Kriminalroman
Mark McGill hatte sein Vermögen bei vier Banken deponiert; von dreien hob er nun sein Geld bis auf einen verschwindend kleinen Rest ab. Das vierte Konto, das kleinste von allen, war der Polizei bekannt, und er rührte es deshalb nicht an.
Er bestellte für diese Nacht an fünf verschiedenen Stellen in den äußeren Vororten Londons leistungsfähige Autos, die ihn erwarten sollten. Vorsichtshalber beorderte er sie von fünf verschiedenen Garagen unter fünf verschiedenen Namen. Von seinen Agenten in Manchester und Leeds hatte er zwei neue Pässe erhalten. Die Fotos glichen den anderen Bildern nicht; er hatte sie selbst in seiner Wohnung aufgenommen.
Nun brauchte er nur noch den Augenblick seiner Flucht zu wählen, und diese Entscheidung hatte er bereits getroffen. Gleich nach der Zusammenkunft heute Abend wollte er nach Essex fahren. In Burnham lag ein seetüchtiges Motorboot für ihn bereit, das mit allem nötigen Proviant für eine mehrtägige Reise versehen war. Er wollte von der englischen Küste nach Ostende fahren. Das Motorboot war in Belgien registriert und konnte in dem belebten Hafen einlaufen, ohne die geringste Aufmerksamkeit zu erregen. Mark kannte den Wert der belgischen Trikolore, die er in dem Motorboot aufbewahrte.
Er machte keinen Versuch, Ann noch einmal zu sprechen. Sein Diener erzählte ihm, dass sie schon frühmorgens ausgegangen sei. Ann war für ihn bedeutungslos geworden. Er dachte viel mehr an Tiser als an sie. Dieser Mann war bedeutend gefährlicher, obwohl er wußte oder doch wenigstens wissen sollte, dass jeder Versuch, sich durch Verrat Straflosigkeit zu sichern, mit einer Katastrophe für ihn enden mußte.
* * *
Gegen Mittag erhielt Ann eine Mitteilung von Bradley. Der kleine Brief begann ohne Anrede:
'Ich bitte Sie um einen großen Gefallen, fast möchte ich sagen, um ein Opfer. Würden Sie heute Abend um elf Uhr nach Lady's Stairs kommen? Entscheiden Sie bitte nach Ihrem Gutdünken, ob Sie es tun wollen oder nicht. Ich werde Sie in jedem Fall verstehen. Aber wenn es irgend möglich ist, so kommen Sie bitte. Für den Fall Ihrer Zusage werde ich einen Mann schicken, der Sie in einem Privatauto abholt und dorthin bringt. Vielleicht werden Sie mir das niemals vergeben, was ich im Begriff bin zu tun, aber ich muß es tun. Ich brauche Sie um des psychologischen Eindrucks willen, den Sie auf einen der Anwesenden machen werden.'
Sie las den Brief, faltete ihn und steckte ihn in ihre Handtasche.
"Teilen Sie bitte Mr. Bradley mit, dass ich kommen werde", sagte sie zu dem wartenden Beamten.
Mr. Tiser erhielt eine etwas dringendere Aufforderung. Sergeant Simmonds besuchte ihn am Nachmittag. Der Diener sagte zwar, dass Mr. Tiser nicht zu Hause sei, aber der Beamte ließ sich nicht abweisen.
"Ich werde warten, bis er zurückkommt", erwiderte er und ließ sich behaglich im Wohnzimmer nieder.
Nach einer Viertelstunde erschien dann auch der nervöse Tiser.
"Sie werden heute Abend in Lady's Stairs erwartet", sagte der Sergeant zu ihm. "Bradley schickt mich und läßt Ihnen dies ausrichten."
"Ich fühle mich aber nicht wohl genug, um heute auszugehen."
"Dann werden wir Sie durch einen Krankenwagen abholen lassen, in diesem Fall können Sie sich dann als verhaftet betrachten."
Tisers Schrecken kannte keine Grenzen.
"Tiser, Sie haben jetzt eine Chance, sie ist zwar nicht groß, und wir können Ihnen auch nichts Besonderes versprechen ... Warum sagen Sie denn nicht freiwillig alles, was Sie wissen?"
Tiser krümmte sich wie ein Wurm.
"Ich weiß doch nichts, wirklich nichts, gar nichts! Sie sind vollständig falsch unterrichtet, ebenfalls der gute Mr. Bradley, wenn er glaubt, dass ich ihm etwas über Ronnie sagen kann."
"Ich habe zwar nicht von dem armen Ronnie gesprochen, aber ich habe ihn gemeint", sagte Simmonds und erhob sich. "Nun gut, Sie werden heute Abend kommen. Entfliehen können Sie nicht, denn ich habe mehrere Detektive beauftragt, Sie zu überwachen."
Als Ann und ihr Begleiter am Abend auf Cavendish Square hinaustraten, regnete es heftig. Ein geschlossener Wagen wartete auf sie.
"Wer wird noch kommen?" fragte sie, als sie unterwegs waren.
"Tiser und McGill. Sie sind vor zehn Minuten weggefahren."
"Wenn ich mich nicht irre, sind Sie doch Mr. Simmonds, der mich damals verhaftete? Habe ich nicht recht?"
"Ja, der bin ich", erwiderte der Beamte in guter Laune.
"Dann können Sie mir sicher sagen, was ich so gern wissen möchte. Gehen wir nach Lady's Stairs, Ronnies wegen?"
Aber Mr. Simmonds war verschwiegen.
"Mr. Bradley wird Ihnen das alles viel besser erklären können."
Für Mark McGill war die Fahrt nicht angenehm. Tiser quälte ihn dauernd mit ängstlichen Fragen. In einer Anwandlung von Zutrauen hatte er ihm von der Aufforderung der Polizei erzählt, ein Geständnis abzulegen.
"Natürlich habe ich es sofort abgelehnt, mein lieber Mark. Was immer auch geschehen mag, ich schweige. Ich werde dich niemals verraten. Allein der Gedanke daran macht mich krank."
