Plinio Martini, geboren 1923 in Cavergno, wuchs als Sohn eines Bäckers mit sieben Brüdern in ärmlichen Verhältnissen auf. Nach seiner obligatorischen Schulzeit besuchte Martini das Lehrerseminar in Locarno und unterrichtete anschliessend in Cavergno und später in Cevio. Martini heiratete und wurde Vater von drei Kindern. In den 60er Jahren erkrankte er erstmals an einem Hirntumor, an welchem er nach jahrelangem Leiden 1979 im Alter von 56 Jahren erlag. Erste Erzählungen konnte Martini Anfang der 1950er Jahre im «Giornale del popolo» veröffentlichen. 1951 und 1953 erschienen die Gedichtbände «Paese così» und «Diario forse d'amore». 1970 folgte sein erster Roman «Il fondo del sacco», der vier Jahre später in der deutschen Übersetzung unter dem Titel «Nicht Anfang und nicht Ende» erschien. Sein zweiter Roman «Requiem für Tante Domenica» erschien 1975 in deutscher Sprache. In seinem Werk hat Martini die klischierten Tessinbilder revidiert. Er gehört längst zu den Klassikern der Tessiner Literatur.

«Plinio Martini wollte das Leben im engen Tal für die Seinen dokumentieren. Er tat es mit solcher Meisterschaft, dass wir alle von der Menschlichkeit in seinen Werken berührt werden.» Neue Luzerner Zeitung

Für meine Eltern

Plinio Martini

Nicht Anfang und nicht Ende

Roman einer Rückkehr

Aus dem Italienischen von Trude Fein

Limmat Verlag

Zürich

Die Geschehnisse, von denen hier berichtet wird, haben sich fast alle tatsächlich ereignet. Die Personen hingegen entstammen der Fantasie des Verfassers, und jeder Versuch, sie zu identifizieren, wäre zwecklos. Die einzige Ausnahme bildet Don Giuseppe Fiscalini, der fast ein halbes Jahrhundert lang das Pfarramt von Caver­gno innehatte.

Ich fahre nicht mehr nach Amerika zurück.

Vielleicht werde ich sogar der Versuchung widerstehen, einen Sprung hinüberzumachen, um meine Freunde zu besuchen. Ich weiß jetzt schon, wie ei­­nem zumute ist, wenn man Menschen wiedersieht, die alt geworden sind, und Orte, die sich selber nicht mehr gleichen. Ich muss mich abfinden. Ich bin nur noch ein armer Mann, der ein Bündel Kummer mit sich herumschleppt. Mein jetziges Dasein ist wie ein Augustsonntag, an dem man zu Hause sitzt, während alle anderen ausgeflogen sind; und wenn ich so zum Fens­ter hinausschaue und die altgewohnten Dinge sehe, denke ich, wie schön es doch wäre, wenn man das Leben zurückdrehen könnte, wie den Kilometerzähler im Auto, und wieder auf null stellen: auf den Bahnhof an jenem Tag, als ich abreiste und Maddalena da war. Der Bahnhof war eine Zündholzschachtel, die man am Anfang der zwei Schmalspurgeleise in unserem Tal aufgestellt hatte, und ich verfluche noch heute das Bähnchen, das mich forttrug. Wenn ich noch einmal zurückkönnte – ich schwöre dir, ich würde mich auf meinen Koffer setzen und mich nicht von der Stelle rühren, wie ein Kalb, das sich stur weigert weiterzugehen, so dass einem nichts übrig bleibt, als es auf halbem Weg zum Stall draußen übernachten zu lassen. Aber das sind Überlegungen von heute. Damals war ich ein Junge, und weil ich die Fahrkarte in der Tasche hatte, dachte ich, ich müsse auch wegfahren.

Maddalena war mitten unter uns aufgewachsen, doch sie schien ein Wesen anderer Art zu sein. Wir – wir waren nicht einmal imstande, normal zu gehen; aber wenn sie daherkam, drehten sich die Leute auf der Straße nach ihr um und hörten mitten im Satz zu reden auf. Wenn sie lachte oder sich das Haar zurückstrich, hätte man meinen können, dass kein anderer Mensch jemals auf diese Art gelacht oder die Hand gehoben hätte. Ich bin einzig dieser Erinnerung we­­gen nach Cavergno zurückgekommen; und um sie mir aus dem Sinn zu schlagen, sollte ich mich vielleicht einmal richtig aussprechen, ganz von Anfang an schildern, wie schwer wir es dort hatten, ehe ich fortzog, unser ganzes damaliges Leben, das Vieh, das Heu­en, die Alp, das Misten, die Kreuzschmerzen – und auch das Gute, denn gerechterweise muss ich sagen, dass es auch Gutes gab. Vielleicht wird es mir wohl tun, einmal gründlich auszupacken.

