Alle Fotografien stammen von der Autorin selbst, mit Ausnahme einer Fotografie von Horkestar von Branka Nađ.
Erste Auflage
Verbrecher Verlag Berlin 2015
www.verbrecherei.de
© Verbrecher Verlag 2015
ISBN Print: 978-3-95732-018-6
ISBN Epub: 978-3-95732-113-8
ISBN Mobipocket: 978-3-95732-114-5
Lektorat: Sonja Vogel
Satz und E-Book: Christian Walter
Der Verlag dankt Sandra Appelt und Stefanie Gimmerthal.
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel YUROPA. Jugoslovensko nasleđe i politike budućnosti u postjugoslovenskim društvima bei Fabrika knjiga, Belgrad.
© 2012 Fabrika knjiga und Tanja Petrović
Tanja Petrović
YUROPA
Jugoslawisches Erbe und Zukunftsstrategien in postjugoslawischen Gesellschaften
Dieses Buch, ursprünglich für Leser des Gebiets des ehemaligen Jugoslawien geschrieben, beleuchtet wichtige, aber bisher kaum diskutierte Beziehungen zwischen dem Vermächtnis des Sozialismus und der europäischen Idee. Für viele ehemalige Jugoslawen hat diese europäische Idee eine große emanzipatorische Kraft und wird oft als einzige Alternative zum vorherrschenden Ethnonationalismus gesehen. Zugleich sollen mit dem vorliegenden Band auch die Gemeinsamkeiten zwischen der nationalistischen Politik postjugoslawischer Gesellschaften und der Politik bzw. den Diskursen der Institutionen der Europäischen Union aufgezeigt werden, die eben keinen Gegensatz zum Nationalismus und Geschichtsrevisionismus bilden, sondern diese sogar begünstigen.
Mit diesen Ausführungen soll nun auch deutschsprachigen Lesern eine mögliche Erklärung für das zwiespältige Verhältnis, das Bürger postjugoslawischer Staaten zu »Europa« haben, angeboten werden, denn dieses schwankt zwischen unkritischer Ablehnung und gleichermaßen unkritischer Befürwortung, und nicht selten endet es in vollkommener Resignation. Nicht weniger wichtig ist es, den Blick auf die in sich widersprüchliche proeuropäische Haltung postjugoslawischer politischer Eliten zu richten.
Ich glaube, dass dieses Buch, unabhängig vom Jugoslawien-Bezug, auch für deutsche Leser interessant ist, da es über das Vermächtnis des Sozialismus spricht, dessen Aufnahme in das Kulturgedächtnis des wiedervereinigten Deutschland alles andere als reibungslos verlaufen ist. Mehr noch, dies ist ebenso ein Buch über die Zukunft des europäischen Projekts und der europäischen Idee – eine Zukunft, die maßgeblich von den Debatten in der deutschen Gesellschaft abhängt und von den politischen Schritten, die auf sie folgen.
In der Zeit, die zwischen der serbischen Ausgabe von »Yuropa« und der deutschen liegt, hat sich die Krise in der EU (die wirtschaftliche, die politische, die soziale, aber auch die Krise der europäischen Idee) weiter verschärft. Dass diese Krise die Kluft zwischen dem europäischen Zentrum und der Peripherie weiter vertieft hat, ist genauso unabweisbar wie die Entstehung einer Vielzahl neuer Randzonen mit jeweils schwierigen Beziehungen zum Zentrum. Immer mehr Bürger europäischer Staaten haben das Gefühl, dass sich ihre politischen Eliten viel zu weit von ihnen entfernt haben, und immer weniger Bürger erleben sich selbst als Teilnehmer politischer Prozesse – ein Gefühl, das entschieden durch die Medien und die Politik gefördert wird.
Ein Dialog über Europa, in welchem es auch Raum für verschiedene Akteure, verschiedene Stimmen, Erfahrungen und Erinnerungen gäbe und in den auch Narrative aus dem Südosten des Kontinents, einer seiner beständigsten Peripherien, einbezogen wären, ist heute notwendiger denn je. Ich hoffe, »Yuropa« wird zu diesem Dialog beitragen können.
Mein Dank gilt dem Verbrecher Verlag, der dieses Buch in sein Programm aufgenommen hat. Bei der Übersetzerin Aleksandra Bajazetov bedanke ich mich nicht nur für die kritische und engagierte Lektüre dieses Buches, durch die seine deutsche Fassung mehr als eine bloße Übersetzung der serbischen geworden ist. Ich bedanke mich auch dafür, dass sie von Anfang an an die Wichtigkeit einer deutschen Ausgabe geglaubt hat. Einen Großteil der gemeinsamen Textarbeit haben wir während meines Aufenthalts am The Netherlands Institute for Advanced Studies in Humanities and Social Sciences abschließen können, wo ich hervorragende Arbeitsbedingungen und eine anregende akademische Umgebung vorgefunden hatte. Eine erste Fassung ist 2010/2011 während meines Stipendienaufenthalts am Wissenschaftskolleg zu Berlin entstanden, und es freut mich, dass das Buch durch die Übersetzung ins Deutsche gewissermaßen wieder an seinen Entstehungsort zurückkehrt.
