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Über dieses Buch:

Es ist Liebe auf den ersten Blick, als der russische Agent und Wissenschaftler Yuri Safin und die Berliner Widerstandskämpferin Maria Lasser sich begegnen.

Safin hat den Auftrag, den Nazis einen einzigartigen Schatz zu entreißen: das handschriftliche Testament einer untergegangenen Hochkultur, das noch niemand entziffern konnte. Den täglichen Kriegsgefahren und Anschlägen von Gestapo und SD trotzend, entschlüsselt er die faszinierenden Rätsel der »Handschrift von Berlin«. Doch er ahnt nicht, welche tödlichen Ränkespiele er damit entfesselt. Während er und seine junge Geliebte in einen Strudel internationaler Verwicklungen hinabgerissen werden, erscheint ihnen ihre Liebe zueinander wie ein rettender Anker. Aber wird sie stark genug sein, um gegen die Schrecken des Krieges zu bestehen?

Über den Autor:

Berndt Schulz wurde 1942 in Berlin geboren. Er veröffentlichte zahlreiche Kriminalromane und Sachbücher. Außerdem ist Schulz unter dem Pseudonym Mattias Gerwald als Autor historischer Romane erfolgreich. Er lebt in Nordhessen und Frankfurt am Main.

Bei dotbooks erscheint Berndt Schulz' Krimi-Reihe rund um Kriminalkommissar Martin Velsmann, die folgende Bände umfasst:
»Novembermord: Martin Velsmann ermittelt – Der erste Fall«
»Engelmord: Martin Velsmann ermittelt – Der zweite Fall«
»Regenmord: Martin Velsmann ermittelt – Der dritte Fall«
»Frühjahrsmord: Martin Velsmann ermittelt – Der vierte Fall«
»Klostermord: Martin Velsmann ermittelt – Der fünfte Fall«
Die ersten zwei Romanen der »Martin Velsmann«-Reihe sind auch als Sammelband unter dem Titel »Novembermord & Engelmord« erhältlich.

Außerdem erscheinen bei dotbooks Berndt Schulz' Kriminalromane »Wildwuchs« und »Moderholz« sowie der Kinderkriminalroman »Das Geheimnis des Falkengottes«.

Ebenfalls bei dotbooks veröffentlicht Berndt Schulz unter dem Pseudonym Mattias Gerwald folgende Bände der »Tempelritter-Saga«:

»Die Suche nach Vineta«, »Das Grabtuch Christi«, »Der Kreuzzug der Kinder«, »Die Stunde der Gerechten«, »Die Säulen Salomons«, »Das Grab des Heiligen«
Und die historischen Romane »Die Geliebte des Propheten«, »Das Geheimnis des Ketzers«, »Die Entdecker«, »Die Sternenburg«, »Die Gottkönigin«, »Die Gesandten des Kaisers« und »Die Hetzjagd«.

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Originalausgabe April 2015

Copyright © 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de, unter Verwendung von istock/Hulton Archiv

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-002-5

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Berndt Schulz

Eine Liebe im Krieg

Roman

dotbooks.

BUCH EINS

1. Kapitel

Berlin, 1939

Maria Lassers Zeigefinger glitt über die Zeilen, als sie die Flugblätter kontrollierte. Einige waren unscharf, bei anderen war der Blocksatz schief. Im Hintergrund des Raums polterte die handbetriebene Druckmaschine und spuckte weiter Blätter aus. Alle hier wussten, dass es Krieg geben würde.

Maria hatte seit zwei Tagen nicht geschlafen. Mit jedem Tag wurde es in der Stadt gefährlicher, einige von ihnen mussten oft das Quartier wechseln. Paul rechnete stündlich mit seiner Verhaftung. Am Morgen hatte der Großdeutsche Rundfunk einen Aufruf der Staatsschutzbehörde gebracht. Jemand hatte mit heiserer Stimme und süddeutschem Akzent gebrüllt, „das Ungeziefer der Piraten und Anarchisten“ müsse endlich zertreten werden.

Maria spürte die Müdigkeit wie einen aufziehenden weißen Nebel. Sie schloss die Augen und legte die Handflächen über ihre Augen, und im gleichmäßigen Lärm der Druckmaschine verschwand für einen Moment die triste Realität des Kellers, in dem es sommers wie winters nach Steinstaub und Feuchtigkeit roch, und ihre Gedanken schweiften ab.

Sie erinnerte sich plötzlich an den Tag ihres Umzugs nach Berlin vor sechs Jahren. Sie hatte damals noch lange am Ruppiner Kanal in der Mark Brandenburg gestanden, und jetzt hörte sie wieder das weiche Dümpeln der Wasseroberfläche, wenn sich die Mücken darauf niederließen und mit ihrer zarten Last einige Kubikmillimeter Kanalwasser zu auslaufenden Ringen wegschubsten. In der Erinnerung roch sie das Wasser, Wind kam vom Rhinluch her auf …

Hier in Berlin roch es dann völlig anders – nach Steinen, Autos und Menschen, und sie mochte das nicht. In den ersten Tagen nach dem Umzug hatte sie mit Kinderblick dem verwirrenden Karussell der Straßenbahnschienen nachgehangen, die sich immer im richtigen Moment zu einer Linie vereinten, aber diese schnurgerade Spur führte sie nicht zurück in das Rhinluch.

„Maria! Was ist mit den Korrekturen? Pennst du?“

Paul war wütend herübergekommen. Sie sah erschrocken zu dem jungen Autoschlosser auf, der mit seiner kräftigen Figur und dem energischen Kinn wie ein Erwachsener wirkte, obwohl er nur zwei Jahre älter war als sie.

„Langsam, Paul, ich bin ja gleich fertig.“

„Wahrscheinlich träumst du schon wieder von deiner romantischen Mark Brandenburg.“

„Ich bin ja hier. Ich arbeite. Siehst du nicht?“

„Der Kurier kommt gleich, und er muss dann sofort wieder weg. Die Flugblätter müssen dann fertig sein.“

„Paul, nerv nicht! Ich mach schon!“

Maria streckte sich, der Rücken tat ihr weh. Trotz des Sommers draußen herrschte hier im Keller ein Halbdunkel, das die Augen anstrengte. Wie er das betont: Deine romantische Mark Brandburg! Als ob wir nicht alle mit Gitarren und Träumen im Kopf raus in die Natur ziehen, das ist ja gerade unsere Sache: mit der Natur gegen HJ und Hakenkreuzscheiß. Aber Paul war schon viel zu verbissen geworden; das machte die Angst.

Maria hörte, wie Rudi hinten zu ihm sagte: „Beim nächsten Mal ist Schluss, dann sind wir dran. Jetzt kann keiner von uns mehr nach Hause. Das wissen alle, und sie verstecken sich in Ruinen, Parks, Gartenbuden, klauen Essen und Waffen. Es wird noch schlimmer werden.“

„Na und? Haben wir das nicht immer gewusst?“, antwortete Paul grob.

Ja, dachte Maria, das haben wir gewusst. Einige von uns hatten sie schon in ihrer Gewalt, und Elisa ist tot, sie war erst vierzehn! Maria schauderte.