Maddalena war ein Jahr jünger als ich. In der Schule war sie die Einzige, die Schuhe aus dem La­­den trug; wir anderen gingen in Stofflatschen oder Zoccoli oder auch barfuß, aber sie hatte hohe Schuhe mit Schnürsenkeln, die kreuzweise verschnürt und dann zugeknüpft wurden. Vielleicht begann ich sie dieser Schuhe wegen gern zu haben und auch weil der Hals, den sie über das Schulheft neigte, so zart war. Aus der Schulbank quetschte sie sich immer auf meiner Seite, um zu zeigen, dass sie mir gut sei, aber das hätte ich nicht kapiert, wenn die anderen es mir nicht gesagt hätten. Ich für mein Teil begnügte mich damit, tief Atem zu holen, wenn sie dicht an mir vorbeiging, weil sie so gut roch. Dann erfuhr ich eines Tages, dass man sie in die deutsche Schweiz, ins Pensionat geschickt hatte. Ich hörte auf der Straße zwei Leute darüber reden und ging ganz unschuldig weiter, aber als ich nach Hause kam, warf meine Mut­­ter nur einen Blick auf mein Gesicht und steckte mich mit dem Thermometer unter der Achsel ins Bett. Im Lauf der nächsten Jahre sah ich Maddalena bloß zu Weihnachten in der Kirche, jedes Jahr aus weiterer Ferne. Allmählich hörte ich auf, an sie zu denken. Mein Herz war schließlich zur Ruhe ge­kommen.

Doch einmal, an einem schönen Märztag, als ich schon auf die Papiere für Amerika wartete, kehrte ich von Preda* nach Cavergno zurück, und da sah ich sie plötzlich in der Mittagssonne in der gleichen Richtung vor mir hergehen, so zögernd, als wartete sie auf jemanden. Ich schämte mich mit einem Mal meiner Ziehharmonikahosen. Ums Leben gern wäre ich ihr ausgewichen, aber um sie nicht einzuholen, hätte ich geradezu stehen bleiben müssen, so langsam schlenderte sie dahin, und außerdem hatte ich den Verdacht, sie hätte mich schon erblickt. So beschleunigte ich meinen Schritt mit einer Miene, als dächte ich an eine wichtige Angelegenheit.

«Ciao, Gori», sagte sie, als ich an ihr vorbeikam, so als wären wir erst gestern Abend auseinander gegangen; dabei waren es fünf Jahre her, dass wir nicht miteinander gesprochen hatten.

«Ciao», sagte ich und wollte schon weiter.

«Ich höre, dass du nach Amerika willst», sagte sie, und ich musste höflicherweise stehen bleiben. «Man merkt, dass dir wenig an den Leuten liegt, die dich gern haben», fügte sie hinzu, und ich spürte, dass sie meinen Blick suchte, aber ich hielt die Augen auf den Fluss gerichtet. Ich antwortete über die Schulter hinweg:

«Offen gesagt, ich habe nie gedacht, dass jemand sich für mich interessiert.»

«Vielleicht hast du dich nicht richtig umgeschaut», erwiderte sie, und ich Esel stand mit gesenktem Kopf da und betrachtete angelegentlich den Fluss und die Wiesen am anderen Ufer. Wir waren allein, sie hatte auf mich gewartet, ich konnte doch nicht den Raubeinigen spielen und sie einfach stehen lassen. Sie sagte leise:

«Erinnerst du dich noch an den Zettel, den du mir in der Schule gegeben hast?»

Und ob ich mich erinnerte! Ich hatte ein schönes, von einem Pfeil durchbohrtes Herz mit unseren beiden Namen gemalt, und darüber züngelten rote Flammen. Die Idee, ihr diesen Liebesbrief zuzuschieben, stammte von Natale, der hoffte, dass ich dafür Prügel kriegen würde, aber sie zeigte ihn nicht dem Lehrer, wie es die anderen zimperlichen Dinger zu tun pflegten, sondern steckte ihn unter die Schürze, in den Ausschnitt ihres Pullovers. Dann wandte sie sich um und sah mich an. Doch inzwischen war die Zeit vergangen.

«Ich habe ihn noch immer», fuhr sie fort. «Im Pensionat hatte ich ihn in mein Gebetbuch gesteckt, und dort liegt er noch.»

