Anna blinzelte in die Spätnachmittagssonne. Sie setzte sich auf und strich den inzwischen getrockneten Sand von ihren Beinen. Dann hielt sie sich die Hand schützend über die Augen und sah zu, wie der leichte Wind die Wellen ans Land trieb.
War es die Liebe zu Ilías, dem kretischen Bauern, die sie alles im rosaroten Licht sehen ließ? Wenn sie an Zuhause dachte, an Köln, die Stadt mit ihrem oft deprimierend grauen Himmel, an den herrischen Vater, dem sie nichts gut genug machen konnte, fröstelte sie. In diesem Moment stieg Ilías aus dem Wasser. Er kam im Laufschritt auf sie zu, ließ sich neben ihr auf das Badetuch fallen und zog sie in seine Arme.
»He!«, schrie Anna, »du machst mich wieder total nass.« Sie stieß ihn in die Rippen. Ilías schüttelte sein Haar. Anna quiekte, als die Wassertropfen sie trafen. Er lachte und streckte sich aus, schlug die Füße übereinander, verschränkte die Arme im Nacken.
Kaum zu glauben – Anna ließ ihre Augen über Ilías’ Körper schweifen – dieser Mann möchte mit mir zusammenleben.
Im Schneidersitz schob sie sich neben ihn.
»Und, hattest du genug Zeit, um darüber nachzudenken?« Ilías stützte sich auf die Ellbogen und sah Anna liebevoll an.
»Worüber?«
»Anna, ich meine es ernst.«
»Ich soll zu dir nach Kreta ziehen?«
»Liegt es an meinem Griechisch, dass du mich nicht verstehst?«
»Scherz nicht rum.« Anna verzog den Mund zu einer Schnute.
»Nun gut. Du willst es nicht anders.« Er richtete sich auf. Anna bemerkte ein schelmisches Zucken um seine Mundwinkel. »Du bist die Frau meiner Träume! Wenn ich dich anschaue, mit deinen langen blonden Haaren und dem athletischen Körper, könnte ich vor Glück verrückt werden! Deine himmelblauen Augen ziehen mich magisch an, seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe!« Anna lachte verlegen, um nicht vor Rührung zu weinen, und entgegnete schnippisch: »Ach, es geht dir nur um mein Aussehen?«
Ilías griff nach ihrer Hand. »Lass mich ausreden. Ich bewundere deine Intelligenz, deine Aufgeschlossenheit, dein Einfühlungsvermögen. Ich liebe dich, vertraue dir und will dich nicht mehr loslassen.« Anna wollte ihm die Hand entziehen, doch Ilías verstärkte den Griff. »Wir kennen uns lang genug, um eine Entscheidung zu treffen. Seit zwei Jahren liegen dreitausend Kilometer zwischen uns. Das langt jetzt, Anna!«
»Es gibt viel zu bedenken«, warf sie ein.
»Und was?«
»Wo werden wir wohnen? Und wie sieht es mit einem Job aus?«
»Ist dir das wichtig?«
»Ja.«
»Mein Einkommen wird für uns beide reichen. Und ich bin sicher, du wirst an der Schule arbeiten können mit deinem perfekten Griechisch und den vielen anderen Sprachen.«
Er wollte sie in seine Arme ziehen, doch Anna entschlüpfte ihm, rannte zum Meer.
Am Ufer entlangschlendernd, die Füße im kühlen Wasser, schaute sie auf die Wellen. Dann streiften ihre Augen die Landschaft. Umschlossen von hohen Bergen lag die Thólos-Bucht, wenige Kilometer vom Dorf Kavoúsi entfernt. Nach Süden breiteten sich Olivenhaine aus, vom salzigen Sturm gebeugte Äste trugen kleine Früchte. Tamarisken standen am Strand und spendeten den überwiegend griechischen Badegästen Schatten. Um eine kleine Süßwasserader herum schwirrten Hornissen. Ein holländisches Pärchen hatte seinen Wohnwagen im Schutz der Sträucher geparkt. Die beiden saßen gerade an einem Campingtisch beim Essen. Griechische Musik schallte aus einem Holzhaus herüber, einige Tische und Stühle standen davor. Der Besitzer der Taverne stellte gerade Erfrischungen auf ein Tablett. Eine Gruppe Einheimischer stand im Meer und unterhielt sich Wasser tretend. Zwischendurch tauchten sie tiefer hinein oder schwammen auf dem Rücken, ohne das Gespräch zu unterbrechen.
Anna blickte auf die Weite des Meeres, das sich bis zum Horizont erstreckte.
Die Frau seiner Träume. Nein, ich zweifle nicht. Weder an Ilías’ Liebe noch daran, dass ich genau hier mein Leben führen will. Sie drehte sich zu dem Mann um, der fortan alles mit ihr teilen wollte. Er winkte, und sie schrie über die Brandung hinweg: »Ich will!«
Mit ausgebreiteten Armen lief sie auf ihn zu. Sie sah, wie er aufsprang und einen Freudentanz aufführte, dass der Sand hochspritzte. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl ergriff Besitz von jeder Faser ihres Seins.
Ágios Nikólaos, Frühjahr 1980
Langsam erwachte Thália aus der Narkose. Sie schaute auf die Uhr, die im Aufwachraum an der sonst kahlen Wand hing. Dreizehn Uhr zehn.
Eine Schwester saß am Schreibtisch, vertieft in eine Krankenakte. Zeit, dass ich nach Hause komme, dachte Thália. Vorsichtig erhob sie sich, doch ein leichter Schwindel drückte sie sofort zurück ins Kissen. Beim nächsten Versuch stützte sie sich vorsorglich auf die Ellbogen. Mit Schwung flog die Tür auf und der Arzt eilte herein. Sogleich erhob sich die Schwester und stellte sich ans Bettende.
Der Gynäkologe zog sich einen Stuhl heran. Seine Augen ruhten auf Thália.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte er.
»Ein wenig schummrig.«
»Das kommt von der Narkose.«
Thália nickte.
»Haben Sie Schmerzen?«
»Nein.«
»Der Eingriff ist ohne Komplikationen verlaufen. Sie werden in den nächsten Tagen Schmierblutungen haben. Sollten diese verstärkt auftreten, dann kommen Sie bitte zur Untersuchung. Ansonsten erst in zehn Tagen zur Kontrolle.«
Sie nickte ein weiteres Mal.
»Thália, ich möchte Ihnen vorschlagen, die Pille zu nehmen.«
Sie schaute auf.
»Das war Ihre zweite Abtreibung innerhalb von achtzehn Monaten. Sie sind neunzehn Jahre alt. Auch in den ersten Schwangerschaftswochen ist jeder Eingriff eine Belastung und eine hormonelle Umstellung für den Körper. Haben Sie die Pille schon einmal ausprobiert?«
»Nein. Ich habe meinen Zyklus immer nachgerechnet und war mir sicher.«
»Ich werde Ihnen eine aufschreiben. Wenn sich Ihre Periode wieder eingestellt hat, beginnen Sie bitte damit.«
Während er ihr das Rezept ausstellte, versuchte Thália, aufzustehen. Ein stechender Schmerz schoss durch ihren Unterleib. Sie stöhnte auf.
»Haben Sie jemanden, der Sie nach Hause bringt?«
»Nein, ich fahre mit dem Bus. Niemand weiß …«
»Schonen Sie sich einige Tage, und keine schwere Last in den nächsten sechs Wochen. Wir sehen uns.« Zum Abschied reichte er ihr die Hand.
