Als es die irische Meeresbiologin und Umweltschützerin Orla auf eine einsame Insel im Atlantik verschlägt, beginnt für sie eine Robinsonade mit unabsehbaren Folgen. Familie und Bekannte verlieren jede Hoffnung, weil sie vermuten, Orla sei ertrunken.
Einzig ihr Freund, der Gärtner Manfred, glaubt, dass Orla ihr Leben nicht verloren hat.
Sabine Reber zeigt in atmosphärisch dichten Schilderungen, wie das Meer mit seinen abrupten klimatischen und metereologischen Veränderungen den Menschen zum Objekt der Natur werden lässt. Während Manfred auf Orla wartet, gestaltet er mit großer Kunst einen neuen Garten, in fester Hoffnung, sie werde wieder lebendig auftauchen. Wird sie wiederkehren?
Sabine Reber (*1970 in Bern) studierte in Fribourg Journalistik und Kommunikationswissenschaft. Von 1996 bis 2004 lebte sie in Irland. Sie ist vor allem durch ihre Gartenkolumnen und ihre Gartenbücher in Deutschland und in der Schweiz bekannt geworden. Gegenwärtig lebt sie in Biel.
Sabine Reber
Im Garten der Wale
Roman
Elster Verlag · Zürich
1 Das Meer ist grau
2 Mary ruft an
3 Dreieckige Schatten
4 Der Aufpasser
5 Ein Bett aus Algen
6 Ein Bus mit Zähnen
7 Der letzte Einsatz
8 Die Ausserirdischen
9 Der irische Moby Dick
10 Wenn die Erde flach wäre
11 Im Regen singen
12 Bis die Seebeine wachsen
13 Ein toter Fisch
14 Spuren verwischen
15 Hinter den Felsen
16 Immer im Kreis herum
17 Die Notoperation
18 Bier aus der Flasche
19 An Bord der Grainne
20 Die Goldfische
21 Tausend kleine Verluste
22 Fähige Partner
23 Abrupte Wetterwechsel
24 Wurzeln auf der Werkbank
25 Der Neue schläft oben
26 Garten ohne Georg
27 Gelbe Füße
28 Der Hochzeitstag
29 Direkt in die Tanks
30 Eine Salzrose
31 Die Gaffer
32 Zeichne mir ein Ohr
33 Ein Lichtstreifen am Horizont
34 Father O‘Donnell singt
35 Der zweite Halbmond
36 Mit dem Bug voran
37 Die blaue Rose
Dank
Impressum
… an island far away to the West and South. lt is not down in any map; true places never are.
Herman Melville
Windböen der Stärke acht fegten über den Atlantik. Die FASTAKAST kämpfte sich durch meterhohe Wellenberge. Nebelschwaden zogen vorbei. Regen und Gischt peitschten auf das Arbeitsdeck und wuschen das Blut weg, das aus den Köpfen der Orcas sickerte. Sie lagen auf einem Haufen am Bug. Es waren drei Muttertiere und fünf Junge gewesen. Sechzehn Augen starrten ins Leere. Orla hätte sie gerne zugedrückt, aber Wale haben keine Lider. Sie hören nicht einmal im Tod auf, einen anzuschauen.
Eydur Poulsen hatte die Körper der Schwertwale über Bord werfen lassen, nachdem er die Steaks mit einem Fleischmesser aus den Flanken der Jungtiere herausgeschnitten hatte. Das Fleisch war in den Kühlraum gebracht worden. Orla war an die Reling gebunden.
«Mörder, Mörder!», schrie sie und zerrte an ihren Fesseln. Sie wehrte sich nach Leibeskräften, aber es war vergeblich. Eydur, der sie im allgemeinen Blutrausch vergessen hatte, stürzte sich auf sie. Er schlug auf Orla ein, bis sie wieder verstummte. Dann band er sie los, schleppte sie die Treppe hoch und warf sie in die Notfallkajüte, die zwischen seiner und der Kajüte des ersten Maats lag. Er schloss die Tür von außen ab und setzte sich zu seiner Mannschaft, um die gelungene Jagd zu begießen.
Duncan Gray war froh, die Nachtschicht im Steuerhaus übernehmen zu können. Wodka konnte er nicht ausstehen. Und er würde auch kein Walfleisch essen. Aber er wollte sich dafür nicht rechtfertigen müssen. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Einerseits war die Aktion ein Volltreffer. Sie hatten die Walfänger auf frischer Tat ertappt. Andererseits hatten sie keine Beweise. Seine Kamera lag im Seesack in der Kajüte, und er hätte das Steuerhaus unmöglich verlassen können, ohne Verdacht zu erregen.
Duncan hatte keinen Zweifel daran, dass sich sowohl Orla wie auch er selbst in großer Gefahr befanden. Ein Bericht über die Grindwaljagd auf den Färöern, den er im Fernsehen gesehen hatte, ging ihm durch den Kopf. Die Tiere waren von kleinen Booten in eine Hafenbucht getrieben worden. Tierschützer hatten die Zufahrtsstraßen blockiert, aber die erbosten Walfänger waren mit Gaffhaken auf die jungen Leute losgegangen; es hatte Verletzte gegeben. Und Duncan wusste von Aktivisten, denen dieselben Walfänger noch monatelang mit Mord gedroht hatten.