Ja, das Pensionat, die Villa mit dem Garten, die golde­ne Uhrkette auf der Weste ihres Vaters … Heute ist das Haus der Lopetro ein Haus wie alle anderen, doch damals schien es uns eine richtige Villa zu sein, vor allem wegen des Gartens, in dem Narzissen und Dahlien und je nach der Jahreszeit andere feine Blumen blühten. Für uns war es schon viel, wenn unsere Mütter in einem Winkel des Feldes Platz für vier Chry­­san­­­the­men fanden, die man dann zu Aller­see­len auf den Fried­hof trug. Nein, ich durfte mir keine Illusionen machen, sie stand viel zu hoch über mir – und jetzt lag auch noch Amerika dazwischen. Ich sagte:

«Den Zettel wirf nur weg.»

«Warum denn, Gori?»

Sie wartete mit ernstem Gesicht auf eine Antwort, und ich wagte es, ihr einen Augenblick lang in die Augen zu sehen – nach so vielen Jahren.

«Maddalena», sagte ich mühsam, «wir sind keine Kinder mehr – und ich … Du weißt, dass ich nach Ameri­ka muss, mir mein Brot verdienen.»

«Mir scheint, du gehst nicht sehr gern hinüber», sagte sie.

Wir wanderten unwillkürlich weiter. Mir war un­­be­haglich zumute, ich schwitzte, um ein Haar hätte ich zu heulen begonnen. Zum Glück näherten wir uns Schritt für Schritt der Biegung, wo man uns vom Dorf aus sehen konnte, und das hätte die Situation geändert. Doch sie blieb stehen und redete gleichgültiges Zeug, um die Zeit in die Länge zu ziehen. Sie sprach vom Wetter und fragte, ob wir die Ziegen schon nach Roseto gebracht hätten. Dann schwiegen wir still, und ich stand wie ein richtiger Tölpel mit hängendem Kopf da und ließ mich anschauen – mein graues Zeug, ihr leichtes Baumwollkleid.

«Wie du dich verändert hast», sagte sie traurig und fügte hinzu: «Aber du bist ein sehr hübscher Bursche, weißt du das?»

Da wandte ich mich wütend ab, denn ich dachte, sie wolle mich auslachen. Aber ich sah, dass sie ein wenig rot geworden war, sie war wunderschön, und ich kannte mich überhaupt nicht mehr aus. Hinter mir stand ein großer Kirschbaum mit dickem, glattem Stamm. Heute ist er abgehauen, doch der Stumpf steht noch dort, und du kannst dir denken, dass ich ihn jedes Mal ansehe, wenn ich vorbeikomme. An jenem Tag sah ihn auch Maddalena an und sagte:

«Es wäre schön, wenn du wieder ein Herz für mich zeichnen könntest. Gleich hier in die Rinde.»

Das hatte ich wahrhaftig nicht erwartet. Ich stand wie ein Stock da und starrte auf den Kirschbaum, so verwirrt, dass ich gar nicht merkte, wie sie davonschlüpfte. Dann begann ich ebenfalls zu laufen, mitten durch die Wiesen, die noch vom letzten Schnee nass waren. Jetzt war es die wichtigste Sache der Welt, noch einmal mit ihr zu reden, und so rannten wir, sie voraus und ich hinterdrein, wie zwei Kinder, die Fangen spielen. Ich sehe sie noch, wie sie sich lachend nach mir umdrehte. An ihrem Gartentor holte ich sie ein.

«Ich habe die Geschichte mit dem Kirschbaum nicht recht verstanden …», sagte ich, ganz außer Atem, während ich das Türchen festhielt, das sie – ohne besondere Eile – zu schließen suchte.

«Dann hat es keinen Zweck, dass ich sie dir erkläre», antwortete sie und lief wieder davon, aber an der Haustür wandte sie sich um und lachte mir zum Abschied zu. Die Tür schloss sich hinter ihr, und ich ging auf einem weiten Umweg durch die Felder nach Hause – von Kopf bis Fuß ein Esel.

Doch im Dorf gab es keine Arbeit, die wirklich Arbeit war, außer im Winter Mist zu tragen für Frauen, die es nicht mehr schafften. Dafür zahlten sie uns einen Franken fünfzig im Tag – zu viel für sie selber und zu wenig für uns. Die Kräftigsten brachten es manchmal auf zwei Franken, wie zum Beispiel ich, der mit achtzehn Jahren einen Meter achtzig lang und entsprechend schwer war. So groß und stark zu sein und nie einen Centesimo in der Tasche zu haben, zu dem man sagen konnte: «Du gehörst mir, mit dir tu ich, was ich will!», und keine Möglichkeit zu sehen, etwas zu verdienen oder einen Beruf zu lernen … Ich tat mich um, so gut ich konnte. Unser Vater hat mir nie eine Arbeit aufgetragen, die ich mir nicht, ohne zu mucken, auf den Buckel geladen hätte, und wenn ich hätte Daumendrehen können, ging ich noch Zäune oder Mäuerchen ausbessern. Aber inzwischen waren die Brüder, die nach Antonio und mir kamen, groß geworden und hätten uns auf der Alp und bei den Ziegen ersetzen können.