Dem Engagement von Dejan Ilić, dem Verleger der serbischen Ausgabe, ist es zu verdanken, dass ich »Yuropa« überhaupt in der nun vorliegenden Form geschrieben habe – insofern darf die deutsche Fassung auch als sein Erfolg gesehen werden. Oto Luthar, Ana Hofman, Martin Pogačar, Mitja Velikonja, Brankica Petković, Peter Vodopivec, Saša Ilić, Patricia Hayes, Kamran Asdar Ali, Arunima Gopinath, Ciraj Rasool und Karl-Ludwig Wetzig waren aufmerksame Leser des Manuskripts in verschiedenen Phasen seiner Entstehung und in unterschiedlichen Sprachen – ihnen allen bin ich zu Dank verpflichtet für ihre Zeit und ihre Änderungsvorschläge, die das Buch zu einem besseren gemacht haben. Meiner Familie, Đorđe, Ivan und Olga, danke ich für die Liebe und Unterstützung, und für die Geduld, mit der sie mich bei der Arbeit an diesem Buch von einem kleinen bosnischen Bergarbeiterstädchen bis in die holländische Tiefebene begleitet haben.
Wenn eine Einleitung das Fortkommen durch die folgenden Seiten erleichtern soll, so ist sie der geeignete Ort für einige terminologische und begriffliche Klärungen. Lassen Sie mich beim Titel des Buchs ansetzen. In ihm wird der Name eines übernationalen Staates, den es nicht mehr gibt, mit dem eines Kontinents, der heute fast gänzlich von einem anderen übernationalen politischen Gebilde vereinnahmt wird, zusammengefügt. Nun ist das aber mehr als ein Wortspiel (obgleich dessen Wirkung beabsichtigt ist). Ich fand es so überraschend wie bezeichnend, dass diese Wortschöpfung nicht längst »vergeben« ist. Sucht man im Internet nach »YUropa« oder »YUrope«, finden sich nur wenige Treffer: Einer davon ist yurope.com, die Seite eines Internetanbieters aus Silicon Valley mit Inhalten aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawien. Ein anderer ist die Seite der gemeinnützigen Organisation Yuropa, die sich der Förderung der Zusammenarbeit von Musikern und anderen Künstlern aus dem Westbalkan und aus Großbritannien verschrieben hat.
Warum also wird eine Verbindung zwischen dem (ehemaligen) Jugoslawien und Europa nicht als eine wichtige, mögliche und produktive angesehen? Die im Titel dieses Buches verschmolzenen Namen sollen zeigen, dass diese Verbindung notwendig ist, um die soziale und kulturelle Dynamik postjugoslawischer Gesellschaften zu verstehen. Dabei ziele ich weniger auf eine strukturelle Parallelität des multinationalen, sozialistischen Jugoslawien mit der heutigen EU ab. Diese ist vielfach bemerkt worden – ob man nun auf die Ähnlichkeit der beiden politischen Gemeinschaften zugrunde liegenden Ideen und Konzepte hinweisen wollte,1 oder aber davor warnte, die EU riskiere mit ihrer Wirtschaftspolitik und ihrem Umgang mit ethnischer Komplexität ein Zerfallsszenario wie das des jugoslawischen Staats.2 Meine Absicht ist eine andere: Ich möchte vor allem die Bedeutung der jugoslawischen Vergangenheit für die Gestaltung von Zukunftsvisionen im ehemals jugoslawischen Raum aufzeigen, und auf vielfältige Bezüge zwischen der jugoslawischen und der europäischen Idee aufmerksam machen, auf die verschiedenen Zeitebenen, auf denen sie sich verflechten.
Dieses Buch ist das Ergebnis einer weiteren Verschmelzung. Zum einen ist es aufschlussreich, welcher Mittel sich der europäische politische Diskurs bedient, um die Andersartigkeit des postsozialistischen Europa zu perpetuieren. Für postjugoslawische Gesellschaften hat das weitreichende politische und soziale Folgen. Zum anderen gibt es auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien bemerkenswerte kulturelle und identitätsstiftende Strategien, für die das jugoslawische/sozialistische Vermächtnis sehr wichtig ist. – Auch wenn diese zwei Themen auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam haben, bin ich davon überzeugt, dass die Stellung der postjugoslawischen Gesellschaften auf der symbolischen Europakarte in hohem Maß durch das aktuelle Verhältnis zur jugoslawischen Vergangenheit bestimmt ist. Auch die politische Dimension der Erinnerung an das sozialistische Jugoslawien kann man nur dann verstehen, wenn man diese in einen universalen Kontext stellt und sie als ein Mittel versteht, mit dem über die Zugehörigkeit zu Europa verhandelt wird.