Eines war ihm klar: Sowohl Orla wie auch er selbst selbst mussten baldmöglichst von Bord gehen. Duncan überlegte, ob er die Polizei alarmieren sollte. Aber es konnte eine Weile dauern, bis deren Boot eintraf. Und wie sollte er sich wehren, wenn er vorher in Verdacht geriet? Er fragte sich, ob sie eine der aufblasbaren Rettungsinseln über Bord werfen und beide darin fliehen sollten. Aber dann hatten sie noch immer keine Beweise. Schließlich sah er nur eine Möglichkeit: Zuerst musste Orla in Sicherheit gebracht werden. Danach konnte er fotografieren, was von dem Gemetzel übrig war: die Köpfe der Orcas, die noch immer an Deck lagen, das Fleisch im Kühlraum und die blutverschmierten Waffen. Wenn er damit fertig war, würde er Alarm schlagen. Traf die Polizei ein, solange die Mannschaft noch schlief, bliebe er an Bord und sähe zu, wie Kapitän Eydur festgenommen wurde. Falls vorher jemand aufwachte und die Situation brenzlig wurde, konnte er immer noch versuchen, in einer Rettungsinsel zu entkommen. Aber zuerst musste er Orla befreien. Und er musste vorsichtig sein; niemand durfte auf die Idee kommen, dass er und Orla sich schon kannten, bevor sie an Bord gingen. Mit ruhiger Hand steuerte er die FASTAKAST durch die aufgewühlte See und überlegte, ob der Plan funktionieren könnte.
Stunden später kam Sigurd zu Duncan auf die Brücke. Er ließ sich in den zweiten Steuerstuhl fallen und erzählte mit lallender Stimme von der Party unter Deck und vom saftigsten Steak des Jahrzehnts. Duncan tat, als höre er ihm interessiert zu und überlegte sich, was er am besten antwortete. Aber Sigurd nickte ein, bevor er etwas sagen musste. Duncan wartete. Als er Schnarchgeräusche vernahm, schaltete er den Autopiloten ein. Er nahm den Generalschlüssel aus Sigurds Jackentasche und verließ die Brücke. Wenige Minuten später hatte er Orla in der Notfallkajüte ausfindig gemacht. Er öffnete die Tür und half ihr aufzustehen. Abgesehen von einer Platzwunde am Kopf, die sie bereits desinfiziert und verbunden hatte, war sie unverletzt, und sie wirkte gefasst.
Orla folgte Duncan ins Steuerhaus, wo Sigurd noch immer schlief. Auf den Radarschirmen war zu erkennen, dass fünf andere Trawler in der Nähe waren. Es war eine Frage von Stunden, bis einer von ihnen Orla an Bord nahm. Duncan und Orla besprachen sich flüsternd und kamen zum Schluss, dass eine Flucht trotz des Seegangs kein allzu großes Risiko bedeutete. Der Wetterbericht für den nächsten Tag war gut; der Wind hatte sich in der letzten Stunde bereits etwas gelegt, und ein Hoch war im Anzug. Eigentlich konnte nichts schief gehen. Duncan würde die Sicherungen für das Licht herausdrehen und im Maschinenraum ein bisschen Rauch erzeugen. Minuten später wäre er wieder auf der Brücke, wo er die Polizei, die anderen Boote und die Rettungsmannschaften alarmierte. Dann würde er die benötigten Fotos machen. Und wenn er damit fertig war, konnte er in aller Ruhe den Kurzschluss entdecken, Sigurd wachrütteln und beteuern, er sei ebenfalls eingeschlafen und wisse nichts über das Verschwinden der Köchin. Bis Polizei und Helfer vor Ort waren, verginge vielleicht eine Stunde. Ob der Hubschrauber bei Nacht und böigem Wind fliegen konnte, war zweifelhaft, aber er würde sowieso nicht benötigt werden. Auch wenn es bis zum Eintreffen der Helfer zwei Stunden dauerte, hätte Orla keine ernsthaften Schwierigkeiten. Duncan vertraute auf den Plan, auf Orlas Erfahrung zur See und auf ihre Kräfte.
Orla eilte in ihre Kajüte, klebte sich den Pass mit Heftpflaster auf den Bauch und zog die wärmsten Hosen und Pullover, die sie finden konnte, und ihre Jeansjacke an. Im Umkleideraum für die Mannschaft nahm sie ihren Öl-anzug mit den angeschweißten Stiefeln vom Haken. Keine zwei Minuten später stand sie wieder auf der Brücke. Sigurd schlief noch immer.