Vor dem Krankenhaus stieg Thália in ein Taxi und ließ sich zur Bushaltestelle bringen, die sich in der Innenstadt befand. Im Bus zog sie das Rezept aus der Handtasche, zerriss es in kleine Fetzen und steckte es in den Aschenbecher, der an der Rückenlehne des Sitzes vor ihr befestigt war.
Künstliche Hormone nehme ich nicht, nachher bekomme ich nie ein Baby, dachte sie, lehnte den Kopf an die Scheibe und dämmerte vor sich hin, bis der Bus in Tourlotí, ihrem Dorf, anhielt.
Sommer 1982
Thália stand in der Küche und bereitete das Mittagessen vor, als Emmanouíl sich hinter sie schlich. Er schlang die Arme um ihre Taille.
»Wie geht es meiner bezaubernden Frau?« Zärtlich küsste er ihren Nacken.
»Sie ist glücklich, ihren Ehemann zu sehen.«
»Wenn uns einer zuhörte, dächte er, wir wären einem anderen Jahrhundert entsprungen, so förmlich reden wir miteinander.« Er lachte.
»Nun, wir sind erst zwei Wochen verheiratet, sozusagen in den Flitterwochen.« Sie schmiegte sich eng an ihn. Sogleich zog er sie mit sich ins Schlafzimmer.
Endlich habe ich den Mann fürs Leben gefunden. Und einen Vater für meine Kinder. Jetzt brauche ich weder meinen Zyklus nachzurechnen noch die Pille zu schlucken.
Emmanouíl schob sie sanft aufs Bett, öffnete ihre Bluse, und Thália gab sich seinen Liebkosungen hin.
Anna schnürte den Rucksack zu. Sie schwang ihn auf die Schulter, ergriff die beiden Koffer. Dann schaute sie sich ein letztes Mal um, bevor sie sich energisch umwandte und die Treppe hinunterlief. Vor dem Haus wartete bereits das bestellte Taxi. Der Fahrer verstaute das Gepäck und hielt ihr die Beifahrertür auf.
»Jetzt kann’s losgehen«, sagte Anna und zwinkerte ihm zu. Sie bemerkte, dass sich die Wangen des älteren Fahrers leicht röteten. »Auf zum Kölner Flughafen.«
»Wohin soll die Reise denn gehen, junges Fräulein?«
Er startete den Wagen. Sie beugte sich nach vorn und blickte in den Seitenspiegel. Das Haus, in dem sie wohnte, verschwand in der Morgendämmerung. Schnell wandte sie sich ab, lehnte sich entspannt in den Sitz.
»Ich wandere aus!« In ihrer Stimme schwang ein Jauchzen mit.
Abrupt stieg der Fahrer an der roten Ampel auf die Bremse, der Wagen ruckelte. Erstaunt sah er sie an.
»Sie wandern aus?«
»Ja! Auf die Insel Kreta.«
»Aber …«
»Ich bin seit zwei Jahren mit einem Griechen zusammen. Und liebe die Landschaft«, fügte sie schnell hinzu.
»Und jetzt reißen Sie mir nichts, dir nichts Ihre Brücken in Deutschland ab?«
Die Ampel wechselte auf Grün.
»Nun, ich hab’s mir lange überlegt. Um Land und Leute besser kennen zu lernen, habe ich meine Semesterferien dort verbracht. Mein Studium ist jetzt beendet, und das Wetter dort ist bestimmt besser als hier.« Sie deutete mit der Hand aus dem Fenster. Der Himmel hing voller Regenwolken. Die Temperaturen waren in den letzten Tagen enorm gefallen.
»Da könnten Sie Recht haben, junge Frau.« Der Taxifahrer schob seine Kappe hoch und kratzte sich am Kopf. »Haben Sie keine Eltern, Geschwister?«
»Doch. Warum fragen Sie?«
»Wollte Sie niemand verabschieden oder zum Flughafen bringen? Oder lebt Ihre Familie weiter entfernt?«
Für einen kurzen Moment wurde es still im Auto. »Entschuldigen Sie bitte meine Neugier. Ich habe selbst eine Tochter in Ihrem Alter, und wenn ich mir vorstelle, sie würde auswandern …«
»Meine Familie ist mit meinem Entschluss nicht gerade einverstanden. Vor allem mein Vater lehnt sich dagegen auf«, unterbrach sie ihn. »Und um es uns nicht noch schwerer zu machen, haben wir uns gestern Abend voneinander verabschiedet«, setzte sie leise hinzu und wunderte sich selbst über ihre Aufgeschlossenheit.
Wieder sah sie aus dem Fenster. Der Wagen zog an den seit ihrer Kindheit vertrauten Häusern vorbei. Die Vorgärten waren gepflegt, obwohl der Herbst eingekehrt war und die Blätter von den Bäumen wirbelte. Unbehagen machte sich in ihr breit.
War es die Frage des Fahrers? Werde ich meine Eltern, meinen Bruder, meine kleine Schwester und Köln vermissen?
»Du gibst alles auf für eine jugendliche Verliebtheit! Ich hatte gehofft, aus dir würde etwas Besseres werden als eine Bauersfrau«, hörte sie im Geiste ihren Vater.
»Ihr wusstet, dass ich Sprachen studiert habe, damit ich im Ausland beruflich Fuß fassen kann.«
»Beruflich? Was willst du denn mit deinem Studium auf dem Dorf anfangen? Den griechischen Ziegen Italienisch beibringen?« Hatte er Recht? Heftig schüttelte sie den Kopf, versuchte, die Gedanken zu vertreiben. Was ist, wenn die Liebe zu Ilías … Hör auf!, rief sie sich zur Ordnung. Lass dich nicht verunsichern. Du hast den Entschluss gefasst, nun setz ihn auch um.
»Sagen Sie mal, wovon wollen Sie denn leben?«, fragte der Fahrer, während er sich auf den stockenden Verkehr konzentrierte, der auf dem Zubringer herrschte.
»Äh, ja … Olivenernte, Gemüseanbau, Schaf- und Ziegenzucht. Ich werde Unterricht in Sprachen geben.« Das Letztere brachte sie wieder überzeugender hervor. Der Mann schüttelte den Kopf, und Anna merkte an seiner Reaktion, dass er ihr nicht recht glaubte. Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend. Sie bogen auf die Autobahn Richtung Flughafen. Die graue Landschaft zog an ihr vorbei. Die Bäume waren fast kahl und die dünnen Äste bewegten sich im Wind, als würden sie ihr zum Abschied zuwinken.
Ilías Manusákis lebte seit seiner Geburt im Bergdorf Tourlotí auf der Insel Kreta. Sein muskulöser Körper passte zum Broterwerb als Bauer und Hirte. Die schwarzen, dichten Haare reichten ihm bis zu den Schultern, die dunkelgrünen Augen erinnerten an die Farbe von Olivenblättern. Mit seinen Eltern Sofía und Lámbros und der zwölf Jahre jüngeren Schwester Anthí wohnte er unter einem Dach.
