Nr. 2819
Nacht über Phariske-Erigon
Gucky im Einsatz – doch die Vergangenheit nimmt ihren Lauf
Uwe Anton
Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt
Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Menschen haben Teile der Milchstraße besiedelt, Tausende Welten zählen zur Liga Freier Terraner. Man treibt Handel mit anderen Völkern der Milchstraße, es herrscht weitestgehend Frieden zwischen den Sternen.
Doch wirklich frei sind die Menschen nicht. Die Galaxis steht unter der Herrschaft des Atopischen Tribunals. Seine Gesandten behaupten, nur sie könnten den Frieden in der Milchstraße sichern.
Wollen Perry Rhodan und seine Gefährten gegen diese Macht vorgehen, müssen sie herausfinden, woher die Richter kommen. Ihr Ursprung liegt in den Jenzeitigen Landen, in einer Region des Universums, über die bislang niemand etwas weiß.
Auf dem Weg dorthin kommt es zu einem Unfall, der Perry Rhodan in die Vergangenheit der Milchstraße verschlägt, mehr als 20 Millionen Jahre vor seiner Geburt. In dieser Zeit tobt ein verzweifelter Abwehrkampf gegen die kriegerischen Tiuphoren, obwohl Rhodan bereits weiß, dass er verloren ist. Und so kommt NACHT ÜBER PHARISKE-ERIGON ...
Perry Rhodan – Der Terraner beobachtet die letzte Schlacht des Mitraiasystems gegen die Tiuphoren.
Peccym Moaxec – Der Editor sorgt sich um die Sicherheit der TOIPOTAI.
Grim Sternhell – Der Sicherheitschef der BJO BREISKOLL legt ein Geständnis ab.
Avestry-Pasik – Der Lare spielt ein seltsames Spiel.
Gucky – Der Mausbiber unterstützt Perry Rhodans Entscheidungen.
Die Eleven
Sie werden es nicht schaffen.
Jetzt noch nicht. Noch lange nicht.
Peccym Moaxec achtete auf jede Kleinigkeit, saugte die dreidimensionalen Bilder, die die Holokameras vom Zirkel übertrugen, in sich auf, vergrößerte Ausschnitte und verkleinerte sie wieder, wechselte auf andere Perspektiven. Auch er wusste nicht, was im nächsten Augenblick geschehen würde.
Astirash Kiak schlug sich ganz gut, hatte die Hälfte der knapp vierzig Meter bis zu den drei Türmen überwunden. Er hatte ein instinktives Gefühl dafür, wann die Schwerkraft sich veränderte. Immer wieder blieb er stehen und spreizte die Nasenöffnungen, als könnte er ein köstliches Kriegsbukett riechen. Dann sprang er zur Seite, einen Sekundenbruchteil, bevor die vollen 4,3 Gravos durchschlugen und ihn zu Boden gezwungen hätten.
Einmal hatte die Schwerkraftveränderung ihn erwischt, aber nur mit 1,8 Gravos. Sein Gewicht hatte sich verdoppelt, und Astirash hatte es weggesteckt wie nichts. Er hatte sich geschüttelt und drei, vier Schritte getan, bis die Gravitation sich wieder auf 0,9 Gravos normalisiert hatte.
Woimar Hoand war es nicht so gut ergangen. Er schwebte zwei Meter über dem Boden des Zirkels, ruderte mit den Armen und versuchte auf diese Weise, das Feld niedrigerer Schwerkraft zu verlassen. Aber er wirkte zögerlich, hatte Angst davor, das benachbarte Feld zu erreichen.
Zu Recht. Er war klug und kannte die Regeln: Es gab keine. Wenn er Pech hatte, herrschten in dem benachbarten Feld 4,3 Gravos, und bei einem Sturz mit fast fünffachem Gewicht aus zwei Metern Höhe würde er sich mehr als nur ein paar Knochen brechen. Woimar zog das Pech geradezu an. Was schiefgehen konnte, ging bei ihm schief. Ausschließlich und mit schönster Regelmäßigkeit.
Gwikon Dryjar hingegen gab Moaxec Rätsel auf: Er verhielt sich völlig unauffällig, verblich neben den beiden anderen Schülern zu einem grauen Schemen, den man einfach übersah. Er hatte es nicht leicht, geriet öfter als seine Mitschüler in die Schwerkraftfallen, aber sie waren nie extrem. Mal 0,5 Gravos, mal 1,5 Gravos, doch nie schwebte er wie Woimar strampelnd und fast schwerelos in der Luft, und er hatte auch nie sein fünffaches Gewicht ertragen müssen. Er hatte sich jedes Mal mühelos befreien können.