Wenn es etwas Gutes zu essen gab, mahnte mich die Art, in der die Kleinen mit angehaltenem Atem dasaßen, dass ich meinen Anteil nicht nach meinem Appetit bemessen durfte. Doch unsere Mutter, die, ohne dass man es merkte, ihre Augen überall hatte, behielt gewöhnlich etwas für mich zurück, für später. Auch dass ich heimlich essen sollte, bedrückte mich. Die Mutter seufzte.

«Das darfst du nicht sagen, Gori, du kannst nichts dafür, dass in dich mehr hineingeht als in die anderen. Du gerätst dem Großvater nach, der war auch so ein Riesenkerl. Bei den vielen Kindern, die ich in die Welt gesetzt habe, ist es schon recht, dass eines ihm ähnlich wird.»

Dem Großvater Benvenuti zu ähneln, wo die meis­ten im Dorf es nicht einmal zuwege brachten, sich gerade zu halten, fast wie die Lärchen oben auf den Graten, das fand ich großartig; aber mit der Zeit begann ich selber zu denken, dass ich dem lieben Gott zu groß geraten sei. Ich hatte das Gefühl, dass ich über­all anstieß, daheim, in der Schule und der Kirche. Sogar im Bett hatte ich meine Plage mit der Decke, die ich einmal über die Schultern und einmal über die Füße zog, ohne dass es mir je gelang, mich richtig zu­zudecken. Sonntags sangen sie auf dem Platz: «Amerika ist lang und breit», und wenn ich nicht einschlafen konnte, ging mir der Refrain im Kopf herum. Laut jenen, die drüben gewesen waren, schien Amerika das Schlaraffenland zu sein. So begann ich darüber mit Antonio zu reden, der friedlicher Natur war und von sich aus ewig hier geblieben wäre. Ich war es, der ihm den Floh ins Ohr setzte, und es tut mir noch heute Leid, denn jetzt ist es klar, dass er seine Tage jenseits des Großen Wassers beschließen wird.

Unsere Mutter hatte in fast regelmäßigen Ab­ständen von anderthalb Jahren zwölf Kinder zur Welt gebracht. Vittorina, die Älteste, war mit sieben Jahren verbrannt. Dann kamen der Reihe nach An­tonio, ich, Maria, Silvio und alle anderen bis zu Margherita, die ein paar Monate bevor Antonio und ich hinübergingen, geboren wurde. Da zwei in den Windeln gestorben waren, an Diphtherie, wie es hieß, müssen wir bei meiner Abreise neun Geschwis­ter gewesen sein.

Vittorina starb, als ich ungefähr vier Jahre alt war. Ich erinnere mich nicht, wie sie aussah, es gibt nicht einmal eine Foto von ihr. Sie ist dahingegangen und hat nichts zurückgelassen als einen großen Schmerz. Ich denke aber, dass sie Zöpfe und lange Röcke getragen haben muss, wie alle Mädchen in ihrem Alter; so­­gar uns Buben zog man bis zu vier, fünf Jahren ein langes Kleidchen an, weil das bequemer war. Die Mut­­ter sagte immer, ein Mädchen wie Vittorina sei ihr Gewicht in Gold wert, denn mit sechs Jahren war sie schon so vernünftig, dass sie zu den Kleinen schauen konnte. An jenem Tag hatte die Mutter, bevor sie das Haus verließ, Antonio, Maria und mich in die Stube eingeschlossen, die wir mit der pigna* heizten; Vittorina ließ sie mit dem Kleinsten in der Wiege in der Küche. Sie ging Wasser holen. Der Brunnen lag auf dem Platz, und für den Hin- und Rückweg und das Warten, bis der Eimer voll war, brauchte man eine Viertelstunde. Da das Feuer in der Küche brannte, hatte sie uns vorsichtshalber eingesperrt, wie unsere Mütter es immer taten, falls sie uns nicht mit einem Strick anbanden. Aber auf Vittorina konnte sie sich verlassen; sie hatte ihr aufgetragen, auf das Kleine und auf die Milch, die über dem Feuer hing, aufzupassen.

Als nun Vittorina den Kessel von der Kette loshakte, fingen ihre Kleider Feuer. Sie merkte es wohl nicht gleich. Als sie sich dann plötzlich in Flammen stehen sah, rannte sie schreiend hinaus, der Mutter entgegen, und draußen an der Luft loderte sie wie eine Fackel auf. Sie fiel hin, das arme, kleine Ding, und raffte sich noch einmal auf, um in den Armen ihrer Mutter zu sterben, die ihr entgegenlief. Aber sie kam schon zu spät.