»Eine Deutsche bringst du ins Haus!«, schimpfte der Vater und hob drohend den Hirtenstock. »Weißt du nicht, was die uns im Krieg angetan haben?«
»Bitte, Vater, wir leben in den Achtzigern. Du liegst mir ständig in den Ohren, mich mit meinen fünfunddreißig Jahren nach einer Frau umzuschauen. Nun bin ich glücklich verliebt. Anna«, er schaute auf die Uhr, »sitzt jetzt im Bus und ist auf dem Weg hierher. Wir diskutieren seit Wochen darüber. Wegen der Nachbarn wolltet ihr nicht, dass ich ausziehe. Also bitte, lass uns damit aufhören!«
»Sie ist elf Jahre jünger als du! Dazu zierlich und hübsch – die wird sich nicht lange mit einem Bauern abgeben wollen. Wenn sie erst mal …« Lámbros verband seine Aussage mit einer abschätzigen Handbewegung.
»Vater!«, rief Ilías und drehte sich zu seiner Mutter um. »Hat sie einen solchen Eindruck bei euch hinterlassen? Ihr habt Anna doch kennengelernt, als sie ihre Semesterferien bei uns verbracht hat.«
»Nun, da hat sie nicht in unserem Haus gewohnt«, sagte Sofía leise und zupfte ihr schwarzes Kopftuch zurecht. Sie setzte sich neben ihren Mann auf die Holzbank. Stille breitete sich in dem großen Raum aus. Die handgeschnitzte Bank, von der aus seine Eltern ihn ernst ansahen, war mit ihren aufwändigen Verzierungen das Schmuckstück des Zimmers. Davor stand ein Eichentisch mit sechs Stühlen. Schräg in der Ecke prunkte ein antiker Schrank, dessen Glasscheiben mit gestickten Gardinchen geschmückt waren. Ein bunter Teppich bedeckte den Betonboden.
Sofía senkte den Blick vor dem Groll in den Augen ihres Sohnes, bückte sich nach einem Faden, ging zum offenen Kamin und warf ihn in die Feuerstelle. Auf einem Holzregal daneben standen unzählige Bilderrahmen mit Familienfotos.
Gegenüber war eine Küchenzeile eingebaut, in der Sofía sich nun zu schaffen machte. Obenauf stand ein Gaskocher mit drei Feuerstellen. In einer Pfanne brutzelte ein Stück Lamm in Tomatensoße, im Kochtopf daneben köchelte frischer Brokkoli mit Kartoffeln aus dem Garten. Der appetitliche Duft konnte die Spannung, die in der Luft lag, nicht mildern. Anthí kam herein, legte Zitronen neben das Kochgeschirr. Danach vergrub sie die Hände in den Taschen ihrer karierten Schürze und meinte: »Nun gebt Anna wenigstens eine Chance. Mein Bruder ist glücklich – ich freu mich für ihn.«
Der Vater hob die Augenbrauen und gab ihr damit zu verstehen, sich herauszuhalten.
»Was tut mein eigener Sohn mir bloß an«, seufzte er laut. »Eine Ausländerin! Die kommen her, um Urlaub zu machen und liegen den ganzen Tag faul in der Sonne herum. Zum Zeitvertreib verdrehen sie abends in den Tavernen unseren Männern den Kopf. Und du willst mir erzählen, dass dieses Mädchen auf den Feldern mit anfassen wird? Pah!«
Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch. Ein schmales Tablett mit Schnapsgläsern und einer kleinen Karaffe Rakí geriet ins Wanken. Ein Granatapfel auf dem Obstteller machte sich selbstständig und rollte über die Tischplatte. Im letzten Moment konnte Ilías ihn vor dem Hinunterfallen abfangen.
»Sie heißt Anna, Vater!«, sagte er schneidend. »Ich geh jetzt zur Bushaltestelle.« Damit stand er auf und verließ ohne ein Wort des Abschieds den Raum. Dennoch hörte er den Vater hinter sich knurren und wusste, was in ihm vorging.
»Neue Sitten, das fängt ja gut an!«, schrie Lámbros zum Fenster hinaus. Ilías drehte sich nicht um.
Wie kann man mit zweiundsechzig so verbohrt sein?! Ilías stieg die Stufen zur Dorfstraße hinunter. Die Familie besaß ein Auto, das aber nur für die Feldarbeit im nahen Umkreis zugelassen war. Der Flughafen in Heráklion lag hundertzwanzig Kilometer entfernt, Ilías konnte Anna daher nicht abholen. Seine Schritte führten ihn an Onkel Manólis’ Taverne vorbei, die bis auf den letzten Platz besetzt war. Er grüßte freundlich, blieb stehen und wechselte ein paar Worte. Das Klacken der kombolói, der traditionellen Perlenschnur der griechischen Männer, war zu hören. Sachte glitten die Holzperlen eine nach der anderen durch deren Finger. Ilías sah auf die Uhr. Noch gut zwanzig Minuten bis zu Annas Ankunft. Bei dem Gedanken spürte er sogleich ein Kribbeln in der Bauchgegend. Freundlich nickte er dem Krämerladenbesitzer zu, der neben seiner Frau vor dem Geschäft stand. Habe ich mich in der Uhrzeit vertan? Wieso ist der Laden noch geöffnet? Als er zum Ortseingang kam, bemerkte er, dass auch die Taverne vom alten Dimítris gut besucht war. Nebenan stand der Bäcker mit seinen Angestellten am Fenster der Backstube. Ilías grüßte und ging weiter zur Busstation. Vor dem Wartehäuschen spazierte er hin und her. Immer wieder sah er an sich herab, um zu überprüfen, ob seine Kleidung keinen Fleck aufwies.
»Ilías«, hörte er jemanden seinen Namen rufen und drehte sich um. Der Automechaniker winkte ihm mit ölverschmierten Händen zu. Seine Ehefrau und die drei Töchter standen in der Werkseinfahrt im Kreis und diskutierten laut.
Ilías sah zum Himmel. Was für ein herrliches Wetter. Der strömende Regen der letzten Tage hatte aufgehört, die Sonne strahlte hell und warm vom blauen Himmel. Ein leichter Wind trocknete die Blätter der Bäume. Er schaute auf den Olivenhain, der das Dorf zur Hauptstraße hin abgrenzte. Der Niederschlag hatte gut getan. Zeit, dass die Ernte anfing. Er rieb sich die Hände. »Ilías, der Bus kommt!«, schrie der Automechaniker zu ihm herüber und gestikulierte aufgeregt. Nervös fuhr Ilías sich durchs Haar. Mit einem Mal begriff er, warum die Dorfbewohner sich versammelt hatten. Statt der Mittagsruhe wollten sie miterleben, wie seine Freundin Einzug im Dorf hielt. Ilías lächelte. Da hielt der Bus. Anna stieg aus, fiel ihm stürmisch um den Hals und gab ihm einen Kuss. Der Kontrolleur tippte ihr auf die Schulter und zeigte auf ihr Gepäck, das er aus dem Verstauraum geholt hatte. Sie dankte ihm, und schon setzte der Bus seine Reise fort.
»Hast du mich vermisst, Ilías?«
»Sehr.« Sie freute sich über seine strahlenden Augen.
»Jássou, herzlich willkommen!«, rief der Mechaniker über die Straße. Das Gekicher seiner Töchter war bis zu ihnen zu hören. Anna winkte, während Ilías das Gepäck nahm.
