu glauben, dass ich dazu in der Lage war – vielleicht war mir diese Gewissheit sogar in die Wiege gelegt. Ich hungerte nicht, und meine Eltern baten nicht um finanzielle Unterstützung. Aber ich sah im Geld eine Möglichkeit, mich finanziell unabhängig zu machen und meinen Eltern die Sicherheit zu geben, die sie mir mit ihrer Liebe gegeben hatten. Ich wollte ihr Heiliger Judas sein.