Das alles erzählte man uns später. Ich selber erinnere mich nur, dass wir den Schrei unserer Mutter und ein Durcheinander fremder Stimmen hörten; und als sie uns schließlich hinausließen, war das Haus voller Frauen, mitten in dem gewaltigen Gestank nach Verbranntem. Aber du hättest hören sollen, wie die Mutter von dem Unglück erzählte. Noch als alte Frau wollte sie schier verzweifeln, dass sie zu spät gekommen war, gerade nur um eine Minute, und sie zeigte die Narben an ihren Händen, die sie sich zugezogen hatte, als sie die Flammen zu löschen versuchte.

Die arme Frau schien tatsächlich vom Schicksal verfolgt, denn ein paar Monate später geschah es, dass sie auch die kleine Tochter ihrer Schwester verbrannt fand. Sie war in Roseto und sagte sich: «Ich muss doch einmal zu Daria hinauf und nachschauen, was die Kinder machen.» Daria war an den Fluss waschen gegangen. Mutter steigt also zum Haus hinauf, und das Haus ist von dem schwarzen Rauch erfüllt, den sie so gut kennt; sie stürzt hinein und will ein Fenster aufreißen, um etwas sehen zu können, und dabei stolpert sie über ein Bündel von geschwärzten Lumpen, aus dem noch ein Wimmern ertönt.

Nach dem Unglück in Roseto sang unsere Mutter nicht mehr, weder in der Kirche noch sonst wo, außer an der Wiege, um die Kleinen einzuschläfern; dann stand ich hinter der Tür und lauschte, und in Amerika hat Antonio mir gestanden, dass er es ebenso machte. Von da an brachte sie es auch nicht mehr über sich, die toten Kinder anderer Leute anschauen zu gehen, und wenn die Glocken zum Begräbnis einer unschuldigen Seele läuteten, lief sie davon und schloss sich in die Stube ein. Offen gesagt, auch mich macht das Gebimmel, das sie bei einem Kinderbegräbnis veranstalten, noch heute so entsetzlich traurig, dass ich mich unter die Erde verkriechen möchte, um es nur nicht mehr zu hören.

Heutzutage mag es übertrieben klingen, aber damals starb man im Dorf öfter durch einen Un­glücksfall als auf natürliche Weise. Ganz abgese­hen von den armen Teufeln, die im Handumdrehen von Grippe, Lungenentzündung, galoppierender Schwind­­­­sucht oder Blinddarmentzündung hinweggerafft wurden, wobei der Arzt regelmäßig zu spät kam, muss man wirklich sagen, dass wir die steilsten Berge der Welt hatten; wir haben sie noch immer, aber heute ist es doch ein anderes Arbeiten. Oben auf der Alp ließen jedes Jahr ein paar Leute das Leben, und immer traf es uns, die Jungen. Die Alten blieben, wie es ja richtig war, beim Milchkessel, und wir mussten hinter den verirrten Ziegen her die Felsen hinaufkraxeln, bei gutem wie bei schlechtem Wetter. Diejenigen, die nicht auf die Alp zogen, hatten das Heuen auf den Überhängen zu besorgen, was um nichts weniger gefährlich war, besonders wenn der Moment kam, in dem man das Netz ins Tal hinunterwarf*. So musste die arme Arcangela, die am Fuß der Felswand wartete, mit ansehen, wie ihre Tochter vor der Heuladung unten anlangte. Und dann gab es Erdrutsche und Lawinen und das Hochwasser, das Felder, Ställe, Vieh und manchmal auch Menschen forttrug, wie damals die beiden Marca aus Bolla, die man einen Monat später unter dem Schlamm entdeckte, weil die Krä­hen unaufhörlich über dieser Stelle krächzten. Ich erinnere mich so genau daran, weil es unser Großvater Benvenuti war, dem die Unglücksvögel auffielen. Er war nach der Katastrophe ein paar Mal vorbeigekommen, und ständig hockten sie auf dem Balken, der im Schlamm steckte, ohne jemals weit wegzufliegen, so scheu sie sonst auch sind. Großvater ging es den Verwandten der Marca sagen. Man grub dort nach und tatsächlich, beim vierten Schlag der Hacke fand man die beiden alten Frauen.

