Ein Buch über den gar nicht so Heiligen Berg in Bonn? Das scheint absurd. Wird doch der im Volksmund so genannte Heilige Berg am Rhein vom jesuitischen Aloisiuskolleg (AKO) gekrönt, das so prominente Absolventen vorweisen kann wie Thomas de Maizière, Till Brönner, Stefan Raab und Florian Henckel von Donnersmarck. Seit gut 90 Jahren thront das AKO also nicht nur über Bonns Stadtteil Bad Godesberg. Mit dem Nachmittagsprogramm AKO-PRO-Seminar gilt die bis 2002 reine Jungen-Internatsschule als Kaderschmiede der Nation.
Diese Eliteschule also in Verbindung mit den Tabuthemen Missbrauch und Kindernacktfotos zu bringen, das hatte sich vor 2010 nur Altschüler Miguel Abrantes Ostrowski gewagt – um daraufhin als Nestbeschmutzer verleumdet zu werden. 2010 riss dann der bundesweite Missbrauchskandal auch das AKO und sein AKO-PRO-Seminar in ihre tiefste Krise. Als Journalistin vor Ort habe ich den für alle Seiten schmerzhaften Aufklärungsprozess begleitet. Genau vier Jahre, nachdem die Betroffenen an die Öffentlichkeit gingen und der Rektor zurücktrat, erscheint mir nun die Zeit reif, das Thema publizistisch anzupacken.
Das vorliegende Buch leistet also im Frühjahr 2014 eine Art Kassensturz: nach vier harten Jahren der Auseinandersetzung am AKO und mitten in einer neuen heißen Debatte, die die Gesellschaft allgemein über die Legalität von nicht familiären Kindernacktbildern führt. Der Machtmissbrauch, der das AKO offensichtlich über Jahrzehnte im Griff hielt und innerhalb dessen sexueller Missbrauch und das Fotografieren nackter Schüler nur eine Spielart darstellte, wird im Buch aus den unterschiedlichen Perspektiven analysiert. Alle Seiten beteiligten sich am Projekt: Betroffene, deren Angehörige, das Kolleg, sein Internat, Vertreter des Ordens, die Stadt, die Lokalpolitik, ein Vertreter der Justiz und der Opferschutz. Ich bedaure jedoch sehr, dass ich den ehemaligen Rektor Pater Theo Schneider nicht für eine Mitarbeit gewinnen konnte.
Dabei macht das Buch Hochbrisantes wie neue Funde von Kindernacktfotos und Selbstmordfälle von AKO-Schülern erstmals öffentlich, und zwar im direkten Gespräch zwischen Betroffenen und Kolleg. Altschüler schildern zum ersten Mal, was auch ab 2010 in der Aufklärung von AKO- und AKO-PRO-Fällen schief lief. Daneben stellen Vertreter des Ordens und des AKO die Strukturänderungen und Präventionsmaßnahmen vor, die aus der Krise heraus entwickelt wurden. Und plötzlich werden aus den unterschiedlichen Blickwinkeln Schnittmengen sichtbar. Lösungsoptionen und Perspektiven werden formuliert. Formen des so bitter nötigen Dialogs werden gesucht – und exemplarisch gefunden.
Dieses Buch zeigt, dass es letztlich allen seinen Autoren darum geht, jeglichem Machtmissbrauch auf dem Heiligen Berg die Rote Karte zu zeigen. Und den Betroffenen das Leben endlich lebenswert zu machen. Wie destruktiv erlebter Missbrauch heute noch wirkt, wurde mir übrigens während der Buchproduktion erneut schmerzhaft klar: als einer der Betroffenen sich das Leben zu nehmen versuchte.
Ende 2012 hatten die Patres Godehard Brüntrup, Christian Herwartz und Hermann Kügler ebenfalls im Kohlhammer Verlag mit dem viel beachteten Titel „Unheilige Macht“ den Vorläufer dieses Buches herausgegeben. Ihnen war damit mit Blick auf sämtliche Jesuitenkollegs die erste öffentliche Selbstreflexion des Ordens gelungen. Doch es fehlte Elementares, wie die Herausgeber zugaben: nämlich die Betroffenenstimmen. Auch habe man das Thema am AKO nur bis 2007 behandeln können. Der Aufklärungsprozess auf dem Heiligen Berg war, im Gegensatz zu dem der anderen Kollegs, 2012 noch in vollem Gange.
Das vorliegende Buch schließt nun diese Lücken. Und es kann mit zeitlichem Abstand auch Neuland betreten. Schon die Einführungen schreiben Seite an Seite Matthias Katsch, Sprecher der Betroffenengruppe Eckiger Tisch, und Pater Godehard Brüntrup SJ. Oh nein, die beiden formulieren natürlich nicht unisono. Doch sie sind sich darin einig, dass im Falle des AKO unbedingt weitere Schritte gegangen werden müssen, „die Macht zu entmachten“. Etwa auch mit Hilfe dieses Buches.
In Kapitel 1 hat die Herausgeberin die Fakten rund um die spektakulären Fälle mutmaßlichen Missbrauchs am AKO und AKO-PRO-Seminar zusammengestellt: von einer Chronologie der Ereignisse über den Stand strafrechtlicher Ermittlungen bis zu den Ergebnissen der Aufklärungsberichte.
In Kapitel 2 und 3 geht der Blick noch einmal zurück in die Jahre kurz vor Ausbruch der Krise, als das AKO und der Orden ihre Chance, fair aufzuklären, verspielten und „mit Gelassenheit“ abwarteten: Miguel Abrantes Ostrowski schildert Ungeheuerliches aus seinem Schlüsselroman „Sacro Pop“ von 2004. Die Herausgeberin analysiert die Reaktionen in Kolleg, Orden, der Presse und im Internet, als „die Bombe“ am AKO aber noch nicht zur Detonation kam.
Das geschah auch 2007 noch nicht, als ein Betroffener urplötzlich vom Orden auf die Nacktfotos angesprochen wurde, die der vormalige Schulleiter von ihm und anderen Kindern geschossen hatte. „Werner Permanent“ schildert in Kapitel 3 den „Missbrauch des Missbrauchs“: Denn „nie waren Kinder nackter als auf diesen Fotos.“ Und Pater Georg Maria Roers SJ enttarnt von Jesuitenseite her die Fotobeute seines Ordensbruders: als zu Bild gewordene Pädophilie.
In Kapitel 4 erheben weitere Betroffene an AKO und AKO-PRO-Seminar, also gestandene Männer aus sechs Kollegsjahrzehnten, erstmals ihre Stimme. Unter dem Motto „Ich will endlich gehört werden“ haben sie sich erschütternde Beiträge abgerungen. Ich danke ihnen allen, mir diese Einblicke in ihre dunkelsten Jahre anvertraut zu haben. Die Texte sind das Herzstück dieses Buches. Meist anonym haben die Schreiber lange um den rechten Wortlaut gerungen. Mir war wichtig, dass sie an keiner Stelle ihrer Würde beraubt werden. Ihre tiefste Verzweiflung ist ohnehin nur zwischen den Zeilen spürbar. Sie haben sich in einem aufreibenden Schreibprozess ihren Gespenstern gestellt. Ihr Kampf ist im aktuellen Stadium der Aufarbeitung noch lange nicht gewonnen.
