Nr. 2804
Hüter der Zeiten
Einsatz im heimischen Sonnensystem – einem Geheimnis der Vergangenheit auf der Spur
Michael Marcus Thurner
Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt
Auf der Erde schreibt man den Herbst 1517 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Menschen haben Teile der Milchstraße besiedelt, Tausende von Welten zählen sich zur Liga Freier Terraner. Man treibt Handel mit anderen Völkern der Milchstraße, es herrscht weitestgehend Frieden zwischen den Sternen.
Doch wirklich frei sind die Menschen nicht. Sie stehen – wie alle anderen Bewohner der Galaxis auch – unter der Herrschaft des Atopischen Tribunals. Die sogenannten Atopischen Richter behaupten, nur sie und ihre militärische Macht könnten den Frieden in der Milchstraße sichern.
Wollen Perry Rhodan und seine Gefährten gegen diese Macht vorgehen, müssen sie herausfinden, woher die Richter überhaupt kommen. Ihr Ursprung liegt in den Jenzeitigen Landen, in einer Region des Universums, über die bislang niemand etwas weiß.
Auf dem Weg dorthin kommt es zu einem Unfall, der Perry Rhodan in die Vergangenheit der Milchstraße verschlägt, mehr als 20 Millionen Jahre vor seiner Geburt. In dieser Zeit suchen die kriegerischen Tiuphoren die Galaxis heim. Und im heimatlichen Solsystem trifft der unsterbliche Terraner die HÜTER DER ZEITEN ...
Perry Rhodan – Der Terraner besucht den Planeten seiner Geburt.
Gucky – Der Ilt muss seine eigenen Wünsche zurückstellen.
Goyro Shaccner – Der Rayone wird von seinen »Verbündeten« immer wieder überrascht.
Poxvorr Karrok – Der Tiuphore erhält eine weitere Chance.
Oupeg – Ein Keroute hütet Schafe.
Oupeg
Er starrte ins Licht, das die Firmamentmutter verbreitete. Ihr Hautfell strahlte an diesem Tag besonders hell. Sie schenkte ein Übermaß an Wärme, wie es nur an wenigen Tagen des Jahreslaufes geschah. Das Blau rings um das Kleid der Firmamentmutter war satt, kräftig und dunkel.
Gute Zeichen für einen guten Tag.
Oupeg schickte der Göttlichen Behüterin einen Dankesgedanken. Er konnte sicher sein, dass das flauschige Wolkenkleid, das bald darauf einen Teil des Himmelsleibes bedeckte, ihre Art von Erwiderung war. Die Firmamentmutter und er standen seit jeher in guter Verbindung.
Oupeg aß vom Schimmelblatt und saugte die feuchten Pilze sachte in den Mund, die er erst vor Kurzem zerbröselt und eingeweicht hatte. Sie fühlten sich glitschig und schlabbrig an, so, wie er es am liebsten mochte.
Der Firmamentvater, dessen mächtige Sichel sich von Tag zu Tag mehr zur Scheibe füllte, war bereits aufgegangen. Silbrig schien er, silbrige Kälte verbreitete er. Der Herr des Dunklen Himmels verabschiedete seine Frau glänzend, um bald die Herrschaft über das Da-Oben zu übernehmen.
»Die Krallen weit ausgestreckt, so sitz ich da«, rezitierte er ein Kindergedicht, »auf meinem Baum, auf meinem Ast. Vater wacht, Mutter singt. Wir leben den Einklang, lieben den Zweiklang, loben den Vierklang, den die Krallen durchs Geäst ziehen. Brrr!«
Wie immer endete er mit einer scharrenden Bewegung und kratzte mit dem rechten Hinterlauf, mit dem rechten Kurzen, vier tiefe Furchen in den Boden. So, wie es Poungari stets geliebt hatte, als er sie noch behütet und für sie gesorgt hatte.
Ach, Poungari! Warum musstest du so schnell erwachsen werden? Warum, Firmamentmutter, dürfen Kinder überhaupt heranwachsen? Was hast du dir dabei gedacht, als du ihnen das Großwerden erlaubtest, Edelste?