Als dieses Buch geschrieben wurde, gab es das sozialistische föderative Jugoslawien schon seit zwei Jahrzehnten nicht mehr. Unwiderruflich gehört es der Vergangenheit an. Europa wiederum, genauer, die EU, steht in den Gesellschaften auf dem ehemaligen jugoslawischen Territorium für das Versprechen einer besseren, »normaleren«3 Zukunft. Die EU-Mitgliedschaft wird sogar als die einzige Möglichkeit für die ehemals jugoslawischen Gesellschaften dargestellt, die Bürde der Vergangenheit, des Nationalismus und der Neunzigerjahre des 20. Jahrhunderts abzuwerfen.4
Das Gegensatzpaar »problematische Vergangenheit – europäische Zukunft« hängt mit der symbolischen Geografie des heutigen Europa zusammen, mit dem Stellenwert der postsozialistischen europäischen Gesellschaften und mit der Bedeutung, die das kulturelle Gedächtnis Europas dem Erbe des Sozialismus einräumt. Dass der Sozialismus als »unpassende« Vergangenheit und ausschließlich als totalitäres System bewertet wird, von dem sich die ehemaligen sozialistischen Gesellschaften erst einmal befreien müssen, um überhaupt »europäisch« werden zu können, hat etliche problematische Folgen. Eine der gravierendsten ist die Welle des Geschichtsrevisionismus in den Ländern Osteuropas, die Relativierung faschistischer Verbrechen und die Leugnung des antifaschistischen Widerstands. Besonders ausgeprägt sind diese Tendenzen in den ehemals sowjetisch regierten baltischen Staaten, in Ungarn (man denke an das Terror-Háza-Múzeum in Budapest), aber auch auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien. In Serbien haben heute sowohl Partisanen als auch Tschetniks einen Anspruch auf staatliche Rente wegen ihrer »Verdienste« im Zweiten Weltkrieg. Serbien ist auch der einzige europäische Staat, der anlässlich des 60. Jahrestages des Sieges über den Faschismus keine hohe Delegation nach Moskau entsandt hat.5 Dies sind nur einige der eklatanten Belege dafür, dass die europäischen Diskurse über die problematische sozialistische Vergangenheit Osteuropas dabei helfen, den Antifaschismus aus dem kulturellen Gedächtnis und aus dem politischen Selbstverständnis der osteuropäischen Gesellschaften zu tilgen – und das obwohl der Antifaschismus einer der Grundwerte und ein unerlässlicher Bestandteil jeder Vorstellung von einer gemeinsamen europäischen Identität ist.
Im jugoslawischen Raum ist dieses Verhältnis zur Vergangenheit umso heikler, als dort das Ende des Sozialismus mit dem Staatszerfall zusammengetroffen ist, der von Gewalt und Kriegsverbrechen, aber auch von einer dramatischen Ethnifizierung fast aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und des kulturellen Gedächtnisses geprägt war. Die Idee, man solle die jugoslawische Vergangenheit als unpassenden und problematischen Abschnitt der Nationalgeschichte, der nur Zwietracht säe, überwinden und aus dem nationalen Narrativ streichen, wird von Eliten aller postjugoslawischen Staaten vertreten.6 Ein Ausdruck dessen ist die Verbannung des jugoslawischen Vermächtnisses aus Schulbüchern und aus dem öffentlichen Raum; wer sich darauf beruft, gerät sofort in Misskredit. Genau hierin werden die lokalen Eliten von den Funktionären der EU bestärkt, die eine »Bewältigung« dieser Vergangenheit und die Befreiung vom sozialistischen Erbe als Voraussetzung für eine »Europäisierung« sehen. Die EU bestärkt somit die lokalen Eliten in ihren revisionistischen Bemühungen, die vor Ort wiederum mit dem Gebot der Aussöhnung gerechtfertigt werden. Wohlgemerkt sind diese Eliten nur in den seltensten Fällen bereit, das belastende Erbe der Neunzigerjahre verantwortungsbewusst aufzuarbeiten. So gesehen ist das Beharren auf dem jugoslawischen Vermächtnis und auf den Erinnerungen daran keineswegs, wie so oft unterstellt, ein Versuch, das Trauma der Neunzigerjahre durch selektives Hervorheben einer beschönigten sozialistischen Vergangenheit zu verdrängen. Eher im Gegenteil: Die Versuche einzelner Personen und ganzer Gruppen, ihre Autonomie durch eine Berufung auf universale Aspekte und Werte der jugoslawischen Vergangenheit zu erkämpfen, zeigen unmissverständlich, dass gerade die, die zur Aufarbeitung der Verbrechen der Neunzigerjahre bereit sind und sich für Solidarität und Antifaschismus einsetzen, auch das Selbstbewusstsein der Arbeiter neu erwecken möchten.