Kapitel 5 bietet die Analysen des Eckigen Tischs, der Gruppe am AKO Betroffener und ihrer Unterstützer, die ein ehemaliger AKO-Lehrer 2010 noch als „Ungeziefer“, das man endlich zertreten müsste, schmähte.1 Rudolf Jekel, Anselm Neft, Jürgen Repschläger und Heiko Schnitzler bringen die Defizite in Aufklärung und Aufarbeitung auf den Punkt. Und fordern, dass sich Orden und Kolleg endlich mit Ehrlichkeit und Uneigennützigkeit dem Dialog stellen.
Kapitel 6 wiederum bündelt wichtige aktuelle Stimmen des Kollegs und des Ordens. Mit den Patres Johannes Siebner, Klaus Mertes und Christian Herwartz stellen sich der heutige AKO-Rektor, der erste jesuitische Aufklärer am Berliner Canisius-Kolleg und der Pater dem Thema, der als Blogger im Internet den Aufarbeitungsprozess weiter trieb. Pater Mertes schreibt zudem in der Rolle des Altschülers wie auch Innenminister Thomas de Maizière. Beide sind damit die bislang einzigen prominenten Absolventen, die zum Tabuthema Farbe bekennen. Dazu kommt AKO-Internatsleiter Christopher Haep, der die Eckpunkte einer präventiven Neuausrichtung des gesamten Kollegs formuliert.
Und Haep ist es auch, der den Mut findet, sich für dieses Buch erstmals in einem direkten Gespräch mit Heiko Schnitzler den Fragen des Eckigen Tischs zu stellen. Kapitel 7 wartet also mit dem auf, was für die weitere Aufarbeitung unumgänglich ist: mit konstruktivem Dialog. Quintessenz nach einem hitzigen Austausch von Argumenten, ja auch nach der Preisgabe brisanter neuer Informationen: „Ohne die Betroffenen kann es am AKO nicht zu den notwendigen Veränderungen kommen“, sagt Haep. Allein diesen harten Disput auf die Spur gebracht zu haben, war mir das gesamte diffizile Buchprojekt wert.
Bleibt der Blick auf Stellungnahmen aus Opferschutz, Stadt, Lokalpolitik, Justiz und Medien. In Kapitel 8 fordern Conny Schulte, Wilma Wirtz-Weinrich und Angelika Oetken, dass endlich auch die Schulaufsicht und Politik ihre Verantwortung wahrnehmen. Schuldezernentin Angelika Maria Wahrheit schildert die Position der Stadt. Die Schulausschussvorsitzende Dorothee Paß-Weingartz legt den Finger in die lokalen Wunden: „Die Opfer von AKO und AKO-PRO wurden auch in Bonn alleingelassen.“ Opferanwalt Rudolf von Bracken plädiert für die Aufhebung der Verjährungsfristen bei Missbrauch. Und die Herausgeberin hinterfragt die Rolle der Medien: Werden sie sich nach den Erfahrungen der Missbrauchskrise im Sinne des Kinderschutzes auch für eine baldige Verschärfung der Regelung gegen Kinderpornographie einsetzen?
Der Missbrauchsskandal an katholischen Schulen offenbare eine Glaubwürdigkeitskrise der Kirche, schrieb 2010 Kirchenrechtler Professor Norbert Lüdecke.2 Verursacht sei die Krise nicht durch Medien oder Kirchenfeinde, nicht nur durch die Verbrechen der Priester, sondern vor allem durch das Versagen der Verantwortlichen im Umgang damit. Diese Perspektive ist auch noch 2014 in Bezug auf den Umgang des Jesuitenordens und des AKO mit ihrer Missbrauchsgeschichte aktuell: Was weiterhin gefragt ist, ist vor allem Glaubwürdigkeit.
Ich danke allen, die sich vertrauensvoll an diesem Projekt beteiligt haben. Möge das Buch als ein weiterer Schritt im Aufarbeitungsprozess dazu beitragen, dass bald nicht mehr vom „Unheiligen Berg“ berichtet werden muss. Und dass in der Debatte um Kindernacktfotos das Leid der Opfer nie aus dem Blick gerät.
Ebba Hagenberg-Miliu im Februar 2014
1 Siehe S. 130.
2 N. Lüdecke, Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Priester. 2010.
Von Matthias Katsch 3
Wozu noch ein Buch? Ist nicht alles schon gesagt? Reden wir jetzt nicht schon lange genug darüber? So mag mancher denken, vier Jahre nachdem sich im Frühjahr 2010 die ersten Opfer sexueller Gewalt am Berliner Canisius-Kolleg zu Wort meldeten und damit unerwartet eine von Betroffenen als befreiend empfundene Flut von Veröffentlichungen über sexuelle Gewalt in zahlreichen Bildungseinrichtungen nicht nur der katholischen Kirche auslösten. Der Weg von „das ist alles Verleumdung“ zu „jetzt ist aber lange genug darüber diskutiert worden“ ist manchmal überraschend kurz.
Aufklärung und Aufarbeitung beginnen, wenn die Opfer anfangen zu sprechen und berichten. Deshalb ist in dem vorliegenden Sammelband eine Reihe von Darstellungen von Betroffenen des komplexen Machtsystems „AKO“ versammelt. Betroffen sind nur nicht nur die, die unmittelbar Opfer waren von Gewalthandlungen bis zur sexuellen Ausbeutung. Betroffen sind auch die Menschen, die es miterlebt haben, die Zeugen wurden, die Angehörigen, Familien und Partner der Opfer wie auch das Umfeld der Schule, die politische Gemeinde, in der die Schule eine besondere Rolle spielte. Missbrauch ist zwar ein Verbrechen, das im Verborgenen geschieht, aber doch oft vor aller Augen. In jedem Fall aber betrifft es jeden, der damit in Berührung gekommen ist, sobald der Schleier der Verdrängung weggezogen ist. Tatsächlich kann Aufarbeitung erst beginnen, wenn die wesentlichen Fakten auf dem Tisch liegen und nicht mehr umstritten sind. Dabei stehen wir beim Aloisiuskolleg jedoch trotz aller Untersuchungen und Berichte erst am Anfang. Wie bei einem Giftdepot, das wir angefangen haben zu erkunden, tief in einem Berg, der wohl aus Sicht des Jesuitenordens einmal eine vermeintliche Goldgrube war, entdecken wir immer neue Stollen und Verästelungen, die nicht nur tief in die Vergangenheit, sondern auch gefährlich nahe an die Gegenwart reichen.