Ich könnte ein ganzes Buch schreiben über all die Verunglückten, die ich selber gekannt hatte, und die, von denen man uns Kindern erzählte, um uns Vor­­­sicht einzuimpfen: Verwandte von uns, die abgestürzt oder ertrunken waren, Leute, die sich oben in den Felsen verstiegen und zu spät entdeckt wurden, andere, die man nicht einmal mehr als Leichen fand, wie zum Beispiel die arme Matilda. An die hundert Mann zogen wir aus, um sie zu suchen, aber es war, als hätten wir keinen Finger gerührt. Wir ließen uns am Seil in die Schluchten der Lavizzara und die Spalten von Paraula hinab, wir kletterten in den Felswänden von Stagniva herum, aber alle hundert setzten wir unser Leben vergeblich aufs Spiel. Drei Wochen lang schrien und brüllten wir in jede Klamm hinein, in der Hoffnung, sie hätte ihr Leben mit Heidelbeeren und Wasser gefristet, wie es manchen geglückt war. Wer sie fand, der sollte die große Glocke läuten, das hat­ten wir ausgemacht. Aber unser Tal mit all seinen Wäl­­dern und Abgründen von oben bis unten durchzukämmen, das ist schlimmer, als Australien erforschen. Als schon Schnee lag, suchten einige noch immer den Bach ab, ob nicht jetzt, da er wenig Wasser führte, irgendein Kleidungsstück zutage käme, und tatsächlich war etwas zu sehen. Wieder machten wir uns mit den Seilen auf und ließen uns in die Gola del Lupo, die Wolfsschlucht, hinab. Nach zwei Stunden schwerer Mühe zogen wir eine tote Ziege herauf.

Von gewissen Verunglückten erzählte man uns Kindern immer wieder. Da war der arme Junge, der oben über Frodone fünfunddreißig Stunden lang im Sterben lag, weil ihm ein Felsblock, den man nicht wegwälzen konnte, die Beine bis zur Leiste zerquetscht hatte. Sie brachten ihm vom oberen Weiler heißen Kamillentee hinauf und beteten beim Licht der Laternen den Rosenkranz und die Sterbegebete. Der Pfarrer und das halbe Dorf waren oben, und auch von den Alphütten kamen die Leute herunter, um ihn zu se­­hen*. Ich konnte auch nie das Mädchen aus Preda vergessen, das unser Vater vom Piodau hinunterschaffen half. Ein Felsblock hatte das Dach der Sennhütte zertrümmert, wo sie mit ihrer Mutter schlief, und ein Dachsparren hatte sie von einer Seite zur anderen durchbohrt. Sie sägten den Sparren ab, um sie hinun­terzutragen, damit sie in ihrem Bett sterben könnte, das Stück Holz quer in der Brust. Unglücksfälle gibt
es auf der ganzen Welt, zu Erde, zu Wasser und im Gebirge, aber bei uns passierten sie ein bisschen zu oft; so dass sich die Angehörigen, wenn man einen mit einer Lungenentzündung vom Berg hinunterschaffte, damit trösteten, sie hätten ihn wenigstens in seinem Bett sterben gesehen. Den Frauen ging es nicht besser, aber die Schwangerschaften und die Sorge für die Kleinsten hatten zumindest das Gute, dass sie in der Nähe des Hauses blieben. Als ich zur Schule ging, hatten mehr als die Hälfte meiner Kameraden schon Vater oder Mutter verloren; da sah man, was bei unserem ständigen Herumkraxeln zwischen den Ginsterstauden herauskam.

Ich erinnere mich nicht, dass jemand tödlich vom Blitz getroffen wurde, wenn auch oben auf der Alp bei einem Gewitter die Hölle losbricht. Wir beteten, eng aneinander gedrückt, den Rosenkranz, und eines Nachts schleuderte es uns alle zusammen einen Me­ter weit weg. Das Geschirr in Scherben auf dem Fuß­bo­den, die Schöpflöffel, die Holzpflöcke, der ge­weih­te Palmzweig, der uns beschützt hatte, von der Wand losgerissen, der Kessel umgestürzt und ins Feuer ausgeschüttet, so dass es erlosch, und wir in der pechschwarzen Finsternis, ganz betäubt von diesem Weltuntergang und dem Geheul der Kleinen, dazu noch der Gestank von einem lebendig verbrannten Kalb im Stall nebenan … Zum Glück geht es mit dem Blitz wie mit den Schlangen; gewöhnlich ist der Schrecken größer als der Schaden.

Von den Kindern wollen wir gar nicht reden. Indes die Großen ihrer Arbeit nachgingen, waren sie sämtlichen Gefahren ausgeliefert. Sie verbrannten, während die Mutter am Fluss die Wäsche wusch, sie gossen unter den Augen der Person, die sie hütete, den Kessel mit kochender Lauge über sich, sie fielen von Bäumen herunter und stürzten von der Brücke in den Wildbach, sie ertranken in Brunnen und Hanftümpeln, sie starben an Diphtherie und Keuchhusten, manche auch, weil man sie sozusagen nur mit Luft und Liebe ernährte. Doch der Pfarrer belehrte uns, dass sie jetzt Engel seien und dass jede Familie ihre eigenen Engel brauchte.

