ICH,
TOCHTER
EINES
YAKUZA

SHOKO TENDO

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1. Auflage 2015

© 2015 by riva Verlag, ein Imprint der FinanzBuch Verlag GmbH, München,
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096

Übersetzung: Cora Hartwig, Hirofumi Yamada
Redaktion: Caroline Kazianka
Korrektur: Rainer Weber
Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt
Umschlagabbildung: Hiroya Kaji
Innenteil-Fotografien: Fotos 1-12 mit freundlicher Genehmigung von Shoko Tendo, Fotos 13-23 © Jeremy Sutton-Hibbert
Satz: HJR, Manfred Zech, Landsberg
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

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In Gedenken an meine Eltern

DIE PRESSE ÜBER ICH, TOCHTER EINES YAKUZA

»Gelegentlich dreht es einem bei dieser Biografie, die ganz Japan gefesselt hat, den Magen um … das Buch bietet eine seltene weibliche Perspektive auf Japans kriminelle Unterwelt.«

The Independent

»Die erste Frau, die je das Schweigegebot gebrochen hat und über das Leben der Frauen in der Unterwelt spricht … in ihrer Bestsellerbiografie schockierte sie ganz Japan mit der plastischen Schilderung ihrer Sucht nach Sex, Drogen und gewalttätigen Liebhabern.«

Marie Claire

»Viel wurde über Japans Gangster geschrieben – ihre Ganzkörpertätowierungen, die Saufgelage, die Affären, den strengen Ehrenkodex und die gelegentlichen Gewaltausbrüche. Sehr wenig hörte man von Geliebten, Töchtern oder Ehefrauen. Tendo war alle drei.«

Bloomberg

»Eine schaurige und grelle Geschichte über Familienleben und Liebe bei den Yakuza. Eine schäbige und unglamouröse Welt – und die Yakuza-Subkultur wird mit Sicherheit nicht so schnell wieder das Gefallen der Öffentlichkeit finden.«

Wall Street Journal

»Ein roher, herzzerreißender Bericht einer zerstörten Jugend.«

Bust

»Eine packende Biografie … ein exklusiver Blick in ein Leben, wie man es selten aus erster Hand erlebt.«

Time Out Chicago

»Tendo sticht als eine von wenigen heraus, die es geschafft haben, sich aus einer Unterschicht zu befreien, in der das Leben für gewöhnlich kurz, übel und brutal ist.«

The Japan Times

»Eine ungeschminkte Erzählung über den hart erkämpften Triumph einer – möglicherweise unbewusst – starken Frau, die sich niemand entgehen lassen sollte, der Interesse daran hat, etwas über eine nahezu unbekannte Seite Japans zu erfahren.«

Mainichi Daily News

»Das Buch und seine Geschichte der Tochter eines Yakuza-Bosses haben die Vorstellungskraft des ganzen Landes gepackt.«

Asahi Shimbun

»Als Tochter eines Yakuza geboren, als Teenager bereits in einer Welt voller Sex und Drogen, in den Zwanzigern tätowiert … Tendos Augen haben den wissenden Glanz von einer, die in der Hölle war und wieder zurückgekommen ist.«

Josei Seven Magazine

»Ein Leben auf der Achterbahn offengelegt …«

Fujinkoron

VORWORT DER TASCHENBUCHAUSGABE

Mehr als vier Jahre sind vergangen, seit Ich, Tochter eines Yakuza das erste Mal auf Japanisch veröffentlicht wurde. Dieses Buch zu schreiben war für mich die Chance, mich endlich den Dämonen zu stellen, die mich mein Leben lang gequält haben. Als ich 2004 schließlich das Manuskript beendet hatte, fühlte ich mich von einer schweren Last befreit, und zum ersten Mal seit langer Zeit konnte ich wieder lächeln. Aber obwohl ich beim Schreiben des Buches immer die Worte im Kopf hatte, die mein Vater mir vor seinem Tod in einem Brief geschrieben hatte – »Shoko, bitte hör nie auf, an dich zu glauben« –, hätte ich nie gedacht, dass dieses Buch so erfolgreich werden würde.

Nach einer anfänglichen, vonseiten meines ersten japanischen Verlages vorsichtig angelegten Druckauflage von nur 1000 Exemplaren hat das sich Buch in Japan mittlerweile fast 100 000 Mal verkauft und wurde in mehr als ein Dutzend Fremdsprachen übersetzt. Allein die Vorstellung, dass meine Geschichte von Italien bis Thailand und überall dazwischen gelesen wird, ist unglaublich!

Das sind Länder, die ich nur auf den Seiten von Bilderbüchern besucht habe, in die ich mich geflüchtet habe, wenn ich als Kind von anderen Kindern schikaniert wurde.

Während der letzten vier Jahre habe ich lange und gründlich darüber nachgedacht, warum das Buch nicht nur in Japan, sondern auf der ganzen Welt so erfolgreich ist.