Noch immer verstehen wir nicht wirklich, wie und warum über so lange Zeit so viele Jungen in einer der renommiertesten Schulen des Landes Gewalt und sexuellem Missbrauch ausgesetzt sein konnten, ohne dass jemand intervenierte, ohne dass jemand diese jahrzehntelange Kette des Leidens und des Schweigens durchbrach. Wie konnte dies geschehen? Weshalb hat es niemand gesehen? Weshalb wurde nicht reagiert auf das, was überdeutlich war? Bitteren Fragen muss sich der Orden stellen, der diese Schule betrieben hat. Fragen nach ihrer Verantwortung müssen sich auch die öffentlichen Stellen gefallen lassen. Viele, die etwas zu sagen hätten, schweigen nach wie vor. Dennoch ist es der Herausgeberin gelungen, eine Reihe von Menschen zum schreibenden Sprechen zu bewegen, die wichtige Aspekte des „Systems AKO“ aufklären können. Dazu gehören auch die Stimmen aus dem Orden wie der politischen Gemeinde, die für das AKO verantwortlich gewesen wäre.
Doch die allermeisten Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch – das gilt für das AKO genauso wie für die Gesellschaft insgesamt – sind bisher gar nicht zu Wort gekommen. Weshalb sollten sie auch sprechen? Was hätten sie davon? Der Satz von 2010 „Sprechen hilft“ ist zwar durch die Erfahrung gedeckt, genauso gilt aber: Es ist auch ungeheuer anstrengend. Wer spricht, setzt sich seinen Erinnerungen aus und stürzt sich in eine psychisch anstrengende Situation. Wer öffentlich macht, was ihm widerfahren ist, setzt sich den kritischen, neugierigen, manchmal sensationsheischenden Blicken und Fragen der Umwelt aus, den versteckten Unterstellungen bis hin zu offenen Angriffen. Wer ist schon gerne in aller Öffentlichkeit ein Opfer? Deshalb muss den Autoren, die ihre Opfererfahrungen aus sechs Jahrzehnten hier vor uns ausbreiten, besondere Hochachtung und besonderer Dank gelten. Denn ohne sie hätten wir nicht nur kein Material, sondern auch keinen Anlass zur Aufarbeitung. Die Autoren bleiben jedoch nicht bei der Schilderung des erlittenen Leids stehen, sondern versuchen sich an einer Einordnung und Bewertung. So fügen sie den bekannten Tatsachen viele neue Informationen und Einschätzungen hinzu. Wie bei einem Puzzle wird das Bild durch die Beiträge von Vertretern des Ordens sowie der Kommune ergänzt, so dass allmählich ein besseres Bild entsteht.
Mancher fragt aus ehrlicher Sorge um die Opfer, bei anderen meint man das Kalkül herauszuhören: Wäre es nicht besser für die Betroffenen, sie würden einfach vergessen? Ist das nicht besser, wenn sie das irgendwann einmal hinter sich lassen und nach vorne leben? Richtig an diesen Fragen ist, dass es zu den größten Geisteskräften des Menschen gehört, negative Erfahrungen vergessen und so überwinden zu können. Tatsächlich vergessen wir auch die allermeisten Fakten und Ereignisse in unserem Leben schon Augenblicke, nachdem wir sie gewusst haben. Und auch für die „normalen“ Verletzungen und Niederlagen, unangenehmen Situationen hilft dieses natürliche Vergessenkönnen. Ohne diese Fähigkeit könnten wir gar nicht existieren, schon gar nicht in Gemeinschaft.
Doch es gibt traumatische Erfahrungen, die das eigene Selbst so sehr erschüttern, dass sie nicht einfach vergessen werden können – jedenfalls nicht, bevor sie nicht angemessen verarbeitet und in das eigene Selbst eingebaut werden konnten. So können Kinder und Jugendliche, die eine traumatische Erfahrung gemacht haben, sehr wohl psychisch gesund und stark weiterwachsen und diese Ereignisse vergessen, wenn ihnen möglichst kurz nach dem Ereignis therapeutisch geholfen wird. Leider haben die wenigsten Opfer des sexuellen Missbrauchs und der exzessiven Gewalt in den Einrichtungen der Kirche solche Hilfe in Anspruch nehmen können, als sie sie am dringendsten gebraucht hätten und sie auch am einfachsten geholfen hätte: unmittelbar nach der Tat. Dennoch haben die meisten Opfer es geschafft, nicht nur einfach weiterzuleben, sondern sogar überaus erfolgreich ihren Weg zu machen. Selbst diejenigen, die die Chance auf die ihnen eigentlich mögliche schulische Ausbildung verloren haben, weil sie vom System verstoßen und ohne Abschluss entlassen wurden, haben ihr Leben sehr oft selbst gemeistert. Das Bild des hilfsbedürftigen, vernichteten Opfers ist ein Zerrbild. Es gibt sie natürlich auch, die Menschen, die, als Kind traumatisiert, später als Erwachsener am Leben scheitern: viele Opfer der Heimerziehung, viele Abhängige von Drogen, viele psychisch Erkrankte.
Um es klar zu sagen: Wir verdanken die Aufklärung und beginnende Aufarbeitung des jahrzehntelangen Verbrechens an hunderten Kindern auf diesem Unheiligen Berg ausschließlich dem Mut der Opfer, sich zu Wort zu melden. Nicht der verantwortliche Orden oder die staatliche Aufsicht haben die Verbrechen aufgedeckt und den Anstoß zu Untersuchungen gegeben. Ohne die Hartnäckigkeit, mit der die Opfer immer weiter Fragen stellen, die Ruhe stören, wären wir nicht so weit, wie wir gekommen sind. Doch diese Bemühungen wären vergebens gewesen, wenn sie nicht in ebenso mutiger Weise durch eine Journalistin vor Ort immer wieder publizistisch begleitet worden wären. Ihr kommt auch der Verdienst zu, den Impuls für dieses Buch nicht nur aufgenommen zu haben, sondern es überhaupt erst ermöglicht zu haben, indem sie so unterschiedliche Stimmen und Sichtweisen zwischen den Klappentexten versammelte.
Eine einzelne Stimme läuft Gefahr, niedergeschrien oder einfach ignoriert, niedergeschwiegen zu werden. So erlebten es viele, die in den Jahrzehnten zuvor versucht hatten, die Schweigespirale zu durchbrechen. Gegen das kollektive, gegen das machtvolle „Schweigenwollen“ hilft einzig die Gegenmacht der Öffentlichkeit, wie sie eben nur die Presse herstellen kann. Das Internet ist demgegenüber bislang vor allem Informationsmedium und Mittel zum Austausch, das beim Selbstfindungs- und Selbsthilfeprozess der Betroffenen zeitweilig eine wichtige Rolle gespielt hat. Die Schlagzeilen der Boulevardmedien mögen verletzend, grob vereinfachend und zuspitzend gewesen sein – doch in einer Krise wie 2010 konnten nur die Medien für den Machtausgleich sorgen: zwischen den vereinzelten, machtlosen Opfern und den mächtigen, wohl etablierten und organisierten Institutionen. Für viele Betroffene hatte die Berichterstattung damals etwas von einer Katharsis. Die seitdem heftig geführte öffentliche Debatte erreichte auch viele Opfer, die sich selbst nicht zu Wort melden können und wollen: das vergewaltigte Kind, das heute nach Drogenkarriere und Knast-Erfahrung von der Sozialhilfe lebt, oder den missbrauchten Jungen, das missbrauchte Mädchen, die unauffällig in ihrem Beruf Karriere gemacht haben und sich doch immer fremd in ihrem Leben fühlten.