Aufgrund dessen sehe ich die jugoslawische Vergangenheit vor allem als Vermächtnis, und nicht als etwas, was allein durch persönliche und kollektive Erinnerungen gefiltert werden kann. Das Ende Jugoslawiens und das Ende des Sozialismus bedeuteten keinesfalls einen geschichtlichen Neubeginn oder den Aufbau einer völlig neuen Gesellschaft – ganz egal, wie tragisch jenes Ende und die von ihm ausgelösten Veränderungen auch gewesen sein mögen. Ehemalige Jugoslawen haben nicht nur persönliche, selektive und idealisierende Erinnerungen an das Leben im sozialistischen Jugoslawien, die ihnen das Überleben in den turbulenten Zeiten der Wende (»Transition«) erleichtern: Sie haben aus jener Epoche auch Gewohnheiten, Wünsche, Vorlieben, persönliche und kollektive Träume mitgenommen, die auch weiterhin ihre Persönlichkeit ausmachen und die Grundlage einer kollektiven Identifizierung sind.7 Deshalb verwende ich im Folgenden Begriffe wie »postjugoslawisch«, »das ehemalige Jugoslawien«, »ehemals jugoslawisch« und »ehemalige Jugoslawen« oder »ex-Jugoslawen«. Sie mögen oft problematisch erscheinen, und sie werden von etlichen Experten für das Gebiet des ehemaligen Jugoslawien gemieden, die diese Begriffe als beleidigend für die Bewohner der später gegründeten Staaten und als vergangenheitsfixiert empfinden. Stattdessen greift man zu neutralen Begriffen wie »die Nachfolgestaaten der SFRJ« (Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien), »der Westbalkan«, und so weiter. Ich aber finde, die Betonung der jugoslawischen Erfahrung ist gerade im Hinblick auf den Beitritt zur EU – dem vermeintlich einzig denkbaren Zukunftsszenario für diese Region – und auf das immer wieder an die ehemals jugoslawischen Gesellschaften gerichtete Gebot, doch endlich in die Zukunft zu blicken, ein unerlässlicher Bestandteil der Vorstellung von einer »normalen«, wünschenswerten, ja »europäischen« Zukunft. Wird die jugoslawische Vergangenheit aus dem Zukunftsdenken ausgespart, können auch die Bewohner dieses Gebiets nicht als Subjekte mit legitimen Wünschen und Bedürfnissen, als autonom Handelnde ernst genommen werden.
So hat etwa Svjetlana ihre Geburtsstadt Sarajevo zu Beginn des Krieges verlassen, als sie noch zu jung war, um den Lesesaal der Nationalbibliothek im Alten Rathaus zu nutzen. Während der Belagerung der Stadt wurde das Gebäude schwer beschädigt, und obwohl (oder gerade weil) es noch nicht wiederaufgebaut wurde, ist es zum Symbol für den Wiederaufbau der zerstörten Stadt geworden. Inzwischen hat Svjetlana im Ausland ihren Doktortitel erworben und ist nach Sarajevo zurückgekehrt. Wie sie selbst sagt, habe sie zurückkehren müssen, um nachzuholen, was ihr der Krieg vorenthalten hatte: Die Nutzung des Lesesaals, was ihr Traum war, seit sie als kleines Mädchen täglich an der Nationalbibliothek vorbeiging. Nun hatten die Funktionäre der EU, die die Mittel für die Restauration bewilligten, aber kein Gehör für solche Bedürfnisse, und so wird das im Mai 2014 wiedereröffnete Gebäude zwar auch die National- und Universitätsbibliothek von Bosnien und Herzegowina beherbergen, aber keinen Lesesaal haben: Das Ganze habe ohnehin schon viel zu lange gedauert, hieß es, es sei wichtiger gewesen, die Arbeit endlich abzuschließen und weiter zu gehen, in die Zukunft zu schauen. Das Beispiel Svjetlanas zeigt nur zu deutlich, dass die Zukunftsvorstellungen der ehemaligen Jugoslawen wesentlich von ihrer Vergangenheit geprägt sind, wobei das Adjektiv »ehemalig« also keinesfalls eine ausschließliche Hinwendung zur Vergangenheit oder ein Absprechen des Rechts auf die Gegenwart und die Zukunft impliziert. Ganz im Gegenteil.