Paul und Rudi kamen zu ihr herüber.

„Ich schlage vor, wir verlassen den Keller für drei Tage“, sagte Paul. „Rudi wird den Eingang vom Ruinengrundstück gegenüber beobachten. Wenn alles ruhig bleibt, kommen wir danach zurück. Fürs Erste haben wir genug Flugblätter zu verteilen.“

„Ich übernehme die Schulen“, meinte Maria. „Zumindest in meiner habe ich Zugang zur Bibliothek, ich kann also in jedes vorhandene Buch ein Blatt legen.“

„Aber keine wilden Aktionen, wie Flugblätter in das Foyer der Uni herabsegeln lassen oder so was“, warnte Paul. „Wenn sie einen von uns schnappen, wird er alle anderen verraten. Das haben die Freunde in Köln schon erlebt, und wir können uns das nicht leisten. Dann ist Schluss hier.“

Rudi sagte: „Vor allem brauchen wir jeden. So viele sind wir ja weiß Gott nicht mehr.“ Er war ein blasser, ruhiger Junge, der in Magdeburg das Zuchtmittel des Jugendarrests schon kennengelernt hatte.

Der Kurier kam und ging wieder. Danach leerte sich der Keller nach und nach. Insgesamt acht Gestalten verschwanden im Abstand von fünf Minuten und blinzelten draußen in das blendende Licht des späten Augusttages.

Maria schlenderte zur Robert-Ley-Schule. Es war auch nach dem Umzug nach Hermsdorf ihre Schule geblieben, sie hatte wegen ihres Klassenlehrers Dr. Lottermoser und der am besten ausgestatteten Turnhalle des Bezirks darauf bestanden. Die Fahrten zwischen Wedding und Hermsdorf nahm sie in Kauf, denn sie liebte es, unterwegs zu sein.

In den kalten Gängen der Schule roch es wie immer nach Putzmitteln. An den Wänden hingen gerahmte Hitlerbilder, immer eins nach dem anderen, so als sei die Schulleitung besorgt, dass ein Bild nicht ausreiche, um sich dieses belanglose Gesicht einzuprägen. Die Lehrer, die Maria entgegenkamen, nickten ihr geistesabwesend zu. Als Schulsprecherin war ihr Aufenthalt im Gebäude auch zu ungewöhnlichen Zeiten selbstverständlich.

Sie ging in die Bibliothek und lieh sich einen Kolbenhauer-Roman aus. Als niemand im Raum war, nahm sie schnell die roten Flugblätter aus der neuen Lederaktentasche, die ihr die Mutter zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte, und steckte sie einzeln in die Buchkörper. Atemlos lauschte sie nach draußen. Wenn man sie bei dieser Tätigkeit erwischte, drohte ihr an der Schule mindestens die „vorläufige Fürsorgeerziehung“.

Es gelang ihr, alle dreißig Blätter unterzubringen. Erleichtert strich sie sich über die langen, straff nach hinten gekämmten und von einer Schmetterlingsspange zusammengehaltenen Haare. Sie glättete ihren knöchellangen blauen Rock und steckte die verrutschte weiße Baumwollbluse in den Gürtel. Als sie hinausging, erzeugten ihre flachen Halbschuhe ein klackendes Stakkato im Gang, wo die Sonne schräge Streifenmuster in die von feinem Staub getrübte Luft setzte. Plötzlich taumelte Maria kurz und nahm den Schritt wieder auf. Jemand hatte mal zu ihr gesagt, sie habe einen Gang, als würde sie nach wenigen Schritten hinfallen; sie wusste auch nicht, woher das kam.

Sie verließ die Schule und überlegte, was sie jetzt tun sollte.

Nach Hause wollte sie nicht gehen. Ihre Mutter war krank und schlechter Laune. Und seitdem ihr Vater und Bruder Karl am Bodensee arbeiteten, wo sie einen Vertrieb für ihren Maschinenpark aufbauten, war das Haus in Hermsdorf, das sie jetzt bewohnten, unerträglich leer. Die beiden suchend herumstromernden Katzen verstärkten diesen Eindruck nur noch.

Sie beschloss, den Nachmittag über in der Innenstadt herumzuschlendern. Dort war die Vorstellung, in Gefahr zu sein, leichter zu ertragen.

Sie fuhr mit der S-Bahn aus dem Wedding hinaus zur Friedrichstadt, wo man im Getümmel untertauchen konnte.

Am Hausvogteiplatz standen fünfstöckige Häuser mit dicken Mauern und verzierten Balkonen, die breiten Fassaden mit fetten Firmennamen versehen. Hurwitz und Sohn, Ludwig Jesser, Heine-Würstchen Halberstadt. Über einen Schriftzug in der zweiten Etage – Gebrüder Levy, Blusen und Kleider – war Farbe ausgegossen worden, vor den großen Sprossenfenstern wehten braune Fahnen mit blutrotem Hakenkreuz. Maria konnte es sich nicht verkneifen, einem vorbeifahrenden Lastwagen mit SA-Leuten zuzuwinken. Die Männer johlten und winkten freundlich zurück. Wenn ich euch in die Hände falle, dachte sie, werdet ihr eure Freude an mir haben. Sie erschrak über diesen Gedanken.

Irgendetwas stimmte nicht mehr in der Stadt. In einer aufgerissenen Straße spielten Kinder, ein Eckhaus war wie nach einer Explosion zerstört, die Fenster zersprungen, die Fassade aufgerissen wie ein geschlachtetes Tier. Maria sah die Stadt wie nach einer langen Abwesenheit, hatte plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden, und ging unwillkürlich schneller. Im Café Hurlach trank sie eine Apfelbrause und verschwand auf der Toilette. Als sie wieder herauskam, begegnete sie einer Frau, die sie mit einem Gesichtsausdruck anstarrte, als wollte sie herausplatzen: Dich kenne ich doch! Das weiße Popelinkleid der Entgegenkommenden war auf eine falsche Weise an Schultern und Ärmeln abgesetzt mit Schmuckleisten, und es sah aus, als trüge sie einen Rucksack. Auf der Brust prangte über die ganze Breite eine aufgenähte rote Fliege.

Ein Spitzel, der sich mit Mode tarnt, dachte Maria und ging schnell weiter. Draußen fuhr ein Pferdefuhrwerk der Meierei Bolle mit einer wehenden Reichskriegsflagge vorbei.

Das war das Berlin, das ihr die Mark Brandenburg ersetzen sollte. Plötzlich empfand sie es nicht nur als gefährlich lebendig, sondern als beängstigend. Wo waren die sicheren Verstecke geblieben? Sonst konnte man durch die gewölbten Torbogen der hintereinander geschachtelten Gewerbehöfe von einem Straßenkomplex in den anderen wechseln, als sei alles richtig und an seinem vertrauten Platz. Man hatte bis vor kurzem noch an jedem beliebigen Tag die breiten, geschwungenen Balkone mit der mickrigen Blumenbewachsung und Menschen in Unterhemd und Kittelschürze darauf gesehen.