Duncan drückte Orla einen Flachmann mit Whisky und eine Schwimmweste in die Hand und verschwand im Maschinenraum. Orla wartete auf dem noch immer hell erleuchteten Arbeitsdeck. Sie fürchtete sich nicht. Durch die großen Luken blickte sie in die Messe. Da saßen und lagen sie auf den Ledersofas: Skipper Eydur, der erste Maat Finnbogi, die Matrosen und der Schiffsjunge Trondur, alle sturzbetrunken. Ein Video flimmerte über den Bildschirm, aber die Männer schliefen. Trondur hatte sich übergeben und seinen Pullover und den Teppich verdreckt. Leere Wodkaflaschen, dreckige Teller und randvolle Aschenbecher standen auf den Tischen. Die Matrosen trugen noch immer ihre blutbesudelten Arbeitsanzüge; nur Eydur war in einen sauberen Trainingsanzug und Badelatschen geschlüpft.
Plötzlich gingen die Scheinwerfer auf dem Arbeitsdeck aus. In der Messe wurde es dunkel, und der Fernseher hörte auf zu flimmern. Niemand erwachte. Orla schlich aufs Oberdeck. Obwohl der Wind jedes Geräusch schluckte, bewegte sie sich langsam und lautlos. Sie steckte den Flachmann ein und band die Schwimmweste über dem Ölzeug fest. Schweigend kappte Duncan die Seile und riss die Plastikplane vom Rumpf. Er hakte die Ketten des Rettungsbootes am Davit ein. Orla kletterte in das rote Kunststoffboot, zögerte.
«Komm mit», sagte sie, «sie werden dich umbringen.»
«Bis die ihren Rausch ausgeschlafen haben, bin ich längst fertig.»
Duncan lachte. Er setzte den Davit in Bewegung und schwenkte das Rettungsboot über die Reling hinaus. Orla hing minutenlang in der Luft. Während er mit den Trossen kämpfte, geriet das kleine Boot ins Wanken. Sie schrie auf. Er hielt inne und sah sich um. Nichts regte sich. Schaukelnd näherte sich das Boot den Wellen. Als es aufsetzte, hatte sie größte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Duncan löste die Trosse. Das Rettungsboot wurde hin und her geworfen. Es schlug gegen die Bordwand der FASTAKAST. Orla biss die Zähne zusammen und krallte sich an der Bordkante fest. Trotz der Dunkelheit glaubte sie, Duncan winken zu sehen, als die hohen Wellen das Boot mit sich fortrissen.
Orla hatte keine Chance, sich zu orientieren. In der Hektik hatte sie ihren Kompass in der Kajüte liegen lassen. Sie regte sich darüber auf, obwohl sie wusste, dass ihr ein Kompass nichts genützt hätte; das Rettungsboot hatte keinen Außenbordmotor, und in den hohen Wellen war das Manövrieren ohnehin unmöglich. Trotzdem hätte sie an den Kompass denken müssen. In den letzten Nächten an Bord der FASTAKAST hatte sie die Seekarten studiert, und es kam ihr jetzt vor, als habe sie die Flucht schon vorbereitet, bevor sie deren Grund kannte. Stundenlang hatte sie wach in ihrer Kajüte gesessen und sich alle gefährlichen Stellen eingeprägt. Sie merkte sich die Strömungsverhältnisse und Gezeitentabellen, die Koordinaten von Klippen und Inseln. So verbrachte sie auch die letzte Nacht. Beim Frühstück starrte Duncan ihre Augenringe an und erkundigte sich besorgt, was mit ihr los sei. Sie erzählte ihm, sie habe schlecht geschlafen und von einem Schiffbruch geträumt. Darauf nahm sie ihm das Versprechen ab, Manfred zu benachrichtigen, falls ihr etwas zustoßen sollte. Dieser Wunsch irritierte Duncan zusätzlich. Er lachte unsicher und fragte, wovor sie sich fürchte. Schließlich legte er Manfreds Telefonnummer zu seinen Papieren und vergaß das morgendliche Gespräch wieder.
Kreuzseen warfen das Rettungsboot hin und her. Orla konnte nichts tun, um es zu steuern. Erst nach Stunden gelang es ihr, den Notfallbeutel aus seiner Verankerung in der Bordwand zu lösen und die zwei zerlegten Plastikpaddel, die sich darin befanden, zusammenzustecken. Sie versuchte zu rudern, aber die Anstrengung war vergeblich. Orla konnte sich in der Dunkelheit nicht orientieren. Ihre Kräfte ließen nach, sie beschränkte sich darauf, sich treiben zu lassen. Ein Brecher entriss ihr beide Paddel. Orla verschwendete keine Mühe darauf, sie wiederzufinden. Der Notfallbeutel war zum Glück mit einem Tampen gesichert. Daneben ertastete sie einen Eimer, der ebenfalls festgebunden war.