Peccym Moaxec lächelte schwach. Allmählich wusste er die drei Eleven einzuschätzen, lernte ihre Stärken und Schwächen kennen, ahnte ihre Reaktionen voraus.
Er vergrößerte ein Bild der drei Türme. Sie bildeten in der Mitte des kreisrunden, einhundert Meter durchmessenden Spielfelds ein Dreieck, spitz zulaufende Gebilde mit glatter Außenfläche, die anscheinend nicht zu erklimmen waren. Und doch mussten die drei Eleven sie ersteigen. Sie ahnten es wahrscheinlich nicht, doch die wahren Schwierigkeiten würden für sie erst anfangen, sobald sie die Türme erreicht hatten. Dann würde sich erweisen, ob sie die bisherigen Lektionen begriffen hatten oder nicht.
Der Editor kniff die Augen zusammen. Einen Moment schienen die drei Türme in Flammen zu stehen. Grellrotes Licht umspielte ihre Oberfläche. Ihre Fassaden lösten sich in Bildpunkte auf, die sofort wieder zusammenfanden. Die Flammen schlugen höher, ihr Feuer griff auf die Luft über dem Zirkel über, entzündete sie. Dann flimmerten Piktogramme über die Fassaden, veränderten die Gebäude rein optisch. Die bis eben glatten Oberflächen schlugen aus wie Bäume, die mit rasender Geschwindigkeit neue, stählerne Äste und Zweige formten. In einem wahnwitzigen Zeitraffer entfalteten sie sich, wuchsen zusammen und erschufen einen metallen schimmernden Baldachin, der die Mitte des Zirkels überspannte.
Moaxec ahnte, was geschehen war: Der Morph-Mechanismus der drei Türme musste gestört sein. Sie konnten ihre Gestalt verändern, formten nicht nur Türme aus, die es für die Eleven zu erobern oder zu verteidigen galt, sondern bei Bedarf auch andere Hindernisse, die sie überwinden mussten.
Dann war der Spuk genauso schnell vorbei, wie er begonnen hatte. Die Türme zogen ihre Verästelungen zurück und nahmen wieder die programmierte Form an.
Moaxec konnte den Vorfall nicht auf sich beruhen lassen. Er war für die Sicherheit der Eleven verantwortlich, musste jede unvorhergesehene Gefährdung ausschließen. Sofort stellte er die Verbindung zum Rechner seiner Fertigkeitenschule her. »Sanfter Abbruch«, sagte er. »Status quo beibehalten, keine Benachteiligung für die Eleven.«
Die Luft über dem Zirkel schien zu gefrieren. Astirash Kiak spürte die Veränderung sofort, schaute sich misstrauisch um, roch wieder die Luft, nahm eine Kampfposition ein und erstarrte. Woimar Hoand hörte auf, durch die Luft zu rudern, riss erleichtert die Augen auf, als er sanft wie eine Feder zu Boden sank. Und Gwikon Dryjar ... Gwikon reagierte überhaupt nicht, ließ sich nichts anmerken, nahm die Situation einfach als gegeben hin.
Der Inhaber und Leiter der Fertigkeitenschule aktivierte die Akustikfelder. »Wie schätzt ihr eure Leistung ein?«
Die drei Eleven schwiegen. So klug waren sie zumindest.
»Erbärmlich«, bellte Peccym Moaxec. »Der Beste von euch hat gerade einmal die Hälfte des Weges geschafft. Ihr habt euch nicht vereinigt, seid von eurem Ziel so weit entfernt wie unser Sterngewerk von dem seinen. Ihr wisst, was das bedeutet?«
Die Eleven sahen sich unsicher um, versuchten, die neue Lage einzuschätzen.