Deshalb sind die Betroffenen und ihre Angehörigen, weit über Bonn hinaus, der Herausgeberin dieses Bandes dankbar für die Zähigkeit und Hartnäckigkeit, mit der sie in den vergangenen Jahren gegen viele Widerstände am Thema dran geblieben ist. Als die überregionalen Medien nach der ersten Aufregung weiterzogen zum nächsten Skandal, ist sie dabei geblieben und hat so die Betroffenen wie die an Aufklärung Interessierten in Bonn wie im Orden ermutigt, ihrerseits nicht nachzulassen.
Die Breitenwirkung dieser Debatte, die mit unterschiedlicher Aufgeregtheit und Intensität, aber andauernd nun schon seit fast vier Jahren geführt wird, hat viel bewegt und in Bewegung gesetzt und viele Menschen erreicht. Aber sie ist noch lange nicht an ihr Ende gekommen. Für ein Fazit ist es noch zu früh. Jedoch: Wir können uns bei der Aufarbeitung nicht nur auf den Mut und die Einsatzbereitschaft von Journalisten verlassen, die, immer wieder den Finger in die Wunde legend, verhindern, dass die Schulgemeinschaft wie die Gesellschaft allzu rasch wieder zur Tagesordnung übergehen. Denn es ist wie im individuellen Leben so auch im Leben einer Gesellschaft: Wenn ein Trauma nicht aufgearbeitet wird, wenn es stattdessen verdrängt und „beschwiegen“ wird, dann droht diese giftige Hinterlassenschaft sich einzukapseln und im Verborgenen zu wuchern und dabei ihr Gift immer weiter auszuschütten. Eine derart vergiftete Gesellschaft könnte auch in Zukunft ihre Kinder nicht schützen.
Dieses Buch ist ein weiteres Element, ein Baustein für das Projekt einer gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitung der Gewalt gegen und des Missbrauchs von Kindern in unserer Vergangenheit. Es wird und es muss weitere Forschungen, Untersuchungen, Analysen auch in der Zukunft geben. Vor allem braucht es endlich eine unabhängige Aufarbeitungskommission, die tatortübergreifend die Opfer anhört, Hintergründe ermittelt und Erkenntnisse, die bereits vorliegen, bündelt, zusammenfasst und bewertet.
Wenn es eine katholische Eliteschule in Deutschland gab, dann war dies seit den 1950er Jahren bis zur Wiedervereinigung und der Rückkehr von Parlament und Regierung nach Berlin das Bonner AKO, an das Generationen von Beamten, Diplomaten und Industriellen nicht nur aus dem katholischen Rheinland ihre Söhne schickten. Mit dem AKO wie mit dem liberal-reformpädagogischen Vorzeigeinstitut der Odenwaldschule war der sexuelle Missbrauch von Jungen 2010 wirklich im Zentrum der Macht in Deutschland angekommen, wenn man Eliten eben auch als Träger von Macht und Einfluss in einer Gesellschaft versteht. Das Exemplarische der Geschichte des AKO ist nicht die des Täters Pater Ludger Stüper. So einzigartig, wie er sich gefühlt haben mag, war er gar nicht. Er unterscheidet sich nur im Detail von anderen Massentätern wie Gerold Becker oder den Berliner Serientätern Riedel und Statt am Canisius-Kolleg.
Was den hier im Titel so genannten Unheiligen Berg so heraushebt, ist die ungebrochene Tradition des Missbrauchs über viele Jahrzehnte, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg nachverfolgen lässt. Zu jedem Zeitpunkt war mindestens ein Täter zugange. Vor allem aber: Die Spur des Missbrauchs reicht bis in die Gegenwart. Das „System AKO“ überlebte seinen wichtigsten Täter, und selbst die beginnende Aufklärung konnte es zunächst nicht zerbrechen. Es gibt eine Kontinuität in diesem System, das die Taten Einzelner überhaupt erst ermöglichte: so wie Pater Stüper auf dem Hintergrund des autoritären und sexualfeindlichen Klimas der 1950er und 1960er Jahre seine Täterkarriere begann, so hat er selbst dafür gesorgt, dass das von ihm geschaffene Netzwerk von ahnungslosen, fahrlässigen, unfreiwilligen und willigen Helfern, die er brauchte, um die Schule zu dominieren, nicht abriss. Stüper, Pater Theo Schneider, Christopher Haep – kein Zufall, dass hier für den Betrachter der Eindruck von Ziehsohnschaften entsteht.
Dabei geht es gar nicht so sehr um Erotik und Sex. Es geht in diesem System vor allem um Dominanz, es geht um Macht. Der Täter sucht nicht einfach nur sexuelle Befriedigung. Vielmehr ergibt sich die Befriedigung für ihn aus dem Machtsystem, das er aufgebaut hat und dem er alle und jeden unterwirft. Waren Stüper oder einer der anderen Täter pädophil? Das ist auf dem Wege der nachträglichen Ferndiagnose nicht sicher zu entscheiden. Tatsächlich liegt die Zahl der klinischen Pädophilen sehr niedrig im Vergleich zu der Zahl der Missbrauchstaten, die sich Jahr für Jahr ereignen. Um es klar zu sagen: Manche Pädophile werden zu Tätern, aber die meisten Täter sind keineswegs derart veranlagt, sondern wären zu einer erwachsenen Sexualität durchaus fähig. Waren die Täter dann schwul? Sind nicht sehr viele kirchliche Täter schwul? Diese Sichtweise scheitert schon daran, dass die meisten Opfer sexuellen Missbrauchs etwa im Verhältnis 60 zu 40 Mädchen sind. Natürlich schafft die katholische Kirche mit dem zölibatären Priestertum eine Nische, die für homosexuelle Männer und Frauen, die sich mit ihrer Sexualität verstecken wollen, scheinbar attraktiv ist, wobei sie wohl regelmäßig den Preis an Selbstverleugnung unterschätzen.
Haben Jesuiten, haben weltliche Lehrer, Besucher, staatliche Aufsichtspersonen bewusst weggesehen, weil sie ihre jeweiligen Interessen schützen wollten? Weil sie dachten, so ist das eben an einem Internat? Wo gehobelt wird, da fallen auch Späne? Weil Gewalt bis weit in die 1970er Jahre eh normal war in der Erziehung und man von der latenten homophilen Spannung in Jungen-Schulen wusste? Nicht sehen, nicht hören, nicht sprechen. Die vielleicht brisanteste Frage, die sich stellt: Haben die Eltern, die ihre Söhne über all die Jahrzehnte bis in die jüngste Gegenwart auf diese Schule und in dieses Internat schickten, womöglich ahnungsvoll in Kauf genommen, dass einigen Jungen dort Unrecht widerfährt? Nicht weil die Schule so über alle Maßen bessere Leistungen produzierte, sondern weil sie auf den entscheidenden Mehrwert aus waren: die guten Verbindungen, die beim Besuch einer vermeintlichen Eliteschule für den späteren Lebens- und Karriereweg entstehen können? Welcher Elitebegriff verbirgt sich dahinter, wenn regelmäßig einige auf der Strecke bleiben? Hat der langjährige Haupttäter Pater Stüper nicht auch mit diesen Erwartungen gespielt?