Die Blicke der älteren Männer, die vor Dimítris’ Taverne saßen, die Hände auf die Gehstöcke gestützt, verfolgten das junge Paar. Die Frauen, die an der Straße entlang vor den Häusern standen, musterten die beiden genau. Der Lebensmittelhändler hob den Hut zum Gruß, seine Frau nickte leicht.
»Die sind aber alle freundlich«, stellte Anna fröhlich fest. Schon kamen sie an Onkel Manólis’ Taverne vorbei. Er gab sich beschäftigt mit dem Abwischen eines Tisches vor der Tür. Anna grüßte lächelnd die Männer zu ihrer Linken und Rechten. Als sie vorüber waren, blickte sie sich, von Neugier gepackt, um und bemerkte, dass die Leute prompt wegsahen, als wären sie ertappt worden. »Mir kommt es vor, als würden wir beobachtet«, stellte sie fest.
»Du bist die Attraktion hier! Ich denke, sie schließen jetzt Wetten ab, wie lange du es mit mir und überhaupt hier aushalten wirst«, meinte Ilías. Dann stieg er die Stufen zum elterlichen Haus empor.
Dort steht seine Familie wie eine Mauer!, dachte Anna. Ihr wurde mulmig unter den skeptischen Blicken. Sie blieb stehen, winkte kurz und ließ Ilías alleine weitergehen. Dann drehte sie sich für einen Moment um und genoss die Sicht auf die Berge und das tiefer gelegene Dorf Sfáka, das sie erst vor wenigen Minuten mit dem Bus passiert hatte.
Sie sah die Dorfstraße hinunter. Die Häuser drängten sich eng aneinander. Der Regen hatte auf dem weißen Anstrich braune Schlieren hinterlassen. Vor einer Tür stand ein Granatapfelbaum, aufgeplatzte Früchte hingen an dünnen, blätterlosen Ästen. In einem Verschlag lagen gestapelte Holzscheite. Ein Auto fuhr durch die enge Gasse. Der Fahrer hupte zum Gruß. Anna schreckte aus ihrer Versunkenheit auf. Sie fasste sich ein Herz und drehte sich um. Die Familie verharrte noch in der gleichen Stellung. Ilías hatte sich bei ihnen eingereiht. Er zwinkerte ihr zu. Das gab ihr genügend Kraft, die letzten Stufen bis zur Haustür hinaufzusteigen.
Emmanouíl hielt den Wagen an und sagte: »Was stehst du hier auf der Straße? Konntest du mein Nachhausekommen nicht abwarten?« Geschwind öffnete Thália die Beifahrertür und schob sich auf den Sitz. »Hast du sie gesehen? Ilías’ Freundin aus Deutschland?«
»Ich bin gerade an ihr vorbeigekommen.«
»Und?«
Ohne eine Antwort zu geben, fuhr er langsam die wenigen Meter zu ihrem Haus und parkte in der Hofeinfahrt.
»Sie sieht toll aus!«, gab Thália selbst die Antwort. »Da kann ich mit meiner pummeligen Figur nicht mithalten.« Sie sah an sich herunter, strich den Pullover glatt. Dabei entwich ihr ein tiefer Seufzer. Schnell legte Emmanouíl den Arm um seine Frau und zog sie an sich.
»Wie kommst du denn auf die Idee, du wärst dick?«
Sie befreite sich und stieg aus. »Schau mal, ich habe breite Hüften, und mein Hinterteil ist auch nicht von schlechten Eltern.« Thália zeigte ihm die Stellen, indem sie sich hin und her drehte.
»Was habe ich bloß für eine Frau geheiratet.« Emmanouíl grinste spöttisch. Dann nahm er ihre Hand und zog sie ins Haus. Dort stellte er Thália vor die Garderobe. »Sieh in den Spiegel. Dein schwarzes Haar umspielt dein Gesicht. Du siehst feminin aus und nicht wie eine Bohnenstange. Deine Brüste sind wohlgeformt.« Er strich mit den Fingern darüber, und weiter über ihren flachen Bauch bis zu den Hüften. Dort verweilten seine Hände. »Du hast ein breites Becken, aber Fett finde ich nicht. Dein Po«, er griff fest zu, »der macht mich wahnsinnig.« Er drehte sie zu sich um. »Aber am liebsten habe ich deine Spitznase.« Er biss sanft hinein.
»Danke, du Schmeichler.« Thália sah ihn verliebt an.
»Weißt du, wie Ilías’ Freundin heißt?«
»Toll. Ich mache dir eine Liebeserklärung und du fragst nach ihrem Namen. Ich glaube, sie heißt Anna. Zufrieden? Können wir jetzt wieder zum Schmusen übergehen?«
»Nein!« Sie schob ihn weg. »Ich werde Anna einen Walnusskuchen backen und ihr zur Begrüßung vorbeibringen.«
»Gib’s zu, du bist neugierig«, schäkerte er.
»›Freundlich‹ würde ich es nennen. Abgesehen davon, ich denke, sie wird nicht viel älter sein als ich. Unsere Kinder könnten gemeinsam aufwachsen.«
Sie drehte sich um, aber Emmanouíl hielt sie am Arm zurück. »Kinder entstehen nicht durchs Backen. Verstehst du?« Verführerisch hauchte er ihr die letzten Worte ins Ohr.
»Dazu haben wir später ausreichend Zeit.« Schnell drückte sie ihm einen Kuss auf den Mund und verschwand in der Küche.
»Ich erinnere dich daran!«, rief er ihr hinterher.
»Da bin ich mir sicher. Seit Wochen gibt es keine andere Freizeitbeschäftigung für dich.«
»Das kommt aber vorwurfsvoll rüber. Hast du etwas dagegen?«
Thália drehte sich um. Emmanouíl stand im Türrahmen und sah sie skeptisch an. Sie ging auf ihn zu. »Nein. Schließlich möchte ich ein Kind von dir.« Auf Zehenspitzen flüsterte sie ihm ins Ohr: »Nichts anderes ist wichtiger!« Dann zog sie ihn mit sich ins Schlafzimmer.
Aufgrund von Annas Sprachenstudium in Französisch, Englisch, Italienisch und Griechisch stand der Verständigung eigentlich nichts im Wege. Lámbros nickte jedoch nur kurz mit dem Kopf, ohne Anna anzuschauen. Anthí verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln. Sofía lud Anna mit einer zögernden Handbewegung ein, am Küchentisch Platz zu nehmen. Mit einem leichten Zittern in den Beinen kam sie der Aufforderung nach. Die Begrüßung habe ich mir freundlicher vorgestellt.
Anna fühlte den eisigen Blick des Vaters, den er ihr zuwarf, ehe er ihn auf seinen Teller senkte und das Essen laut schmatzend zu sich nahm. In einer Hand hielt er die Gabel, in der anderen statt eines Messers ein Stück Weißbrot. Dieser Anblick war ihr aus den Semesterferien vertraut. Des Öfteren hatte sie beobachtet, dass die Einheimischen das Brot benutzten, um Bissen auf die Gabel zu schieben.
Sobald sich ihr Teller leerte, schöpfte Sofía nach. Von der Reise hungrig, griff Anna dankbar zu. Sie nahm den Lammknochen zwischen die Finger und knabberte das restliche Fleisch ab. Plötzlich sah der Vater auf. Sofort fühlte sie sich unbehaglich und legte den Knochen zurück.
»Iss du ruhig weiter mit den Fingern.« Ilías nahm sich seinen eigenen Knochen vor. Anna atmete erleichtert auf.