Einige Couphen meckerten lautstark, als hätten sie seine Gedanken erraten. Vielleicht war es auch so. Die Tiere, stets treue Begleiter und Freunde, fühlten sehr wohl die Vielfalt seiner Gefühle. Und sie liebten Poungari, wie er sie liebte.
Die Firmamentmutter ging zur Ruhe. Ihr Himmelskleid wurde dunkler, und sie sandte Wind aus, der Oupegs Körperfell angenehm erfrischte. Sie wollte ihm sagen, dass seine Arbeit für heute getan war und er sich nun zur Seite betten konnte. Der Firmamentvater würde während der Dunklen Stunden für die Couphen sorgen.
Wo blieb Poungari bloß? Sie hatte sich für diesen oder spätestens den nächsten Tag angesagt, um ihn bei der Hirtenarbeit zu unterstützen: in der Nähe ihres gemeinsamen Lieblingsbaums, unter dem er so viel Zeit verbracht hatte, stets besorgt, dass sie sich versteigen und irgendwann von den Ästen herabplumpsen würde wie eine überreife Frucht.
Mehrmals hatte er sie auffangen müssen, sie gescholten und ihr geschworen, sie niemals wieder in den Zürgelbaum zu heben. Selbstverständlich hatte er ihrem Drängen bald wieder nachgegeben, denn sie war ja Poungari. Sein über alles geliebtes Kind, sein Kräulchen.
Sie hatte stets hoch hinaus gewollt. Und nun, da die Firmamentmaschinen das Blau dann und wann durchfurchten, es durchstachen, konnte sie sich kaum mehr vom Gedanken lösen, höher zu steigen, gemeinsam mit den Firmamentfahrern. Hinein ins Blau und in ein Land, das Oupeg nicht begriff und das ihn nicht interessierte.
Ach, Poungari, lass uns einmal noch das Krallenlied singen! Lass uns einmal noch gemeinsam in den Baum steigen! Lass dich nicht von dem verwirren, was die Fremden sagen. Achte besser auf die Worte, die sie uns vorenthalten!
Oupeg hob die schwer gewordenen Vorderläufe, die Langen, und ging im üblichen Wiegeschritt zum Fluss hinab. Schon vor Jahren hatte er sich einen Zulauf zum Gewässer freigekratzt und ihn mithilfe von Steinen verbreitert, wie es seine Ahnen ebenfalls gehalten hatten. Er senkte den Kopf ins kühle Nass und genoss den sanften Zug, den es ausübte.
Sein Durst war rasch gestillt. Er schüttelte sich, Tropfen perlten vom Gesichtsfell ab. Das Gesicht, das ihm nun von der glatten Oberfläche entgegenstarrte, war ihm vertraut. Er kannte es viel zu lange, wie ihm manchmal schien, und zugleich viel zu kurz.
Wann war die Zeit bloß vergangen, wo hatte er sie verloren? Warum veränderte sich alles so rasch?
Das Gesichtsfell zeigte da und dort helle Flecken, Zeichen des Alters. Bislang konnte er seine Aufgaben erfüllen und ein Vierundvierzigstel der Couphen-Herde bewachen. Irgendwann aber würden die Langen zu schwer werden und die Müdigkeit zu groß.
Er, einer der besten Hüter, würde bald selbst behütet werden müssen.
Von wem? Poungari hatte sonderbare Ansichten und hegte Pläne, die nichts mit der Hütearbeit zu tun hatten. Sie wollte verschwinden und anderswo ein neues Leben beginnen. In einer Rolle, die er nicht verstand.
Er zog sich an seinen Lieblingsplatz zurück, ließ sich nieder und wartete, während der Firmamentvater in all seinen Farben sprühte. Es blieb Zeit für ... Ja. Vielleicht würden sie zumindest ein letztes Mal gemeinsam das Krallenlied singen.
Und dann?
Man würde sehen.