"Es ist mir auch nie im Traum eingefallen, dass du das tun würdest. Dein eigenes Leben ist dir doch viel zu schade. Sie haben dir ja auch nicht gesagt, dass du straflos ausgehen würdest, wenn du ihnen alles verrätst, und dass man jede Anklage gegen dich fallenlassen würde. Ich könnte mir das wenigstens nicht denken. Wenn sie dir das schriftlich gegeben hätten, wärst du bestimmt darauf eingegangen."
"Aber wenn Li Yoseph nun etwas erzählt?"
"Li Yoseph! Was kann der denn erzählten? Höchstens von Geistern, Gespenstern und kleinen Kindern! Sein Geschwätz kann man doch unmöglich vor einem Richter oder vor Geschworene bringen. Sei doch kein Narr. Höre einmal zu: Das einzige, was wir zu erwarten haben, ist, dass Li Yoseph alles berichten wird, was er weiß. Er wird sowohl von Ronnie als auch von sich sprechen. Du hast nur still dabeizusitzen und dir vorzustellen, dass sein ganzes Gefasel erlogen ist. Diesen einen Gedanken mußt du dir fest einprägen, alles andere ist dann furchtbar leicht. Ich wette, dass Bradley die ganze Geschichte so eingefädelt hat. Es ist wie ein verschärftes Verhör. Wenn er damit keinen Erfolg hat, werde ich ihm schon die Hölle heiß machen."
Aber er spann diesen Gedanken nicht weiter aus; er dachte im Augenblick an das Motorboot, das in Burnham on Crouch auf ihn wartete, und er dachte an den guten Wetterbericht für die Überfahrt: 'Geringe Dünung, leicht dunstig, Sicht schlecht.'
Als sie zu Li Yosephs Haus kamen, fanden sie die Tür noch verschlossen. Mark klopfte, und nach einigen Minuten hörten sie die Schritte Mr. Shiffans, der die Treppe herunterkam und sie einließ.
"Ich bin froh, dass jemand gekommen ist", sagte er mit schriller Stimme. "Es sind furchtbar viele Ratten hier, es ist wirklich unheimlich."
"Ist der Alte schon da?" fragte Mark.
"Nein, er ist bis jetzt noch nicht gekommen. Es tut mir schon leid, dass ich zugesagt habe, heute Abend hierzubleiben. Wissen Sie, hier spukt es! Die unglaublichsten Geräusche können Sie hören! Wenn ich ein paar Nächte hier schlafen sollte, würde ich selbst verrückt werden."
"Ist heute Abend jemand hier gewesen?" fragte Mark.
"Der Polizeimensch."
"Bradley!"
"Ja, er hat sich ein paar Stunden hier herumgetrieben. Ich fragte ihn, ob er irgend etwas haben wollte, aber er sagte nein. Da konnte ich auch nichts machen. Er geht hier aus und ein, als ob ihm das ganze Haus gehörte."
Um diese Stunde war Li Yosephs Wohnung ein düsterer Ort. Die einzige Lampe, die von der Decke herabhing, war schwach und konnte den Raum kaum erhellen.
"Haben Sie das schon gesehen?"
Mr. Shiffan zeigte auf ein kleines Paneel an der Tür, auf dem sechs grüne Glühbirnen befestigt waren.
"Merkwürdige Idee. Wozu mag das bloß sein?"
Mark war in einer sonderbar mitteilsamen Stimmung und erklärte es ihm.
"Unter jeder dritten Stufe ist ein Kontakt angebracht, der eins dieser Lichter aufleuchten läßt. Es ist ein Warnungssignal, wenn jemand die Treppe heraufkommt."
"Großer Gott, es ist gut, dass Sie mir das gesagt haben! Ich bin furchtbar erschrocken, als meine Frau heute Abend von der Straße heraufkam."
Unten wurde an die Haustür geklopft. Mark ging hinunter, um zu öffnen. Ann stand allein draußen; ihr Begleiter hatte sie mit der Versicherung verlassen, dass sie beobachtet werde und nichts zu fürchten habe.
"Treten Sie näher, Ann", sagte Mark zuvorkommend. "Wie kommen Sie denn hierher? Hat Bradley Sie auch eingeladen? Und Sie kommen ganz allein?"
Sie antwortete nicht, sondern ging vor ihm die Treppe hinauf. Ihr Kommen wirkte beruhigend auf Tiser.
"Meine liebe Miss Ann, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass ich Sie sehe." Er drückte ihr die Hand. "Also hat man Sie auch hierher gebracht ..."
"Es wäre besser, wenn du deinen Mund hieltest", fuhr ihn Mark McGill ärgerlich an. Dann wandte er sich wieder an Ann. "Was soll denn diese ganze Geschichte bedeuten?"
"Ich weiß es nicht."
"Hat Bradley nach Ihnen geschickt?"
Sie nickte.
"Ist Mr. Yoseph hier?"
Mr. Shiffan schüttelte den Kopf.
"Nein, Miss, wir dachten schon, er würde heute Nachmittag kommen. Es hatte sich eine große Menschenmenge angesammelt, um ihn zu sehen."
"Wird Mr. Bradley heute Abend hier sein?" fragte sie.
"Ich glaube nicht. Er gab mir den Auftrag, dass ich sofort nach Scotland Yard telefonieren solle, wenn etwas Besonderes passiert. Er hat mir seine Spezialnummer gegeben." Er nahm einen Zettel aus seiner Tasche, aber Ann interessierte sich nicht dafür.
"Sind Sie sicher, dass Li Yoseph nicht morgens hier im Haus war?" fragte Tiser.
"Nein, soweit ich weiß, nicht."
"Ich dachte, ich hörte ihn Violine spielen."
Mr. Shiffan grinste.
"Ach, das habe ich schon so häufig gehört, da kümmere ich mich gar nicht mehr darum. Großer Gott, alle die Geräusche, die Sie hier im Haus hören können."
"Sind Sie denn sicher, mein lieber Mr. Shiffan", fragte Tiser nervös, "dass es nicht noch einen anderen Raum hier gibt, in dem sich der alte Li aufhalten könnte? Denken Sie einmal nach."
"Ja, es sind noch mehrere Zimmer da, aber die sind alle fest verschlossen. Die Polizei hat sie damals geöffnet, als der Alte verschwand, aber sie hat nichts Besonderes gefunden, soweit ich gehört habe, war nur alter Plunder darin." Er rieb seine kalten Hände. "Wenn Sie sonst nichts brauchen, will ich gehen und in der Küche ein Feuer machen."