Nach der ausgiebigen Mahlzeit brachte Anthí Kuchen, Obst und Kaffee. Der Vater schenkte Rakí ein und reichte Anna ein Glas.
»Jamas! Auf die Gesundheit.« Er hob das seine und stieß an, ohne jemandem dabei in die Augen zu sehen. Schade, dass sich die meisten Griechen beim Zuprosten nicht anschauen, ging es Anna durch den Kopf. In einem Zug trank sie den Schnaps – und fing sofort fürchterlich zu husten an. Ilías gab ihr ein Glas Wasser. Hastig leerte sie es.
»Der ist nicht so lasch wie in den Tavernen. Das ist bis zu fünfzigprozentiger Alkohol. Wir brennen ihn selbst. Den kannst du nur in kleinen Schlucken genießen«, flüsterte er ihr zu. Sie erkannte aus dem Augenwinkel, dass der Vater in seinen Bart hineinlächelte, während er ihn mit den Fingern langstrich.
Kurz darauf beschäftigten sich Sofía und ihre Tochter mit dem Spülen. Sie klapperten lautstark mit den Tellern. Gemütlich auf der Bank zurückgelehnt, stopfte Lámbros seine Pfeife. Dann zündete er sie an und zog kräftig daran. Das Streichholz warf er Richtung Kamin; es landete davor auf dem Boden. Anna bemerkte, dass es nicht das erste war, welches das Ziel verfehlt hatte. Aus seiner Hosentasche zog Lámbros ein kombolói. Die Holzperlen glitten durch seine Finger, und ihr leises Klacken klang durch den Raum.
»Du willst bei der Olivenernte helfen?« Lámbros wandte sich Anna zu.
»Gerne, Herr Manusákis.«
»Du kannst uns alle beim Vornamen nennen«, sagte er. »Sehr freundlich.« Anna reichte ihm die Hand, und Lámbros betrachtete sie von allen Seiten. »Nun, viel Arbeit hat die noch nicht zu sehen bekommen«, stellte er fest.
»Ich habe nie körperlich gearbeitet. Neben meinem Studium habe ich Nachhilfeunterricht in Sprachen gegeben.« Verlegen zog Anna die Hand zurück. Der Vater deutete mit der Pfeife auf sie. »Für die Ernte taugt diese Kleidung nicht.«
Dass ich in engen Jeans und Pumps nicht in die Bäume steigen kann, weiß ich selbst.
Laut sagte sie: »Ist alles in meinem Koffer.« Sie sprang auf, ging zum Gepäck.
»Du brauchst meinem Vater deine Sachen nicht zu zeigen«, warf Ilías ein. Sie lachte verlegen und setzte sich wieder. Dann schaute sie ihrem Gegenüber in die Augen.
»Lámbros, ich kann mir gut vorstellen, dir wäre eine einheimische Bäuerin an Ilías’ Seite lieber.«
»Schon gut«, unterbrach Lámbros sie und senkte den Blick auf die Pfeife.
»Ich kann nicht versprechen, dass ich gut für die Arbeit auf dem Feld oder im Olivenhain bin, aber ich weiß, dass ich Ilías liebe. Ich habe nicht für eine jugendliche Laune mein Geburtsland und meine Familie verlassen«, endete sie und spürte, wie Ilías eine Hand auf ihr Bein legte und leicht zudrückte. Der Vater nickte, stand auf und verließ den Raum. Ilías nahm Annas Arm und zog sie mit ins gemeinsame Zimmer, ihr neues Heim.
Die ersten fünf Tage waren für Anna anstrengend. Sie konnte das Dorf nicht erkunden, weil es unaufhörlich regnete und das Haus obendrein einem Bienenstock glich. Die gesamten Bewohner gingen bei Manusákis’ ein und aus. Die Neugier auf die blonde Frau aus Deutschland trieb sie her. Schnell stellte Anna fest, dass fast jeder mit jedem auf irgendeine Weise verwandt war. Ihr besonderes Interesse galt jedoch Sofía und Anthí, denen es anscheinend nichts ausmachte, die ungeladenen Gäste zu bewirten. Vielmehr sah es danach aus, als seien sie darauf vorbereitet gewesen. Im Wohnzimmer, das nur zu besonderen Anlässen genutzt wurde, prosteten sich die Männer zu und spielten mit ihren Perlenketten. Die Frauen hatten es sich in der Küche gemütlich gemacht.
Obwohl Mutter und Tochter ununterbrochen zwischen Küche und Salon hin und her eilten, um ständig neue Gerichte aufzutragen, konnte Anna ihnen keinerlei Anstrengung anmerken; tatsächlich spiegelten ihre Gesichter Freude wider. Nach dem Mittagessen wurde es ruhiger, doch in den Abendstunden erschienen die Besucher erneut in Scharen. Kaum Zeit für Anna und Ilías, ungestört allein zu sein. Sie genossen die wenigen Stunden Zweisamkeit, wenn sie abends im Bett lagen. Oft hielten sie sich in den Armen, ohne ein Wort miteinander zu sprechen, und schliefen erschöpft ein.
Die Sonne setzte sich schließlich gegen die gewaltigen Regenwolken durch, die der Wind gen Osten schob.
»Morgen fangen wir mit der Olivenernte an«, erklärte Ilías.
Anna streckte die Beine unter dem Küchentisch aus und reckte die Arme zur Decke. Noch saß ihr der gestrige Abend in den Knochen. Nach all den Besuchern, die erst gegen Mitternacht gegangen waren, fühlte sie sich müde und schlapp. »Und?«, fragte sie gähnend.
»Mutter und Anthí bereiten heute das Essen vor, das wir mitnehmen werden. Vater und ich beladen den Pick-up mit den Gerätschaften. Morgen früh geht’s eine Stunde eher aus den Federn, damit wir vorher im Stall noch die Tiere füttern können. Wir fangen mit unserem Grundstück in den Bergen an, dort sind die Oliven reifer.« Er gab ihr einen Kuss.
»Habt ihr viele Bäume?«, fragte sie.
»An die tausend.«
»So viele?«
»Anna«, er lächelte sie an, »andere Familien besitzen weitaus mehr.«
Sie schluckte. »Wer hilft euch bei der Ernte?«
»Du.« Er zeigte mit der Hand auf sie.
»Willst du mir weismachen, deine Eltern, Anthí und du – ihr bewältigt das ganz allein?«
»Schon in unserer Kinderzeit haben wir mitgeholfen. Mach nicht so ein verdutztes Gesicht.« Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Das ist Tradition. Früher halfen meine Großeltern mit.« Er ging zum Kaminsims und kam mit einem Bild zurück. »Sie leben in Athen bei Vaters Schwester. Das sind Ilías und Déspina.« Das Foto zeigte ein älteres Paar.
»Ilías?« Anna kräuselte die Stirn.
»Ich bin nach meinem Großvater väterlicherseits genannt worden. Auch das ist eine alte Tradition«, erklärte er. »Dann müsste es in jeder Familie aber viele mit gleichem Namen geben.« Sie lachte unwillkürlich laut auf.
»Das stimmt.«
»Was für ein Krach am frühen Morgen«, grollte es aus dem Flur herüber. Anna zog die Schultern hoch und hielt sich die Hand vor den Mund. Da stapfte Lámbros schon in die Küche.
»Kaliméra.« Sie wich seinem strafenden Blick aus.