»Ihr habt versagt!« Moaxec legte einen Vorwurf in seine Worte. »Ihr seid unsere Zukunft! Und wie sieht diese Zukunft aus? Junge, heranwachsende Tiuphoren, die nicht einmal solche Türme besteigen können? Wie wollt ihr da jemals Ornatsnovizen werden?«
Der Editor hielt kurz inne. Er wollte seine Eleven anspornen, ihren Zorn erregen, sie damit zu Höchstleistungen provozieren, aber nicht brechen. Sie waren Tiuphoren. Wer konnte vorhersagen, was das Schicksal für sie bereithielt? Die jungen Burschen, die seine Fertigkeitenschule besuchten, wiesen gute Anlagen auf. Die meisten würden irgendwann die Brünne anlegen und inhörig werden. Viele würden am Ende ihres Lebens den Weg zum Catiuphat finden. Wollten sie dieses Ziel erreichen, würden sie sehr wahrscheinlich einmal darauf angewiesen sein, Hand in Hand zusammenzuarbeiten, um sich durch glanzvolle Taten zu empfehlen.
Dazu trug Peccym Moaxec bei. Das lehrte er sie. Brechen konnten andere sie, später, falls es sich als nötig erweisen sollte. Falls seine Eleven die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllten und scheiterten. Auch dann würden sie ihre Rolle in der tiuphorischen Gesellschaft einnehmen, ihr Dasein wie die gesamte Spezies dem Krieg widmen, dem Weg zum Catiuphat, den einige begehen würden. Jeder Tiuphore diente letzten Endes nur dem Krieg.
Seine gescheiterten Eleven würden dann in untergeordneter Position dienen, als einfache Soldaten oder mehr oder weniger unwichtige Spezialisten. Dann würde es ihnen nur zum Vorteil gereichen, wenn man sie vorher brach. Dann mussten sie lernen, Befehle blindlings zu befolgen, sie auszuführen, ohne nachzudenken. Ein gut funktionierendes Rädchen im Getriebe der unterschiedlichen Waffengattungen zu werden, tapfer zu kämpfen, bis zum Sieg oder zum Tod.
Noch war es nicht so weit. Seine Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass es niemals so weit sein würde. Konkurrenten würden sie früher oder später von allein werden. Das würde fast automatisch geschehen und war ganz natürlich und richtig so. Er musste gewährleisten, dass sie eine Chance hatten, sich in dem anstehenden Konkurrenzkampf zu behaupten.
Die Eleven kannten seine Angewohnheit, längere Pausen einzulegen, und hatten gelernt, sie zu nutzen. Ihre Körper ruhten, aber ihr Geist blieb wach. Jeder versuchte, schneller als die anderen zu erkennen, worauf der Editor hinauswollte, und daraus seinen Vorteil zu ziehen.
Ausgezeichnet. Gutes Konkurrenzdenken.
»Wie nenne ich euch?«, brüllte er plötzlich.
»Wir sind deine Eleven!«, antworteten alle drei im Gleichklang.
»Genau«, bestätigte er. »Eleven. Ich werte die Fähigkeiten, die ihr erlernt, als Kunst. Und was tut ihr?«
Die drei jungen Burschen schwiegen.
»Ihr enttäuscht mich«, fuhr er fort. »Also, wer seid ihr?«
»Deine Eleven!«
»Was ist euer Ziel?«
»Uns den Weg ins Catiuphat zu bahnen!«
»Wie erreicht ihr das?«
»Durch besonders herausragende und einfallsreiche Kampfhandlungen!«
»Und wo seid ihr?«
Einen Moment schauten die drei jungen Tiuphoren einander verwirrt an. Das war nicht Teil des Rituals, mit dem Moaxec sie auf jede neue Übung einschwor.
»An Bord des Sterngewerks TOIPOTAI«, sagte Astirash Kiak schließlich zögernd.
»Genau. An Bord des Flaggschiffs von Tomcca-Caradocc Xacalu Yolloc. Eine bessere Empfehlung könnt ihr nicht mitbringen, wenn ihr in meiner Fertigkeitenschule in Strategie und Taktik ausgebildet werdet. Wusstet ihr, dass auch Poxvorr Karrok meine Schule durchlaufen hat?«
Wieder sahen die jungen Burschen einander an.
»Dieser ehemalige Eleve macht jüngst offenbar Karriere«, sagte Peccym Moaxec. »Schon bald werdet ihr die Gelegenheit bekommen, euch wirklich zu beweisen. Ihr werdet das Zitadellenspiel unter erschwerten Umständen beenden.«
»Unter erschwerten Umständen?«, fragte Gwikon Dryjar schließlich.
Dass er sich zu Wort meldete, überraschte den Editor ein wenig. Normalerweise hörte er nur aufmerksam zu, ließ die anderen reden. Aber er nahm alles auf, was gesagt wurde, und wusste es mit seinem Verstand zu verarbeiten, davon war Moaxec überzeugt.