Niemand hielt ihn zurück. Als er gegangen war, folgte ein verlegenes Schweigen.
"Ich weiß nicht, warum Sie eigentlich gekommen sind, Ann", bemerkte Mark nach einiger Zeit.
"Warum sollte ich denn nicht kommen?" fragte sie herausfordernd.
Mark zuckte die Schulten.
"Sie waren in letzter Zeit wohl viel mit Bradley zusammen? Er ist ganz verrückt nach Ihnen, er scheint Sie kolossal gern zu haben, es ist wirklich amüsant. Was hat er Ihnen denn erzählt?"
"Nicht mehr, als er mir früher auch schon sagte", erklärte Ann ruhig, aber sie fühlte sich etwas unbehaglich unter seinem durchdringenden Blick.
"Sie sind jetzt immer so vergnügt, ich habe Sie neulich sogar morgens singen hören. Kommt das von Ihrer Freundschaft mit Bradley?"
Sie lächelte über seine Frage.
"Ich habe mich selbst darüber gewundert."
Wieder folgte eine längere Pause. Tiser hatte sich eben aufgerafft, etwas zu sagen, als er von Mark daran gehindert wurde.
"Haben Sie noch die Absicht, nach Paris zu gehen, wenn diese ganze Geschichte vorüber ist?" fragte McGill. "Manchmal kommt mir der Gedanke, dass es ein Fehler war, Sie überhaupt hier in London zu behalten; aber ich dachte mir, dass eine Dame als Chauffeur der Aufmerksamkeit der Polizei leichter entgehen werde. Das war jedoch nicht der Fall, im Gegenteil, Sie haben die Aufmerksamkeit dieser Leute zu sehr auf sich gezogen."
Ann schwieg, Tiser war inzwischen zum Fenster gegangen.
"Mark, Mark!" rief er plötzlich. "Was haben denn alle diese Boote dort zu bedeuten?"
"Was redest du da von Booten?" McGill trat zu ihm und wischte mit seinem Taschentuch eins der Fenster ab, um besser sehen zu können.
"Es sieht so aus, als ob es Polizeiboote sind, sie fahren zur Schleuse hinauf. Die Themse-Polizei hat hier immer ein paar Boote in der Nähe."
"Aber sie wenden ja nun", flüsterte Tiser. "Mark, sie patrouillieren hier vor der Bucht. Was hat das zu bedeuten?" fragte er ängstlich und packte Mark krampfhaft am Arm. "Es ist doch wirklich nicht so wichtig, dass ich dabei bin ... muß ich denn hierbleiben? Ich glaube, ich bin nicht notwendig ... entschuldigen Sie mich bitte, Miss Perryman."
"Du bleibst hier!" befahl Mark rau.
Mr. Shiffan trat wieder ein, und Mark winkte ihn zu sich.
"Haben Sie etwas zu trinken im Hause?"
"Ja, ich habe heute morgen eine Flasche Whisky besorgt. Sie steht in der Küche. Es ist ja nicht von meinem Geld."
McGill nahm Tiser am Arm.
"Nun sei ruhig. Du mußt einen kleinen Schluck nehmen, dann wird dir wieder besser. Sie haben doch nichts dagegen, dass wir Sie einen Augenblick allein lassen, Ann?"
Sie schüttelte den Kopf. Aber sie bereute ihre Zustimmung sofort, als sie sich schließlich allein in dem Raum befand. Selbst die Anwesenheit Marks war noch dieser trostlosen Einsamkeit vorzuziehen. Sie hatte das Gefühl, als ob große Augen aus dem Dunkel auf sie starrten. Von unten hörte sie das Plätschern des Wassers und das Krachen der Pfosten. Der Wind hatte sich erhoben und fuhr ächzend und stöhnend um das Haus. Und plötzlich erlebte sie wieder, was sie schon einmal erlebt hatte, das Licht ging aus. Die Falltür öffnet sich, und Kopf und Schultern Li Yosephs tauchten auf.
Ann schrak zurück und lehnte sich an die Wand, als der alte Mann heraufstieg. Diesmal konnte sie sein Gesicht deutlich in dem Licht der Laterne sehen, die er trug. Die Falltür schloß sich wieder, und der Alte verschwand in dem kleinen Schlafraum. Gleich darauf ging das Licht wieder an. Im selben Augenblick traten auch Mark und Tiser ein.
"Es ist kein Korkenzieher in der Küche, ist etwas passiert?" fragte Mark schnell, als er sah, dass Ann zitternd und halb ohnmächtig an der Wand lehnte. Anns Lippen waren trocken.
"Li Yoseph ist gekommen", sagte sie atemlos.
Sie zeigte auf die Falltür.
"Von dort her?"
"Ja, er ist in sein kleines Zimmer gegangen."
Mark wandte sich schnell dorthin.
"Haben Sie sich auch nicht getäuscht, liebe Miss?" fragte Tiser bebend vor Angst. "Ist es nicht nur eine Einbildung? Warum sollte er denn gerade von dort unten kommen?"
"Hier habe ich eine Tür gefunden", hörten sie Marks Stimme, "direkt hinter dem Bett. Ich habe sie früher nie gesehen. Ich wundere mich nur, was ..."
Er wurde durch den Klang einer Violine unterbrochen. Die Töne kamen näher und näher, und plötzlich erschien Li Yoseph. Er ging zum Fenster und setzte sich dort auf seinen alten Platz. Sein Bogen bewegte sich nach dem Takt über die Saiten.
"Mein Gott!" Tisers Zähne klapperten. "Er ist es wirklich!"
Mark schüttelte ihn von sich ab.
"Ruhe", sagte er.
Der Alte legte die Geige aus der Hand.
"Li, Mark spricht jetzt mit dir", sagte Mark freundlich. "Geht es dir gut, Li?"
Der alte Mann stand auf, kam langsam näher und sah ihn an, als ob er kurzsichtig wäre.
"Es ist doch komisch, dass du mich fragst." Er kicherte heiser.