Sie fragte sich, wo dieser Alltag geblieben war.

Dann wurde sie jedoch wieder mit der Stadt versöhnt. Plötzlich rollten junge Frauen mit gelben Leibchen in Rhönrädern über das Straßenpflaster, und die Passanten klatschten Applaus. Während Werbefiguren auf Stelzen in das Oberdeck offener Doppeldeckerbusse Geschenke verteilten, tauchten Straßenmusikanten mit Pauken und Leierkästen aus den Schatten der Hinterhöfe auf. Das alles geschah beinahe gleichzeitig, und Maria musste nur schauen. Und über allem lag das Hupen, das Rattern der Straßenbahnen, das Flackern der Kinoreklame, aber auch das Gebrüll aus den Lautsprechern, die irgendeine Vergeltungsmaßnahme ankündigten.

Maria hatte plötzlich das Gefühl, allein zu sein. Der Lärm um sie herum verebbte, und hinter der nächsten Straßenecke tat sich erneut das Rhinluch bei Friedental auf. Sie hörte die Frösche quaken, und Wind kam auf …

Brunhilde Lasser bemerkte mit Erstaunen, dass ihre Tochter immer blasser und kleiner zu werden schien. War es nicht eher so, dass sechzehnjährige Kinder wuchsen und vor Kraft strotzten und sie den Eltern imponieren wollten? Hatte es damit zu tun, dass Herbert Lasser nicht mehr zu seiner Familie zurückkehren wollte? Maria wusste davon nichts, aber sie musste es irgendwie spüren. Sie war schon immer ein so empfindliches Mädchen gewesen.

Frau Lasser hatte es aufgegeben, immer darüber in Kenntnis zu sein, was Maria gerade trieb. Ihre Tochter war fleißig und vernünftig, in der Schule die Beste, man konnte sich auf sie verlassen. Aber jetzt war sie schon seit zwei Tagen fort, und Frau Lasser überlegte, was zu tun sei.

In der Küche roch es nach Speck, Zwiebelextrakt, Äpfeln und Maggi. Die legierte Suppe dampfte, aber keine Tochter kam, um sie zu essen. Brunhilde Lasser sah durchs Fenster, wie auf dem Nachbargrundstück die Kinder Hopse spielten. Der Nachbar in kurzen Hosen sprengte die Blumenbeete, seine gepflegte Frau räkelte sich im Liegestuhl und rückte die Sonnenbrille zurecht. Hermsdorf war ein schönes Viertel.

Aber dazu gehörte eine komplette Familie, die das auch zu würdigen wusste. Sie selbst besaß nur eine Restfamilie, und dieser Rest zerbrach nun auch. Daran waren die Weimarer Verhältnisse mit ihrem Unsinn schuld, Inflation und Wirtschaftskrise, Wertverfall, politische Grabenkriege, die die Menschen in falsche Fronten trieben.

Frau Lasser lauschte nach draußen, wo jemand sehr melodisch sang.

Herbert wollte mit den Liberalen nichts mehr zu tun haben, seit Hitler Reichskanzler war. Es war so lange her, seit sie gemeinsam mit dem Wandervogel und den SPD-Freunden unterwegs gewesen waren. Brunhilde musste an das Moseldorf denken, wo sie als junges Ding während des Krieges in der Munitionsfabrik hatte Granaten drehen müssen. War es nicht logisch, dass sie danach gegen jede Art von Krieg und Militarismus eingestellt war? Herbert sah das nicht ein.

Ja, hier draußen ließ es sich trotzdem leben. Die Vorortmenschen spazierten durch Flur und Feld und hatten immer gute Laune. Brunhilde Lasser dachte: Nur nachts schrecken sie vielleicht, ebenso wie ich selbst, aus ihren Kissen hoch und schlagen um sich. Nachts bricht diese heillose Zeit in uns aus. Am Tag, beim ersten Lichtstrahl, befreiten sie sich daraus und sprenkelten Wasser über den Garten und räkelten sich im Liegestuhl, wie die Hefners. Deshalb hatte sie auch den Wedding verlassen. Dort sah man den Menschen vierundzwanzig Stunden am Tag an, dass sie in einer Art Krieg waren, auf der grimmigen Suche nach Essbarem und Tauschbarem. Dort ballten sich auf den Schwarzen Märkten die Klumpen von dunklen Gestalten, so lange, bis die Mannschaftswagen der Überfallkommandos vorfuhren. Maria hatte immer mittendrin gestanden, und ihre Augen waren dabei immer größer geworden.

Als die Suppe im Topf überkochte, schrak Brunhilde Lasser auf. Gleichzeitig sah sie Maria draußen am Fenster vorbeigehen. Gott sei Dank.

Ihre Tochter hatte dunkle Ringe unter den blassgrauen Augen und umarmte sie wie bei jeder Begrüßung. Brunhilde fragte nicht, wo sie gewesen war, stattdessen sagte sie: „Du kommst gerade rechtzeitig zum Essen.“

„Fein“, erwiderte Maria. „Was gibt es denn?“

„Specksuppe und Apfelgratin.“

Maria blickte abwesend. „Die Stadt ist aus den Fugen, das sag ich dir. Was machen sie nur mit uns?“

„Ach, Kind, mach dir doch nicht immer solche Gedanken! Du wirst immer blasser und kleiner. Iss einfach, hab Spaß, triff dich mit deinen Freunden, du bist so jung!“

„Ich bin uralt. Und mit jedem Tag werde ich urälter – ist das nicht ein Grund, traurig zu sein?“

Brunhilde wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. „Iss doch!“, sagte sie und strich mit den Fingern über die weiße Tischdecke.

„Mama? Warum ziehen wir nicht wieder hinaus in die Mark? Ob wir hier in Hermsdorf wohnen oder draußen, das ist doch nun egal, wo Papa weg ist.“

„Aber Maria. Papa kommt doch wieder, und dein Bruder auch. Und er muss bestimmen, wo wir wohnen, er ist beruflich davon abhängig, das weißt du doch.“

„Papa kommt nicht zurück, Mama. Stimmt’s?“

Brunhilde Lasser schüttelte nur den Kopf und schenkte die Suppe aus. „Du bekommst zu viel mit, Maria. Aber selbst wenn es so sein sollte, wie du sagst, dann ist immer noch die Frage, warum wir wieder aufs Land ziehen sollten. Was haben wir in Friedental zu tun?“

Maria legte den Löffel hin. „Das fragst du noch? Da draußen gibt es Sumpfland und Moore, weitverteilte Kanäle im Luch, Vogelschwärme, die den Himmel verdunkeln und ihre Geheimzeichen hineinsetzen. Es gibt Sand und Heide, verkrüppelte Kiefern, die sprechen können, Wasserrauschen, Winkel, in denen alles aufhört, wo alles zu Ende ist. Dort gibt es ...“

„Schon gut. Ich habe verstanden. Und in der Stadt gibt es nichts, was dir das alles ersetzen kann?“