Langsam fragte sie sich, wo die anderen Boote blieben. War es Duncan wirklich gelungen, Polizei und Rettungsmannschaften zu alarmieren? Oder trieb er ebenfalls hilflos auf dem Meer? Hatte er in einer Rettungsinsel von Bord gehen müssen, bevor er Hilfe anfordern konnte? Orla kämpfte gegen die Panik an. Wenn die Wassermassen über ihr zusammenschlugen, duckte sie sich. Sie versuchte sich zu konzentrieren und die Wellen zu zählen. Eine Weile konnte sie trotz der Dunkelheit einzelne Wellen voneinander unterscheiden. Sie hatte den Eindruck, dass der Aberglaube von der siebten und schlimmsten Welle etwas Wahres habe. Dann wieder schien ihr, die Wogen reisten in Dreiergruppen und verstärkten sich gegenseitig. Neue Kreuzseen warfen das Boot herum. Es misslang ihr, Ordnung in das schäumende Chaos zu bringen. Die Wellen liefen aufeinander zu und überkreuzten sich in Mustern, die sie nicht lesen konnte. Sie zählte mehrmals bis hundert. Dabei schwang sie mit einer Hand den Eimer und pützte, so schnell sie konnte. Mit der anderen Hand klammerte sie sich an der Bordkante fest. Ob dieser Anstrengung gab sie das Zählen schließlich auf. Sie pützte und dachte an gar nichts mehr.
Schließlich war Orla so erschöpft und durchgefroren, dass sie sich hinsetzte. Sie starrte in die Wogen, die so schwarz waren wie die tiefhängenden Wolken und sich in Nebelschwaden verloren. Dabei kam sie sich vor wie der letzte Mensch auf Erden. Nicht einmal Möwen zeigten sich. Sie hatte keine Ahnung, wohin die Strömung sie trieb. Solange sie auch in die Dunkelheit starrte, sie konnte keinen Anhaltspunkt finden: Außer Wasser war nichts zu sehen.
Eine Ewigkeit später zog die Morgendämmerung herauf. Noch bevor Orla den Horizont sehen konnte, bekam die Dunkelheit einen leichten Graustich. Das Meer nahm die Farbe des Himmels an. Die Dämmerung legte sich wie ein Schleier über alles. Orla rieb sich die Augen. Sie konnte sehen, aber nichts erkennen.
Allmählich wurde es hell, und nun tat es Orla Leid, dass sie klar sehen konnte. Ihr wurde bewusst, wie hoch sich die Wellen tatsächlich auftürmten, und wie viel Schaum ihre Kämme krönte. In diesem Moment begann sie sich zu fürchten. Solange es dunkel war, hatte sie nur den tosenden Lärm gehört und sich einzureden versucht, das Meer wirke dermaßen laut, weil sie sich so nahe und ungeschützt inmitten der Wellen befand. Aber sie waren um ein Vielfaches höher, als sich Orla vorzustellen gewagt hatte.
Sie raffte sich auf und bewegte ihre Arme und Beine, die von der Kälte steif geworden waren, aber dadurch brachte sie das auf den Wellen tanzende Rettungsboot aus dem Gleichgewicht. Schließlich beschränkte sie sich darauf, mit den Zehen zu kreisen und die Hände ein paar Mal zu Fäusten zu ballen. Auf keinen Fall durfte sie die Hoffnung aufgeben. Am Leben zu bleiben, war die einzige Aufgabe, die sie im Moment hatte. Sie musste endlich etwas essen und trinken.
Orla durchsuchte den Notfallbeutel und fand Tabletten gegen Seekrankheit, zwei verschweißte Plastiktüten mit Proviant, zwei Flaschen mit Trinkwasser, Verbandszeug, sowie einen Signalspiegel, um entfernte Schiffe durch Blenden zu alarmieren. Sie warf einen Blick in den kleinen Spiegel und ließ ihn über Bord fallen. Er war nutzlos, solange die Sonne nicht schien. Und auch bei gutem Wetter hätte er ihr nur geholfen, wenn jemand in der Nähe gewesen wäre, den sie hätte blenden können. Sie trank Wasser und aß ein Stück Zwieback. Dann kniete sie sich wieder hin und starrte in die Wogen.
Gegen Morgen wurde das Meer ruhiger. Langgezogene Wellen rollten träge wie große Wale heran. Ihr schwerfälliger Rhythmus wirkte beruhigend. Nun fiel es Orla leichter, sich zu bewegen. Sie wühlte in ihren Hosentaschen und fand das zwölfklingige Schweizer Offiziersmesser, das Manfred ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie fand Streichhölzer, einen Kugelschreiber, eine Packung nasser Kaugummis. Das Klopapier, das sie immer in der rechten Hosentasche hatte, um sich die Nase zu putzen, war ebenfalls nass. Duncans Flachmann, den sie während der letzten Stunden wie alles andere vergessen hatte, kam zum Vorschein. In der Innentasche ihrer Jeansjacke, die sie unter dem Ölzeug trug, fand sie eine Schachtel Zigaretten und ihr Feuerzeug. Sechzehn Marlboros. Wie durch ein Wunder waren sie trocken geblieben. Auch das Feuerzeug funktionierte noch. Orla zündete sich eine Zigarette an. Sie nahm sich vor, mit den restlichen fünfzehn sparsam umzugehen. Wenn sie ein paar Zigaretten aufbewahrte, bedeutete das, dass sie an ihr Überleben glaubte, dass sie eine Zukunft vor sich sah. Die letzte Marlboro würde sie erst rauchen, bevor sie aufgab. Über diesen Gedanken musste Orla laut lachen.