Dieses Buch hat zwei Teile, in denen die im Titel geschmiedete Einheit von Europa und Jugoslawien wieder in ihre Bestandteile zerlegt wird, allerdings nur scheinbar. In beiden Teilen versuche ich, die Verbindung zwischen der jugoslawischen Vergangenheit und dem »Europäertum« ehemaliger Jugoslawen aufzuzeigen. Im ersten Teil des Buchs zeichne ich in drei Kapiteln das Bild der auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien entstandenen Gesellschaften nach, das durch Diskurse der EU-Politiker geformt und in die lokalen politischen Diskurse übernommen wird. Im ersten Kapitel erläutere ich den ideologischen Hintergrund und die Motive hinter der Bezeichnung Westbalkan, im zweiten zeige ich die im Zusammenhang mit dem Beitritt der Länder des Westbalkan zur EU am häufigsten gebrauchten Metaphern auf, und im dritten untersuche ich die Rolle einzelner historischer Vermächtnisse, vor allem des Kolonialismus und des Sozialismus, bei der Gestaltung der symbolischen Geografie des heutigen Europa.
In den höchst metaphernreichen Äußerungen, derer sich die Vertreter der EU bedienen, um zu den postjugoslawischen Gesellschaften zu sprechen,8 um die Ideen von Europa, von Europäisierung, Demokratisierung und Fortschritt als normativ und homogen zu präsentieren, ist klar, von wo nach wo der Wissenstransfer verläuft, wo das Zentrum und wo die Peripherie ist. In einem derart abgesteckten Rahmen ist Europa für die Gesellschaften des ehemaligen Jugoslawien nur dann erreichbar, wenn sie das sozialistische jugoslawische Vermächtnis verwerfen, verdrängen und auslöschen. Daher stammt auch die verbreitete Auffassung vom Erreichen der vollen EU-Mitgliedschaft als einer Art Heimkehr. Nach Aussage vieler slowenischer Politiker ist Slowenien am 1. Mai 2004 nach Hause zurückgekehrt, und auch als Kroatien am 9. Dezember 2011 den Beitrittsvertrag unterschrieb, betonten die damalige Premierministerin Jadranka Kosor und der Präsident Ivo Josipović, Kroatien kehre nach Hause zurück. Solche Äußerungen, so zukunftsorientiert und auf Überwindung der Vergangenheit bedacht sie auch sind, lassen durch die implizite Vorstellung von Ungleichheit oft genug an das Zeitalter des europäischen Kolonialismus denken. So werden die Bürger postjugoslawischer Gesellschaften vor die Wahl gestellt, in einem erweiterten europäischen Kontext entweder neo- und quasikoloniale Beziehungen zu akzeptieren, oder aber jede Annäherung der staatlichen Gebilde auf dem sogenannten westlichen Balkan, die sehr wohl eine gemeinsame sozialistische Vergangenheit haben, nur unter den neoliberalen Zielvorgaben von Profit, Markt und Wirtschaftsinteressen fördern zu dürfen. Weder die eine noch die andere Option berücksichtigt die Vergangenheit, die durch alltägliche und kollektive Erfahrungen gestaltete Subjektivität ehemaliger Jugoslawen – und deshalb hat keine von ihnen das Potenzial, den postjugoslawischen Gesellschaften zu Autonomie und Emanzipierung zu verhelfen.
Im zweiten Teil des Buches untersuche ich die Bestrebungen nach autonomem Handeln, die auf verschiedene Aspekte der sozialistischen Erfahrung zurückgreifen. Auch dieser Teil ist in drei Kapitel untergliedert. Im ersten untersuche ich, wie der Name Jugoslawien verschwiegen, wodurch er ersetzt, und wie dadurch eine »Neuerfindung des Westbalkan« befördert wurde. Im zweiten Kapitel beschreibe ich den gesellschaftlichen Kontext, in dem es unmöglich geworden ist, die Forderung nach einer besseren und gerechteren Zukunft zu artikulieren und sich gleichzeitig auf die Erfahrung des jugoslawischen Sozialismus zu berufen. Wer auf einer Integration der jugoslawischen Erfahrung in die Zukunftsstrategien besteht, muss daher die Nostalgie und die Ironie gleichermaßen verwerfen. Ein Beispiel dafür sind selbstorganisierte Chöre, die dieser doppelten Falle entkommen und die sich sowohl dagegen verwahren, dass ihr Handeln mit dem Etikett der Jugonostalgie versehen und damit als passiv und irrational, ja als eine sentimentale und politisch völlig unbrauchbare Einstellung abgetan wird, wie auch dagegen, dass es affektentleert und deemotionalisiert wird, weil damit die notwendigen alternativen politischen Entwürfe und Zukunftsvisionen, die jenseits von dominanten Diskursen, europäischen wie nationalistischen, stünden, unmöglich gemacht würden. Auch im dritten Kapitel, zum Vermächtnis der sozialistischen Industriearbeit und dessen Rolle für die heutige gesellschaftliche und politische Imagination, ist das Affektive zentral. Der Versuch, die sozialistische Industrialisierung in ein Kulturerbe umzuwandeln, zeigt, dass affektentleerte Erinnerungen an die Arbeit im Sozialismus jegliches Begeisterungspotenzial verlieren und Teil eines kühl-musealen Narrativs werden, das die Botschaft von Solidarität, Würde und Zugehörigkeit weder vermitteln kann noch vermitteln will.