Vielleicht unterscheidet sich Ich, Tochter eines Yakuza von anderen japanischen Büchern und Filmen über die Yakuza dadurch, dass andere Autoren und Regisseure die Yakuza-Protagonisten gern als Helden darstellen. Doch in meinem Buch werden Sie keinen einzigen »guten« Yakuza finden noch das glamouröse Porträt eines Yakuza. Sie werden davon lesen, wie mein Vater, einst ein mächtiger Oyabun1› Hinweis, krank wurde und in Armut abrutschte. Sie werden eine Subkultur voller Gewalt und Drogen kennenlernen. Aber Sie werden auch das Porträt einer Familie sehen und feststellen, dass ich einige schwere Lektionen lernen musste, bevor ich den wahren Wert meiner Eltern schätzen konnte.

Oyabun: wörtl. »Elternteil«, der Boss einer Yakuza-Gruppe ist das »Familienoberhaupt« oder der »Vater« für seine Untergebenen.

Natürlich hatte ich mir Sorgen darüber gemacht, wie die Yakuza reagieren würde, wenn das Buch in Japan herauskommt. Aber da ich nur von meinen eigenen Erfahrungen erzählt habe und mich bemüht habe, niemanden zu belasten, der in meiner Geschichte vorkommt, gab es keine negativen Rückmeldungen. Im Gegenteil, die meisten Leser aus dem Bereich der Yakuza reagierten sogar positiv auf meine ehrliche Schilderung des Yakuza-Lebens.

Eine der Fragen, die mir ausländische Leser und Journalisten am häufigsten gestellt haben, ist: »Was genau ist eigentlich die Yakuza?« Die einfachste Erklärung ist, dass sie das japanische Äquivalent der Mafia ist, aber vielleicht ist das auch zu einfach.

Die wörtliche Bedeutung von »Yakuza« ist »verwurzelt in einem Gebiet, sich um ein Gebiet kümmern«. Ein gutes Beispiel dafür, was das bedeuten kann, ist das Kobe-Erdbeben von 1995. Damals kam die erste Hilfe von der Yakuza, nicht von der Regierung, obwohl natürlich nichts davon in den Medien berichtet wurde.

In diesem Buch geht es jedoch nicht nur um die Yakuza. Vielmehr wird die Geschichte meines Lebens erzählt und Sie werden auf universelle Themen treffen, die jeden betreffen und mit denen sich jeder identifizieren kann, unabhängig vom persönlichen Lebensweg oder der Nationalität: Schikane und Mobbing in der Schule, Jugendkriminalität, Drogen, Gefängnis, Liebe, Gewalt, Ehe, Schulden, Essstörungen, Selbstmordversuch, Krankheit und Tod. Ganz gleich, wie glücklich und perfekt unser Leben auch von außen wirken mag, wir haben alle unsere Probleme.

Ich glaube, dass viele Leser vor diesem Buch wenig über die Welt der Yakuza wussten, sie können sich aber dennoch mit den Schicksalsschlägen identifizieren, die ich erlitten habe.

Die Bilder meines tätowierten Rückens auf den Bucheinbänden wurden viel kommentiert und in den letzten Jahren musste ich Fragen von Journalisten aus aller Welt dazu beantworten. Ich war erstaunt darüber, dass sowohl die Leser als auch die Journalisten aus dem Ausland meiner Tätowierung gegenüber wenig Vorurteile oder Ablehnung gezeigt haben. In Japan ist diese Art der Ganzkörpertätowierung, wie ich sie habe, wegen der damit ausgedrückten Verbindung zur Yakuza verpönt. Wie Sie noch erfahren werden, war es für mich etwas sehr Positives, mein Tattoo zu bekommen. Es hat mir Kraft geschenkt, mich stark gemacht und mir geholfen, aus den selbstzerstörerischen Verhaltensmustern auszubrechen, in denen ich gefangen war.

Als ich mich für das Ganzkörpertattoo entschied, war mir natürlich bewusst, dass ich damit meine Möglichkeiten im Leben begrenzte, aber gleichzeitig spürte ich, dass ich zum ersten Mal wirklich ehrlich zu dem stand, was ich bin und wo ich herkam. Mein Vater war ein Yakuza-Boss – das ist eine unumstößliche Tatsache. Ohne jegliche nostalgische Verklärung blicke ich auf meine Yakuza-Kindheit zurück und bin mir dabei sehr wohl darüber im Klaren, was für schreckliche Dinge die Yakuza tut. Andererseits habe ich meinen Vater wirklich geliebt und will ihn nicht dafür verurteilen, dass er sich für dieses Leben entschieden hat. Eine der frühesten Erinnerungen an meinen Vater gilt der wunderschönen Tätowierung auf seinem Rücken – ein Bild der Jibo Kannon2› Hinweis, der buddhistischen Göttin der Barmherzigkeit – und den tätowierten jungen Männern seines Clans, die immer bei uns zu Hause waren. Meine Entscheidung für eine Tätowierung war für mich in etwa so, wie mein Erbgut zu akzeptieren – das hat mir viel Trost und Stärke gegeben. Das Tattoo war so ähnlich, wie dieses Buch zu schreiben: Beides musste ich tun, um meinen Platz in der Welt zu finden.