"Ja, mir geht's ganz gut, mir geht's ganz gut. Ja, mein lieber Mark ... denkst du noch immer an den armen, alten Li?" Dann drehte er sich um und sprach leise zu den Kindern, die ihn begleiteten. "Nun, Heinrich und Peter, ihr müßt jetzt zu Bett gehen. Um diese Zeit dürfen kleine Kinder nicht mehr auf sein ... husch, husch, husch! Also gute Nacht!" Er winkte ihnen zu.
"Er hat immer noch die verrückten Manieren", sagte Mark leise. "Li, Miss Perryman ist auch hier. Li, hörst du? Ronnies Schwester."
Li nickte.
"Ich kann sie ganz gut sehen. Sie fürchtet sich nicht vor mir?"
"Ich bin auch da, Li", sagte Tiser mit schriller Stimme. "Kennst du mich noch, den lieben, guten Tiser?"
Aber Li schien sich nicht um ihn zu kümmern, er ging zu dem Schrank an der Wand, nahm eine Flasche und ein Glas heraus und setzte sich behutsam auf eine umgedrehte Kiste.
"Warum sollten wir denn heute um elf hier sein?" fragte Mark. "Kommt Bradley auch? Was willst du mit dem Wein?"
"Der ist für ihn", sagte Li und nickte vor sich hin.
"Wen meinen Sie denn, Li Yoseph?" fragte Ann, die ihre Stimme kaum in der Gewalt hatte.
Der Alte schaute sie seltsam an, und sie glaubte einen traurigen Ausdruck in seinen Augen zu sehen.
"Sie werden mir nicht böse sein, wenn ich es Ihnen sage?"
"Für Ronnie?" fragte sie.
Der Alte nickte.
"Was soll denn das heißen, du verrückter Narr?" fuhr Mark auf.
"Ja, für ihn", wiederholte Li Yoseph. "Er kommt jede Nacht."
"Jede Nacht?" Mark lachte laut auf. "Du bist doch ein ganzes Jahr lang nicht mehr hier gewesen."
Mark sah Li zum ersten mal lächeln; es war ein abstoßender Anblick.
"Das denkst du, aber ich bin doch hier gewesen."
Je länger die seltsame Unterhaltung dauerte, desto aufgeregter wurde Tiser.
"Ich kann das nicht mehr aushalten! Ach Gott, das ist zu viel! Ronnie ist tot, Li, er kann doch nicht herkommen ..."
"Jede Nacht kommt er", sagte der Alte feierlich. "Er geht die Treppe herauf und kommt in dieses Zimmer. Dann tritt er an den Tisch und zieht das Glas zu sich, aber er trinkt nicht. An dem Abend wollte er gerade trinken, du erinnerst dich, mein lieber Mark, als ..."
"Jetzt sei aber ruhig!" brüllte McGill. "Siehst du denn nicht, dass du die junge Dame erschreckst?"
Aber Ann gab ihm ein Zeichen, dass er schweigen solle.
"Nein, hören Sie meinetwegen nicht auf. Ob er lebt oder tot ist, ich fürchte mich nicht vor Ronnie!"
"Sie werden ihn nicht sehen", sagte Mark verächtlich. "Diese Dinge existieren doch nur in seinem verrückten Gehirn."
Der alte Li sprach weiter.
"Nun, mein lieber Mark, soll ich dir erzählen, was dann geschieht?"
"Was geschieht denn dann?" fragte Mark böse, aber seine Stimme zitterte leicht.
Li Yoseph wandte sich langsam nach ihm um.
"Und dann fällt er, und der Stuhl fällt auch um und dann ist er wieder tot."
Ann sah Mark entsetzt an. "Was sagt er da?" flüsterte sie. "Ist Ronnie hier ... hier in diesem Raum, umgekommen?"
Tiser packte plötzlich ihren Arm so heftig, dass sie aufschrie.
"Kommen Sie, hören Sie doch nicht auf ihn, wir wollen schnell fortgehen", stammelte er. "Dieser Platz ist verhext, überall Geister ... Sehen Sie ihn nur an!"
Mit einem Ruck befreite sie sich von seinem Griff.
"Ronnie wurde hier in diesem Zimmer ermordet?" fragte sie scharf.
"Sie sind ebenso verrückt wie Li!" sagte Mark.
In diesem Augenblick schlug eine Kirchenuhr in der Nähe elf. Alle schwiegen. Eine unheimliche Stille folgte.
"Nun?" begann Mark endlich.
Plötzlich klopfte es unten an die Tür, die Töne hallten langsam und deutlich herauf. Dann fiel die Tür ins Schloß. Tiser stieß einen Schreckensschrei aus. Die grünen Lichter leuchteten nacheinander auf, es kam jemand die Treppe herauf. Langsam öffnete sich die Tür ... Zoll für Zoll ... Aber niemand außer Li sah, wer sie geöffnet hatte.
Der alte Mann ging vorwärts, der unsichtbare Besucher war für ihn Wirklichkeit.
"So, Ronnie, kommst du wieder, um mit dem alten Li zu sprechen ... Hier ist der Wein, Ronnie ... Setze dich hin ... du willst nicht?"
Niemand war eingetreten, aber die Tür schloß sich wieder. Li kam näher, er hatte den Arm um die unsichtbare Gestalt gelegt. Ann beobachtete ihn fasziniert, als er seinen Gast jetzt zum Tisch führte.
"Es ist ein guter Wein, Ronnie, der beste für dich!"
Und dann sah sie zu ihrem größten Schrecken, wie sich das volle Glas auf dem Tisch bewegte ... langsam kam es dem Rand, immer näher.
"Ronnie, sieh dich vor, Mark!" rief Li plötzlich warnend.
In diesem Augenblick fiel der Stuhl am Tisch um. Ein Schreckensschrei gellte durch das Zimmer.
"Du hast ihn umgebracht, Mark!" schrie Tiser. Sein Gesicht war verzerrt, er zeigte mit zitternder Hand auf McGill. "Ich sage es der Polizei, du hast ihn umgebracht! Kaltblütig hast du ihn ermordet! Ich kann es nicht mehr aushalten, ich muß es sagen!"
Mark packte ihn an der Kehle.
"Bist du auch verrückt?"