„Klar, gibt es auch. Kreiselspielende Kinder, Hunde und die Sonne auf dem Straßenpflaster. Ich habe es immer gemocht, wenn nachts im Wedding der Brotgeruch aus der Fabrik nebenan herüberkam, das war irgendwie beruhigend, weich und süß, wie Nestwärme.“

„Aber, Kind, das alles kannst du doch auch hier haben. Richte dich hier im Haus ein, wir haben einen so schönen Garten. Hier in Hermsdorf kann uns überhaupt nichts passieren.“

„Hermsdorf ist tot, und passieren wird uns hier noch jede Menge. Warte, ich will dir was vorlesen, damit du begreifst, was ich meine – obwohl ich es selbst nicht so genau begreife.“

Sie kramte ein paar handgeschriebene Blätter aus ihrer Aktentasche und setzte sich in Positur. „Hör zu, was hier steht. Leegebruch, Amalienfelde, Teerofen, die klangvollen Namen früherer Zeiten, schön waren auch die Vogelschwärme zu Seetz. Und Bernau statt Berlin, mit der Schulzenaue im Hinterland. Das waren noch Zeiten, als das Dorf Amtsfreiheit bei Altlandsberg Licht auf die Geschichte der Preußen warf, als auf der Hirschfelder Heide noch die Vierzehnender röhrten und in Paaren nördlich vom geschäftigen Nauen sich die Liebenden in Scharen im Stadtforst vereinigten. Lange her das Flanieren am Charlottenhof, und in Knoblauch wie in Saugarten das Schlemmen, und an den Rauhen Bergen in der Zauche die Freiheit des Urstromtals. Alle ihr Schönorte im Grauwinkel, lebt endlich!

„So was gefällt dir?“

„Klar. Habe ich doch selbst verfasst.“

Frau Lasser sagte ärgerlich: „Maria, mach was Vernünftiges aus dir!“

Maria lachte plötzlich so ausgelassen wie schon lange nicht mehr. „Darauf kannst du dich verlassen, Mama!“

„Aber das da, das gefällt mir nicht, das ist mir zu verschwärmt.“

Ihre Tochter vollführte eine wegwerfende Geste. „Na, dann eben nicht.“

„Ab ins Konzertlager! Wer nicht hören will, muss fühlen!“

Konzertlager? Konzertlager. Maria hörte den Ausdruck zum ersten Mal und konnte nichts damit anfangen. Was meinte der Metzger damit?

„Nein, nein“, sagte Frau Hefner. „Er ist ja willig, und nun, wo er zehn ist, geht er ins Jungvolk der HJ. Er weiß, dass er das muss, also macht er es auch. Von Ihrem Konzentrationslager will ich nichts wissen – für einen Zehnjährigen, na hören Sie mal!“

„Warum denn nicht? Wer nicht hören will, muss fühlen!“

Ärgerlich packte Frau Hefner ihre halbe Salami und verließ grußlos die Pferdemetzgerei. Maria war dran. Wohlgefällig ruhte der Blick des Metzgers auf ihrer Bluse. „Und was wollen wir, junge Dame?“

„Zwei Scheiben Leber und ein kleines Schnitzel. Die Mutter will heute was Besonderes kochen.“

„Na, das ist recht. Und der Herr Papa? Wann kommt er denn nun?“

Maria zuckte zusammen. „Ich weiß nicht genau. Irgendwann. Wir warten schon auf ihn.“

„Ein so aufrechter Mann! Richtige Gesinnung! Und sicher auch ein gerechter Vater, wie?“

„Ja, irgendwie schon. Aber er will, dass der Bruder am Bodensee den Betrieb aufbaut. Der Karl geht dann nicht mehr zum Jungvolk.“

„Was? Na, das ist schade! Wir brauchen jeden. Ich selbst war Oberrottenführer – eine schöne Zeit. Kannst du die Dienstgrade aufsagen, Maria?“

Maria schüttelte stumm den Kopf.

„Rottenführer, Oberrottenführer, Kameradschaftsführer, Oberscharführer, Gefolgschaftsführer, Hauptgefolgschaftsführer, Stammführer, Bannführer, Hauptbannführer, Obergebietsführer ...“

„Und noch ein Stück Sülze. Die scharf gewürzte, bitte.“

„Was? Ach so ...“

„Wissen Sie, ich kenne mich nicht so aus, ich bin ja nur ein Mädchen.“

„Und bereitest dich auf eine schöne Rolle im BDM vor, stimmt’s? So, hier ist alles, macht genau eine halbe Reichsmark. Und schönen Gruß zu Hause!“

Maria wurde es mit jedem Tag verhasster, sich zu verstellen. Aber jeder musste sich verstellen.

Und das war auch kein Wunder in diesem Alltagsklima, wo alles durchorganisiert werden sollte. Selbst die Kinder trugen nun schon Uniform und Ehrenabzeichen. Es gab Sommerdienstanzüge, Sportanzüge, Winterdienstanzüge mit und ohne Regenumhang und für Festlichkeiten den großen Dienstanzug mit Schärpe. Selbst bei Fahrten und Geländespielen trugen die Kinder Uniformen, vielleicht deshalb, weil sie darin besser gegen die Eltern aufgehetzt werden konnten. Maria weigerte sich standhaft, so was zu tragen. Selbst nachdem ein Fähnleinführer im Haus einmarschiert war und gefragt hatte, warum sie noch immer Räuberzivil trug, behielt sie ihre Vorliebe für lange Röcke und luftige Blusen bei. Wenn sie genau überlegte, war es vielleicht genau dieser Kleiderzwang, der sie rebellisch gemacht hatte.

Nein, das stimmte nicht ganz. Es waren auch ihre Lieder. Dieses etwa: Vorwärts, vorwärts, schmettern die hellen Fanfaren, vorwärts, vorwärts, Jugend kennt keine Gefahren. Deutschland, du musst leuchtend steh’n, müssen wir auch untergeh’n! Was für ein hirnverbrannter Text, alles daran war hirnverbrannt. Maria mochte lieber die Wandervogellieder. Wenn die bunten Fahnen wehen ... Hohe Tannen weisen die Sterne ... Oder: Weißt du, Mutter, was ich geträumt hab? Ich hab ins Zuchthaus reingesehen, da sah ich unseren lieben Vater mit anderen drin spazieren gehn. Er durfte mich nicht einmal grüßen, ward streng bewacht zu jeder Zeit: nur ein paar Tränen sah ich fließen auf sein gestreiftes Zuchthauskleid ...

Maria mochte auch kein Gebrüll – Befehl ist Befehl! –, mochte nicht die ständigen Disziplinierungen und Bestrafungen wie Hordenkeile, nicht das Gerede von unehrenhaftem Handeln, nicht das Strammstehen und Exerzieren, nicht das schiefe Grinsen und die Seitenblicke von früh Gealterten. Sie mochte es überhaupt nicht, wenn sie sprachen – als ginge es im Leben nur um Auftrag und Gehorsam.

Als sie am Elternhaus ankam, stand ihre Mutter schon in der Tür und machte ihr ein Zeichen. Maria schwante nichts Gutes, und sie formte mit den Lippen die stumme Frage: Was ist denn? Die Mutter winkte, sie solle schnell kommen.