Jibo Kannon: Kannon, die buddhistische Gottheit der Barmherzigkeit in ihrer Ausprägung als liebende Mutter.

Meine Leserschaft reicht vom Alter her vom Schüler bis zum Achtzigjährigen. Ich habe Fanbriefe von den CEOs riesiger Konzerne bekommen und herzzerreißende E-Mails von jungen Mädchen, die in der Prostitution gefangen sind und nach einem Ausweg suchen. Ich habe auch überraschend viele Briefe von Mördern erhalten, die im Gefängnis ihre Strafe absitzen. Oft habe ich mich dann gefragt, warum sie alle ein so großes Gefühl von Nähe zu mir zu empfinden schienen.

Als ich anfing, einigen dieser Gefangenen zu schreiben, erkannte ich, dass es nicht nur das übliche Phänomen war, dass Menschen glauben, alles von einem zu wissen und einen zu kennen, nur weil sie das Buch gelesen haben. Fast ausnahmslos hatten diese Menschen eine schwierige Familiengeschichte und trugen ein starkes Gefühl von Einsamkeit und Entfremdung in sich. Und genau das war es, was wir gemeinsam hatten. Mit der Zeit hat sich mit einigen dieser Häftlinge ein wirklich schöner Briefwechsel entwickelt. Natürlich habe ich auch merkwürdige Leserbriefe bekommen. Viele männliche Leser aus Japan haben mir zum Beispiel geschrieben: »Tendo-san3› Hinweis, warum heiraten Sie mich nicht? Ich werde Sie glücklich machen.« Damit möchte ich wirklich nicht angeben, ich fand es nur ziemlich überraschend, dass meine Geschichte eine solche Reaktion hervorgerufen hat! Ein Mann hat mir einen Brief geschrieben, in dem stand: »Sie tun mir furchtbar leid. Ich könnte Ihnen ein Haus kaufen, ein Auto – alles, was Sie wollen.« Natürlich möchte ich Geld haben und schöne Dinge. Aber ich bin niemand, der einem leidtun sollte. Und ich weiß auch, dass materielle Dinge das Herz nicht zufrieden machen können. Auf diesen Brief habe ich gar nicht erst geantwortet.

san: Honorativ am Ende des Nachnamens, vergleichbar mit »Herr« bzw. »Frau«.

»Shoko, bitte hör nie auf, an dich zu glauben …« 

Mein Wissen über die Welt ist sicherlich begrenzt und mein Schreibstil mag spröde sein, aber ich hatte immer die Worte meines Vaters im Kopf, als ich versucht habe, mein Bestes zu geben. Meine ungeschickte Prosa wurde von so vielen Menschen akzeptiert: Yakuza und Nicht-Yakuza, in Japan und im Ausland. Das ist nur ein Beweis dafür, dass sich der Weg vor einem tatsächlich öffnet, wenn man an sich glaubt und sein Möglichstes gibt. Natürlich ist der Erfolg dieses Buches zum größten Teil Ihnen zu verdanken, den Lesern, die es ausgesucht und gelesen haben und dafür möchte ich Ihnen aus tiefstem Herzen danken.

2005 wurde meine Tochter geboren. Ihr Vater hat nichts mit der Yakuza zu tun, doch unsere Beziehung war ziemlich schwierig, daher bin ich nun eine alleinerziehende Mutter4› Hinweis. Früher habe ich mir nicht vorstellen können, ein Kind zu haben, es gab Zeiten, in denen es unglaublich schwer war, meine Tochter großzuziehen. Aber ich habe viel von ihr gelernt, und manchmal scheint es mir, als würden wir zwei zusammen erwachsen werden. Außerdem macht die Freude des Mutterseins alle Schwierigkeiten wieder wett. Meine Tochter erinnert mich an meine eigene Kindheit und daran, dass es auch gute Momente gab, selbst als meine Familie schwere Zeiten durchlebte. Familie – ich habe lange gebraucht, um das wirklich schätzen zu können, aber heute weiß ich, dass meine Familie der Platz ist, an dem ich mich immer am wohlsten gefühlt habe. Und jetzt, da ich eine Tochter habe – meine eigene Familie –, macht mich das glücklicher als alles andere auf der Welt.

Alleinerziehende Mütter sind in Japan eher ungewöhnlich und in der Gesellschaft nur wenig akzeptiert.

Shoko Tendo

Tokio, 2008

1. WOLKEN, DIE VORÜBERZIEHEN

Im Winter 1968 wurde ich als Tochter eines Yakuza geboren.

Ich war die zweite Tochter meines Vaters Hiroyasu und meiner Mutter Satomi Tendo. Insgesamt waren wir vier Geschwister: Mein großer Bruder Daiki war zwölf Jahre älter als ich, meine Schwester Maki war zwei Jahre älter und unsere Jüngste, Natsuki, war fünf Jahre jünger als ich. Daiki war für mich immer mein »großer Bruder«, Maki war »Maki-chan5› Hinweis« und Natsuki immer »Na-chan«.

chan: Suffix für vertraute Personen und Kinder.