"Er hat die Wahrheit gesagt, Sie Mörder", rief Ann atemlos.
"Ob wahr oder gelogen, das ist mir alles gleich", sagte Mark drohend. "Sie werden auch nicht aus dem Haus kommen, ehe ich nicht Ihren Mund auf die eine oder andere Weise zum Schweigen gebracht habe."
Aber dann überkam ihn eine fürchterliche Wut, und er wandte sich rasend gegen den alten Mann, der Tiser zum Geständnis gebracht hatte.
"Diesmal entkommst du mir nicht, du Schuft!" schrie er. Aber als er seinen Browning zog, packte ihn Li Yoseph mit einem so geschickten Griff, dass Mark hinfiel.
Mit einem Wutschrei sprang er wieder auf und stürzte sich auf den Alten. Aber die harten Hände packten ihn wieder und stießen ihn nach hinten in die Arme eines der Detektive, die während der letzten Vorgänge ungesehen und ungehört in den Raum getreten waren.
"Wer sind Sie?" fragte Mark atemlos.
Seine Frage war überflüssig, denn mit einem kurzen Ruck hatte der Alte die gelbe Maske mit dem großen Kinn und der häßlichen Nase heruntergerissen. Mark stand vor Inspektor Bradley.
"Was ... Sie?"
Bradley nickte.
"Wir fanden Li Yoseph vor einiger Zeit hier unten, ich zeigte Ihnen die Kugel, die wir aus seinem Körper entfernten. Es stimmt schon, Sie haben ihn umgebracht. Es hat lange gedauert, bis wir ihn im Schlamm fanden, aber schließlich hatten wir doch Erfolg. Und dann kam mir der Gedanke, dass ich Tiser zu einem Geständnis bringen könnte. Sie wissen ja, ich spiele selbst Violine und Li hatte etwa meine Gestalt."
Selbst in diesem Augenblick bewahrte McGill seine Selbstbeherrschung.
"Sie brauchen aber zwei Zeugen für einen Beweis, so verlangt es das Gesetz. Sie sind voreingenommen, Ihr Zeugnis gilt nicht. Auch Ann Perryman wird man ablehnen. Woher nehmen Sie diesen zweiten Zeugen?"
Bradley zeigte auf die Kiste.
"Dort ist der andere. Haben Sie nicht gesehen, dass er das Glas bewegte? Er hat eine Stahlplatte am Fuß, und er hat das Glas mit einem Magneten von unten her bewegt."
Er öffnete die Tür der Kiste, und Mr. Sedeman kam heraus.
* * *
Bradley hatte darauf bestanden, dass Ann eine Seereise unternahm.
"Es ist besser, dass du dich an das Klima in Brasilien gewöhnst, Ann. Du mußt mir versprechen, dass du keine englischen Zeitungen liest, bis ich nachkomme, mein Liebling. Nein, ich glaube nicht, dass dein Zeugnis irgendwelchen Wert haben könnte, wir kommen auch so aus. Tiser hat jetzt sein Geständnis schriftlich bestätigt."
So kam es, dass Ann auf einem Luxusdampfer nach Brasilien unterwegs war, während sich in London der aufsehenerregende Prozess abspielte. Sie erfuhr nichts davon, dass der halb wahnsinnige Tiger vor den Schranken des Gerichts Mark an die Gurgel sprang; sie erfuhr auch nichts von der Hinrichtung. An dem Tag, an dem Mark McGill am Galgen endete, trat Bradley aus dem Dienst der Polizei aus, und die Fliegende Kolonne verlor ihren besten Beamten.
Ende
Zwischen dem Kanal und dem Fluß dehnte sich ein sumpfiges Feld aus. Lady's Stairs, ein sonderbares altes Holzhaus, das sich auf Pfählen erhob, schaute dort auf die Wasserfläche hinab. Die Schleuse am Ende des Kanals bildete zugleich den Anfang des morastigen Gewässers. Das Haus machte einen traurigen, verfallenen Eindruck und schien im Lauf der Zeit immer tiefer in den Sumpf einzusinken. Die Fassade war einst mit weißer Ölfarbe gestrichen gewesen, aber der Anstrich war nie wieder erneuert worden, und der Bau hatte allmählich eine dunkelgraue Farbe angenommen. Er hätte sich kaum von seiner Umgebung abgehoben, wenn er nicht zwischen einem hochaufragenden Lagerhaus und dem tonnenförmig gedeckten Gebäude einer Reparaturwerkstatt eingeklemmt gewesen wäre.
In Lady's Stairs wohnte Li Yoseph. Bei Flut stieg das Wasser fast bis zu dem Fußboden seines Wohnzimmers.
Die Zeiten, in denen Lady's Stairs seinen Namen erhalten hatte, gehörten längst der Vergessenheit an. Früher war diese düstere und schmutzige Gegend eine schöne Bucht an der Themse gewesen; grüne Wiesen und Weideplätze hatten sich hier ausgedehnt. Aber nur die Namen erinnerten noch daran. In den angrenzenden Straßen erhoben sich die Häuser armer Leute, die ebenso schmutzig und verkommen aussahen wie Lady's Stairs. Trotzdem hieß diese Gegend immer noch 'The Meadows', Wiesenland.
Li Yoseph pflegte am Fenster seines Zimmers zu sitzen und zu beobachten, wie die Kohlenschiffe während der Flut bei Brands Wharf festmachten, oder wie die Leichter und die Flußkähne langsam nach der Schleuse zu getreidelt wurden. Wenn er sich zum Fenster hinauslehnte, konnte er sogar die großen holländischen Dampfer sehen, die auf der Themse zum Meer hinausfuhren.
Die Polizei hatte nicht viel gegen Li Yoseph. Die Beamten wußten wohl, dass er ein Hehler und Schmuggler war, aber man hatte keine klaren Beweise und versprach sich von ferneren Haussuchungen nicht mehr Erfolg als von den früheren. Die Nachbarn hielten Li für einen reichen Mann. Auch stand es bei ihnen fest, dass er verrückt sei.