Wir haben das System, das der langjährige „Starke Mann“ des AKO, Ludger Stüper SJ, errichtet hat, ein pädophiles Himmelreich genannt. So muss er selbst das empfunden haben, so selbstverständlich hat er die Schule in allen Aspekten auf seine persönlichen Bedürfnisse ausgerichtet und dabei sowohl Schüler als auch Mitbrüder, Lehrer und Eltern sowie eine Vielzahl von Gönnern und Unterstützern für sich eingespannt. Sie alle stehen seit 2010 peinlich berührt vor der Tatsache, dass sie einem Betrüger aufgesessen sind. Und dass sie sich – die einen mehr, die anderen weniger – zum Teil seines Systems haben machen lassen. Das ist peinlich, und das ruft Abwehr hervor, wie sie die Aufklärer seit 2010 haben erdulden müssen.
Ursula Enders spricht in diesem Zusammenhang von der erschütterten Institution.4 Doch diese Erschütterung ist bitter notwendig, wenn denn aus der Katastrophe, die sich über Jahrzehnte am AKO ereignet hat, die Lehren für die Zukunft gezogen werden sollen. Und allmählich scheinen die Mauern dieser scheinbar uneinnehmbaren Festung zu fallen, wie die Beiträge in diesem Buch zeigen. Wie nach einem bösen Traum reiben sich viele die Augen und stellen fest, wie sehr sie Teil des Systems waren, es unfreiwillig gestützt haben. Wie die Aufarbeitung dessen, was in der Vergangenheit geschehen ist, ist auch dies zunächst einmal ein individueller Lernprozess. Jede/r, der mit Erschrecken feststellt, dass er oder sie, unfreiwillig zumeist, jedenfalls ohne Durchblick auf das Ganze, doch mitgeholfen hat, damit dieses System aufgebaut und aufrechterhalten werden konnte, muss sich zunächst fragen, was ihn oder sie daran gehindert hat, zu sehen, was doch im Rückblick so offensichtlich war.
Dabei ist Pater Stüper nicht vom Himmel gefallen. Sondern er steht in einer längeren Tradition der Gewalt und sexuellen Übergriffe. Soweit noch Zeugen da sind, die sich erinnern können, solange reichen auch die Berichte über sadistische Patres, grenzverletzendes Verhalten bis zum schweren sexuellen Missbrauch zurück. Wir schulden die Aufarbeitung natürlich zu allererst den Opfern. Aber wir müssten doch aus den historischen Katastrophen der Vergangenheit gelernt haben, dass wir aus Schaden klug werden müssen, wenn wir eine bessere Zukunft für unsere Kinder wie für uns selbst wollen. Der Täter Stüper bestätigt uns: Macht, Sex und Geld gehören zusammen. Ein Täter, der sein gesamtes Umfeld wie auch seine Opfer mit hoher krimineller Energie manipuliert, der zeigt diese Verhaltensweise auch auf anderen Feldern. Insbesondere im Umgang mit Geld. Es ist kein Zufall, dass bei allen bisher bekannt gewordenen Fällen von massenhafter sexueller Gewalt durch einen hoch manipulativen Täter (der sich eine machtvolle Stellung aufgebaut hatte, aus der heraus er seine Taten über Jahre ungestraft begehen konnte) auch ein zweifelhafter Umgang mit Geldern festzustellen ist. Die Täter benötigen das Geld, um ihren Lebensstil zu finanzieren, ihre Umgebung zu korrumpieren und gegebenenfalls Opfer ruhig zu stellen. Vor allem erlaubt es ihnen den Lebensstil, den sie für sich als angemessen empfinden. Wer gelernt hat, sich von seinen Opfern zu nehmen, wonach ihm verlangt, der scheut auch vor Veruntreuung und Diebstahl nicht zurück.
Eine Aufarbeitung, die nur beim Anhören der Opfer und ihrer Leidensgeschichte, also in der Vergangenheit stehen bliebe, wäre tatsächlich unfruchtbar. Tatsächlich regen die Berichte der Betroffenen von Gewalt und sexuellem Missbrauch jedoch bereits oft beim Lesen an, weitere Fragen zu stellen. So setzt die Spirale der Aufarbeitung ein, die Institutionen verändern und wirksame Prävention ermöglichen kann. Denn die Geschichte mag zwar in der Vergangenheit spielen, doch sie betrifft genauso unsere Gegenwart und Zukunft. Internate und Schulen wie andere Institutionen sind Orte des erhöhten Risikos für Kinder und Jugendliche, Opfer zu werden. Gleichzeitig sind sie die Orte, an denen den akuten Opfern sexueller Gewalt im familiären Nahfeld am ehesten geholfen werden könnte, wenn die Institutionen lernen würden, mit ihren eigenen Risiken besser umzugehen und die Stimmen der Opfer zu hören.
Doch gibt es in Bezug auf katholische Einrichtungen bei der Anzahl der Taten und der kriminellen Energie der Täter eine derartige Häufung, dass man fragen kann: Was ist hier der spezifische blinde Fleck? Das besondere Merkmal? Wie schmeckt katholischer Missbrauch? Verdrängung, Prüderie, Scheinheiligkeit und doppelte Moral sind ja keine Alleinstellungsmerkmale des katholischen, sondern finden sich genauso in calvinistischem, evangelikalem, generell in fundamentalistischem Kontext. Die Verbindung der Sexualfeindlichkeit mit der Machtfrage ist schon eher eine katholische Haltung. Es ist jedenfalls kaum ein Zufall, dass im Zentrum der Krise des Katholizismus seit den 1950er Jahren die Frage nach der Rolle der Sexualität in der Beziehung von Mann und Frau steht, und daraus abgeleitet die Folgeprobleme der Verhütung, des Umgangs mit der Homosexualität usw. Die Sexualität ist über das Zölibat und das Männerpriestertum auch mit der organisatorischen Verfasstheit der Kirche aufs engste verknüpft. Die Sexualität stellte sich als der Eckstein dar, auf der der Herr seine Kirche gebaut zu haben schien. Ein guter Teil der Begeisterung um den neuen Papst hängt damit zusammen, dass er diese neurotische Fixierung problematisiert. Unklar scheint noch, ob es ihm gelingt, diese aufzubrechen.