Wenn sie Glück hatte, wurde sie von der Strömung irgendwann auf die Küste zugetrieben. Bevor sie das Ufer erkennen könnte, fände sie eine verloren gegangene Hummer- oder Krabbenfalle, an der sie das Rettungsboot festmachte. So hätte sie wenigstens einen Treibanker. Orla konzentrierte sich und hielt Ausschau. Aber sie fand nichts dergleichen; ihr Boot musste vom Land weggetrieben worden sein, und sie befand sich noch immer weit außerhalb der Schellfischgründe. Obwohl es keinen Sinn hatte, sah sie sich nach der Rettungsinsel um. Auch wenn Duncan in dieselbe Richtung trieb, war die Chance, ihn vom Rettungsboot aus zu sehen, verschwindend klein. Sie redete sich ein, dass er noch an Bord der FASTAKAST war. Eydur war bestimmt schon festgenommen worden, und die Rettungsmannschaften suchten jetzt nach ihr. Spätestens im Verlaufe des Vormittags fände man sie. Wenn Duncan gleich hatte Alarm schlagen können, waren auch die Fischerboote aus der Umgebung unterwegs, um nach ihr zu suchen. Bald konnte sogar der Hubschrauber aus Finner herüberfliegen. Orla hoffte, von einem schnellen irischen Boot aufgegriffen zu werden, das sie gleich an Land brachte. Natürlich erstattete sie noch am selben Tag Anzeige gegen den Skipper der FASTAKAST, falls Duncan das nicht bereits getan hatte. Man würde ihn wegen des Schlachtens der Wale und wegen Körperverletzung und versuchtem Totschlag an Orla verurteilen. Sie hoffte vor allem, wieder an Land zu sein, bevor ihre Familie und Manfred benachrichtigt wurden und sich Sorgen machten. Orla trank einen Schluck Whisky und rauchte noch eine Zigarette. Auf die Zukunft!
Constance Spry hatte ihre Knospen erst Anfang August geöffnet. Manfred bückte sich, um ihr Myrrhe-Parfum einzuatmen. Dann rief er seine Gehilfin Emma zu sich, um ihr die handtellergroßen Blüten der alten Rose zu zeigen.
«Die sind ja riesig», sagte Emma, «ich schieße ein paar Bilder.»
Sie ging in den Geräteschuppen und holte ihre Kamera, die sie dort immer griffbereit liegen hatte.
«Sie hat den Duft der alten Ayrshire-Rosen», sagte Manfred.
«Er galt als verloren, bis Graham Thomas Anfang der Sechziger-Jahre Constance Spry einführte.»
«Warum blüht sie so spät?»
«Ich weiß es nicht.»
«Und warum sind die Blüten so groß? Womit hast du sie gedüngt?», wollte Emma wissen.
«Ich habe sie wie immer mit Champignonkompost gemulcht.»
«Alter Pferdemist, wie die anderen Rosen auch. Du hast sie spät im Frühjahr noch zurückgeschnitten.»
«Vielleicht deswegen», sagte Manfred, «Georg hat sie nie geschnitten.»
«Schade, dass die Blüten nicht lange halten, ich würde sie gerne für Arrangements verwenden. Ihr zartes Rosarot wäre ein guter Kontrast zu deinem neuen Rittersporn.»
«Gefällt er dir?»
«Ein schönes Blau», sagte Emma, «weicher als die handelsüblichen Indigofarbenen, und doch so dunkel und tief.»
«Das war Glück», sagte Manfred, «dass du diesen Sämling beim Jäten stehen gelassen hast. Orla hätte ihn bestimmt zertrampelt.»
«Oder ausgerissen. «
Die beiden lachten.
«Wie geht es ihr?», fragte Emma.
«Ich weiß es nicht», sagte Manfred.
Orla hatte ihn am Freitag von Bord der FASTAKAST aus angerufen und gesagt, sie kreuzten nördlich von Tory Island. Am Vortag seien sie bis auf die Höhe der Insel Colonsay hochgefahren, aber es stehe auch vor den Hebriden schlecht um die Fischgründe. Nur Tölpel und Möwen seien in Scharen da. Sie ernährten sich von Fischabfällen und seien fett und frech wie Ratten. Nicht einmal Seehunde habe sie gesehen. Sie schimpfte über die Treibnetzfischer und mokierte sich, dass sich die Norweger, Dänen und Färöer demnächst wohl mit den Spaniern um die letzten Makrelen und Heringe prügeln würden.