Perry Rhodan
»Bist du dir bewusst, wie wenig linear die Zeit eigentlich verläuft?«
»Hm?« Perry Rhodan schreckte aus seinen Gedanken hoch. Gucky stand neben ihm und betrachtete ihn aufmerksam.
»Der Chef schläft wieder mal, während die geplagte Arbeiterklasse dafür sorgen muss, dass alles auf Kurs bleibt! Typisch!«
»Wenn das ein Scherz sein sollte, hätte er nicht mal in meiner Jugend gezündet.« Rhodan richtete sich auf und rieb seine Augen. »Was wolltest du sagen?«
»Dass wir mittlerweile ein ganz schönes Durcheinander haben und ich längst die Übersicht darüber verloren habe, wann wir wohin in der Zeit gereist sind. Die JULES VERNE befand sich vor gar nicht allzu langer Zeit in tiefster Vergangenheit, die immer noch vierzigtausend Jahre oder so in unserer jetzigen Zukunft liegt. Du warst mit der CREST III in längst vergessenen Tagen ein paar Tausend Jährchen in der Vergangenheit, im Auftrag von ES auf Ferrol ebenso ...«
»Stopp, stopp, ehe es ausufert. Ich weiß gut genug, was ich alles erlebt und in welche haarsträubenden Geschichten ich hineingetapst bin«, sagte Rhodan und fuhr leiser fort: »Es stimmt. Es macht mir Angst, wenn ich daran denke, wie oft Terraner bereits ihren eigentlichen Zeitenlauf verlassen haben. Und ebenso oft hatten wir Glück und konnten temporale Veränderungen verhindern.«
»Und dabei waren wir Waisenknaben im Vergleich zu den Meistern der Insel.«
Es war ein Kramen in alten Schubladen, das sie betrieben. Rhodan wollte und durfte nicht länger über derlei Dinge nachdenken. Sehr wohl aber über das vermeintliche Vorhaben der Proto-Hetosten unter der Führung Avestry-Pasyks: Der Lare hatte vor, für ein Zeitparadoxon zu sorgen, an dessen Ende die Existenz der Gegenwart, wie er sie kannte, infrage gestellt sein würde. Der Lare hatte aller Voraussicht nach jenen Zeitriss bewirkt, durch den sie ins Jahr 20.103.191 vor Christus gestürzt waren. In dieser dunklen Epoche wollte er in den Lauf der Geschichte eingreifen und den Untergang der Ersten Laren verhindern – von dem er annahm, er sei zu ebenjenem Zeitpunkt in der Milchstraße geschehen. Natürlich war es möglich, dass erst durch sein eigenes Eingreifen dieser Untergang eintrat – dann wäre er nur ein Erfüllungsgehilfe der Zeit. Aber ebenso gut konnte sein Handeln das fein gewobene Netz aus Ereignissen und Entwicklungen zerreißen und Rhodans Gegenwart fortan zu einer potenziellen Zukunft werden lassen. Wohin würde dann aber der Weg der Galaktiker führen? In eine solche virtuelle Gegenwart, ins Nichts oder in eine vollkommen veränderte Galaxis? Perry Rhodan hätte abwarten und auf die Selbstheilungskräfte der Zeit vertrauen können, aber dazu kannte er sie schlicht zu wenig. Alles war denkbar, nichts endgültig zu kalkulieren. Er musste das tun, was er für richtig hielt, und hoffen, dass er genau damit seine künftige Realität rettete.
»Die Orientierungsetappe ist beendet«, meldete sich Sergio Kakulkan zu Wort, der derzeitige Kommandant der RAS TSCHUBAI. »Wir erreichen unseren Orbit um Zuhra im Epsilon-Eridanisystem in knapp drei Minuten. Irgendwelche Anweisungen, Perry?«
»Vorläufig nicht.« Rhodan hielt große Stücke auf den Mann. Es wurde Zeit, dass er sich endlich einmal mit all seiner Kompetenz beweisen konnte, nun, da sich die eigentliche Kommandantin des Schiffs, Jawna Togoya, auf der ATLANC aufhielt.