Wenn man die Liste der Autoren anschaut, dann schreit einen die Leerstelle geradezu an: Es fehlt der langjährige Vertraute und engste Mitarbeiter von Ludger Stüper, P. Schneider SJ. Er war angefragt, aber er verweigert sich seit vier Jahren konsequent jeder Kommunikation mit den Opfern. Sieht er sich selbst als Opfer, was ihm die empathische Auseinandersetzung mit den Betroffenen nicht erlaubt? Drückt ihn vielleicht heimlich das schlechte Gewissen? Hier wäre der Ort für eine Selbsterklärung gewesen.
Wie wichtig die Rolle des 2010 verantwortlichen Rektors Pater Klaus Mertes5 in Berlin für den Prozess der Aufklärung war, wird gerade im Kontrast deutlich. „Wir glauben euch“ und „bitte meldet euch“ – diese beiden Botschaften aus den ersten Tagen nach Bekanntwerden des Briefes an die Ehemaligen der potentiell betroffenen Jahrgänge waren entscheidend dafür, dass in Berlin gelang, was in Bonn bisher nicht möglich war: dass sich viele Betroffene angstfrei zu Wort melden konnten und nach zwei Jahren, Ende 2011, zwar keine allgemeine Versöhnung ausgebrochen war, aber auch für viele Betroffene das Canisius-Kolleg wieder „ihre“ Schule geworden war. Davon zehrt die heutige Schulgemeinschaft in der öffentlichen Wahrnehmung. Und genau unter diesem Mangel leidet die Wahrnehmung des AKO in der Öffentlichkeit heute. Vielleicht ist es aber auch gar nicht anders möglich: Denn die Spuren der Täter sind eben noch frisch. Die Täter am Canisius-Kolleg waren nicht auch noch Schul- und Internatsleiter und haben nicht ihre „Ziehsöhne“ als Nachfolger installiert. P. Mertes konnte sich glaubhaft von der Vergangenheit distanzieren, weil sie offensichtlich vergangen war. Diese Möglichkeit hat der heutigen AKO-Rektor Johannes Siebner6 nicht. Denn zu sehr reicht die Vergangenheit noch in die Gegenwart hinein. Hier muss die giftige Strahlung wohl noch eine Weile abklingen.
Der Eckige Tisch wünschte, die Jesuiten hätten 2010 den Mut gehabt, sich von diesem Unheiligen Berg eines bösen Zauberers zu trennen und einen sauberen Schnitt zu machen. Stattdessen möchte man die Folgen des eigenen Versagens wohl dann doch nicht so brutal tragen und hofft, beides tun zu können: ehrlich das eigene Versagen in der Vergangenheit aufzuarbeiten und die Institution, an der man hängt, zu bewahren. Es geht nicht darum, die Schule zu schließen, sondern um die Frage der Trägerschaft. Wie überhaupt heute die Frage erlaubt sein muss, weshalb die Kirche so darauf beharrt, Schulen und andere soziale Einrichtungen zu betreiben, als ob es keinen modernen Sozialstaat und kein öffentliches Schulwesen gäbe. Wohingegen an den Rändern der Gesellschaft viel Platz für die Vorreiterschaft wäre, die die Kirche in der Vergangenheit bewies, als sie die Hospitäler des Mittelalters oder mit den Kollegien die Bildungsstätten der frühen Neuzeit erfand. Wenn sie aber strukturelle Konsequenzen ziehen will, dann darf sie nicht einfach auf einen guten König hoffen, der dem schwarzen Fürsten folgt, sondern muss sich an das System wagen. Dazu gehört eine ehrliche und umfassende, eine unabhängige Erforschung der eigenen Vergangenheit und des institutionellen Versagens.
In der Erinnerung der Betroffenen bleiben die Räume des Kollegs eine vergiftete Zone, der sie sich nur unter großer Anstrengung nähern können – sofern sie sich nicht entschieden haben, immer in der Nähe zu bleiben. Diese Fälle des Stockholm-Syndroms, also der Identifikation mit dem Aggressor als Form des Selbstschutzes, gibt es. 2011 haben einige Betroffene des Berliner Canisius-Kollegs, die erstmals nach vielen Jahren wieder an ihre Schule zurückkehrten, diese kontaminierten Bereiche durch eine Kunstinstallation symbolisch zu reinigen versucht. Solcherlei Gedenkarbeit ist auch am AKO bitter nötig. Die Entfernung der Skulptur der nackten Kirschkernspucker war ein solcher erster Schritt.7 Es gibt die Aura des Bösen an manchen Orten. Für viele erwachsene Männer liegt ein solcher Ort mitten in Bonn-Bad Godesberg auf einem Hügel.
Müssen wir ununterbrochen weiter über das Thema sprechen, um die Spirale der Aufarbeitung in Gang zu halten? Sicher nicht. Das hält auch niemand aus, schon gar kein Betroffener. Man kann sich dem Giftmüll immer nur begrenzte Zeit aussetzen. Und es gibt auch ein Recht auf das gesunde Vergessen für den einzelnen. Als Gesellschaft müssen wir darauf achten, dass wir einen Punkt in der Aufarbeitung erreichen, bei dem das Wissen um die sexuelle Gewalt, die unseren Kindern in Schulen, Heimen und Familien angetan wurde, ins kollektive Wissen eingegangen ist. Erst dann ist es gegen das Vergessen geschützt. Erst dann werden wir gelernt haben. Erst dann sind unsere Kinder sicherer.
3 Matthias Katsch, M.A., Geschäftsführer, Managementtrainer für Qualität- und Projekt-management, ist Betroffener am Berliner jesuitischen Canisius-Kolleg und heute Sprecher der Betroffenengruppe Eckiger Tisch sowie stellvertretender Vorsitzender des Fachbeirats beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Missbrauchs (UBSKM). Er schrieb diese Einführung am 7. Februar 2014.
4 http://www.zeit.de/2010/12/C-Beratungsstelle-Missbrauch-Interview.
5 Siehe den Beitrag von Pater Mertes in diesem Buch Kapitel 6.2.
6 Siehe den Beitrag von Pater Siebner in diesem Buch Kapitel 6.1.
7 Siehe in diesem Buch S. 111.
Von Pater Godehard Brüntrup SJ 8
Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht.
(Abraham Lincoln)
Im Jahre 2012, in der Adventszeit, gaben drei Jesuiten das Buch „Unheilige Macht“ heraus. Es handelt von sexualisierter Gewalt gegen Jugendliche und Kinder in pädagogischen Einrichtungen des Jesuitenordens. Uns wurde vorgeworfen, dies sei ein unpassender Zeitpunkt. Das Buch störe die stille besinnliche Zeit. Auf diese Art von Stille kann man jedoch getrost verzichten. Gerade in dieser Jahreszeit wird doch in den christlichen Kirchen von brutaler Gewalt gegen Kinder berichtet (Kindermord des Herodes) und in einem Festtag der „unschuldigen Kinder“ gedacht. Und genau darum geht es doch in „Unheilige Macht“: um Gewalt gegen Unschuldige und Wehrlose, gegen Kinder und Jugendliche. Eine Gewalt, die ihr Leben dauerhaft prägt, weil sich die Spuren in wachsweiche, formbare Seelen eingeritzt haben. Die Verletzungen der kindlichen Psyche heilen auch später nur zögerlich ab, sie bleiben spürbar, lassen Veränderungen im psychosomatischen Bereich zurück. Schwerwiegende Belastungen der gesamten Biografie sind keine Seltenheit. Darum geht es. Es passt in diese dunkle Zeit.