Anfangs wohnten wir in einem Haus in Toyonaka, im Norden von Osaka, doch schon bald zogen wir in ein neues Haus im vornehmen Sakai. Es war ein wunderschönes Haus, das zur Straße hin von großen eisernen Flügeltoren abgeschirmt wurde, herrliche Rhododendren blühten auf beiden Seiten eines Weges aus Pflastersteinen, der zum Eingang führte. Unsere Eltern und jeder von uns hatte ein eigenes Schlafzimmer, es gab ein Ankleidezimmer, ein Esszimmer, zwei Zimmer im japanischen Stil mit Tatami-Matten und ein Geschäftszimmer im westlichen Stil, in dem Vater seine Geschäftspartner empfing. Weil das ganze Haus so neu war, wehte noch der Duft von frischem Holz durch alle Zimmer. Alles war viel zu groß für uns, es gab mehr Platz, als wir eigentlich brauchten.

Vor meinem Schlafzimmerfenster stand ein großer Kirschbaum, der immer erst sehr spät im Jahr blühte und fast ein guter Freund für mich war. Hatte ich Probleme oder Sorgen, dann setzte ich mich unter seine Zweige und fühlte mich dort geborgen. Vor unserem Wohnzimmer war ein großer Teich, in dem vielfarbige Koi-Karpfen anmutig ihre Bahnen zogen. Wenn es Sommer wurde, waren wir im Pool auf der anderen Seite des Hauses und spielten dort den ganzen Tag, wobei wir oft völlig die Zeit vergaßen.

Mein Vater war ein Yakuza-Boss, aber daneben besaß er noch Firmen in drei Bereichen: Hoch- und Tiefbau, Konstruktion und Immobilien. Unser Vater war unser Held. Er liebte Autos, war völlig verrückt danach. In unserer Garage parkten immer die neuesten ausländischen und japanischen Autos, natürlich hatte er auch Motorräder, Harleys und andere, sie alle standen wie in einem Autosalon glänzend und frisch poliert nebeneinander.

Selbstverständlich war mein Vater nie mit dem Standardmodell zufrieden, die Motoren mussten alle getunt werden. Wenn ein anderer aufgemotzter Wagen an der Ampel neben ihm stand, provozierte er gern den Fahrer, ließ den Motor wie bei einem illegalen Straßenrennen aufheulen, und sobald es grün wurde, rasten dann beide Autos los. Mein Vater fühlte sich mit dem Steuer in der Hand genauso glücklich wie ein Fisch im Wasser. Mama dagegen saß immer besorgt auf dem Beifahrersitz und warnte: »Nicht so schnell, das ist doch gefährlich!«

Mir konnte es gar nicht schnell genug gehen.

Am Wochenende gingen wir immer alle zusammen shoppen und dann essen. Wenn wir ausgingen, war die Krokoleder-Geldbörse meines Vaters so prall und voll wie ein Reptil, das gerade einen fetten Fisch verschlungen hatte. Bevor es losging, saß meine Mutter an ihrem Frisiertisch und kümmerte sich sorgfältig um ihre Haare und ihr Make-up. Das war für sie eine Art Ritual. Sie nahm auch immer den gleichen blassrosa Sonnenschirm mit.

An der Hand, in der sie den Sonnenschirm hielt, trug sie an einem ihrer zierlichen weißen Finger einen Ring mit einem Opal, der im Sonnenlicht in allen Farben des Regenbogens schimmerte. An der anderen Hand hielt sie mich und sagte oft lächelnd zu mir: »Shoko-chan, wenn du einmal groß bist, dann wird der Ring dir gehören.«

Obwohl mein Vater als Yakuza-Boss und mit den drei Firmen wirklich viel zu tun hatte, haben wir die Tage um Silvester und Neujahr6› Hinweis immer zusammen verbracht.

Silvester und Neujahr sind in Japan traditionelle Familienfeiertage, vergleichbar mit Weihnachten im Westen.

Der Tisch war dann voller hübscher Schälchen mit dem köstlichen traditionellen Festtagsessen, das meine Mutter zubereitet hatte: kunstvoll gestaltetes Gemüse, dicke Scheiben gesüßtes Eieromelette, schwarze, süße Bohnen, goldene Esskastanien – wir konnten es jedes Mal kaum erwarten, dass wir endlich mit dem Essen anfangen durften.

Wenn wir an Neujahr mit dem Essen fertig waren, ging die ganze Familie zu einem Shinto-Schrein in der Nähe, um die ersten Gebete im neuen Jahr abzuhalten. Wir Kinder erhielten dort Papierstreifen mit Wahrsagungen, gaben sie unseren Eltern und baten sie, den Spruch für uns zu deuten. Das machten wir jedes Neujahr so.

Am ersten Neujahr nach meiner Einschulung schenkte mein Vater nur mir einen kleinen Glücksbringer mit einem Glöckchen. Er legte ihn in meine Handfläche und meinte: »Der ist für dich, Shoko.« Der Glücksbringer wärmte meine Hand und mich selbst bis tief in mein Herz. Ich befestigte ihn an meinem Schulranzen und in den Pausen schüttelte ich ihn, um das leise Klingeln zu hören. Oft verlor ich mich dabei ganz in den glücklichen Erinnerungen an die Neujahrsfestlichkeiten.