Er setzte sich auf die Bank und sagte: »Morgen geht’s los. Ich hoffe, du bist bereit.« Anna beschlich das Gefühl, als würde sein Blick durch sie hindurchgehen. »Dass du mir nicht vom Baum fällst. Wir haben keine Zeit, dich in das weit entfernte Krankenhaus zu bringen. Die Oliven müssen schnell runter, in die Säcke und ab zur Fabrik, damit wir einen guten Säurewert bekommen.« Er zog die Pfeife aus der Jackentasche, Tabak krümelte auf Bank und Boden. Der Vater beschäftigte sich mit dem Stopfen und Anzünden. Sie beobachtete ihn.
Ich werde später Ilías fragen, was das mit dem Säurewert auf sich hat. Bestimmt falle ich nicht vom Baum. Trotzig sah sie Lámbros an, als hätte sie die Worte laut ausgesprochen. Dann erhob sie sich und ging aus dem Zimmer. Im Hintergrund hörte sie die beiden Männer miteinander diskutieren. Leise schloss sie die Tür und setzte sich aufs Bett. Was ist, wenn ich es nicht schaffe? Wenn ich zu schlapp zum Olivenernten bin? Ich weiß gar nicht, wie das geht! Ob mir Ilías alles erklärt? Was ist, wenn ich auf die Toilette muss? Sie stand auf und suchte die Kleidung zusammen, die sie bei der Ernte tragen wollte. Schon bald hatte sie eine Auswahl getroffen. Wird schon alles gut werden, dachte sie. Um sich von den Gedanken an die Olivenernte abzulenken, nahm sie ein Buch zur Hand und versuchte, sich auf die Handlung zu konzentrieren.
»Aufstehen, die Olivenbäume warten«, flüsterte Ilías ihr ins Ohr. Gemächlich hob Anna die Lider und sah, dass er bereits fertig angezogen vor ihr stand. Sie rieb sich die Augen, reckte und streckte ihre müden Glieder. Dann fragte sie gähnend: »Bist du schon lange auf?« Sie schob die Decke zur Seite, schwang die Beine hinaus. Er gab ihr einen Kuss.
»Wir haben die Tiere gefüttert. Jetzt trinken wir einen Kaffee, dann fahren wir.«
»Kein Frühstück?« Sie wickelte den Bademantel um sich, zog den Gürtel eng zusammen.
»Erst müssen die Netze liegen.« Schon war Ilías verschwunden. Schnell wusch sich Anna mit dem eisigen Wasser und steckte ihr Haar gekonnt hoch. Zog die Cordhose und einen warmen Rollkragenpullover an, darüber ihre Strickjacke. Dann schlüpfte sie in die Wanderschuhe.
»Kaliméra«, grüßte Anna, als sie in die Küche kam, ging zur Kochstelle und machte sich einen griechischen Kaffee – stets verfolgt von Lámbros’ Blick.
Schau du ruhig skeptisch drein, Lámbros, ich werde lernen, eine Bäuerin zu sein.
Sofía verstaute den Proviant in einem großen Weidenkorb, während ihre Tochter einen Kanister Wasser hereintrug. Auf dem Tisch standen Plätzchen. Anna griff danach und tunkte eines in den Kaffee. Die Männer unterhielten sich über die Olivenernte. Sofía spülte die Tassen, stellte sie in den Geschirrständer, rieb sich die Hände an der Schürze ab. Als wäre das ein Zeichen gewesen, sagte Lámbros: »Es geht los.«
Anna setzte sich neben Ilías auf die Ladefläche des Pick-ups. Er klopfte aufs Autodach. Daraufhin startete der Vater den Wagen. Im Schritttempo fuhren sie durch die engen Straßen. Die Nachbarfamilie stand vor der Haustür, auch sie fertig zur Abfahrt. Einige Bewohner gingen zu Fuß und trugen ihre Säcke sowie Gerätschaften auf dem Rücken.
»Eine gute Ernte!«, schallte es durch die Gassen.
Maria, die dreiundneunzigjährige Dorfälteste, saß auf ihrem Esel und hieb leicht mit dem Stöckchen auf sein Hinterteil. Am Dorfeingang standen zwei vom Alter gebeugte Männer. Ihre Olivenbäume befanden sich unterhalb des Friedhofes. Die Netze waren schon ausgelegt. Mit ihren Hüten winkten sie den Vorbeikommenden zu. Ein gutes Gefühl machte sich in Anna breit. Wenn die Ältesten es schaffen, werde ich auch durchhalten, schließlich bin ich um Jahrzehnte jünger. Sie fuhren auf der Hauptstraße Richtung Osten. Anna lehnte den Kopf ans Führerhaus. Der Wind wehte ihr ins Gesicht.
Sie betrachtete das Panorama: Die Olivenhaine erstreckten sich bis zum Meer. Dazwischen vereinzelte Häuser, die oberhalb der Baumwipfel an den Berghängen hervorlugten. Sie sog die kühle Luft tief in ihre Lungen. Lámbros bog in einen Feldweg ein. Bei der Bergfahrt heulte der Motor gequält auf. »Ist es noch weit?« Anna sah zu Ilías hinüber.
»Gleich müssen wir laufen. Der Wagen schafft es nicht, uns alle hochzufahren.«
Da bremste Lámbros auch schon. Anna und Ilías sprangen von der Ladefläche, Anthí und ihre Mutter stiegen aus. Der Vater fuhr weiter. Die Schuhe versanken im aufgeweichten Erdreich. Nach einem zehnminütigen Anstieg hatten sie ihr Ziel erreicht. Lámbros verlor keine Zeit. Hurtig zog er die Netze vom Wagen. Ilías half ihm. Sofía und ihre Tochter hoben den Proviantkorb und den Wasserkanister herunter und trugen die Last an einen Platz, wo einige Steine im Kreis lagen. Eine Feuerstelle, dachte Anna. Alles ging ohne Worte vor sich. Anna fühlte sich unwohl in ihrer Haut, jeder schien seinen Handgriff zu kennen. Was sollte sie machen? Einfach zugreifen, entschied sie.
Voller Tatendrang schritt sie auf den Wagen zu, stieg nochmals auf und zog ein Netz an den Rand, sodass die Männer es besser herunterheben konnten. Lámbros murmelte in seinen Bart. Habe ich etwas falsch gemacht? Sie ließ sich nicht weiter irritieren, legte die Holzstöcke zusammen. Wozu die wohl sind? Sie zuckte mit den Schultern und reichte sie Ilías.
Als sie gerade dabei war, die Jutesäcke zur Ladeklappe zu ziehen, hielt Lámbros sie auf. »Die brauchen wir nicht! Wir haben noch keine Oliven geerntet, oder?« Unter seinem kritischen Blick sackte sie kurz in sich zusammen. Doch dann nahm sie entschlossen den Rucksack und sprang von der Ladefläche. Anthí und Sofía waren bereits dabei, die Netze unter den Bäumen auszubreiten. Ein eingespieltes Team, stellte Anna fest. Verdammt! Ich will hier nicht nur dumm rumstehen und glotzen. Wieso erklärt mir keiner was?!