Wer ein Gespür dafür hat, wird auch nicht übersehen haben, dass unser Titel „Unheilige Macht“ ein wichtiges kontrastierendes Bedeutungsmoment erst durch die klangliche Nähe zu „Heilige Nacht“ erhält. Ich schreibe diese Zeilen genau ein Jahr später, wieder in der dunklen Jahreszeit, die gerade beginnt und sich jetzt noch endlos in die Zukunft zu erstrecken scheint – bis endlich ein neues Frühjahr erscheint. Sind wir in diesem Jahr überhaupt einen Schritt aus der Dunkelheit herausgetreten? Einige mögen vielleicht resigniert mit „Nein“ antworten, ich wage in aller Zurückhaltung ein vorsichtiges „Ja“ zu äußern. Es gab Schritte, die man dankbar registrieren kann, auch wenn der Weg noch immer „unendlich weit“9 erscheint.
Das Buch, das Sie nun in Händen halten, ist genau ein solcher Schritt. Im Postskript des Bandes „Unheilige Macht“ schrieben wir Herausgeber damals, dass ein weiteres Buch wünschenswert sei, aber nicht wieder von Jesuiten herausgegeben. Auch weil es uns nicht gelungen war, die Situation am Aloisiuskolleg hinreichend zu thematisieren. Frau Hagenberg-Miliu hat dies nun unternommen. Als Journalistin hat sie über Jahre hin über die Entwicklungen am Aloisiuskolleg berichtet, man kann sich daher schwerlich eine bessere Wahl für die Herausgeberin denken. Dass Betroffene in diesem Band schonungslos offen reden, ist ein Beleg dafür, welches Vertrauen sich Frau Hagenberg-Miliu erworben hat. Verständlicherweise war das Vertrauen in die drei jesuitischen Herausgeber von „Unheilige Macht“ bei vielen Betroffenen nicht gegeben. Man wollte sich nicht instrumentalisieren lassen für eine befürchtete Reinwaschaktion der Jesuiten, die eventuell auf raffinierte Weise doch wieder nur dem Abschirmen und dem Schutz der Institution gelten sollte. Daher ist dieses neue Buch so wichtig.
Das Aloisiuskolleg liegt auf dem vom Volksmund so getauften „Heiligen Berg“. Der Titel „Unheiliger Berg“ legt schon rein sprachlich die Entwicklungslinie zum früheren Buch nahe. Was dort inhaltlich unerledigt blieb, kann hier nun wenigstens teilweise geleistet werden. Das gilt zuerst und vor allem für eine stärkere Präsenz der Stimmen der direkt Betroffenen. Diesen Stimmen einen Ort zu geben und ein hörendes Ohr zu öffnen, ist weiterhin die dringlichste Aufgabe. Nur durch die Berichte der Betroffenen kann der ganze Umfang der verbrecherischen Taten dokumentiert werden. Nur so können diejenigen, die relativieren und kleinreden wollen, mit der Realität konfrontiert werden. Ich bin daher denen dankbar, die hier mutig und eindringlich ihre Stimme erheben.
Die Lage am Aloisiuskolleg war vor einem Jahr (2012) noch so volatil und spannungsgeladen, dass hier mehr als anderswo die Zeit noch nicht reif schien für druckfertige Statements. Wegen der unklaren Verwicklung von noch lebenden Ordensmitgliedern wurde die Lage hier zusätzlich erschwert. Die Meinungen im Orden waren noch nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Unser damaliges Buch sollte aber nicht nur eine Minderheitsmeinung ausdrücken, es wurde um Kompromisse gerungen. Sie waren schmerzhaft für manche. Hinzu kam, dass den Führungskräften des Ordens im Umgang mit dem AKO häufiger als an anderen Orten Fehler, Fehleinschätzungen und Unprofessionalitäten unterliefen. Das lag sicher teilweise an der zeitlichen Nähe einiger Vorkommnisse; aber auch Betriebsblindheit, Ängstlichkeit, Unerfahrenheit, eigene Verletzung, falsche Berater und äußerer Druck mögen da die Urteilskraft manchmal getrübt haben. Man denke nur an den Umgang mit den Bildern, denen in diesem Band eigene Beiträge gewidmet sind.10
Der Titel „Unheiliger Berg“ hat ebenfalls eine religiöse Konnotation. In der Bibel sind die Berge Orte der Gottesnähe, Mose empfängt dort die Gebote Gottes, Jesus verkündet dort sein Programm als Bergpredigt. Ein „unheiliger Berg“ ist daher eine Perversion, eine Umkehrung der Werte in ihr Gegenteil, auch ein Ort der Gottesferne. Das, was hier über den „unheiligen Berg“ geschrieben wird, hat weit über den geografischen Einzugsbereich dieses ansonsten eher unspektakulären Hügels am Rheinufer hinaus Bedeutung. Die Strukturen sexualisierter Gewalt in einem kirchlichen Umfeld werden hier exemplarisch vor Augen geführt, und zwar in einem erschreckend stabilen Muster, das sich über Jahrzehnte mit zeit- und personenabhängigen Abwandlungen mehrfach wiederholte. Nur ein an die Wurzeln des Übels gehender Prozess der inneren Erneuerung wird diese Struktur dauerhaft durchbrechen können. Der Stallgeruch sitzt in den Mauern, er kann nicht allein durch Durchzug und Lüften (Personalwechsel) beseitigt werden. Manche Mauern werden eingerissen werden müssen, neue Strukturen werden entstehen. Ich will nicht verhehlen, dass ich zuversichtlich bin, dass dies gelingen kann. Aber der erste und entscheidende Schritt ist die schonungslose Anerkennung von all dem Schrecklichen, das sich ereignet hat. Wir sind immer noch bei diesem ersten Schritt. Ich bin überzeugt, dass dieser Band einen Beitrag zu diesem Prozess leisten kann.