Unsere Eltern waren zwar immer sehr liebevoll zu uns, erzogen uns aber auch streng und legten großen Wert auf gute Manieren. Das Hausmädchen durfte uns auch keinesfalls verwöhnen, so war es zum Beispiel verboten, vor dem Fernseher zu essen. Vor jedem Essen falteten wir wohlerzogen unsere Hände und wünschten einen guten Appetit. Nach dem Essen bedankten wir uns und räumten natürlich unsere Teller selbst ab. Unsere Erziehung war sehr traditionell, aber mir gefiel das.

In unserem Haus herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, die Wagen der Geschäftspartner fuhren vor, dann kamen die Juweliere, die Kimonomacher und Schneider, ständig waren viele Menschen da und es war immer sehr viel los.

Ich war die Lieblingsenkelin meines Großvaters väterlicherseits. Eines Tages, als ich drei Jahre alt war, saß ich auf seinem Schoß. Während er meinen Namen murmelte –»Shoko, Shoko« –, hatte er plötzlich einen Herzinfarkt und starb. Vier Jahre später, als ich eingeschult wurde, starb auch meine Großmutter. Nach der Beerdigung setzten wir uns gerade zum Essen zusammen, als ein Onkel von mir zu meinem Vater trat und ihm zuraunte: »Du kriegst keinen Yen von dem ganzen Vermögen der Tendo-Familie, du verdammter Yakuza!«

»Die Trauerfeier ist noch nicht einmal vorbei und da willst du schon über das Erbe reden. Ich brauche keinen einzigen Yen davon und dieses Haus werde ich nie wieder betreten«, brüllte mein Vater und stürmte davon.

Damals hat keiner der anderen Verwandten ein Wort gesagt, alle haben nur auf ihre Füße gestarrt. Meine Oma war gerade erst gestorben – wie konnten die Erwachsenen nur so gierig sein und schon über Geld reden? Das fand ich schrecklich. Mein Vater war zwar ein Yakuza, aber ich fand, dass er absolut recht hatte.

Einige Tage später geriet mein Vater in irgendwelche Schwierigkeiten, wurde verhaftet und kam ins Gefängnis.

Unsere Familie war von Anfang an nie wirklich in die Nachbarschaft eingebunden gewesen, wir waren neu hinzugezogen und hatten uns nie richtig eingelebt. Nach der Verhaftung brodelte dann allerdings die Gerüchteküche und es ging los mit Diskriminierungen.

Als ich eines Tages vor unserem Haus ein Bild malte, kam eine Frau aus der Nachbarschaft vorbei, beugte sich zu mir hinunter und flüsterte mir ins Ohr: »Shoko, weißt du eigentlich, dass dein großer Bruder gar nicht dein richtiger Bruder ist? Er stammt aus der ersten Ehe deiner Mutter.«

Natürlich veränderten sich meine Gefühle für meinen Bruder dadurch nicht, aber ich konnte nicht verstehen, warum jemand einem Kind so etwas unbedingt mitteilen musste. Ich fand das grausam. In der Schule breiteten sich diese Gerüchte über meine Eltern aus wie eine ansteckende Krankheit, und ich war als das »Yakuza-Mädchen« gebrandmarkt. Die ersten sechs Jahre in der Schule wurde ich eigentlich nur noch gemobbt.

Als ich in der zweiten Klasse war, geschah etwas, das ich nie vergessen werde.

Wie alle anderen Schüler musste auch ich regelmäßig das Lehrerzimmer putzen. Da ich sehr klein war, konnte man mich leicht zwischen den Tischen und Stühlen übersehen. Eines Tages hörte ich dabei plötzlich die vertraute Stimme meiner Lieblingslehrerin. »Shoko Tendo? Das Mädchen kann doch nichts außer zeichnen und Japanisch, oder? Die ist wirklich strohdumm! Eigentlich lohnt es sich gar nicht, der etwas beizubringen zu versuchen«, höhnte meine Lehrerin und warf dabei ein Blatt Papier auf den Tisch. Die anderen Lehrer im Lehrerzimmer stimmten ihr zu: »Da hast du recht!«

Dann lachten alle laut. Mein letzter Test lag mit Note auf dem Tisch. Lernen fiel mir immer schwer, aber ich habe mich stets wirklich angestrengt …

Ich richtete mich auf und stand wie ein begossener Pudel inmitten der lachenden Lehrer, denen endlich auffiel, dass ich da war.

»Oh, bist du fertig mit Putzen? Gut gemacht«, beeilten sie sich zu sagen und schickten mich dann mit einem falschen Lächeln aus dem Zimmer. Ich rannte davon, so schnell ich konnte.

So lernte ich, dass Menschen immer zwei Gesichter haben. Und diese Lektion habe ich niemals vergessen.