Er besaß die eigentümliche Angewohnheit, lange Gespräche mit unsichtbaren Freunden zu führen. Wenn dieser merkwürdige Alte mit dem großen, gelben, bartlosen Gesicht, das von Falten und Runzeln durchfurcht war, die Straßen mit schlürfendem Gang entlangschritt, sprach er vor sich hin. Er gestikulierte und lachte unheimlich, während er sich mit seinen Gefährten unterhielt, die außer ihm niemand sehen konnte. Meistens sprach er fremde Worte, die allgemein für deutsch gehalten wurden, in Wirklichkeit aber russisch waren. Er gab zu, dass er mit guten und bösen Geistern umging; er konnte Tote sehen und sich mit ihnen unterhalten. Er besaß auch die Gabe des Zweiten Gesichts und hatte schon erstaunliche Dinge vorausgesagt.
Li ging in seinem Wohnzimmer auf und ab und murmelte vor sich hin. Drei Kerzen brannten, aber ihr Licht vermochte den ungewöhnlich hohen Raum nicht genügend zu erhellen und betonte eher noch den düsteren Eindruck, da sie gespenstische Schatten warfen. Die früher freundlich gestrichenen Wände hatten ihre Farbe längst verloren, das Dach war undicht, und bei Regenwetter rannen kleine Bäche an den Wänden herunter. Li schlief in einer kleinen Kammer, die nicht viel größer als ein geräumiger Schrank war. Sie besaß nur den einen Vorteil, dass sie als einziger Teil des Hauses trocken war.
Der größere Raum diente Li zu gleicher Zeit als Büro, Lagerraum und Wohnzimmer.
Holländische, deutsche und französische Matrosen ruderten bei Flut in kleinen Booten hierher und steuerten zwischen den von grünem Moos und Schlamm bedeckten Holzpfählen hindurch, auf denen Li Yosephs Haus stand. Wenn sie dann unten am Fuß der gebrechlichen Leiter festgemacht hatten, stieg der Alte hinunter und feilschte und handelte mit ihnen über allerlei Artikel dunkler Herkunft, die sie ihm brachten.
Unter dem Haus war es dunkel, und selbst bei Tag ließen die vielen Pfähle und Balken kein Licht herein. Lis Besucher konnten nur zu gewissen Zeiten kommen, denn während der Ebbe war dort unten weiter nichts als zwei Mannslängen tiefer, morastiger Schlamm zu sehen, aus dem große Blasen aufstiegen und unruhig durcheinander quirlten, wie von einem vorsintflutlichen Drachen.
Unten an der Leiter war auch ein kleines Motorboot vertäut, das der alte Li trotz seiner Jahre bedienen und steuern konnte. In unbestimmten Zwischenräumen fuhr er selbst manchmal auf den Strom hinaus. An diesem Abend überlegte er gerade, ob er wieder eine Fahrt unternehmen solle. Zweimal hatte er den abgenutzten Teppich schon aufgrollt und die Falltür geöffnet, die von dem Teppich verdeckt wurde. Stöhnend und mit sich selbst sprechend war er die Sprossen der Leiter hinuntergeklettert und hatte ein Bündel in das Boot gebracht, das sich während der Ebbe im Schlamm auf die Seite gelegt hatte. Schließlich war er mit seinen Vorbereitungen fertig und hatte nun wieder Zeit, sich mit seinen unsichtbaren Besuchern zu unterhalten.
Er sprach und scherzte mit ihnen und rieb sich lachend die Hände über ihre erstaunlichen Antworten. Schon den ganzen Tag hatten sie ihm Dinge zugeraunt, die einen gewöhnlichen Menschen vor Furcht hätten erstarren lassen, aber Li schenkte ihren Zuflüsterungen diesmal keinen Glauben.
Der schrille Klang einer Glocke ließ ihn aufhorchen. Mit schlürfenden Schritten verließ er den Raum und stieg die steile Treppe hinunter, die zu einer Seitentür führte.
"Wer ist dort?" fragte er.
Als er die leise Antwort von draußen hörte, drehte er den Schlüssel um und öffnete.
"Du bist früh oder spät gekommen, ich weiß nicht, wie ich es nennen soll." Lis Stimme klang tief und heiser, und er sprach mit kaum merklichem, fremdem Akzent.
Nachdem er die Tür wieder geschlossen hatte, folgte er seinem Besucher nach oben.
"Ich kenne keine bestimmten Tageszeiten." Er lachte leise vor sich hin. "Für mich gibt es weder Tag noch Nacht. Es ist Flut, ich meinen Geschäften nachgehen muß, und es ist Ebbe, wenn ich mich ausruhen und mit meinen lieben kleinen Freunden sprechen kann." Er warf eine Kußhand nach einer dunklen Ecke.
Mark McGill wandte sich böse nach ihm um.
"Laß das dumme Geschwätz ... deine verdammten Geister! Seine Schwester kommt heute Abend noch hierher."
"Seine Schwester?"
"Ronnie Perrymans Schwester, sie ist von Paris herübergekommen."
Li Yoseph starrte seinen Besucher erstaunt an, aber er stellte keine weiteren Fragen an ihn.
Es lag etwas im Wesen Mark McGills, das jede Vertraulichkeit ausschloß. Er war eine gebieterische Erscheinung, breitschultrig und groß; in seinem wilden, herrischen Gesicht zeigte sich eine gewisse Schönheit. Seine vielen Untergebenen zitterten vor ihm, aber sie fürchteten weniger seine Strenge und Brutalität, als den Blick seiner zwingenden, hellblauen Augen.
Er rollte seine halbaufgerauchte Zigarre von einer Ecke des Mundes in die andere, ging quer durch den Raum zu der Schlafkammer, in der Li Yosephs Bett stand, und schaute nachdenklich auf das dunkle Wasser hinaus.
"In einer Stunde haben wir Flut", sagte er halb zu sich selbst.
Li Yoseph ließ ihn nicht aus den Augen und sah, wie der große Mann eine Violine von dem Bett aufnahm.
"Du hast sicher wieder den ganzen Tag auf der Fiedel herumgekratzt, ist die Polizei hier gewesen?"
Li Yoseph schüttelte den Kopf.
"Wie, sie haben nicht mehr nach Ronnie gefragt? Nun gut, aber sie wird alles von dir wissen wollen. Ich habe versucht, sie von hier fernzuhalten, aber ohne Erfolg. Du weißt doch, was du ihr zu sagen hast?"