Seit diesem Gespräch hatte Manfred zweimal versucht, Orla an Bord des Supertrawlers zu erreichen, aber die Verbindung war nicht zustande gekommen. Das Wetter über dem Atlantik musste miserabel sein. In der Schweiz herrschte seit Wochen warmes Sommerwetter, und auch in Irland war es laut Wetterbericht mild. Dennoch konnte nur vierzig, fünfzig Meilen vor der Küste ein Sturm toben. Manfred hatte sich deswegen zunächst kaum Sorgen gemacht. War Orla unterwegs, meldete sie sich oft zwei, drei Tage hintereinander nicht. Doch nun war Manfred irritiert. Am Sonntag blieb er den ganzen Tag und auch abends zu Hause, weil er sicher war, Orla würde anrufen. Er dachte sich tausend Gründe aus, warum sie es nicht tat.
«Machst du dir Sorgen?», fragte Emma. «Ist das Wetter in Irland so schlecht?»
Manfred schüttelte den Kopf, wandte sich wieder der alten Rose zu. Mit beiden Händen umfasste er einen der großen, pfingstrosenförmigen Blütenkelche.
«Ist sie alleine nicht schön genug?», fragte er schließlich.
«Ich würde deinen Rittersporn gerne im Haus haben, um zu sehen, wie seine samtige Textur unter elektrischem Licht wirkt. Und mit dem zarten Rosa der Constance Spry würde die dunkle Farbe perfekt zur Geltung kommen», meinte Emma.
«Ihre Stiele sind zu kurz», sagte Manfred, «aber du kannst gerne welche in einer Glasschale arrangieren. Wir sollten die schönsten Blüten in unserer Küche behalten.»
«Da sehen wir sie doch nur beim Frühstück.»
«Bis morgen Abend sind sie ohnehin verblüht.»
«Hast du den Wetterbericht gehört?»
«Es soll die ganze Woche schön bleiben.»
«Dann werde ich sie nicht schneiden.»
«Gut», sagte Manfred, «im Garten sieht sie außer uns auch niemand.»
«Sollten wir deinen Rittersporn vor die Rose pflanzen?»
«Vielleicht nächstes Jahr.»
In der linken Oberschenkeltasche von Manfreds Combathose fiepte das Mobiltelefon. Er knöpfte die Tasche immer zu, damit das Telefon nicht zu Boden fiel, wenn er sich bei der Arbeit bückte. Die große Tasche auf der rechten Seite ließ er offen; dort verstaute er seine Rosenschere, die er stets zur Hand haben wollte. Die weniger zerbrechlichen Gegenstände, ein Taschenmesser, Kordel, Plastikschilder und Kugelschreiber trug er in der Bauchtasche seiner dunkelgrünen Schürze.
«Bist du heute nicht da?», fragte Emma. «Soll ich abheben?»
Das Telefon klingelte bereits zum sechsten Mal. Manfred schüttelte den Kopf. Er hatte Mühe, mit seinen dreckigen Fingern die Knöpfe der Hosentasche aufzumachen. Endlich klappte er das Telefon auf.
«Gärtnerei Seidel, guten Tag, was kann ich für Sie tun?»
Im ersten Moment dachte er, es sei Orla. Er wunderte sich sogar, warum sie nicht «Hallo Schatz» sagte, mit ihrem singenden Akzent. Die Stimme ihrer Mutter Mary klang zum Verwechseln ähnlich.
«Orla ist letzte Nacht über Bord gegangen», sagte Mary. «Duncan Gray war auch auf der FASTAKAST. Dabei wollte sie die Sache mit den Atlantic Warriors endlich in Ordnung bringen.»
Mary war aufgebracht. Sie klang wie Orla, wenn sie nächtelang Aktionen ausgeheckt und kaum geschlafen hatte.
«Ist alles in Ordnung?», fragte Emma.
«Orla», stammelte Manfred, «Orla ist über Bord gegangen.»
Emma ließ ihren Fotoapparat fallen. Sie starrte Manfred an.
«Setz dich», sagte sie schließlich, «du bist ja ganz bleich.»
Sie drückte ihn sanft auf das Steinmäuerchen. Er umklammerte das Mobiltelefon, als wolle er es in seiner erdverkrusteten Hand ausquetschen.
«Der Skipper sprach von Hagel und böigem Nordwind», sagte Mary. «Das Wetter spielt verrückt, jetzt setzen die Herbststürme schon im August ein! Herrgott, sie ist doch als Köchin an Bord gegangen, weiß der Teufel, was sie mitten in der Nacht auf dem Arbeitsdeck gesucht hat!»
Marys Stimme überschlug sich. Sie klang sehr weit entfernt.
«Die Suche hat erst in den frühen Morgenstunden begonnen. Wir warten auf ein Boot», fuhr Mary fort.
«Ich komme nach Irland», sagte Manfred und legte auf.
Die Strömung nahm zu, und ein kräftiger Wind kam auf. Den ganzen Tag driftete Orla nach Südwesten ab. Wie sollte sie kreuzen, wie den Kurs ändern ohne Segel, Ruder oder Steuer? Viel lieber hätte sie sich in die entgegengesetzte Richtung treiben lassen, auf die irische Westküste zu! Oder nach Norden oder Nordwesten, wo sie irgendwann auf die Hebriden gestoßen wäre. In westlicher Richtung war nicht das kleinste Fleckchen Land zu erwarten. Dort gab es nichts – außer dem offenen Atlantik.