Im Haus erwartete sie jedoch nur ein grüner Brief. „Von der Gebietsführungsstelle“, sagte Brunhilde Lasser. „Mach schnell auf.“

„Ich kann mir schon denken, was sie wollen.“

Sie riss den Brief auf und las ihn. Es war, wie sie angenommen hatte: Nachdem sie einer Vorladung zur HJ-Bannführung nicht nachgekommen war, lud die nächsthöhere Stelle sie nun vor. Wenn sie nicht erschien, würde man sie unehrenhaft aus dem Jungvolk ausschließen.

„Wäre mir eine Ehre“, meinte Maria. „Schließt mich doch aus, das wird mein schönster Tag.“

„Aber Maria“, sagte die Mutter entsetzt, „das gibt doch nur Ärger!“

„Na klar. Sie werden es der Schule melden, und dann darf ich keine Sprecherin mehr sein.“

„Du bist kein Vorbild für deine Mitschüler, Maria. Geh doch hin. Es kostet doch nicht viel Überwindung.“

„Einen Grund gibt es tatsächlich. Ich werde mir die Sache überlegen.“ Ihr war der Gedanke gekommen, dass sie dann nicht mehr in die Bibliothek konnte, wann sie wollte.

„Und welcher?“

„Ach nichts. Reden wir lieber von etwas anderem, Mama. Ich werde mir das Ganze noch einmal überlegen.“

„Ich verstehe sowieso nicht, warum du so renitent bist. Was hast du gegen HJ und BDM?“

Maria sah ihre Mutter ungläubig an. „Das fragst du mich? Findest du etwa toll, was da abläuft?“

„Es ist doch gar nicht die Frage, ob ich etwas toll finde oder nicht. Die Gesetze sind so, also habe ich mich danach zu richten. Ihr jungen Leute denkt, ihr könnt eure eigenen Regeln durchsetzen. Das ist noch nie gutgegangen.“

„Ich will das, was ich tue, einfach freiwillig tun. Das ist alles.“

Am Abend fuhr sie mit der S-Bahn in die Stadt, um Paul und Rudi zu treffen. Sie hatten verabredet, im Schillerpark spazieren zu gehen.

Am Eingang des Parks lümmelten einige Heranwachsende herum, einige der Gesichter waren Maria noch geläufig aus der Zeit, als sie selbst im Wedding wohnte. Sie waren inzwischen wohl über achtzehn und ihre Zeit beim Reichsarbeitsdienst war beendet. Irgendwie schienen in Berlin alle Jugendlichen auf ihre Einberufung zur Wehrmacht zu warten.

Paul sagte später, als sie zu dritt auf einer Bank saßen: „Sie könnten sich UK stellen lassen, denn die meisten arbeiten sowieso in Rüstungsbetrieben, aber sie wollen gar nicht unabkömmlich sein, sie wollen in den Krieg. Ist das zu fassen?“

Es wurde kühl. Maria zog sich ihre kurze rote Windjacke über die weiße Bluse und den Faltenrock, Paul und Rudi streiften ihre dunkelblauen Manchesterblousons über die bunten Hemden. Maria fiel auf, dass Rudi am rechten Handgelenk ein Kraftriemchen mit einem Totenkopfemblem trug.

„Was ist denn das?

„Das trägt man bei den Navajos.“

„So, und wer sind wohl die Navajos?“

Rudi blickte stolz. Plötzlich sang er laut: „Von all unsern Kameraden war keiner so lieb und so gut als unser kleiner Trompeter, ein lustig Rotgardistenblut ...“ Dann lachte er glücklich.

„Mensch, Rudi, sing leiser, sonst haben wir das Pack auf dem Hals. Die dahinten gucken schon.“

„Die sind harmlos“, sagte Maria. „Die kenne ich von früher. Jürgen Schwan, Manfred Mücke, Günter Acker ... harmlose kleine Bestien ...“

„Die Navajos sind Indianer aus Moabit, Schwester. Manche tragen Spitznamen, die sie von untergegangenen Völkern wie den Maya herleiten – Aicab, Chak, Chan-Bahlum. Die meisten von uns haben schon Geldstrafen von fünfzig Reichsmark oder sogar drei Wochen Knast hinter sich, weil sie gegen die Polizeiverordnung zum Schutze der Jugend verstoßen und sich nach einundzwanzig Uhr getroffen haben.“

„Und geraucht haben und Bier getrunken haben und Gitarre gespielt haben und nach neun noch im Kino waren“, ergänzte Paul.

Maria fragte: „Wer sind die Maya?“

„Puh. Weißt du gar nichts? Na, macht nichts. Das ist ein altmexikanisches Volk, Schwester. Es wurde unterdrückt und ausgerottet, aber sein Freiheitsdrang hat überlebt. Sie haben alles verloren, alle ihre Schriften wurden verbrannt, und sie gerieten völlig in Vergessenheit, aber jetzt sind sie wieder da. BBC London berichtet, dass man endlich ihre alten Städte gefunden hat, sie heißen Palenque, Tikal und so. Mann, wenn ich da hinfahren könnte!“

Maria hörte aufmerksam zu. Sie beschloss, sich ein Buch über diese Maya zu besorgen, denn sie hatten einen schönen Namen. Maya, das klang poetisch und rätselhaft – und sehr weit weg. „Wann werden wir uns wieder im Keller treffen, Paul?“, fragte sie. „Mir juckt es in den Fingern. Ich muss wieder was tun.“

Paul wiegte den Kopf. „Die Vera hat mir gestern ein bisschen Angst eingejagt. Sie hat gesagt, am Abend seien zwei verdächtige Gestalten um das Grundstück herumgeschlichen. Können auch harmlose Schwarzhändler gewesen sein, aber wir sollten vorsichtig sein. Vera will jedenfalls noch einen Tag länger vom Grundstück aus beobachten, was sich tut. Wenn die Luft rein ist, machen wir sofort weiter.“

„He, wie wär’s, wenn wir mal an was anderes dächten?“, warf Maria ein. „Bis die Arbeit wieder losgeht, könnten wir eine Dampferfahrt machen. Wir steigen in Jungfernheide ein und fahren bis nach Kuhle Wampe. Das Wetter ist so schön.“

„Ich weiß nicht.“ Paul blickte unsicher.

„Klasse, das machen wir! Am besten gleich morgen in aller Herrgottsfrühe. Ich sage noch ein paar anderen Bescheid.“ Rudi war immer schnell zu begeistern.

„Also, einverstanden?“

„Gut, Maria. Wer weiß, wann wir so was wieder machen können“, meinte Paul.

Oder ob überhaupt, dachte sie.

Am nächsten Morgen war wie auf Bestellung herrliches Wetter. Als Maria, Paul und Rudi das Schiff der Weißen Flotte Siemens bestiegen, trafen sie die Nerother Kameraden, alle zwischen vierzehn und achtzehn Jahre alt. Rudi war begeistert, seine Navajos zu sehen. „Irgendwie denken wir immer dasselbe, auch ohne Verabredung“, rief er begeistert.