Damals war Kindern zwischen vier und vierzehn Jahren verboten, jemanden im Gefängnis zu besuchen. Deshalb konnten Maki und ich unseren Vater lange nicht sehen. Mama musste die kleine Na-chan überallhin mitnehmen und kümmerte sich um die Firmen und die jüngeren Yakuza. Sie beklagte sich nie, aber ich wollte ihr auf keinen Fall noch mehr Sorgen bereiten, deswegen erzählte ich ihr nichts davon, was in der Schule alles passierte.

Doch weil ich niemandem etwas davon verriet, wurden das Schikanieren und der Terror bald zur Normalität: Meine Sportsachen und meine Schulhausschuhe wurden in die Müllverbrennungsanlage geworfen. Wenn unsere Klasse mit Putzen dran war, traf es immer mich, den Boden zu schrubben. Meine Mitschüler ignorierten mich, es war, als gäbe es mich gar nicht.

Die Kinder, die mich diskriminierten und quälten, gehörten zu den Klassenbesten, deren Eltern ganz besonders streng waren – eine echte Elite. Natürlich konnte das Ganze nie ans Licht kommen, wenn ich nicht irgendetwas dagegen unternahm, aber selbst dann hätte vermutlich jeder nur gesagt: »Was redest du denn für einen Unsinn?«

Und beim nächsten Mal hätten sie dafür gesorgt, dass die Schuldigen nicht mehr gefunden werden würden.

Aber wie gemein sie auch waren, ich weinte nie und ging immer zur Schule, außer wenn ich krank war. Meine einzigen Freunde waren mein Block und mein Bleistift. Sämtliche Pausen verbrachte ich mit Zeichnen.

»Shokos Papa ist ein Yakuza, buhuhu, das macht mir aber Angst!«

»Dein Vater kommt sicher nicht zum Elternsprechtag, oder? Er sitzt ja im Gefängnis.«

»Na und? Was ist denn so schlimm daran, ein Yakuza zu sein?«, schrie ich sie dann an, denn das Einzige, was ich nicht wehrlos ertragen konnte, war, wenn meine Eltern beleidigt wurden. Und selbst wenn die Tochter eines Yakuza zu sein bedeutete, wie Dreck behandelt zu werden, wollte ich doch nicht vorgeben etwas zu sein, was ich nicht war, nur um Freunde zu bekommen.

Ich hasste die Schule abgrundtief, aber jedes Mal, wenn ich nach Hause kam, warteten im Flur schon mein Hund und meine Katze auf mich. Dann streichelte ich ihr weiches, warmes Fell und fühlte mich wieder wohl. Menschen lügen ohne Mitleid, ohne eine Miene zu verziehen. Tiere sind da ganz anders. Die Karpfen, denen ich jeden Tag ihr Futter gab, schwammen mir entgegen, wenn sie meine Schritte hörten. Für sie war ich jemand, den sie wirklich brauchten. Und für mich waren sie nicht nur irgendwelche Haustiere, sondern ein wichtiger Teil unserer Familie.

Der Frühlingswind wirbelte die Kirschblüten vor meinem Fenster umher, wie bei einem Schneesturm schwebten sie hoch in den Himmel und mein Herz tanzte mit ihnen. Wenn ich mein Ohr vorsichtig an den Stamm des Kirschbaums legte, schien es mir, als könne ich seinen Puls hören, und ich freute mich, dass wir so in Verbindung standen. Wenn der Frühling vorüber war und keine Blüten mehr am Kirschbaum hingen, legte ich mich oft unter ihn und sah zu, wie die Wolken langsam am blauen Himmel vorüberzogen. Ich malte mir dann eine Welt hinter den Wolken aus und war glücklich.

Für mich war meine Mutter jemand ganz Besonderes. Weil ich oft kränkelte, umsorgte sie mich stets und war immer bei mir. Dennoch hatte ich schreckliche Angst, dass sie eines Tages ganz plötzlich verschwinden würde und nie mehr zurückkäme.

Als ich einmal krank im Bett lag, wachte ich auf und Mama war nicht bei mir. Da sie nicht antwortete, als ich nach ihr rief, rannte ich barfuß aus dem Haus, um nach ihr zu suchen. Schließlich sah ich sie, sie war einkaufen gewesen und war auf dem Weg zurück. Erschrocken brachte sie mich nach Hause.

»Du sollst doch im Bett bleiben, warum bist du denn losgelaufen?«, fragte sie mich und sah mich dabei verwundert an. Weshalb ich mich plötzlich so unsicher gefühlt hatte, konnte ich ihr allerdings nicht wirklich erklären.

Wenn ich krank war, brachte Mama mir das Essen ans Bett: schneeweißen Reisbrei mit einer knallroten, eingelegten Umeboshi-Pflaume und Pfirsichspalten so golden wie Herbsthalbmonde. Ich kann mich noch gut an den süßen Geschmack des Reisbreis und der Pflaume erinnern. Damals war mir nicht bewusst, wie schnell diese liebevolle Zeit mit meiner Mutter zu Ende sein würde.

Als ich wieder einmal erkältet war und auch Fieber hatte, war ich nicht zur Schule gegangen und lag im Bett. Plötzlich kam Mizuguchi, einer der jungen Männer unserer Yakuza-Familie, in mein Zimmer.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte er und dabei funkelten seine Augen seltsam und er wirkte ganz anders als sonst. Mir kam das irgendwie komisch vor, daher murmelte ich nur: »Hmm … nicht besonders«, und vermied es, ihm in die Augen zu sehen.