Ich erinnere mich, wie einmal bei den Tuni Zwillinge starben. Heute geht es den Tuni gut, aber da­mals herrschte dort das nackte Elend. Von Giovan­ni, der so alt war wie ich, erzählte man, wenn die Mutter ihm seine Schnitte Brot gäbe, hielte er sie vor die Augen und riefe: «Mamma, ich kann dich sehen!» Es gab dort schon ein Dutzend durchzufüttern, und dann kamen zwei auf einmal, die man wahrhaftig nicht mehr brauchte. Geduld, Geduld! Die Kinder schickt der liebe Gott. Nur hatte die Mutter bei der Geburt so viel Blut verloren, dass die anderen Kleinen, die in der Küche spielten, es unter der Kammertür hervorsickern sahen und um Hilfe riefen. Der Vater war das Vieh besorgen gegangen und die älteren Geschwister in der Schule. Die Nachbarn kamen und fanden die Frau bewusstlos neben den zwei Neugeborenen. Die Tuni hatten freilich nicht die Mittel, sie aufzufüttern, damit sie die Zwillinge ordentlich nähren könnte, und damals gab es noch kein Nestlé-Kindermehl oder zumindest nicht für solche Leute. Nach ein paar Wochen, es war gerade Frühling, bekamen die Zwillinge Bronchitis. Tag für Tag wurde ihr Atem kürzer. Es sei eine Qual, sie röcheln zu hören, hieß es, hoffentlich würde der Herrgott bald einmal herunterschauen. Und wirklich: Das erste starb. Die Toten­wache hielt man im Haus ihrer Tante Carolina ab, weil dort mehr Platz war, und während wir bei ihm wachten, starb auch das zweite. Da sagte der Vater zur ältesten Tochter, jetzt könne sie wenigstens das Bündel gerade auch noch zur Carolina hinübertragen und neben das andere legen und das Tedeum singen lassen.

Und wir sangen ein Tedeum wie am Jahresende.

Nämlich, um dir die Sache zu erklären, beim Got­tesdienst zu Sankt Silvester schmetterten wir dir ein Tedeum, wie ich es später nie wieder gehört habe. Wir sahen Don Giuseppe in seinem festlichsten Mess­gewand herauskommen, und seine zittrige Hand er­schien im Weihrauchnebel größer als sonst. In diesem bläulichen Nebel sangen wir vor dem Allerheiligsten. Ja, wir preisen dich, Gott, für das gute Jahr, weil es eine Gnade ist, oder für das schlechte Jahr, weil es eine Gnade ist, dass es nicht noch schlimmer kam. Wir preisen dich für die Kastanien und die Rüben und die Wassersuppe. Wem die Kuh abgestürzt ist, der preise dich, weil das Kalb nicht hinterherstürzte. Schließlich hatten wir sämtlich Anlass, ihn zu preisen, die Gesunden, die Verwaisten, die Kranken und die Hungrigen, weil wir noch am Leben waren und die Last jener weiterschleppen durften, die das Zeitliche gesegnet hatten.

Doch besonders gut passte in unserem Jammertal das Tedeum für die Kinder, die kaum geboren starben, da doch die ersten Erinnerungen jener, die davonkamen, unweigerlich mit einem schrecklichen Erlebnis oder einem Begräbnis begannen, wie es ja auch bei mir der Fall ist.

Von Plinio Martini sind im Limmat Verlag erschienen:

Glossar

Preda: Fiktive Ortsbezeichnung des Autors.

Pigna: Ofen aus Speckstein an der Wand der Wohnstube, der von außen geheizt wurde.

... ins Tal hinunterwarf: Das Heu, das oberhalb der Felsabstürze gemäht wurde, warf man meist in großen Netzen ins Tal hinunter. Da die Männer größtenteils auf der Alp waren, wurde diese Arbeit auch von Frauen verrichtet.

... um ihn zu sehen: An dieses Ereignis erinnert eine Inschrift auf dem Felsblock, der etwas oberhalb des Abbruchs liegt: IHS ANO 1812 ADI 25 MAGIO GIACOM ZANZANIN STATO OFESO DI QUESTO SASO E DOPO 35 ORE PASO DA QUESTA VITA ALTRA. R. (A.D. 1812, am 25. Mai, wurde Giacom Zanzanin von diesem Felsen verletzt und ging nach 35 Stunden in ein anderes Leben ein. Requiescat.)

Hanftümpel: Seichte Wassergruben, in die man die Hanfbündel zum Aufweichen legt.

Gerla: Hoher, nach unten zu schmäler werdender Tragkorb, den man auf den Rücken schnallt.

Sòstene: Schmale Feldterrassen, mit denen man die steilen Hänge ab-baut.

... um mehr zu sagen: Inschrift auf einem Felsblock in Fontana: GIESU MARIA/ 1594/ QVI FU BELA CAMPAGNIA.