»Wie ihr wisst, befindet sich die TOIPOTAI im Mitraiasystem«, erläuterte er. »Die Versetzung des Planeten Sheheena durch die Purpur-Teufe steht kurz bevor.«
Peccym Moaxec dachte an die kurze Störung im Programm des Morph-Mechanismus der Türme. Er vermutete, dass sie durch erste Auswirkungen des vorgesehenen Transfers ausgelöst worden war, auch wenn er sich dabei nicht sicher sein konnte. »Vielleicht hängt dieser Zwischenfall, den wir gerade erlebt haben, damit zusammen. Ihr werdet den Sturm auf die Zitadellen also unter Ernstfall-Bedingungen fortsetzen. Auch ich weiß nicht, was genau geschehen wird. Bedenkt das bei euerm Vorgehen. Erwartet stets das Unerwartete. Fragen?«
Niemand antwortete. Astirash Kiak schaute reglos drein, versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Woimar Hoand sah zu Boden. Seine Körperhaltung schrie geradezu: Ich bin unsicher! Ich weiß nicht, was ich von der veränderten Lage halten soll. Gwikon Dryjar schloss kurz die Augen, versuchte, die neuen Informationen einzuschätzen und zu verarbeiten.
»Gut«, sagte Peccym Moaxec. »Wir machen weiter mit dem Zitadellenspiel. Eure Aufgabe ist es nach wie vor, einen der drei Türme zu erobern und danach gegen die Mitbewerber zu verteidigen. Die Bedingungen haben sich nicht verändert. Der Angriff und die Verteidigung werden dadurch erschwert, dass auf dem Zirkel die gravitativen Verhältnisse nach dem Zufallsprinzip wechseln, von 0,1 Gravos bis 4,3 Gravos. Hinzu kommen die äußerlichen Auswirkungen, die uns allen unbekannt sind. Ihr seid also gewarnt. Von jetzt an gelten andere Regeln. Ich kann euch im Notfall nicht mehr schützen. Das ist eine Vorbereitung, wie sie uns nur jede Generation einmal zugutekommt. Macht das Beste daraus.«
Moaxec erteilte den Befehl, und die drei aktuellen Eleven stöhnten unisono auf. Die Schwerkraft hatte sich auf dem gesamten Zirkel auf 4,3 Gravos erhöht.
Die Eleven gingen in die Knie, und wie zumeist hielt Gwikon Dryjar sich am besten. Bei ihm dauerte die Schwerkrafterhöhung nur wenige Sekunden, dann wurden in dem Feld, in dem er stand, ohne Moaxecs Dazutun wieder normale Gravo-Verhältnisse hergestellt.
Ist das nur Glück?, fragte sich der Editor erneut.
Bei Woimar Hoands Feld wurde die Schwerkraft am stärksten reduziert. Bei 0,1 Gravos flog er nach einer unbedachten Bewegung strampelnd in die Höhe.
Astirash Kiak schüttelte sich kurz, überwand die erhöhte Schwerkraft und trat in ein Feld, in dem annehmbare Bedingungen herrschten.
Alles wie gehabt, dachte Peccym Moaxec.
In diesem Moment explodierte der erste der drei Türme.
*
Schlagartig fiel das Licht aus. Lediglich das rote Glimmen der Bestandteile des Turms erhellte den Zirkel.
In weiter Ferne hörte Peccym Moaxec ein hohes, durchdringendes Jaulen. Der Editor korrigierte sich sofort: Das Geräusch war viel näher und lauter, als er annahm, drang jedoch nur gedämpft zu ihm, da das Übungsgelände abgeschirmt war.
Dann hörte er leises Rauschen. Die Brandschutzanlage war angesprungen. Er sah das gefärbte Halongas, das über dem Zirkel niederging, aber erst, als ein gelbes Leuchten ein gespenstisches Licht auf das Gelände warf.
Der zweite Turm strahlte es aus. Einen Moment lang erweckte er den Eindruck, lebendig zu sein, als er zuckend versuchte, seine äußere Form zu verändern. Der Morph-Mechanismus war außer Kontrolle geraten. Der Turm zog sich zusammen, dehnte sich wieder aus, anscheinend in einer verzweifelten Anstrengung, seine Gestalt zu wahren, wie das Programm es ihm vorschrieb. Pixel huschten auch über seine Oberfläche, strebten zusammen, verfärbten sich jedoch, bevor sie sich vereinigen konnten, leuchteten immer heller ... und vergingen schließlich in einer donnernden Explosion.