Worin besteht das erwähnte Muster, der typische Geruch gerade dieses Missbrauchs? Da ist vor allem das Element der Abgeschlossenheit und Abgehobenheit, physisch wie mental. Insbesondere das Internat war anscheinend eine weitgehend in sich geschlossene Gesellschaft, in der immer nur ganz wenige Personen das Sagen hatten; für längere Zeit war die Macht auf eine einzige Person konzentriert. Es gab auch ein elitäres Bewusstsein der Abschottung, das man als Besucher durchaus spüren konnte: das Bewusstsein, etwas Besonderes zu sein. Eine solches System entspricht nicht den Satzungen und Traditionen des Jesuitenordens, es entspricht auch nicht seinem Gehorsamsverständnis. Der regionale Vorgesetzte (Obere) im Jesuitenorden hat nur eine auf bestimmte Zeit verliehene Macht, die von einem Gremium von Beratern einer konstruktiv-kritischen Kontrolle unterzogen werden soll. Kein Oberer kann im Orden solche Macht entfalten wie Pater Stüper im AKO. Aber der Leiter einer Schule oder einer Universität ist nach dem Verständnis des Ordens eben auch kein Oberer. Er ist der Leiter einer Einrichtung. Das ist ein wichtiger Punkt, der in Zukunft weiter analysiert werden sollte. Der Orden verfügte nicht immer über klare – in Richtlinien und Statute geformte – Vorgaben, um die Macht eines Leiters einer Institution zu begrenzen. Man überließ das gerne den betreffenden Einrichtungen selbst. Ob sie das hinreichend taten, wurde nicht sorgfältig genug überprüft. Auf dem „heiligen Berg“ hatte dieser Mangel gravierende Konsequenzen.
Immer wieder kommt es vor, dass Jesuiten sich mit dem Werk, das sie aufgebaut haben, so identifizieren, dass sie nur mit äußerster Mühe von dort versetzt werden können, weil sie buchstäblich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihren Einflussbereich zu schützen und zu bewahren. Im Grunde geht es hier um Macht. Hat der Orden die Kraft, Mitglieder wirksam zu entmachten, wenn ein Wechsel sachlich angeraten scheint? Ohne Statute, Geschäftsordnungen und Satzungen der Institutionen wird das nicht gehen. Ich sehe es als eine der wichtigsten Leistungen von Pater Siebner11 an, dass er in seinem neuen Amt am AKO gleich von Anfang an darauf geachtet hat, dass Rechtsordnungen und Prozeduren entstehen, welche die Macht Einzelner begrenzen und kontrollieren. Es ist eine Versuchung gerade auch der religiös gerechtfertigten Macht, sich solcher Kontrollmechanismen zu entziehen und charismatisch und unbürokratisch in einer trügerischen Unmittelbarkeit zu verfahren und aufzutreten. Das gerät leicht zur Falle. Nicht wenige versinken unversehens in einen sich unmerklich beschleunigenden Strudel narzisstischer Selbstbestätigung und der Instrumentalisierung anderer. Pater Stüper ist nicht der einzige Name, an den man da denken muss.
In den letzten drei Jahren wurde mir zunehmend klarer, wie sehr es bei dem Thema sexualisierte Gewalt um Macht und Würde geht. Natürlich geht es auch darum, dass ein Erwachsener vom Körper und auch Wesen eines deutlich jüngeren Menschen erotisch angezogen wird. Aber das allein ist noch nicht das Wesen des Übergriffs. Das eigentliche Verbrechen ist, mit welcher teuflischen Selbstbezogenheit das schwächere und unterlegene Gegenüber zu einem reinen Objekt degradiert wird; ein Objekt, das der Befriedigung der Bedürfnisse des Stärkeren zu dienen hat. In dem Maße, wie aus der altersmäßigen und sozialen Unterlegenheit die Unfähigkeit zum Widerstand resultiert, nimmt auch die Verletzlichkeit zu. Ohnmacht und Verletzlichkeit gehen Hand in Hand. Die Ohnmacht wird dadurch verstärkt, dass das Umfeld des Täters diesen indirekt stützt und gewähren lässt. Er wirkt stark und unangreifbar.
In einem Gespräch mit einem durch einen Jesuiten missbrauchten Jugendlichen berichtete mir dieser, dass er an einem bestimmten Punkt dem Täter in die Augen schaute und sagte: „Es geht hier nur um Dich und Deine Bedürfnisse!“ Damit war die menschliche Erbärmlichkeit des Täters schlagartig entlarvt. Die Machtverhältnisse drehten sich für einen kurzen Moment um, und dieser Moment der Stärke leitete dann auch das Ende des Missbrauchs ein. Die seelischen Wunden wurden dadurch aber nicht geheilt. Aber ein Stück Würde und Selbstbewusstsein kehrten zurück durch diese Auflehnung gegen den Übermächtigen. Ein Kind ist zu einem solchen Akt der Selbstbehauptung kaum fähig. Ein 12-Jähriger, der zu einem reinen Körperschema degradiert wird und für ein erotisches Foto posieren muss, wird vor allem verletzt durch die Erfahrung, zum Genussobjekt gemacht zu werden und dabei ohnmächtig und hilflos ausgeliefert zu sein. Der Eros hat in der Pädagogik nichts zu suchen, wenn dadurch ein Mensch zum Objekt der Begierde gemacht wird. Von härteren sexuellen Übergriffen, von denen es am AKO und in seinem Umfeld viele gab, ganz zu schweigen. Die in diesem Band abgedruckten Berichte sprechen hier eine deutliche Sprache. Es wird Licht in dunkelste Ecken geworfen.
Die Taten sexuell gewalttätiger Erzieher sind in den wenigsten Fällen unreife und hilflose Versuche, mit einem viel zu jungen Menschen eine wirkliche Beziehung einzugehen. Es sind vielmehr Taten von Menschen, die an wirklichen Beziehungen überhaupt nicht interessiert sind, weil ihre Beziehungsfähigkeit gestört ist. Der Typ des Machtmenschen mit einer Tendenz zur narzisstischen Selbstinszenierung ist dabei überproportional vertreten. Es sind Menschen, die sich mit Günstlingen umgeben, die der eigenen Bestätigung dienen. Es sind Menschen, die auf Kritik aufbrausend und gekränkt reagieren. Sie erwarten in aufgeblähter Weise, als überlegen und einzigartig anerkannt zu werden. Sie fordern ständige Aufmerksamkeit und positive Bestätigung ein. Ihre Fähigkeit zur Empathie ist deutlich vermindert. Es geht ihnen vor allem um sich selbst, um die eigenen Bedürfnisse, die nicht selten gerade durch Unterwerfung, Abhängigkeit und Ausgeliefertsein befriedigt werden können. Wo kann man eine solche Neigung besser ausleben als im Umgang mit – allein vom Alter her – deutlich unterlegenen Personen? Kaum etwas verdirbt potentiell den Charakter so sehr wie der ständige Aufenthalt in einer schwächeren und unterlegenen sozialen Umgebung. Der Mensch braucht Dialog auf Augenhöhe zur Selbsterkenntnis. Diese Einsicht der Dialogphilosophie muss gerade den Vollzeitpädagogen zu denken geben. Der Erzieher, der seinen Lebensmittelpunkt primär unter den Menschen gestalten will, die ehrfürchtig zu ihm aufblicken müssen, ist im Grunde eine erbärmliche Gestalt. Ob diese Art von Beziehungsunfähigkeit kombiniert mit Dominanzverhalten dann zur zölibatär-priesterlichen Lebensweise prädisponiert oder von ihr verstärkt wird, ist eine Frage, der man ernsthaft nachgehen sollte. Man findet jedenfalls solche Charaktereigenschaften auch bei anderen Klerikern, nicht nur am AKO.
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