Der Mann mit der markanten Glatze lächelte. »Dann werde ich mal einparken lassen. Dürfte ein Klacks sein.«
Rhodan nickte. Er starrte auf den Haupthologlobus der Zentrale, der den Großteil seines Blickfeldes ausfüllte. ANANSI, das semitronische Steuergehirn des Schiffs, projizierte in rascher Abfolge immer neue Blickwinkel auf das Epsilon-Eridanisystem, produzierte Daten, fütterte die einzelnen Abteilungen der Zentrale mit Informationen. Dort wurde das ausgefiltert, was für die Besatzungsmitglieder wichtig war, und mit Priorität ausgewertet. Der Rest würde für die Nachbearbeitung in den virtuellen Speichern ANANSIS eingelagert bleiben.
»Orbit um Zuhra erreicht«, meldete Kakulkan das Ende der letzten Flugetappe. »Ausgedehnte Wartungsarbeiten beginnen augenblicklich, Stresstests ebenso. Die prognostizierten Justierungs- und Reparaturquoten liegen bei 0,036 Prozent.«
Dies war ein bemerkenswert hoher Wert. Die RAS TSCHUBAI und deren Beiboote waren während der letzten Tage und Stunden schweren Belastungen ausgesetzt worden. Auch aufgrund der Reise durch den Zeitriss mochten sich einige Fehlerquellen aufgetan haben, um die man sich nun endlich kümmern würde.
Der Planet Zuhra war erdähnlich und wurde von einem Trabanten namens Quamar begleitet. Die Namen der vier anderen Welten – Otaared, Merrik, Assadira und Ylidi – waren bestenfalls Randnotizen dieser Reise durch die Vergangenheit. Epsilon Eridani war deswegen für einen Zwischenhalt ausgewählt worden, weil die relative Nähe des Systems zu Sol mit 10,5 Lichtjahren gering war – und weil die Ortungsgeräte keinen Raumschiffsverkehr in der unmittelbaren Umgebung anzeigten.
»Ich reserviere für die Arbeiten vorerst ein Zeitfenster von fünf Stunden«, sagte Rhodan, nachdem er die wichtigsten Fakten über das Sternsystem begutachtet und den Aufwand für die Reparaturen an der RAS TSCHUBAI beurteilt hatte. »Danach erwarte ich völlige Einsatzbereitschaft.«
»Ja, Perry.«
Sergio Kakulkan wandte sich ab, zauberte aus der Luft einige Holos und besprach sich mit den Leitern jener Abteilungen, die ihre Plätze nicht auf dem COMMAND-Podest hatten. Rhodan erkannte Allistair Woltera, den Leiter der Funk- und Ortungsabteilung; Matho Thoveno, der in guter, alter Tradition als Ara den Posten des Chefmedikers innehatte; Bannatyne Campbell, Robotiker und Herr über die mehr als dreißigtausend TARA-Robot-Einheiten an Bord; die lunageborene Toja Zanabazar, die sich mit viel Herz um ANANSI kümmerte ...
»Du wirkst unruhig, Perry.«
Er wandte sich wieder Gucky zu. »Natürlich bin ich das, Kleiner. Schließlich planen wir einen Abstecher ins heimatliche Sonnensystem. In eines, das vor zwanzig Millionen Jahren existiert hat. Ich bin mehr als gespannt, wie es auf der Erde aussieht.«
»Und ich frage mich das gleiche hinsichtlich meiner eigenen Heimat. Tramp. Gibt es dort bereits Mausbiber? Wie sehen sie aus, wie leben sie? Weißt du, was ich mir wünsche?«
Hoffnung schwang in der Stimme des Ilts mit, Hoffnung, die seit dem Untergang Tramps und dem Tod seiner letzten Artgenossen einige Jahrhunderte später immer wieder enttäuscht worden war. Konnte Rhodan seinem Freund einen Besuch auf der heimatlichen Welt verweigern? Und wäre es nicht viel schlimmer, ihm zu untersagen, den einen oder anderen Ilt mit an Bord zu nehmen, so wie Gucky damals selbst an Rhodans Seite gelangt war?