Sie sah, dass Ilías und sein Vater, jeder mit einer Säge in der Hand, auf die Bäume kletterten, unter denen bereits Netze lagen. Sie beobachtete, wie Lámbros, sich am Stamm festhaltend, zur Baumkrone hochblickte. Anna ging neugierig einen Schritt näher darauf zu. Er sägte einen dicken Ast ab. Als der zu Boden fiel, sprang sie erschrocken zur Seite. »Geh weg!«, schrie Lámbros. Schon krachte der nächste herab. Sie erkannte, dass die Äste aus der Mitte heraus abgesägt wurden, sodass es aussah, als würde der Baum eine Krone tragen.
Nach einiger Zeit stiegen die Männer herunter, legten ihre Sägen ab und gingen Richtung Auto, wo Sofía mit ihrer Tochter gerade eine Decke auf dem Waldboden ausbreitete.
Sie haben sich ihr Frühstück verdient, doch was habe ich gemacht? So habe ich mir das nicht vorgestellt.
Anna setzte sich neben Ilías, der ihr sanft über die Hand strich. Dann griff er nach einem hartgekochten Ei. Einzig die Kaugeräusche störten die Stille der Natur. Anna hatte keinen Appetit. Niemand sprach. Lámbros’ Blick ging zu den Olivenbäumen hinüber, ab und zu nickte er. Ilías war voll und ganz mit dem Essen beschäftigt. Den Kopf an einen Baumstamm gelegt, schaute Anthí in den Himmel, während Sofía Gläser mit Wasser füllte und vor jeden eins hinstellte.
So konnte es nicht weitergehen. Anna fasste sich ein Herz. Sie nahm einen kräftigen Schluck, räusperte sich. Plötzlich waren alle Augenpaare auf sie gerichtet. Nur nicht schlapp machen. »Ich komme mir ziemlich nutzlos vor.« Sie schaute in die Runde. Lámbros zog die Augenbrauen zusammen.
»Wie meinst du das?«, fragte Ilías.
»Ich will nicht herumstehen und euch bei der Arbeit zusehen. Ich möchte mit anfassen!«
»Aber das machst du doch«, mischte sich Sofía ins Gespräch ein.
»Sei ehrlich, was mache ich denn schon?«
»Nun, du hast …«, setzte Anthí an, doch anscheinend fiel ihr nichts ein, weil sie mitten im Satz aufhörte.
»Siehst du.« Anna gestikulierte mit den Händen. »Jeder weiß, zu welcher Arbeit er eingeteilt ist. Ich nicht. Ihr müsst mir schon sagen, was ich zu tun habe.« Sie atmete tief ein, weil sie durch das schnelle Reden außer Atem geraten war. Keiner reagierte. Lámbros gab seiner Frau ein Zeichen, daraufhin goss sie ihm Kaffee aus der Thermoskanne ein.
Was nun? Anna biss sich auf die Unterlippe.
»Hab ich die falsche Kleidung an?« Lámbros schüttelte den Kopf. Wenigstens eine Reaktion. »Ich will nicht wie ein Gast bedient werden, sondern Oliven ernten. Aber wenn es mir keiner beibringt, wie soll ich dann hilfreich sein?« Ungewollt war sie lauter geworden; sie war kurz vor dem Verzweifeln und spürte Tränen aufsteigen. Schnell stand sie auf und entfernte sich von der Gesellschaft.
Auf einmal stand Ilías hinter ihr, nahm sie in den Arm. Sie legte den Kopf an seine Brust. Ihr Blick fiel auf Lámbros, der seiner Frau etwas zuflüsterte. Beide deuteten auf Anna. Der Vater stand auf und kam auf sie zu. Ihr Herz schlug schneller. Sie schob Ilías ein Stück weg.
»Komm mal mit«, sagte Lámbros und ging weiter.
Was hat er vor? Will er mich zurechtweisen? Hilfesuchend drehte sie sich im Gehen nach Ilías um – und stieß prompt mit Lámbros zusammen, der stehen geblieben war. Sie stolperte rückwärts, fing sich wieder. Er hielt zwei kurze Holzstöcke in der Hand und reichte ihr einen. Sie griff danach. Lámbros bückte sich, hob einen abgesägten Ast auf und hieb auf ihn ein. Sofort purzelten unzählige Oliven aufs Netz.
»Siehst du? Du hältst das Ende fest, lehnst den Ast gegen dein Bein, schlägst mit dem Stock auf ihn ein.« Lámbros sah kurz auf. Anna nickte. Am liebsten wäre sie vor Freude gehüpft, als die ersten selbst geernteten Oliven ins Netz fielen. Es sah aus, als würden sie beim Aufschlagen tanzen.
»Du musst ihn hin und wieder drehen, damit auch alle Oliven herunterfallen«, mahnte Lámbros. Eifrig griff sie nach dem nächsten Ast. Sorgsam achtete sie darauf, dass sie nicht auf die Oliven trat, die schon am Boden lagen. Endlich eine Aufgabe.
Als Anna sich unbeobachtet fühlte, bückte sie sich und hob eine Handvoll der gerade von ihr geernteten Oliven auf. Ließ sie in der Handfläche rollen und versuchte, den Geruch der Früchte auszumachen.
Bevor sie sich eine Meinung bilden konnte, hörte sie Lámbros brummen: »Wusste ich es doch, viel zu schwach für die Ernte.« Schnell nahm Anna die Arbeit wieder auf. Schon nach kurzer Zeit zog sie die Strickjacke aus und band sie sich um die Hüften. Anna summte. Die gleichmäßigen Schläge hallten durch die Natur. Baum für Baum wurde abgeerntet.
Plötzlich schrak sie zusammen und ließ den Stock fallen. Ilías hatte ihr auf die Schulter getippt. »Ich habe dich drei Mal gerufen. Doch du bist so in deine Arbeit vertieft.« Er lächelte sie an.
»Puh!« Mit dem Handrücken wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. »Ich bin ganz schön ins Schwitzen geraten.«
»Kein Wunder, du schuftest wie eine Wilde.« Er zog sie in seine Arme. »Es ist Zeit zum Mittagessen.« Anna sah auf die Armbanduhr. »Schon so spät!« Sie bemerkte, dass sich in ihren Handflächen kleine Blasen gebildet hatten.
»Morgen bekommst du Handschuhe«, sagte Ilías.
Die restliche Familie hatte mit dem Essen angefangen. Die zwei Minuten hätten sie auch ruhig warten können.
Keiner sprach; dabei hatte sie sich ein kleines Lob erhofft. Sie griff nach einem Stück Brot, kaute enttäuscht darauf herum.
»Mit Brot allein bleibst du nicht bei Kräften.« Ilías reichte ihr Besteck. Sie beobachtete, dass jeder mit seiner Gabel in eine gelbliche Masse tauchte, also machte sie es ihnen nach. »Was ist das?«, fragte sie mit vollem Mund.
»Fáva, Kichererbsenpüree mit Olivenöl und frischen Zwiebelringen«, antwortete Sofía.
»Lecker!« Anna nahm erneut. Zum Abschluss gab es Orangen. »Die schmecken zuckersüß«, stellte Anna begeistert fest, leckte sich den Saft von den Fingern. Dabei erhaschte sie ein Lächeln von Ilías’ Vater. Dass der Brummbär das kann. Lámbros streckte sich aus, stopfte die Pfeife, zog genüsslich daran. Wenig später nahm er sein kombolói und ließ die Perlen rollen. Anna packte die Gelegenheit beim Schopf und verschwand ein Stück weiter in den Büschen.