... einst gutes Land gewesen: Gannariente wird ein gewaltiger Bergrutsch hinten im Val Bavona genannt. Die Legende erzählt, dass er ein Dörfchen begrub und nur die Kapelle unversehrt ließ, die seit Jahrhunderten am ersten Sonntag im Mai das Ziel einer jährlichen Bittprozession bildet.

... wie ein abgesonderter Ziegenbock: Die zum Schlachten bestimmten Böcke wurden von der Herde abgesondert und in Schluchten, aus denen sie nicht herauskonnten, einzeln gefangen gehalten.

Focaccia: Brot aus Kastanienmehl.

... fa sü i cavagn ...: Und oben in Valmaggia verdient man nichts mehr, da ist nur noch mein Pedro, der Körbe flicht.

... le vacche a borlone: Wenns zu Auffahrt regnet, ists um die Kühe geschehen.

... una la vende: Wenns im November donnert, verkaufst du von zwei Kühen eine.

Canapuli: Getrockneter Hanfstängel als Fidibus.

Quarantore: Katholisches Kirchenfest.

Cadola: Holzgerüst, um schwere Lasten auf dem Rücken zu tragen.

... auf der Alp Sologna: Das Recht, eine Kuh den Sommer über auf einer bestimmten Alp weiden zu lassen, die in privatem oder öffentlichem Besitz sein konnte, war in Viertel geteilt, die man «Fuß» nannte.

Allocco: Waldkauz.

... FINO SULALPE LANO 1833: Ich, Giuseppe Zan Zanini aus Cavergno, baute den Weg, um das Vieh auf der Alp oben weiden zu lassen. A. D. 1833.

Ghibellino: Kartenspiel, bei dem es darauf ankommt, möglichst wenig Stiche zu machen.

Luganighe: Fette Schweinswürstchen.

... noch elender zu machen: vgl. Bolletino Storico della Svizzera Italiana, 1898, p. 195.

Consiglieri: Ratsherren.

... der Bavona fortgerissen wurde: Dies ist eine unvollständige Liste der Unglücksfälle, von denen die Familie des Verfassers mütterlicherseits im Lauf von zwei Generationen betroffen wurde.

Beola: Schiefergestein, das sich in sehr dünne Platten von großem Ausmaß spalten lässt.

... bel timp mai pü: Ring am Finger/schöne Zeit dahin./Kranz im Haar/schöne Zeit ade.

Fu Lodovico: Sohn des verstorbenen Lodovico.

Fu Pietro: Sohn des verstorbenen Pietro.

gerbido: Ein von Wald umgebenes, bebautes Stück Land.

... alta al viso: Feiner Schnee/wächst in die Höh.

Torba: Hölzerner Getreidespeicher, der auf Pfeilern aus aufeinander geschichteten Steinplatten, den «funghi» («Pilzen») steht, um die Mäuse abzuhalten.

... trovar mai più: Spanien hab ich ganz durchwandert, Englischpreußen, die Lombardei, doch ein Liebchen wie das meine find ich nie und nimmermehr.

... in America voglio andar!: Mamma, gib mir hundert Lire, ich will nach Amerika!

... non posso vivere no no ...: Ohne dich, mein schöner Schatz, kann ich nicht leben, nein, nein, nein!

... non tremola uno stel ...: O sieh den weißen Mond, o sieh die blaue Nacht! Kein Lüftchen lispelt leise, am Himmel bebt kein Stern …

... non si ferma più ...: Der Militärtransport geht von Turin ab, und in Mailand gibt es keinen Halt …

... ciara come’l dì: Teresina, komm herunter, eine Stunde wart ich schon, und der Mond, der scheint so helle, leuchtend helle wie der Tag.

... a comprare la müla: Herr Tonin fährt nach Turin, Herr Tonin fährt nach Turin! Er fährt nach Turin mit sieben Rossen und dann nach Novara ein Eselein kaufen.

... in America voglio andar!: Und müsst ich auf ’ner Schabe reiten, ich will nach Amerika!

... Duft breitete sich aus: Die focaccia, der Teig aus Kastanienmehl, wurde auf eine irdene Platte aufgestrichen und über starkem Feuer gleichmäßig gebacken. Zum Schluss wurde die Platte mitsamt der focaccia zum Abkühlen an die Luft gestellt.

Pedrino: Ein bei den italienischen Einwanderern beliebtes Kartenspiel.

«Pandalinfa»: Verballhornung von «paraninfa» (aus dem altgriechischen «paranympha», Brautjungfer). So wurde bei uns die zur Zeit unserer Geschichte unerlässliche Anstandsdame genannt, die das Brautpaar bei den obligaten Familienbesuchen begleitete.

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