»Zwanzig Millionen Jahre sind eine lange Zeit, Gucky«, sagte Rhodan vorsichtig. »Ich glaube nicht, dass die Ilts bereits existieren. Zumindest nicht in einer Form, in der du sie wiedererkennen würdest.«
»Wie es auch keine intelligenzbehafteten Menschen auf der Erde geben kann. Bestenfalls Australopithecen. Urmenschen. Und dennoch planst du, Terra zu besuchen. Nicht wahr?«
»Unser Weg zu den Hütern der Zeiten führt uns schließlich direkt ins Solsystem, da ist es bestenfalls ein winziger Abstecher. Ich möchte mich zumindest darüber informieren, wie es auf der Erde aussieht«, wich Rhodan einer direkten Antwort aus. »Paläontologen und Paläoanthropologen würden sich alle zehn Finger abschlecken nach all den Informationen, die wir in Erfahrung bringen könnten.«
»Ist das nicht das Gleiche wie das, was ich möchte? Ich will eben über Tramp Bescheid wissen.« Gucky verschränkte die Arme vor der Brust.
»Du weißt, dass wir vor allem deswegen ins Sonnensystem vordringen, weil wir uns über Zeut schlau machen wollen – oder Zeedun, wie die Welt hier und heute heißt. Aber auch über die Hüter der Zeiten, die auf Zeut ansässig sein sollen. Wir müssen wissen, welche Rolle sie im Kampf gegen die Tiuphoren spielen.«
Die Milchstraße dieser Vergangenheit war ihnen fremd. Es existierten wohl Völker und Gemeinschaften, die sie aus ihrer Gegenwart kannten. Die Laren gehörten dazu, wie auch die Rayonen, die sich zu den Onryonen entwickeln würden. Auch die Eyleshioni, geniale Gentechniker, waren in der Gegenwart des 16. Jahrhunderts Neuer Galaktischer Zeitrechnung durchaus bekannt.
Doch diese Wesen und Völker hatten im Laufe der Jahrmillionen Änderungen erfahren. Lebten nach neuen oder veränderten Beweggründen. Hatten moralische Wertevorstellungen, die die Menschen erst einmal begreifen mussten.
»Das Große Ganze, jaja, ist gut. Ich verstehe, was du sagen möchtest. Aber ich frage mich, wer meine eigenen Interessen verteidigt und wo mein Platz ist.«
»An meiner Seite, hoffentlich.« Rhodan streichelte dem Mausbiber sachte über den Kopf und kraulte ihn hinter den fellbesetzten Ohren. »Ich wünschte manchmal, es wäre leichter, Entscheidungen zu treffen.«
Gucky lehnte sich gegen ihn, und für einen Moment war er wieder jenes anschmiegsame, putzige Nagetier, dessen Rolle der Ilt lange, lange Zeit eingenommen hatte. Doch er besann sich rasch wieder und zog sich zurück. Stellte sich stocksteif neben ihn und tat so, als hätte es diesen Moment der Intimität niemals gegeben.
Einzig Bully hatte womöglich einen innigeren, durch zahlreiche »Rundflüge« in Guckys Jugend erworbenen Zugang zum Letzten der Mausbiber. Allen anderen verweigerte er einen tieferen Einblick in sein Seelen- und Gemütsleben.
»Willst du mich begleiten?«, fragte Rhodan. »Ich möchte Goyro Shaccner einen weiteren Besuch abstatten. Wir brauchen eine Bestätigung von ihm, dass wir das richtige System anfliegen und keinem Berechnungsfehler zum Opfer gefallen sind.«
»Selbst ANANSI kann sich bei so was wohl nicht verrechnen, oder? Aber gut, wie du willst. Zielpunkt Medoabteilung?«
»Was würde ich bloß ohne dich anfangen, Gucky.«
»Hat heute nicht auch diese überaus attraktive Ärztin namens Erna Massimiglia Dienst, die eine ebensolch überaus attraktive Gemüsezucht betreibt? Hätte sie einen Biberschwanz, könnte ich mich glatt in sie verlieben. – Also gehen wir. Mach schon, Chef, worauf wartest du?«
Rhodan folgte seinem Freund. Er grinste, wurde aber rasch wieder ernst. Guckys Fröhlichkeit war bloß aufgesetzt. Dem Mausbiber ging es gar nicht gut. Der Gedanke an Tramp löste eine tief greifende Traurigkeit in ihm aus. Die Ilts waren gesellige Wesen gewesen. Dieser da, der letzte Überlebende, galt als das einsamste Wesen des Universums.