Der Wind wurde stärker, die Wellen begannen zu brechen. Orla versuchte krampfhaft, nicht in Panik zu geraten. Sie sagte sich immer wieder, dass sie vernünftig bleiben und sich ihrer Lage bewusst werden müsse. Aber kaum hatte sie einen Gedanken gefasst, war er im nächsten Augenblick ausgelöscht. In ihrem Kopf war es leer und düster wie in den Tiefen des Ozeans. Wenn sich der Kamm einer großen Welle über den Wassermassen brach, blickte sie durch einen Tunnel, und es kam ihr vor, als öffneten sich vor ihren Augen alle Abgründe dieser Welt, aus der sie im Begriff war zu entschwinden. Die Gischt hüllte sie ein, ihr Gesicht brannte vom Salz. Sie hustete, bis ihr schwindlig wurde.
Wenn sie nicht pützte, saß Orla so still wie möglich. Bei jeder Bewegung spürte sie die klammen Kleider auf der Haut; nur wenn sie still saß, vergaß sie die Kälte für einen Moment. Sie biss die Zähne aufeinander, weil ihr Kiefer vom Klappern schmerzte.
Unvermittelt schreckte sie aus ihrer Starre hoch. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Orla einen Mast zu sehen. Erst dachte sie, sie habe sich getäuscht. Doch auf dem Kamm der nächsten Welle sah sie ihn wieder. Orla versuchte sich aufzurichten und verlor das Gleichgewicht. Sie schrie in den Wind hinaus, aber sie konnte ihre eigene Stimme nicht hören, so laut toste das Meer. Sobald sie auf eine Welle zuglitt, wedelte sie heftig mit den Armen. Sie öffnete den Reißverschluss des Ölzeugs, zog ihre Jeansjacke aus und schwenkte sie in der Luft. Der Mast kam nicht näher. Nach einer Weile verschwand er ganz.
Orla war sicher, dass ihr eben die größte Chance ihres Lebens entgangen war. Ein Segelboot! In Sichtweite! Und sie hatte keine Möglichkeit gehabt, auf sich aufmerksam zu machen. Noch Stunden nach dieser Begegnung starrte Orla in die Wellen. Das Boot musste doch irgendwo wieder auftauchen!
Die Wolkendecke riss auf und ließ die Abendsonne durchscheinen. Das Meer beruhigte sich, aber auch als die Seen langsam abflachten, war kein Schiff zu sehen. Stattdessen entdeckte Orla, dass die langgezogenen Wellen nun dreieckige Schatten bekamen. Hielt man nach Tümmlern Ausschau, entdeckte man zuerst nur die Schwanzflossen, die als spitze, schwarze Zacken hie und da aus dem Wasser ragten. Am Anfang einer Begegnung war einem nie klar, wie viele Tiere einen umgaben; Orla hatte das schon oft erlebt. Trotzdem staunte sie, als die Tümmler zu springen begannen. Es waren mehrere hundert Tiere, und sie flogen in großem Bogen direkt über Orlas Kopf hinweg. Es war ein Rauschen und Zischen, als ziehe ein Vogelschwarm über ihr vorbei. Flink wie Pfeile tauchten die Tümmler in die Fluten zurück und verschwanden. Sie schwammen nach Osten, und Orla trieb ganz allein immer weiter auf den Atlantik hinaus.
Von der salzigen Luft brannte ihre Kehle, und ihr Durst wurde unerträglich. Den Whisky und die beiden Wasserflaschen hatte sie längst ausgetrunken. Die leeren Flaschen steckten im Notfallbeutel. Wenn es wieder regnete, würde sie ihr Ölzeug ausziehen, um damit Regenwasser zu sammeln. Sie würde das Wasser in die Flaschen rinnen lassen und danach ihre durchnässten Kleider auswringen und auch dieses Wasser sammeln. Aber zuerst musste das Boot aufhören zu schaukeln. Vom Proviant waren noch ein paar staubtrockene Scheiben Zwieback, ihre Kaugummis und die Tabletten gegen Seekrankheit übrig. Mit klammen Fingern kritzelte sie eine Abschiedsbotschaft auf das nasse Klopapier. Dann fiel ihr ein, dass das Logbuch zusammen mit dem Boot unterginge. Sie stopfte das Klopapier in den leeren Flachmann, verschloss den Deckel und warf ihn über Bord. Die Strömung riss ihn mit sich fort. Orla zählte die Sekunden und stellte fest, dass nicht einmal eine Minute verging, bis sie ihre Flaschenpost aus den Augen verlor. Sie beugte sich noch über den Rand des Rettungsbootes, als der Flachmann längst verschwunden war. Bald darauf ging die Sonne unter, und die Farbe des Meeres wechselte von Gold zu Orange, zu Blutrot, und wurde schließlich schwarz. Kein Licht ist zu schön für eine Seebestattung, dachte Orla. Das Meer wirkte sogar im Licht eines Sonnenuntergangs noch würdevoll und melancholisch wie ein Grab.