Paul hatte Maria untergefasst, der junge Autoschlosser mochte sie und versuchte, in ihrer Nähe zu bleiben. Maria ließ sich gern einhaken und führen und machte sich keine Gedanken über Pauls Absichten. Man kann ja reden, sagte sie sich, wenn Konflikte mit zudringlichen Jungen auftauchen.

An Bord des Schiffs waren auch gewöhnliche Ausflügler, Familien und Paare. Die kleine Gruppe um Maria saß auf der Achterterrasse zusammen, wo die Berliner Fahne wehte. Sie fühlte sich in der auffällig gekleideten Clique so wohl wie im Schilf des Ruppiner Kanals.

Die Jungen trugen kurze Lederhosen, weiße Umlegesocken, kariertes Hemd, manche hatten einen weißen Pullover um die Schultern gelegt, andere weiße Schals. Alle hatten längere Haare, als es bei der HJ Vorschrift war. Die Mädchen trugen ebenfalls kurze Hosen, weiße Socken und Kletterwesten oder rote Windjacken wie Maria. Alle besaßen in der linken Socke einen Kamm, in der rechten ein Fahrtenmesser. Das Edelweißzeichen steckte am Revers, bei einigen entdeckte Maria auch bunte Stecknadeln. Sie waren in einer bestimmten Reihenfolge angebracht, was die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe bedeuten sollte.

Als sie fuhren, holten einige der Nerother ihre Gitarren heraus und sangen. Wir sind Kameraden vom Trampen und von Fahrten, und ein kleines Edelweiß soll unser Zeichen sein. Maria kannte das Lied der Bündischen Jugend natürlich und sang es aus voller Kehle mit.

Später erzählte man sich, wie viele junge Leute inzwischen verhaftet worden waren und von der Gestapo festgehalten wurden.

„Was können wir bloß gegen diese Entwicklung unternehmen?“, fragte Paul.

Ein Junge mit schrecklichen Pickeln auf den Wangen sagte: „Wir sind ziemlich sicher, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis auch unsere Gruppe zerschlagen wird. Trotzdem wollen wir uns auf jeden Fall weiter treffen. Zusammenhalten ist das Wichtigste.“

„Sollen wir nicht aufhören davonzulaufen? Warum schlagen wir nicht zurück?“

Alle sahen ein dünnes Mädchen mit Sommersprossen an. Sie war höchstens fünfzehn. „Na, schaut nicht so. Ich bin kein Baby mehr. Und meine Eltern sitzen inzwischen in Sachsenhausen.“

„In Sachsenhausen!“ Maria schaute empört.

„Ja, das KZ! Weißt du nichts davon? Sie haben es vor ein paar Jahren eingerichtet für politische Häftlinge. Der Dichter Erich Mühsam ist da ermordet worden.“

„Ich weiß. Ich bin da in der Gegend aufgewachsen.“

Das Mädchen sah Maria mitleidig an.

Paul ergriff das Wort. „Zurückschlagen ist Blödsinn. Wir sind Pazifisten, oder etwa nicht? Außerdem haben wir gegen sie sowieso keine Chance. Vielleicht … ich überlege das seit einiger Zeit … vielleicht … also steinigt mich nicht, aber ich denke, wir müssten uns mit ihnen arrangieren. Dann stellen sie die Verfolgungen vielleicht ein. Denkbar ist sogar, in die SA einzutreten, dann können wir auf Fahrt gehen, und wenn sie uns anhalten, zeigen wir unsere SA-Ausweise vor, und sie können uns nichts anhaben ...“

„Und die Woche über säufst du ihre braune Pisse? Nee, danke!“

„Außerdem wäre das die Haltung, die unsere Eltern schon bei der Machtergreifung dieses Schickelgrubers, ähm, Hitlers eingenommen haben. Erinnert ihr euch? Sie hofften, dass man sie einfach in Ruhe lassen würde, weil sie ja keinerlei politische Ziele verfolgten. Wir wissen, wohin das führte.“

Maria sah den Sprecher interessiert an. Der Junge blickte kühn, aber unsicher und besaß zarte, schlaksige Glieder. Sein Mund war weich. Sie wollte etwas sagen, spürte aber, wie eine Hitzewelle ihr in den Kopf schoss.

Der Dampfer glitt ruhig tuckernd dahin, kreischende Möwen stießen hungrig auf sie nieder, die Sonne wärmte. Maria fühlte sich leicht und glücklich.

An der Anlegestelle Müggelsee erwarteten sie schlechte Nachrichten. Jemand erzählte, Hitler hätte am Morgen seiner Armee befohlen, die polnische Grenze bei Gleiwitz zu überschreiten. In einer Rede habe er gesagt: Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen! Da war er, der befürchtete Krieg.

Mit einem Schlag war die gute Stimmung unter den jungen Leuten dahin. „Jetzt geht es los“, flüsterte Rudi. „Wir werden alle an der Front verrecken.“

„Nein!“ Maria war aufgestanden. „Das können sie mit uns nicht machen. Wir werden gegen ihren Krieg Widerstand leisten. Nicht wahr, Paul?“

Paul sah sie liebevoll an. Alle sahen die Verehrung in seinem Blick. „Natürlich, Maria.“

Sie verbrachten noch einen ruhigen, aber nicht entspannten Nachmittag am See. Alle badeten und sonnten sich, die Gitarren blieben jedoch stumm. Jeder dachte an das, was nun geschehen würde. Krieg! Ein böses Wort. Und ein noch böseres Tun. Aber niemand von ihnen konnte so richtig ermessen, was es wirklich bedeutete.

Maria nahm eine der Gitarren in den Arm und ließ den Daumen langsam über die sechs Saiten laufen.

Zwei Tage später bezogen die Edelweißpiraten wieder ihre Druckwerkstatt im Keller des Abrisshauses Liebenwalder Straße. Jetzt stellten sie Flugblätter her, in denen Hitler als Kriegstreiber bezeichnet wurde, der Europa ins Verderben stürze. Drei Wochen lang arbeiteten sie unermüdlich.

Maria hatte inzwischen ihre unehrenhafte Entlassung aus dem Jungvolk erhalten. Ihre Schulausbildung wurde auf Eis gelegt. Als sie versuchte, eine kaufmännische Lehre bei der AEG anzutreten, verweigerte ihr der zuständige Bannführer die Bescheinigung für die Werks-HJ.

„Und was jetzt?“, fragte ihre Mutter.

„Jetzt fange ich zu leben an.“ Maria fasste die Mutter um die Taille und drehte sie im Kreis.

„Ach, Mädchen, wohin soll das noch führen?“

Sie ließ sich nun kaum noch zu Hause blicken, sondern genoss die Zusammenkünfte mit den Jungen und Mädchen von den Nerothern, den Mayas und den Navajos. Einer brachte immer eine Gitarre mit. Sie spielten und sangen so viel, dass ihnen gar nicht auffiel, wie wenig sie noch sprachen. Aber ihre Lieder wurden unwillkürlich zum Widerstand, einfach deswegen, weil sie eine frohe Stimmung verbreiteten. Schwierigkeiten mit den HJ-Streifendiensten bekamen sie in dieser Zeit nicht.