Im zweiten Teil des Buches zeige ich durch Analysen, dass auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien die jugoslawische Erfahrung und das Vermächtnis des jugoslawischen Sozialismus zum europäischen Gedanken in seiner emanzipatorischen Dimension gehören. Sie sind vor allem im Kulturbereich angesiedelt und brechen mit einer homogenen Idee von Europa, wie sie im dominanten politischen Diskurs vertreten wird, und mit der normativen Vorstellung einer Einbahnstraßen-Europäisierung als Bedingung für die Zukunft. Statt mit dem unhinterfragten Nexus Europa/EU–Zukunft, verbinden die Bürger der ehemals jugoslawischen Gesellschaften die Idee des Kosmopolitismus und das Gefühl der Zugehörigkeit häufig mit der sozialistischen Vergangenheit, und nicht mit der postsozialistischen Gegenwart oder der »europäischen« Zukunft, die ihnen politische Programme ihrer nationalistischen Parteien und EU-Politiker gönnerhaft in Aussicht stellen. Denn in dieser Vergangenheit, viel mehr als in der Gegenwart, konnten sie sich selbst als Handelnde erleben und hatten Zugang zu einem geografisch und kulturell deutlich größeren Raum. Außerdem heben sie auch die verlorenen Errungenschaften des Sozialismus, etwa die soziale Sicherheit und die allgemein zugängliche Bildung, für die »europäische« Vergangenheit hervor. Jugoslawien ist ein wichtiger Bestandteil der Zukunftsvisionen seiner ehemaligen Bürger. In ihren Handlungen, Erwartungen und Äußerungen schlägt sich dies in Mustern des Antifaschismus, des Widerstands, des Kosmopolitismus und der Solidarität (letzteres vor allem in den Narrativen über die Arbeit und die Arbeiter) nieder. Durch sie sollen postjugoslawische Gesellschaften nicht in die Vergangenheit verwiesen oder eine erstarrte (oder gar totalitäre) sozialistische Ideologie perpetuiert werden; vielmehr werden so universale Werte der Vergangenheit in die Fundamente einer »europäischen Zukunft« eingebaut, die annehmbarer wäre als diejenige der hegemonialen Diskurse offizieller EU-Vertreter und nationalistischer Eliten der Region.
Nach einigen mittelalterlichen Denkern ist die Existenz untrennbar mit dem Namen verbunden. Doch um was für eine Existenz handelt es sich beim Namen Westbalkan, den wir heute ohne zu zögern in der Politik, in den Medien und im Alltag gebrauchen?
Westbalkan als wertfreie geografische Bezeichnung findet sich schon in der Literatur des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts (vgl. Vedriš 2006). 1897 schrieb der Engländer H. C. Thomson das Buch »The outgoing Turk: Impressions of a journey through the Western Balkans« und The Illustrated London News veröffentlichte 1928 einen Artikel über Hexen im Westbalkan. »Westbalkan« oder »der westliche Balkan« werden heute von Biologen, Geografen, Archäologen und anderen Wissenschaftlern als geografische Bezeichnungen für den westlichen Teil der Balkanhalbinsel verwendet. Ihren neutralen Charakter erkennen wir daran, dass sie auch Entsprechungen für andere Teile der Halbinsel implizieren können (der zentrale Balkan, der östliche Balkan usw.).
Der sachlichen Verwendung des Begriffs »westlicher Balkan« in der Geografie steht die häufigere und mitnichten neutrale in der Politik gegenüber. Unter »westlicher Balkan« versteht man dann jene Balkanstaaten, die immer noch nicht in der EU sind, also Albanien und die ehemaligen jugoslawischen Republiken mit Ausnahme Sloweniens und Kroatiens. Die Politologin Ana Bojinović (Bojinović 2005, S.15, Anm.6) behauptet, es handele sich, »im Gegensatz zum geografischen Begriff des Balkans, der sich auf die nach einer Gebirgskette benannte Halbinsel bezieht, um einen rein politischen Terminus, der 1998 auf einem Treffen des Rats der Europäischen Union in Wien geprägt wurde«. Inzwischen hat sich die Bezeichnung Westbalkan etabliert und ist einer der Schlüsselbegriffe in den Diskussionen über den EU-Beitritt südosteuropäischer Staaten, die Außen- und Sicherheitspolitik der EU und ihrer Mitgliedsstaaten und so weiter.