Bevor Peccym Moaxec reagieren konnte, detonierte auch der dritte Turm und frischte die schwächer werdende rot glimmende Helligkeit auf, die den Zirkel einhüllte. Mit aller Kraft kämpfte sie gegen die Finsternis an, doch es war ein verlorener Kampf. Kurz darauf erlosch sie endgültig und das Übungsgelände tauchte in finale Dunkelheit.
Wenigstens funktionierte die künstliche Schwerkraft. Offenbar hatte die Hyperstenz Schlimmeres verhindert.
Moaxec ahnte, was passiert war. Die gravomechanische Schockwelle! Die Schiffsführung musste sie unterschätzt haben. Sie hatte sich im Mitraiasystem ausgebreitet und die TOIPOTAI in Mitleidenschaft gezogen.
Peccym machte sich Vorwürfe, dass er keine weitergehende Gefährdung in Betracht gezogen hatte. Damit hatte er seine derzeitigen Eleven in Gefahr gebracht. Die Dunkelheit war so umfassend, dass er nicht sagen konnte, ob sie noch lebten oder den Explosionen der Morph-Mechanismen zum Opfer gefallen waren. Das wäre das erste Mal, dass junge Tiuphoren in seiner Fertigkeitenschule durch unvorhergesehene Ereignisse, die nichts mit der Ausbildung zu tun hatten, ums Leben gekommen wären.
Er verschwendete keinen Gedanken daran, dass seine Fertigkeitenschule damit ihren guten Ruf verlieren könnte. Wie kann ich den Eleven helfen?
Weitere Geräusche erklangen, diesmal tatsächlich in beträchtlicher Ferne. Es waren Explosionen. Um die TOIPOTAI musste es schlimm stehen.
Moaxec zerbiss einen Fluch. Er konnte nur vermuten, dass höherdimensionale Maschinen und Betriebssysteme ausfielen, Aggregate versagten und außer Kontrolle gerieten. Durch eine einfache gravomechanische Schockwelle?, fragte er sich. Nein. Da muss etwas anderes passiert sein.
Das Zitadellenspiel war jedenfalls beendet, anders als geplant. Aus dem Spiel war blutiger Ernst geworden.
Der Editor reckte sich, versuchte, der Situation etwas Positives abzugewinnen.
Falls seine Eleven lebten, würden sie nun zeigen müssen, was sie bei ihm gelernt hatten.
Nun mussten sie sich im Ernstfall beweisen.
Fernes Zahnweh
Die gravomechanische Schockwelle raste durch das Solsystem, und einen Augenblick glaubte Perry Rhodan, dass an diesem 10. Dezember 1517 NGZ, Bordzeit RAS TSCHUBAI, der Untergang der Sonne seines Heimatsystems und all ihrer Planeten eingeläutet wurde.
Aber nur einen Moment lang. Er wusste, dass an diesem Tag nicht das Ende des Solsystems kommen würde. Und schon gar nicht das der Menschheit.
Die Menschheit existierte zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
»Diese verdammten Zeitreisen«, murmelte er. »Sie können selbst einem Unsterblichen das Gehirn verknoten.«
In über 20 Millionen Jahren würde es das Solsystem noch immer geben. Allerdings hatte es in der Zukunft – in Rhodans eigentlicher Gegenwart – drei Planeten weniger. Rhodan und seine Leute waren gerade Zeugen der Versetzung einer dieser drei verlorenen Welten in den Leerraum zwischen den Sternen geworden.
Die RAS TSCHUBAI war um über 20 Millionen Jahre in die Vergangenheit verschlagen worden, und Perry Rhodan hatte sich freiwillig entschieden, vorerst in dieser Epoche zu bleiben, um zu verhindern, dass der Lare Avestry-Pasik ein Zeitparadoxon auslöste. Avestry-Pasik wollte die Vergangenheit verändern, um zu verhindern, dass die Erste Laren-Zivilisation unterging. In Rhodans Gegenwart stand allerdings fest, dass sie untergegangen war. Verhinderte er den Untergang, bedeutete dies eine Zeitmanipulation von solchem Ausmaß, dass die Entwicklung einen ganz anderen Verlauf nehmen und die Menschheit sehr wahrscheinlich gar nicht entstehen würde.