Aber das sollte sich ändern.

Am Wochenende trafen sich Maria, Paul, Rudi und die anderen sechs Mitglieder der Gruppe Wedding der Edelweißpiraten – das waren Schmiedchen, Kurti, Jan, Bomme Rosinski, Vera und Zicklein – wieder in ihrem Keller.

Kurti las mit seiner Fistelstimme vor: „Die Bündische Jugend ist in allen ihren Erscheinungsformen reichsgesetzlich verboten. Bündische Betätigung ist staatsfeindliche Betätigung. Voraussetzung für die Bekämpfung der Bündischen Jugend ist, dass man sie erkennt ...“

„Na kiek mal an ...“

„Is ja doll ...“

„... ihre Haltung ist lausig, unordentlich, unsauber, Haare und Kleidung sind ungepflegt ...“

„Ick hab dir ja jesacht, du sollst dir waschen, Schmiedchen ...“

„... die Kopfbedeckung besteht häufig aus zerschnittenen Hüten und merkwürdigen Käppchen aller Art, geschmückt mit einer Unzahl von Abzeichen, Plaketten, Federn. Als Schuhe tragen sie Bundschuhe oder Schaftstiefel mit sehr kurzer Hose, die oft mit Troddeln versehen ist. An sonstiger Bekleidung sind karierte Hemden und bunte Halstücher hervorzuheben ...“

Jan pfiff anerkennend. „Mensch, wat für’n juter Jeschmack!“

Maria freute sich über die gute Stimmung im Keller. Trotz der drohenden Wolken über ihren Köpfen war die Gruppe bester Dinge. „Wer uns bekämpfen will, muss uns er-ken-nen!“ Sie betonte das letzte Wort und wiegte sich in den Hüften. „Unser Gesamteindruck ist un-ein-heit-lich!“ Wieder machte sie ein paar Schritte in der Art von Modeschönheiten, und Bomme Rosinski pfiff anzüglich. „Deshalb ist ein Einschreiten mit Vorsicht an-zu-ra-ten!

Paul unterbrach sie: „Jetzt lasst uns ernst werden. Wir haben viel zu tun. Und außerdem bezweifle ich sehr, Kurti und Maria, dass die Maßnahme des Reichsführers SS und Chef der deutschen Polizei vom 20. Juli so witzig ist. Sie bringt uns jetzt, wo Kriegsrecht herrscht, in echte Schwierigkeiten. Wer uns jetzt erwischt, bekommt einen Orden, und seine Familie bekommt monatlich einhundert Reichsmark als Judasgeld. Das wird die Spießer auf Trab bringen.“

„Wisst ihr übrigens schon, dass BBC London über die Berliner Edelweißpiraten berichtet hat? In ihrer Sendung haben sie gesagt, wir sind stark genug, um Himmler in einem kritischen Augenblick große Schwierigkeiten zu bereiten. Und dass wir frische Luft, Freiheit und Wahrheit in unserem Leben wollen. “

„Nee, mach Sachen!“

„Na klar. Sie haben auch angekündigt, zukünftig alle Fliegerangriffe auf deutsche Städte vorher anzukündigen, damit unschuldige Zivilisten sich retten können.“

„Verdammte Scheiße, müssen wir denn mit Luftangriffen rechnen?“

„Noch nicht – aber bald. Oder glaubst du wirklich, was die Nazis verkünden? Dass sie bald die Weltherrschaft haben? Ihr werdet sehen, in einem Jahr, wenn ihre Blitzkriege vorbei sind und die großen Mächte in den Krieg eingreifen, dann geht es uns hier schlecht.“

„Falls wir bis dahin überhaupt noch am Leben sind und nicht in irgendeinem Schützengraben an der Ostfront oder Westfront verrecken.“

„Wieso denn Westfront?“

„Als Nächstes sind Belgien, Holland und Frankreich dran. Luxemburg sowieso. Es geht nach allen Seiten.“

Zicklein spuckte aus. Das dünne Mädchen mit den ungelenken Gliedern sprach aus, was alle dachten: „Diese größenwahnsinnigen, gottverdammten Arschlöcher!“

Maria dachte: Sie bringen uns alle um. Was können wir nur tun?

***

„Sie waren vormals alle ordentliche Mitglieder der Hitlerjugend, wie es das Hitlerjugendgesetz anordnete. Jungen und Mädchen, hauptsächlich proletarisch. Sie bilden eigene Gruppen, gehen mit diesen Gruppen heimlich und ohne Wissen der offiziellen Stellen auf Fahrt und halten Zusammenkünfte ab, auf denen sie die alten verbotenen Lieder der Bündischen Jugend singen. Zum ersten Mal hörten wir von ihnen, als bei einem Konzert der Donkosaken die Angehörigen aller verbotenen Gruppen der Bündischen Jugend in ihren zensierten Bundestrachten auftauchten und die verbotenen Kosakenlieder sangen. Bald sind sie dazu übergegangen, in den dunklen Abendstunden Hitlerjugendführern aufzulauern und sie zu verprügeln, Demonstrationen gegen unsere Parteiführer zu organisieren, ja sogar Waffenlager auszuräumen und Sabotageakte zu organisieren ...“

„Also die ganze Palette?“

Der Referent in SA-Uniform nickte. „Kriminell.“

Jemand in Zivil sagte: „Wie konnte das entstehen und sich ungehindert entwickeln? Haben wir geschlafen?“

Der SA-Mann schüttelte energisch den auffallend eierförmigen Schädel. „Unsinn! Sie sind ja in unserem Blickfeld. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Vor einem Vierteljahr gab es eine Zusammenkunft – Studenten, Abiturienten und Lehrlinge im Alter von siebzehn bis zweiundzwanzig Jahren, teils aus dem Deutschen Jungvolk, teils aus der Hitlerjugend als untere oder mittlere Führer, einige aus dem NS-Studentenbund, ein paar vor dem Eintritt in den Reichsarbeitsdienst. So. Sie kommen aus proletarischen oder bürgerlich-intellektuellen Kreisen des Reiches. Viele Mädchen dabei. Sie alle waren einmal führend in der Bündischen Jugend. Sie treffen sich also, wie sie glauben, geheim. Sie tragen bestimmte Erkennungszeichen, beispielsweise schwarze Kleidung oder ein Fragezeichen auf ihren Koppelschlössern. Sie nennen sich Die Mayas, Die Navajos, Der Orden oder auch insgesamt: Edelweißpiraten ...“

„Geschmeiß-Edelweiß!“, rief einer der Anwesenden, ein blasser Mann im grauen Anzug mit runder Brille, erregt. „Endlich ausmerzen, Ley!“