*
Goyro Shaccner hob den Kopf und nickte ihnen in einer typisch menschlichen Geste der Begrüßung zu, wohl in Anerkennung terranischer Bräuche.
»Wie geht es dir?«, fragte Rhodan.
»Ich fühle mich in sicheren Händen. Eure Mediker verstehen ihr Handwerk. Mein Bein ist bereits jetzt so gut wie verheilt.« Der Rayone streckte sein linkes Bein aus. Dort, wo er im Zuge des Gefechts verwundet worden war, zeigte sich bloß noch eine kleine, kaum wahrnehmbare Narbe. »Insbesondere die hiesige Analyseabteilung fasziniert mich. Ich werde mit auf meinen Metabolismus zugeschnittenen Nährstoffen bestens versorgt. Ich frage mich, woher ihr all dieses Wissen im Bereich der Exo-Medizin herhabt. Ihr seid uns Rayonen in mancherlei Hinsicht weit überlegen.«
»In anderen Bereichen ist es umgekehrt.«
»Nach allem, was ich gesehen habe, vermute ich, dass du eure technischen Möglichkeiten bewusst herunterspielst. Möchtest du mich schonen oder mir schmeicheln? Oder muss ich doch annehmen, dass du mir Misstrauen entgegenbringst und eure Geheimnisse hütest?«
»Ich sehe uns als Partner. Aber jeder von uns hat gewisse Geheimnisse und sollte sie behalten dürfen, solange sie unser Vertrauensverhältnis nicht stören.«
»So kann man es sehen.« Der Rayone schwang seine Beine von der Liege und richtete sich auf. Er war etwa so groß wie Rhodan. Das Emot, von einer Narbe zweigeteilt und nur zur Hälfte funktionsfähig, zeigte rasch hintereinander mehrere Farben, als wäre sich Shaccner seiner Gefühle nicht sicher. »Lass uns gemeinsam einige Schritte gehen. Du hast gewiss nichts dagegen, Erna?«
»Selbstverständlich habe ich etwas dagegen!« Die Medikerin, die sich bislang im Hintergrund gehalten hatte, trat an das Bett des Rayonen und betrachtete ihn von oben bis unten. »Du bist noch nicht so weit, selbstständige Ausflüge zu unternehmen.«
»Du sagtest, dass mein Bein wieder in Ordnung sei ...«
»Wir haben alles in Griff, richtig. Aber das Heilgewebe ist längst nicht von deinem eigenen akzeptiert, es kann nach wie vor zu Abstoßungen kommen. Und du wirst Schmerzen beim Gehen haben.« Sie zögerte. »Ein wenig Bewegung kann freilich nicht schaden. Also verschreibe ich dir einen Spaziergang in Ogygia. Unterstützt von einem Medicaristen.«
»Was ist ein Medicarist?«
»Eine Art Rollgehstuhl«, erklärte Gucky. »Oder ein denkendes, lenkendes Exoskelett. Ich habe bereits einige Erfahrungen damit gemacht, als ich ...« Der Mausbiber winkte ab. »Ach, reden wir nicht darüber. Der Medicarist fühlt sich anfangs ungewohnt an, hilft dir aber beim Aufbau der Muskelsubstanz und schützt dich.«
Die Ärztin öffnete einen Schrank und zog ein Gestell aus hauchdünnen Stäben hervor, die durch unscheinbare Gummibänder miteinander verbunden waren. Sie entfaltete das Instrument und legte es dem Rayonen am Rücken an, sodass einzelne Stäbe Arme, Beine, Rumpf und Kopf berührten.