Nach einer kleinen Pause nickte Li Yoseph langsam.
"Er ist umgebracht worden, von Polizeibeamten... Sie haben ihn in einem Boot mit Ware erwischt, die er vom Schiff geholt hatte. Da haben sie gefragt: 'Wo hast du das her?' Und dann haben sie ihm eins über den Kopf gegeben, dass er in den Fluß fiel und tot war."
"Ja, so machst du deine Sache richtig." Mark beugte den Kopf vor und lauschte. "Da kommt Tiser mit dem Mädchen, bring sie herauf."
Li stieg geräuschlos die Treppe hinunter. Nach kurzer Zeit kam er wieder; er ging voraus und zeigte den anderen den Weg. Hinter ihm erschien Tiser, ein unruhiger, nervöser Mensch, der beim Lächeln stets seine großen Zähne zeigte. Seine Stirn war immer feucht; sein schwarzer, steifer Hut und seine schwarze Krawatte machten ihn nicht anziehender. Er hatte Ann Perryman vom Bahnhof abgeholt, aber sie hatte sofort eine instinktive Abneigung gegen den Menschen gefaßt.
Langsam stieg sie die letzten Stufen empor, trat dann ein und schaute sich ohne wahrnehmbare Erregung in dem schmutzigen Raum um. Einige Sekunden lang betrachtete sie Mark, der sich unter ihrem forschenden Blick sonderbar unbehaglich fühlte.
Ann war ein schönes, schlankes Mädchen. Ihr Haar schimmerte je nach der Beleuchtung in tiefgoldenem Blond oder in rötlichem Schein; es war aus der hohen Stirn zurückgebürstet, was ihr in gewisser Weise ein etwas altmodisches Aussehen gab. Sie hielt sich gerade, beinahe steif, als ob sie dadurch ihre Zurückhaltung ausdrücken wollte. Es war nicht leicht, sich ihr zu nähern. Die Männer hielten sie für kalt und abweisend und sagten, dass sie keinen Spaß verstehe, weil sie nicht über ihre Witze lachte. Der Ausdruck ihrer großen, grauen Augen konnte bisweilen sehr hart und streng sein. Ihr Bruder Ronnie allein hatte gewußt, wie sanft und mild sie blicken konnte; aber Ronnie war nun tot, und keinem anderen Mann hatte sie jemals einen liebevollen Blick geschenkt.
Ihr klarer Verstand und ihre Charakterstärke machten sie fähig für den Kampf gegen ein hartes Geschick. Sie besaß einen unbeugsamen Willen und ausdauernden Mut.
Das also war Ann Perryman! Mark hatte sie vorher noch nie gesehen und war überrascht von ihrer anmutigen Erscheinung.
Sie reichte ihm ihre kalte Hand, und er drückte sie. Einen Augenblick hielt er sie fest, dann ließ er sie wieder los. Er wußte kaum, wie er das Gespräch mit Ann beginnen sollte.
"Tiser hat Ihnen schon alles erzählt?"
Sie nickte ernst.
"Vor vierzehn Tagen las ich den Bericht in der Zeitung. Ich bin Lehrerin an einer Schule in Paris, und ich lese dort auch die englischen Blätter. Aber ich wußte nicht" sie machte eine Pause, "dass Ronnie hier unter falschem Namen lebte."
"Das hätte ich Ihnen vorher mitteilen können", sagte Mark, "aber ich hielt es für besser, damit zu warten, bis alles vorüber war.
Marks Stimme klang so teilnehmend, dass Mr. Tiser, dessen Blicke unruhig im Raum umherschweiften, seinen Gefährten plötzlich überrascht und erstaunt ansah. Mark spielte seine Rolle wirklich ausgezeichnet!
"Ich befand mich in einer sehr schwierigen Lage", fuhr Mark leise fort. "Sehen Sie, Ronnie hat das Gesetz übertreten, und ich habe es auch getan. Man überlegt es sich natürlich, bevor man sich selbst beschuldigt."
"Ja, ich weiß, Ronnie war nicht ...", sie zögerte. "Er war sein ganzes Leben hindurch vom Unglück verfolgt, der arme Junge! Wo hat man ihn denn gefunden?"
Mark zeigte auf die schlammige Bucht hinaus.
"Ich will ganz offen mit Ihnen sprechen, Miss Perryman. Ihr armer Bruder und ich waren Schmuggler. Ich weiß, dass das strafbar ist, und ich entschuldige mich nicht. Ihnen will ich auch das Letzte sagen. Die Polizei war darauf aus, uns eine Falle zu stellen. Die Leute glaubten, dass Ronnie nicht dichthalten würde. Zufällig erfuhr ich, dass sie ihm verschiedene Angebote machten, sie hofften, er würde die Organisation verraten. Das klingt zwar etwas pathetisch, aber es ist die Wahrheit."
Ann schaute von Mark auf Tiser. Der alte Li war hinter den Vorhängen seiner Kammer verschwunden.
"Mr. Tiser sagte mir, dass Ronnie von Polizeibeamten ermordet wurde, es ist kaum zu glauben!"
Mark zuckte die Schultern.
"Es gibt nichts Unglaubliches, was die Londoner Polizei nicht fertigbrächte", erwiderte er trocken. "Ich will ja nicht behaupten, dass sie die Absicht hatten, ihn zu töten, aber es ist nun einmal Tatsache, dass sie ihn niederschlugen. Sie müssen ihn gefaßt haben, als er in einem Boot von einem der Schiffe zurückkam, die uns Schmuggelware liefern. Entweder hat er einen Schlag bekommen, dass er ins Wasser stürzte, oder sie haben ihn nachher ins Wasser geworfen, als sie sahen, wie schwer, vielleicht sogar lebensgefährlich, sie ihn getroffen hatten."
"Inspektor Bradley war es?"
"Ja, so heißt der Beamte. Er hat Ronnie immer gehaßt. Bradley ist einer dieser geschickten Leute von Scotland Yard, die nur geringe Bildung besitzen und von Minderwertigkeitsgefühlen beherrscht werden."