Dass man die Vergangenheit ändern konnte, war Rhodan klar. Die PAD-Seuche, die die Menschheit ebenfalls ausgelöscht hätte, wurde im Jahr 3457 alter Zeitrechnung durch ein Zeitparadoxon ausgemerzt. Es war nie ganz geklärt worden, inwiefern es sich dabei insgesamt um eine illusionäre Gefahr im Rahmen des Kosmischen Schachspiels gehandelt hatte, aber es blieb eine Restgefahr, dass dem nicht so gewesen war. Die Bedrohung, die von Avestry-Pasik ausging, war also nicht nur theoretischer Natur, sondern höchst real.
Allerdings war es nicht einfach, die Mission des Laren zu torpedieren. Im Jahr 20.103.191 vor Christus, in dem die RAS TSCHUBAI gelandet war, griffen die Tiuphoren wichtige Ziele in der Milchstraße an, die zu dieser Zeit als Phariske-Erigon bekannt war. Sol hieß Mitraia, das Solsystem folglich Mitraiasystem, und das spätere Terra Kerout.
Einer der fehlenden Planeten des späteren Solsystems war die Welt Sheheena, die der Kodex – die hoffnungslos unterlegenen Verteidiger von Phariske-Erigon – soeben in einer Verzweiflungstat mithilfe der Purpur-Teufe aus dem Mitraiasystem evakuiert hatte.
Die zweite in Rhodans Gegenwart längst verschwundene Welt war Zeut, der riesige Planet, aus dessen Überresten später der Asteroidengürtel entstanden war, und die dritte Pluto, der beim Angriff der Cappins vernichtet worden war.
Rhodan hatte die Warnungen ernst genommen. Die RAS TSCHUBAI hielt sich in ausreichender Entfernung vom Solsystem ... vom Mitraiasystem ... auf, und die BJO BREISKOLL, auf der er sich befand, hatte ebenfalls einen Sicherheitsabstand eingelegt.
Aber nicht die Tiuphoren. Sie hatten nichts davon gewusst und waren in eine Falle getappt.
Rhodan beugte sich in der Zentrale der BJO BREISKOLL vor, um die Holos genauer zu betrachten. Widerstrebende Gefühle rangen in ihm um die Oberhand. Der sextadimensional-asynchrone Impuls, den die Purpur-Teufe ausgelöst hatte, war wesentlich stärker, als es von Coyner Cosherryc geplant gewesen war. Sol ... Mitraia schien ihn irgendwie aufgeschaukelt zu haben. Seine Wirkung war auf ein Lichtjahr vom Zentrum aus begrenzt, also von der Sonne aus, doch im System wirkte er sich verheerend aus.
Rhodan ertappte sich, dass der Ansatz eines Lächelns seine Lippen umspielte.
Eigentlich müsste er sich dafür verabscheuen. In diesem Augenblick starben Hunderttausende, wenn nicht sogar Millionen von Intelligenzwesen. Die Tiuphoren gerieten bei dem Angriff auf das Mitraiasystem zum ersten Mal in Bedrängnis. Vor allem die Sterngewerke, ihre riesigen Habitate, die in der Hyperstenz operierten, waren betroffen. Etliche explodierten, andere wurden zum Teil schwer beschädigt.
Aber er verfolgte es mit einer gewissen Befriedigung. Die Tiuphoren waren Aggressoren, die ihr Dasein dem Krieg widmeten und ohne jede Provokation über Phariske-Erigon hergefallen waren, einfach, weil diese Galaxis auf ihrem Weg gelegen hatte.
Und sie alle – die Tiuphoren, die Mitglieder des Kodex, die Bewohner des Mitraiasystems – sind eigentlich seit über 20 Millionen Jahren tot.
Daran ließ sich nichts mehr ändern. Daran durfte er nichts ändern.
Rhodan warf einen Blick auf die Datenholos. Auch die TOIPOTAI, das Flaggschiff der Angreifer, war durch den sextadimensional-asynchronen Impuls übel in Mitleidenschaft gezogen worden und hatte schwere Schäden davongetragen.
Doch nun verblich sein Lächeln so schnell, wie es gekommen war. Die Tiuphoren lebten auf den Sterngewerken. Es waren nicht nur Soldaten an Bord, Sternenkrieger, gnadenlose Kämpfer, sondern auch deren Familien, Männer oder Frauen und Kinder.