»Du bist ja schon richtig groß geworden, Shoko, und richtig hübsch.« Sein Gesicht kam immer näher und dann küsste er mich. Ich versuchte mich dagegen zu wehren, aber er schob seinen Arm, auf dem seine Tätowierungen zu sehen waren, in mein Schlafanzugoberteil und griff grob an meine Brust. Ich wehrte mich und konnte mich ihm entwinden, aber ich hatte entsetzliche Angst und zitterte am ganzen Körper, beinahe hätte ich mich übergeben müssen.

Ein paar Tage danach wurde Mizuguchi wegen Drogenmissbrauch verhaftet.

Seitdem war ich Erwachsenen gegenüber sehr misstrauisch.

Mein Vater wurde aus dem Gefängnis entlassen, als ich gerade in die vierte Klasse kam. Beinahe jeden Abend ging er mit Freunden in eine teure Hostessenbar7› Hinweis und betrank sich dort. Für uns war es fast schon normal, dass die Hostessen ihn nachts nach Hause brachten.

Hostessenbar: Hostessen sind in gewisser Weise die Geishas von heute. Genau wie Geishas sind Hostessen keine Prostituierte, sondern Unterhalterinnen. Während Geishas allerdings eine mehrjährige Ausbildung durchmachen, ist Hostess ein Job, für den man keine weitere Qualifikation braucht. Sie unterhalten die meist männlichen Gäste mit Konversation, Karaoke und schenken den kostspieligen Alkohol nach. Sie werden oft pro Stunde bezahlt und bekommen eine Provision für alle Getränke, die sie verkaufen. Den männlichen Gästen geht es darum, sich in einer angenehmen Atmosphäre zu entspannen, zu flirten und von ihren Sorgen zu erzählen oder sie zu vergessen. Den Hostessen geht es darum, möglichst schnell viel Geld zu verdienen.

»Satomi! Shoko! Ich habe euch etwas mitgebracht, kommt schnell. Ihr müsst alles aufessen«, brüllte er dann für gewöhnlich durch das ganze Haus. Wenn Papa betrunken war, schwankte seine Laune sehr stark. Da ich nicht wollte, dass er ärgerlich wurde, sprang ich daher meist schnell aus dem Bett und rannte zu ihm, ganz gleich, wie müde ich war und wie wenig Hunger ich auch hatte.

»Vielen Dank, Papa«, sagte ich dann mit einem gezwungenen Lächeln und aß all das Mitgebrachte auf.

Ungefähr zu dieser Zeit fing ich an, dick zu werden. In der Schule hieß ich jetzt »fette Kuh« oder »Fettsack«, die ganze Situation wurde dadurch nur noch schlimmer.

Ich fand es schrecklich, zusehen zu müssen, wie mein Vater immer betrunken nach Hause kam. Aber mehr als das hasste ich die Hostessen, die sich vor meiner Mutter und mir an ihn schmiegten, sich bei ihm einhakten und mit ihrem aufdringlichen Parfüm das Haus verpesteten, während sie mit zuckersüßen Stimmen flöteten: »So, Herr Präsident, jetzt sind wir bei Ihnen zu Hause angekommen.«

Obwohl ich damals noch ein Kind war, war mir klar, dass es ihnen nicht um meinen Vater ging, sondern nur um sein Geld.

Mit tat meine Mutter furchtbar leid, die sich vor diesen Hostessen auch noch verneigen und ihnen für ihre Hilfe danken musste.

Wenn Papa schlechte Laune hatte, schrie er herum und ließ seine Wut an allem aus, was ihm in den Weg kam. Explodierte der Jähzorn in ihm, gab es nichts, was wir dagegen tun konnten. Dann zerschlug er Fensterscheiben, ließ die Motoren von neuen Autos aufheulen und machte sie so kaputt. Ich weiß nicht mehr, wie viele Fernseher oder Telefone wir damals neu kaufen mussten.

»Shoko … ich habe Angst … ich habe solche Angst!«

Meine kleine Schwester kroch dann immer unter meine Bettdecke und klammerte sich weinend an mich.

»Keine Angst, Na-chan, ich stehe auf und sehe nach, was los ist. Schlaf du ruhig hier bei mir, einverstanden?«, versuchte ich sie tapfer zu beruhigen, wie es sich für eine große Schwester gehörte, aber eigentlich hatte ich selbst schreckliche Angst. Wenn Vater dann irgendwann fertig gewütet hatte, räumte ich mitten in der Nacht zusammen mit meiner weinenden Mutter das ganze Chaos auf.

»Kümmere dich nicht darum, Liebes. Du musst doch morgen zur Schule, geh jetzt lieber ins Bett.« Aber ich half ihr trotzdem schweigend, ich konnte sie einfach nicht allein lassen.

»Mama, wenn ich groß bin, dann werde ich ganz reich und dann kaufe ich dir ein Haus, in dem wir zusammen wohnen können.«

So etwas habe ich damals oft gesagt, weil ich hoffte, dass meine Mutter dann zu weinen aufhören würde.