Hinter dem Vorhang ertönte plötzlich der weiche, klagende Klang einer Violine. Mark fuhr herum, aber Ann legte ihre Hand auf seinen Arm und gab ihm ein Zeichen, ruhig zu sein.
Die süße, melancholische Melodie von Tostis "Chanson d' Adieu" erfüllte den Raum.
"Wer spielt da?" fragte sie leise.
Mark zuckte ungeduldig die Schultern. "Ach, das ist der Alte, Li Yoseph. Ich möchte doch, dass Sie mit ihm sprechen."
"Li Yospeh, er hat gesehen, wer Ronnie umbrachte?"
Mr. Tiser mischte sich plötzlich in die Unterhaltung.
"Aus ziemlicher Entfernung", sagte er nervös. "Genau natürlich nicht. Ich habe Ihnen das doch schon alles erklärt."
Marks kalter Blick brachte ihn zum Schweigen.
"Es ist schon gut, Tiser. Sage Li Yoseph, dass er herauskommen soll."
Das Violinspiel hörte auf, und Li Yoseph trat mit hochgezogenen Schultern näher. Er sah Ann unter seinen buschigen Augenbrauen hervor an und rieb dabei seine langen Hände, als ob er sie mit unsichtbarer Seife wüsche. Er sah beinahe geisterhaft aus, und Ann schrak ein wenig zurück.
"Dies ist Miss Perryman, Ronnies Schwester."
Das Gesicht des Alten verzog sich zu einem Lächeln.
"Ich habe gerade mit ihm gesprochen."
Ann schaute ihn entsetzt an.
"Wie, Sie haben mit ihm gesprochen?"
"Sie müssen sich nicht um sein Gerede kümmern." Marks Worte klangen scharf, fast befehlend. "Er ist ein wenig ..." Er zeigte bedeutungsvoll auf die Stirn. "Er sieht Geister und dergleichen Dinge ..."
"Ja, viele Dinge", wiederholte Li Yoseph. Seine Augen wurden größer und größer. "Seltsame Dinge, Dinge, die niemand sieht außer mir, Li Yoseph!"
"Nun sei aber still, Yoseph", sagte Mark rau. "Du erschreckst die junge Dame durch dein albernes Geschwätz."
"Ach nein, ich fürchte mich nicht", erwiderte Ann standhaft.
Li Yoseph ging in den kleinen Nebenraum zurück und lachte merkwürdig vor sich hin.
"Ist er öfters so wie jetzt?"
"Immer", entgegnete Mark, aber er fügte schnell hinzu: "Abgesehen davon ist er aber vollkommen klar. Yoseph, bleibe hier. Ich sagte dir doch, dass du Miss Perryman alles erzählen sollst, was du gesehen hast."
Li Yoseph kam langsam zurück und blieb ein paar Schritte vor Ann stehen. Seine Hände waren auf der Brust gefaltet, als ob er betete.
"Ich will Ihnen sagen, was ich sah." Seine Stimme klang plötzlich mechanisch. "Erst kommt Ronnie in einem Boot vom Schiff. Er rudert und rudert, dann kommt das Polizeimotorboot und holt ihn ein. Dann sehe ich, wie sie kämpfen und kämpfen, und ich höre einen Fall ins Wasser, und plötzlich höre ich Mr. Bradleys Stimme: 'Der ist erledigt, niemand darf etwas darüber sagen.'"
Während er sprach, schaute er sie an, und sie glaubte, in seinem Blick einen gewissen Trotz zu lesen, als ob er schon darauf vorbereitet wäre, dass sie seiner Geschichte keinen Glauben schenken würde.
"Haben Sie das wirklich gesehen?"
Er neigte den Kopf.
Ann wandte sich an Mark.
"Warum wurden denn diese Leute nicht angeklagt? Warum hat man nur Klage gegen 'einen oder mehrere unbekannte Täter' erhoben? Ist denn die Polizei in diesem Land unantastbar? Können ihre Beamten straflos jedes Verbrechen begehen, sogar Mord?"
Zum ersten mal zeigte sich ihre starke, innere Erregung. Ihre Stimme zitterte, als sie sprach.
"Bradley, Sie sagten doch, dass Bradley ihn ermordete? Ich werde den Namen nie vergessen." Ihr Blick traf wieder den alten Mann. Er stand mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen da und schwankte leicht hin und her. "Hat Mr. Yoseph denn keine Klage gegen die Polizei erhoben?"
Mark lächelte.
"Wozu? Sie müssen verstehen, Miss Perryman, dass die Polizei ihre eigenen Gesetze hat, nicht nur bei uns, sondern auch in allen anderen Ländern. Ich könnte Ihnen Romane darüber erzählen, was in New York passiert ist ..."
"Ich will nicht wissen, was dort geschieht", unterbrach sie ihn schnell. "Aber sagen Sie mir, ob man diesem alten Mann glauben kann!" Sie sah auf Li Yoseph.
"Durchaus", sagte Mark nachdrücklich.
"Sie können ihm vollständig vertrauen", mischte sich Mr. Tiser wieder in die Unterhaltung, nachdem er lange hatte schweigen müssen. "Ich kann Ihnen nur die Versicherung geben, dass er ein absolut ehrenwerter Charakter ist."
Er begegnete Marks Blick, begann zu stammeln und schwieg dann wieder.
Anne hatte den Kopf gesenkt und einen Finger an die Lippen gelegt; ihre Stirn lag in nachdenklichen Falten. Mark hatte ihr einen Stuhl angeboten, aber sie hatte es nicht beachtet. Auch er schwieg und wartete darauf, dass sie sprechen würde.
"Was hat Ronnie für Sie getan?" fragte sie schließlich. "Sie können mir alles sagen, Mr. McGill. Er hat mir oft von Ihnen erzählt, und ich habe schon vermutet, dass Sie irgendein ... strafbares Geschäft betreiben. Wahrscheinlich sind meine moralischen Anschauungen recht sonderbar, aber es kommt mir jetzt nicht mehr so schrecklich vor wie früher. War mein Bruder sehr wertvoll für Sie? Ist der Verlust, den Sie durch seinen Tod erlitten haben, sehr groß?"
McGill antwortete nicht sofort. Er dachte darüber nach, was sie wohl mit ihrer Frage meinen könnte.