«Wenn du dich beeilst, schaffst du es noch heute», sagte Emma. «Pack deine Sachen zusammen; ich buche den Flug.»
Manfred rannte ins Haus, riss seinen Rucksack aus dem Schrank und stopfte Kleider hinein.
«Geh unter die Dusche und zieh dich um», kommandierte Emma, «und mach vorwärts!»
Sie hielt ihm ein paar saubere Jeans und ein Hemd hin. Manfred verschwand im Bad. Aer Lingus hatte auf dem Linienflug vom frühen Nachmittag noch einen Platz frei. Bis zum Abflug blieben Manfred knapp drei Stunden.
«Vergiss die Zahnbürste nicht», rief ihm Emma durch die Tür zu.
Sie warf einen Blick in seinen Rucksack und sah, dass Manfred einen ganzen Stapel Wollpullover hineingestopft hatte. Sie warf die Pullover auf den Boden und suchte in seinem Schrank nach Unterwäsche, packte Socken, Unterhosen, zwei T-Shirts und ein Flanellhemd ein.
«Danke», sagte Manfred, als er mit nassen Haaren aus dem Bad kam, «ich werde ja nicht lange wegbleiben.»
«Hast du den Rasierapparat?», fragte Emma, «den Pass, die Kreditkarte, das Handy?»
Manfred rannte hierhin und dorthin und suchte seine Siebensachen zusammen.
«Machst du mit den Geranienstecklingen weiter, bis ich zurück bin?», bat er sie.
«Soll ich mehr von den roten nehmen?»
«Mach auch drei Dutzend weiße. Und nimm Stecklinge von den Duftgeranien. Und Fuchsien brauchen wir auch, vor allem La Campanella und Hidcote Beauty, so viele wie möglich, und ein paar Tom Thumb auch. Und vergiss nicht, nach den Rittersporn-Samen zu sehen. Stülp Tüten drüber, bevor sie ganz reif sind.»
Er stopfte Pass und Geld in die Innentasche seiner Wachsjacke, schulterte den Rucksack und radelte los. In Biel zeigte ihm die Uhr am Ende einer Unterführung an, dass er noch zwei Minuten bis zur Abfahrt des Zuges zum Zürcher Flughafen hatte. Er stellte das Fahrrad vor den Billettautomaten und ersparte sich die Mühe, es abzuschließen. Die Polizei würde es holen. Manfred kannte das städtische Fahrraddepot; dort war sein Rad sicher aufgehoben. Er rannte die Treppe zum Gleis fünf hoch.
Schon am Vormittag war es schwül; es würde ein heißer Sommertag werden. Der Fahrtwind rauschte durch die offenen Zugfenster. Rentner mit Rucksäcken redeten gegen den Lärm an. Braun gebrannte Kinder, die aus einem Ferienlager zurückkehrten, rannten durch die Abteile und bewarfen sich mit Gummibärchen. Der Zug fuhr durch Raps- und Maisfelder. Es roch nach Heu. An den Bahnböschungen blühten wilder Mohn, Margeriten und Löwenzahn. Aber das Gras war dürr und grau vor Staub. Manfred versuchte sich Schafe vorzustellen, die so etwas fressen; er sah keine. In Irland waren die Wiesen saftig und grün gewesen. Die Löwenzahnblüten hatten ihre Mäuler aufgesperrt.
«Lions tooth», hatte Manfred gesagt, und Orla hatte gelacht.
«Warum Löwen?»
Die Stiele waren klebrig von weißem Saft und kringelten sich. Orla pflückte Fingerhüte, meterlange Stiele voller Blütenkelche, die innen gepunktet waren. Einen nach dem anderen stülpte sie um und suchte nach den Feen.
«Foxglove», sagte sie.
«Seit wann sind Füchse rosarot?», fragte Manfred.
Und dann lagen sie im hohen Gras, und Orla küsste ihn. Im ersten Moment war Manfred überrascht. Orla hatte so viel von Gott und vom Papst geredet, dass er sicher war, er müsse sie erst heiraten, um so weit zu kommen. Am nächsten Tag hatten sie miteinander geschlafen: Orla zog Manfred hinter die Felsen einer Bucht und knöpfte seine Jeans auf, als sei es die normalste Sache der Welt. Sie lagen im warmen Sand und liebten sich.
In der Mittagshitze rauschte der Zug durch den Aargau auf Zürich zu, und Manfred dachte darüber nach, ob es stimmte, dass das erste Mal am schönsten war. Er war sich nicht sicher. Er sah Orlas weiße Haut und das Muttermal über ihrem Bauchnabel vor sich. Ihr Körper leuchtete, als sie vor ihm am Strand lag, und ihre nassen Locken waren vom Sand gelb, beinahe blond. Als sie sich später auf den Rückweg machten, schien der Himmel zu brennen. Die Hügel waren goldgrün, und die Schafe standen in Flammen. Vor ihren Füßen stolperte ein junger Hase, weil er es zu eilig hatte.