Der Angesprochene nickte. „Gewiss. Aber hören Sie weiter, Volksgenosse. All diese Verschwörer, die sich unbeobachtet wähnen, die mit der Gruppe Sozialistische Nation Kontakt aufgenommen haben und sich inzwischen Grauer Kreis nennen, formulieren Thesen und geben eine Schriftenreihe der Jungen Nation heraus. So. Jetzt wird es interessant. Sie beschließen, sich nicht nur auf die negative Kampfstellung gegen die HJ zu verlassen, sondern durch Aufnahme parteifreier, aber sozialistischer Ideale einen Schritt weiterzugehen. Es entstehen Satzungen, Vierteljahresprogramme, Broschüren mit Titeln wie Gemeinschaft und Individualismus, Freiheit und Führertum, Vereinigte Staaten von Europa ...“

„Das ist unerträglich!“

Der Redner leckte sich die Lippen. „Sie suchen auf eigenen Umwegen nach einem Ausweg aus unserer völkischen Realität. Und sie machen nicht halt beim Diskutieren. Sie bereiten sich auf den Hochverrat vor. Und damit sind die Edelweißpiraten so gefährlich wie die Kommunisten. Aber woher wissen wir das alles? Nun, wir beobachten sie seit zwei Jahren Tag und Nacht. Und glauben Sie mir, keiner wird entkommen.“

Jemand am ovalen Tisch sagte aufgeregt: „Aber warum greifen wir nicht zu, Ley? Warum zerschlagen wir das Geschmeiß nicht, das können doch nur ein paar versprengte Wahnsinnige sein, eine Clique unbeaufsichtigter Kinder. Da sind wir doch mit ganz anderen fertig geworden. Wir haben am 4. Februar 1936 die Gruppen und Vereine der Bündischen Jugend aufgelöst, der Reichsminister und Preußische Minister des Inneren hat mit Erlass III P. 3701/24 den Widerstand gebrochen. Also, worauf warten wir noch?“

Jemand warf ein: „Sind wir ehrlich, Himmler hat schon einigen Unsinn verzapft. Ob es sinnvoll war, die Bündische Jugend zu verbieten und so Märtyrer zu schaffen – ich weiß nicht.“

Reichsleiter Ley winkte ab. „Ganz so einfach ist es sowieso nicht. Wir haben es inzwischen mit einer sich über das ganze Reichsgebiet ausbreitenden, rebellischen Aktion von Jugendlichen zu tun. Unsere Staatssicherheit spricht von rund zehn Prozent der HJ. Wissen Sie, meine Herren, wie viele das wären? Rund achthunderttausend junge Deutsche, Mädels und Jungen.“

Reichsjugendführer von Schirach trommelte mit den Fingern auf die glänzende Tischoberfläche. „Ist das ernst zu nehmen, Ley?“

„Ich befürchte es.“

„Mmh.“

„Es sind allerdings mannigfaltige Gruppen, deren politischer Reifegrad sehr verschieden ist. Manche sind tatsächlich nur Spinner, die in der Natur spazieren gehen und Gänseblümchen sammeln. Was diese Wirrköpfe auszeichnet, ist, dass sie alle Verbindungen zu politischen Ideologien ablehnen und den Erwachsenen misstrauen. Ihre einzige Rahmenideologie ist die geheimbündlerische Renaissance alter Traditionen der deutschen revolutionären Jugendbewegung vom Anfang des Jahrhunderts. Insofern sind sie eben auch schwer zu orten.“

„Ach Quatsch, das sind doch alles Rote!“

„Langsam! Wenn wir effektiv sein wollen, müssen wir auch effektiv denken. Also – ihr Versuch der letzten Monate, innerhalb der deutschen Staatsjugend Zellen für eine Sabotagearbeit herauszubilden, macht sie anfällig. Das muss schließlich mit allem Drum und Dran organisiert werden. Sie haben dafür einige oppositionelle HJ-Führer gewonnen, mit denen sie sich sogar Anfang dieses Jahres in Paris zu einem Kongress getroffen haben. In Paris! Diese Leute werden seitdem natürlich aufwendig beobachtet. Wir werden bald in der Lage sein zuzugreifen. Und wenn wir erst mal die Mädels haben, machen auch die Jungens schlapp. Die Mittel haben wir.“

Jemand lachte. Der Reichsjugendführer sagte: „Ich unterzeichne alle notwendigen Maßnahmen, nur machen Sie um Gottes willen schnell, Ley. Bis wir mit den Polacken fertig sind, müssen wir das Problem mit dem inneren Widerstand beseitigt haben, sonst kämpfen wir an zwei Fronten.“

„Reichsjugendführer, Sie haben mein Wort. Bis spätestens zum Jahresende ist dieses Pack in unseren Kellern gelandet. Und dann ergeben sich interessante Experimente.“

„Na, so was will ich nicht hören, Ley! Wir sind schließlich keine Barbaren! Wir haben einen erzieherischen Auftrag“, meinte von Schirach.

Der Angesprochene stemmte die Arme in die Hüften. „Schnell, gründlich und geräuschlos, Herr von Schirach.“

Der Reichsjugendführer sah müde aus, sein fleischiges Gesicht war grau, aber seine Stimme bellte: „Dann machen Sie Schluss damit! Und über diese Zusammenkunft hier wird kein Protokoll angefertigt, es hat sie ebenso wenig gegeben, wie es diese Kinderbande offiziell nicht gibt, verstanden?“

***

In den folgenden Wochen geschah etwas Seltsames. Maria bemerkte, wie immer mehr von ihren Freunden einfach verschwanden, als hätte sie der Erdboden verschluckt. Nach und nach erfuhr sie, dass sie eingezogen, in Polen oder Rumänien gefallen, vermisst, verwundet oder in Gefangenschaft geraten waren. Sie begriff, dass sie in ihrer Begeisterung für den Widerstand die wirklichen Probleme, vor allem die der männlichen Edelweißpiraten, nicht gesehen hatte. Denn wie auch immer sie zum Krieg standen, sie mussten an die Front.

„Wie können wir diesen Krieg überleben? Wie können vor allem die Jungens ihn überstehen, die zur Wehrmacht müssen?“ Maria sah Paul verzweifelt an.

Der war bleich und sagte: „Wenn man sich nicht als Soldat verheizen lassen will, dann muss man in den Untergrund gehen, Sabotage betreiben.“

„Du hast vor wenigen Wochen noch ganz anders gesprochen.“

„Das stimmt. Aber die Lage ändert sich auch mit jedem Tag. Jetzt sind alle erfasst, und der Krieg wird sich ausweiten. Wir sind alle als Kanonenfutter bestimmt.“

Maria wusste bald nicht mehr ein und aus. Sie merkte, dass auch die besonnenen Köpfe unter ihren Kameraden verzweifelt waren. Fahrten und Musik waren kein Ausweg mehr. Jetzt wurde es wirklich ernst.

Sie hatte inzwischen eine Stelle in einer Lehrwerkstatt bei Siemens-Schuckert bekommen, was vor allem ihre Mutter freute. Aber der Betriebsobmann wusste, dass sie aus dem Jungvolk ausgeschlossen worden war, und informierte den Ausbildungsleiter, einen aktiven Parteigenossen des Nationalsozialistischen Kraftfahrer-Korps.

Alle behielten den weiblichen Starkstromelektriker-Lehrling Maria Lasser im Auge.