Im politischen Vokabular hat Westbalkan die Bezeichnung »Südosteuropa« ersetzt, mit der in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts die Staaten benannt wurden, in denen es ethnische Konflikte gegeben hatte. Dies war seinerzeit eine Art Euphemismus für den belasteten Begriff »Balkan«, den die meisten neu entstandenen Staaten für sich ablehnten. Allerdings ist die Bezeichnung »Südosteuropa« als eine vermeintlich neutrale Alternative zu Balkan noch älter. Maria Todorova (Todorova 1999, S.50) weist darauf hin, dass der Begriff »Balkanhalbinsel« nach 1918 allmählich verschwand: »Er war ja schon seit einiger Zeit wegen seiner geografischen Unzulänglichkeit und seiner wertungsbesessenen Art Angriffsziel, aber er verschwand nicht, besonders, was die deutschsprachige Literatur anbelangte.« Laut Mathias Bernath (Bernath 1973, S.142) sollte »Südosteuropa« die »neutrale, nichthistorisch-politische und nichtideologische Vorstellung werden, die darüber hinaus die bestehende historisch-politische Dichotomie zwischen der Donaumonarchie und dem osmanischen Balkan abschaffte, die irrelevant geworden war«. Allerdings wurde der Begriff in den Dreißiger- und Vierzigerjahren von den Nationalsozialisten vereinnahmt, was ihn dauerhaft belastet hat: »›Südosteuropa‹ wurde zu einer bedeutenden Vorstellung innerhalb der geopolitischen Ansichten der Nazis und hatte einen fest definierten Platz in ihrer Weltordnung als ›Wirtschaftsraum Großdeutschland Südost‹, die ›natürlich bestimmte ökonomische und politische Vervollständigung‹ des Deutschen Reichs im Südosten« (Todorova 1999, S.50).9
In den Neunzigerjahren wurde die Ablösung des Terminus Südosteuropa durch Westbalkan nicht einhellig begrüßt. So fand etwa Wim van Meurs (van Meurs 2000, S.5), »Südosteuropa« sei eine weitaus treffendere Bezeichnung, da mit ihr diese Region als ein Teil Europas anerkannt werde und ihre Probleme als europäische Probleme, deren Lösung auch eine europäische sein müsse. Und eine der Lösungen sei »sowohl eine Vertiefung als auch eine Erweiterung der Union«.
Der europäische Südosten wurde immer wieder neu benannt, und jede neue Bezeichnung diente als eine Art Euphemismus der vorherigen, um den Schaden, den Stereotype und ideologische Vorbelastung angerichtet hatten, zu beheben. Die westlichen Urheber der wechselnden Namen scheinen aber nicht bedacht zu haben, dass das Problem nicht im Namen liegt, sondern in den Handlungen und Äußerungen, durch die er für »unpassend«, politisch »inkorrekt« und unerwünscht erklärt wird.
Aber kann man überhaupt über den Westbalkan als Region so sprechen wie die Politiker, oder wie man eben über andere Regionen Europas spricht?
Die Fachliteratur kennt viele Definitionen des Begriffs »Region«, aber in allen wird sie als ein Gebiet definiert, »das auf die eine oder andere Weise begrenzt oder zumindest räumlich definiert ist« (Johansson 1999, S.4, zitiert nach Todorova 2006, S.297). Manche Forscher warnen, eine Region müsse auch spezifische Eigenschaften aufweisen und einigermaßen kohärent sein, um sich von der Umgebung abzusetzen (ebendort). In diesem Sinne wäre der Westbalkan eine Region nach traditionellem Verständnis – nicht etwa, weil die Staaten des Westbalkan keine Gemeinsamkeiten hätten, sondern weil sie sich von ihren Nachbarstaaten nur in der ausstehenden EU-Mitgliedschaft unterscheiden. Laut Maria Todorova ist das historische Vermächtnis einer der entscheidenden Faktoren, die ein Territorium kulturell, geschichtlich und politisch bestimmen. Der Westbalkan erfüllt als Einheit auch dieses Kriterium nicht, denn das gemeinsame historische Vermächtnis, nämlich das des Habsburger und des Osmanischen Reichs, sowie das jugoslawische und das sozialistische Vermächtnis, teilen diese Staaten mit weiteren Staaten der Region. Eine Antwort auf die Frage, was der Westbalkan ist, können wir nur bekommen, wenn wir sie negativ formulieren, uns also fragen, was er nicht ist. Dann ist die Antwort klar: Er ist nicht Teil der EU.