Als sie zurückkam, waren die anderen schon fleißig bei der Arbeit. Sie hatte auf dem Rückweg Pilze gefunden und dabei die Zeit vertrödelt.
»Du kennst dich mit Pilzen aus?«, fragte Ilías’ Mutter. »Die sind gut, oder?« Sofía nickte zur Antwort. Plötzlich tauchte Lámbros neben ihnen auf. »Mittagspause ist zu Ende! Los!«, brummte er und ging an ihnen vorbei zum Auto. Anna legte die Pilze auf den Boden, lief zu ihrem Platz. Ohne nochmals aufzublicken, hieb sie wütend auf die Äste ein, sodass die Oliven zu allen Seiten wegspritzten.
Der Geruch von Desinfektionsmittel stieg Thália in die Nase; sie atmete flach, während sie im Krankenhausflur wartete, bis sie an der Reihe war. Dabei beobachtete sie die anderen Patientinnen. Nahezu alle Frauen waren schwanger. Thália musterte die Männer, die hin und wieder erschienen, sich zu ihrer Liebsten hinunterbeugten, sprachen, dabei aufs Arztzimmer deuteten. Kurz darauf entschwanden sie abermals nach draußen. Nervös spielte Thália am Riemen ihrer Handtasche. Eigentlich sollte ich bei dem schönen Wetter mit im Olivenhain stehen, meldete sich ihr Gewissen. Sie dachte an Emmanouíl, der mit Verwandten bei der Ernte war. Seit vierzehn Tagen hatte er Urlaub, um ihnen zu helfen. Bald musste er wieder seiner Arbeit auf dem Postamt nachgehen. Im Dorf gab es Beschwerden, dass der Schalter nur an wenigen Tagen, und dann mit einer Aushilfe, besetzt war, die zudem aus Sitía kam. Die älteren Bewohner wollten keine Veränderungen. Sie waren seit Jahren daran gewöhnt, ihre monatliche Rentenzahlung bei Emmanouíl in Empfang zu nehmen. Und die fiel in die kommende Woche.
Meine Güte. Nichts geht weiter. Ich möchte endlich Gewissheit haben. Als wäre ihr Bitten erhört worden, bat die Schwester Thália nun ins Behandlungszimmer. Mit zittrigen Beinen, jedoch voller Erwartung setzte sie sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Der Gynäkologe begrüßte sie. »Was führt Sie zu mir?«
»Ich bin seit fünf Tagen über die Zeit. Könnten Sie bitte nachsehen, ob ich schwanger bin?« Sie knetete die Finger im Schoß.
»Wir fangen mit einem Urintest an. Bitte gehen Sie zum Labor und lassen sich einen Becher geben. Wenn Sie den Befund haben, kommen Sie wieder zu mir zurück.« Er nickte der Assistentin zu, die Thália die Tür öffnete.
Nach einer Stunde hielt Thália das Testergebnis in den Händen. Sie drückte sich in eine Flurnische und öffnete den gefalteten Bogen. Ihr Herzschlag erhöhte sich, sie war kaum in der Lage, den Befund ruhigzuhalten, so sehr zitterten die Hände. Sie schloss die Augen. Lieber Gott, bitte, lass mich schwanger sein.
Nach einem letzten tiefen Durchatmen nahm sie allen Mut zusammen und las das Ergebnis. Negativ! Ihre Beine gaben nach. Um nicht umzufallen, lehnte sie sich an die Wand.
Nein. Das kann nicht sein. Wieder starrte sie auf das Wort, als könne es sich von einem Augenblick zum anderen in ›positiv‹ verwandeln.
»Ich bekomme meine Periode sonst auf den Tag genau«, sagte sie, nachdem der Doktor ihr das Ergebnis bestätigt hatte.
»Das Ausbleiben kann auch eine andere Ursache haben. Ich mache einen Abstrich. In ein paar Tagen werden wir sehen, ob eine Erkrankung vorliegt.« Thália nahm auf dem Gynäkologenstuhl Platz, lehnte sich zurück und faltete die Hände auf dem Bauch. »Denken Sie, ich bin krank?«
»Hatten Sie in letzter Zeit Ausfluss?«
»Nein.«
»Andere Beschwerden?«
»Nein, ausgenommen, dass ich meine Periode nicht bekam und hoffte, schwanger zu sein. Kann der Test falsch sein? Vielleicht sind es zu wenig Tage, die ich drüber bin?«
»Wenn Sie den Befund erhalten und Ihre Periode sich bis dahin nicht eingestellt hat, werden wir den Test wiederholen.« Er strich die Probe auf ein Glasplättchen und legte es in eine Plastikschale. »Bringen Sie den Abstrich ins Labor und fragen Sie nach, wann die Auswertung fertig ist. Wir sehen uns dann wieder.« Er verließ den Raum. Thália kleidete sich an und ging ein weiteres Mal den langen Flur entlang zum Labor.
Erschöpft kam Emmanouíl am Abend von der Ernte heim und fand seine Frau im Wohnzimmer auf der Couch liegend vor. Sie sah ihn aus rotgeweinten Augen an. »Ich bin nicht schwanger. Der Arzt hat einen weiteren Test gemacht.«
»Und?«
»In einer Woche ist der Befund fertig.«
»Vielleicht kann ich für ein paar Stunden die Post schließen und mit dir fahren.«
»Bist du nicht enttäuscht?« Sie setzte sich auf.
»Warum? Wir sind jung und haben das ganze Leben noch vor uns. Ob du jetzt schwanger bist oder nächsten Monat, darauf kommt es nicht an. Hauptsache, du bist gesund.«
Liebevoll legte er die Arme um sie. Plötzlich zog ein krampfartiger Schmerz durch Thálias Unterleib. »Ich muss auf die Toilette, ich bekomme gerade meine Periode.«
In den nächsten Tagen hatte Thália das Gefühl, die Blutungen würden nie mehr aufhören. Nachts verbrachte sie die Zeit mit Grübeln, aus Angst, krank zu sein. Am Morgen erwachte sie wie gerädert und schleppte sich zur Olivenernte. Emmanouíl erhielt keine Erlaubnis, den Schalter zu schließen. Deshalb fuhr Thália alleine mit dem Bus in die Stadt.
»Ihr Abstrich ist unauffällig«, sagte der Doktor. Thália atmete auf. »Woran kann die Verspätung liegen, wenn ich ansonsten gesund bin?« Sie biss die Zähne zusammen, um ihre Nervosität zu unterdrücken.
»Hatten Sie in letzter Zeit Stress?«
»Die Olivenernte und der Haushalt, mehr nicht.«
»Denken Sie permanent daran, schwanger zu werden?« Sie senkte den Blick, wickelte sich den Gurt ihrer Handtasche um den Finger und zog ihn fest zu. »Ich wünsche mir sehnlichst Kinder. Mein Mann auch«, setzte sie schnell hinzu. Der abgeschnürte Zeigefinger wurde weiß. Schnell lockerte Thália den Riemen.
»Wie lange sind Sie verheiratet?«
»Seit fünf Monaten. Da müsste es längst geklappt haben. Früher wurde ich schnell schwanger.« Tränen schlichen sich in ihre Augen, doch sie schluckte sie hinunter.
»Aber damals wollten Sie nicht schwanger werden.« Der Arzt nahm den Block zur Hand.
»Sie meinen, ich sollte nicht ständig daran denken?«