Am Morgen danach stellte mein Vater jedes Mal erstaunt fest: »Was war denn hier los? Hier herrscht ja das totale Durcheinander!«

Er erinnerte sich nie daran, dass er wütend fast das ganze Haus zerlegt hatte. Darum hatte ich zwar Angst vor ihm, aber ich habe ihn nie gehasst.

Es gab eine Zeit, da hatte mein Vater so viel mit seinen Yakuza-Geschäften zu tun, dass er kaum mehr zu Hause war. Auch seine Angestellten waren immer seltener da, sodass ich sehr oft ganz alleine war. Ständig klingelte das Telefon, und wenn ich dranging, sagte eine Stimme so etwas wie: »Morgen um 15 Uhr verstreicht leider die letzte Zahlungsfrist. Sag deinen Eltern, dass sie sich melden sollen. Vergiss es nicht!«

Dann brach die Verbindung ab. Das Wort »Zahlungsfrist« erschreckte mich, ich wusste zwar nicht genau, was es bedeutete, aber irgendwie ahnte ich, dass etwas Schreckliches passieren würde, und das verunsicherte mich zutiefst. Vater starrte bis spät in der Nacht auf seine Baupläne, maß immer wieder nach und zog Linien. Er trank viel heißen Kaffee und rieb sich die Augen. Manchmal saß er auch nur stundenlang an seinem Tisch und hatte den Kopf in die Hände gestützt.

Obwohl ich sah, dass mein Vater wirklich sehr hart dafür arbeitete, unsere Familie mit allem Nötigen zu versorgen, fragte ich mich dennoch jedes Mal, wenn die Sonne unterging und ich ins Bett musste, ob er wieder betrunken nach Hause kommen und ausrasten würde. Wenn ich dann in der Dunkelheit an die Holzdecke blickte, sahen die Maserungen aus wie gruselige Fratzen, die mich so sehr erschreckten, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte.

Ging Mutter dann später ins Bett und schlief ein, wirkte das auch beruhigend auf mich, sodass ich schließlich die Augen schließen und einschlafen konnte. Doch in der Früh hatte ich natürlich nicht genug geschlafen und war deshalb im Unterricht auch immer sehr müde und bekam kaum etwas mit. Aber ehrlich gesagt war ich in schulischen Dingen nie besonders, wahrscheinlich hätte ich also auch ausgeschlafen nicht wesentlich mehr gelernt.

Nach sechs mühsamen und leidvollen Jahren war dann endlich meine Grundschulzeit8› Hinweis abgeschlossen.

Die Grundschule dauert in Japan sechs Jahre.

2. NERVENKITZEL

Endlich war die Grundschulzeit für mich vorbei. Ungefähr zur gleichen Zeit begann der Abstieg meiner Schwester Maki, die zu einem Yankee9› Hinweis wurde. Maki war schon in der Mittelstufe und wirkte auf mich so richtig erwachsen und absolut cool, und natürlich wollte ich unbedingt genauso werden wie sie. Dann passierte etwas, das mein Leben total verändern sollte.

Yankee: Jugendbewegung in Japan. Der Name leitet sich vom amerikanischen »Yankee« ab. Yankees trugen wilde, bunte Kleidung oder modifizierte Schuluniformen, färbten sich das Haar, motzten ihre Autos und Motorräder auf und schwänzten die Schule.

Es war im Frühjahr, bevor ich in die Mittelstufe kommen sollte. Spätnachts erwischte ich Maki dabei, wie sie sich aus dem Haus schleichen wollte. »Komm doch auch mit, Shoko, Liebes«, bot sie mir an, weil sie Angst hatte, dass ich sie sonst verpetzen würde. Natürlich hatte ich einerseits ein schlechtes Gewissen, wenn ich an Mama dachte, die schon wegen Maki graue Haare bekommen hatte. Denn ich wusste, dass es für sie schwer zu ertragen sein würde, wenn sich auch ihre zweite Tochter in einen Yankee verwandeln würde. Andererseits wollte ich unbedingt wissen, was Maki so alles trieb.

Makis geschickte Finger verwandelten mich mithilfe einer dicken Schicht Schminke und auffälligen Klamotten von einer Zwölfjährigen in eine Zwanzigjährige. Ich fühlte mich schon wie ein richtiger Yankee, als wir ins Taxi stiegen und spätnachts in das Vergnügungsviertel der Stadt fuhren. Auf den Straßen sah ich jede Menge Bosozoku10› Hinweis mit ihren lauten, aufgemotzten Wagen, die ich einfach anstarren musste, und überall standen Gruppen von Yankees herum.

Bosozoku: Jugendgangs mit getunten Autos und Motorrädern. Aus der Bosozoku führte die Karriere oft direkt zur Yakuza.

Tagsüber konnte man sich gar nicht vorstellen, dass sich dieses Viertel abends im Neonlicht in ein Yankee-Paradies verwandelte, voller Spannung und Aufregung.

»An der Kreuzung da vorn können Sie halten.«