»Dies hier ist die Steuerbox des Medicaristen.« Massimiglia klemmte Shaccner ein Kästchen vor die Brust. »Die Bedienung ist kinderleicht. Hier rufst du die Hologebrauchsanweisung auf, der Rest ist selbsterklärend. Hab keine Angst – ich aktiviere das Gerät nun.«
Leichtes Summen erfüllte den Raum. Die scheinbaren Gummiteile des Instruments entrollten sich und verästelten sich zu Schlingen, die Arme, Beine und Rumpf des Rayonen sachte umfassten. Sie fanden Halt an ihrem Träger, führten versuchsweise einige Bewegungen mit Shaccner aus und stoppten, sobald der Rayone Widerstand leistete.
Rhodan beobachtete sein Gegenüber. Der Mann hatte sichtlich Probleme, sich in die Gewalt eines derartigen Instruments zu begeben, so wie viele Patienten. Doch das Gefühl des Unwohlseins würde sich rasch legen.
»Geh einige Schritte vorwärts, dann rückwärts!«, befahl Massimiglia. »Fühlst du, wie sich der Medicarist mehr und mehr an deinen Körper und an deine Bewegungen anpasst? Du wirst ihn bald nicht mehr spüren. Erst, wenn du müde geworden bist, in dir zusammensackst oder falsche, ungewohnte Bewegungsabläufe vollziehst, schreitet er ein. Darüber hinaus gibt er Ultraschallimpulse ab, massiert und stimuliert mit elektrischem Reizstrom, achtet auf eine möglichst sanfte Behandlung deiner Wunden.«
»Man könnte den Medicaristen also auch im Einsatz verwenden?«, fragte Shaccner. »Er verstärkt die Gliedmaßen und hilft, sich rascher und zielgerichteter zu bewegen.«
»Nein. Dieses Gerät dient ausschließlich medizinischen Zwecken.« Die Medikerin warf Rhodan einige böse Blicke zu. »Es hilft mit, jene Leute rasch wieder auf die Beine zu bekommen, die im Einsatz verletzt wurden.«
Rhodan nahm den unausgesprochenen Vorwurf hin. Massimiglia galt als überzeugte Pazifistin und war damit in einem Kampfschiff wie der RAS TSCHUBAI eigentlich reichlich fehl am Platz. Doch ihr Vorgesetzter schwor auf die Talente der Frau, auf ihre Hingabe zur Heilkunst und ihr immenses Wissensrepertoire, das die Biomechanik genauso umfasste wie die Kräuterheilkunde.
»Sehr ungewöhnlich.« Goyro Shaccner betrachtete ein Holo machte mehrere Hand- und Kopfbewegungen und zeigte sich dann zufrieden. Er hob mehrmals hintereinander die Knie an, immer schneller und höher.
»Du hast eine Stunde Ausgang«, sagte die Medikerin und zog ein strenges Gesicht. »Nimm dir bloß nicht zu viel vor. Ich verzichte darauf, deine Werte von hier aus zu kontrollieren. Perry wird auf dich achten und dich zurückbringen, solltest du es mit deinem Bewegungsdrang übertreiben.«
»Einverstanden.« Rhodan deutete eine Verbeugung vor der Ärztin an. Er nahm Shaccner am Arm und schob ihn aus dem Raum. Er war froh, der resoluten Frau entkommen zu sein. Für seinen Geschmack ging sie viel zu häufig auf Konfrontationskurs.
»Ich hörte von Ogygia«, sagte der Rayone. »Es ist ein Schiffs-Arboretum, nicht wahr?«
»Es ist mehr als das«, antwortete Gucky mit Wehmut in der Stimme. »Dort findet man zu sich selbst zurück, wenn man zu viel mit den großen Problemen zwischen den Sternen konfrontiert wird. Ogygia erdet. Leider bleibt uns zu wenig Zeit, um dir alle Geheimnisse des Habitats zu zeigen.«
»Was soll es in einem von vorne bis hinten durchgeplanten Raumer für Geheimnisse geben?«