Eine weitere Schwierigkeit bei dem Versuch, die Staaten des Westbalkan als eine Einheit zu sehen, ergibt sich aus dem Streben dieser Staaten nach dem EU-Beitritt: Der Begriff Westbalkan wird genau dann verschwinden, wenn alle Staaten zwischen Kroatien im Westen, Ungarn im Norden, Rumänien und Bulgarien im Osten und Griechenland im Süden in die EU aufgenommen worden sind. Der Beitritt eines Staates dieser Region zur EU bedeutet zugleich das Ende seiner Zugehörigkeit zum Westbalkan. Die immer wechselnde Konnotation der Bezeichnung macht es unmöglich, vom Westbalkan als einer stabilen, neutralen geografischen oder kulturellen Einheit mit immanenten Eigenschaften – also einer Region – zu sprechen.
Des Weiteren ist es auch unmöglich, zu der vermeintlich einheitlichen Region Westbalkan andere geografische Entsprechungen zu finden: Es gibt nämlich keinen Ost-, Süd- oder Nordbalkan, es gibt nur den Westbalkan und Europa, genauer, die EU.
Auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien, wo die meisten Gesellschaften ihre geografische und kulturelle Zugehörigkeit zum Balkan verneinen, breitet sich eine solche Kategorisierung notwendigerweise auch jenseits der Politik aus und provoziert zahlreiche Bedenken und Fragen. Dies lässt sich gut an einigen Reaktionen auf einen Artikel in der slowenischen Tageszeitung Delo vom 21. September 2007 ablesen, in dem der damalige slowenische Außenminister Dimitrij Rupel einen »Lösungsvorschlag für den Westbalkan« unterbreitete (http://www.delo.si/clanek/47835, Abruf am 8. März 2009): »Ja, ja, wir sind ja auch Balkan. Den westlichen gibt es also, und wo sind die anderen drei Seiten? So wirft man uns im Ausland alle in einen Topf. Wir sind alle Brüder und Schwestern«. Die Leserbriefautoren schrieben etwa: »Rupel kann bei der Lösung der Probleme auf dem Balkan nicht glaubwürdig handeln. Soll er doch zunächst mal klar stellen, was der Westbalkan überhaupt ist. Das können nur wir Slowenen sein. Und danach kommt der mittlere und dann der östliche Balkan«; »Geografisch gesehen ist das doch vollkommen falsch! Weißt du denn überhaupt, wo die Grenze des Balkans verläuft (also nicht des West-, Süd-, Ost-, sondern einfach nur des Balkans)??? Slowenien ist ›geografisch‹ doch überhaupt nicht auf dem Balkan! Ja, gehört dann Italien auch zum Westbalkan?« In Slowenien ist der Terminus Westbalkan schon so präsent, dass er auch in den marginalen Kommunikationsräumen, etwa in diesem Graffito an der Wand eines Kindergartens in Ljubljana, reinterpretiert wird:
»Nur der Slowene rettet den Slowenen. Nordbalkan« eine Anspielung auf das neuerdings auch auf der Flagge Serbiens abgebildete pseudoheraldische Zeichen, dessen vier (kyrillische) »S« angeblich für den Spruch »Samo sloga Srbina spasava« (Nur die Eintracht rettet den Serben) stehen sollen.
Im Übrigen ist Westbalkan nicht die einzige Bezeichnung innerhalb der symbolischen Geografie Europas, für die Korrelate fehlen. So weist Maria Todorova (2006, S.31) darauf hin, dass das US-amerikanische State Department 1997 seine Botschaften anwies, nicht mehr von Ost-, sondern nur noch von Mitteleuropa zu sprechen, weil erstere Bezeichnung die neuen demokratischen Staaten im Osten des europäischen Kontinents beleidigen könnte. Dies hat nach Todorova einen interessanten Effekt: Es gebe nur Mitteleuropa, und gleich dahinter komme Russland. »Es gibt einen Kontinent, der Europa heißt; dieser Kontinent hat eine Mitte, die irgendwie nicht richtig Europa ist und deswegen ›Central Europe‹, also Mitteleuropa heißt (und da wir gerade bei Namen sind, könnten wir diese Mitte genauso gut ›Untereuropa‹ nennen); das echte Europa liegt im Westen und hat keinen Osten.« (ebendort) Eine ähnliche Europakarte könnte sich mit einer entsprechenden Erweiterung des Begriffs »Mitteleuropa« auch aus den inzwischen schon traditionellen Treffen mitteleuropäischer Staatsoberhäupter ergeben: Das vierte Treffen fand 1997 im slowenischen Piran statt, und an ihm nahmen die Präsidenten Deutschlands, Italiens, Österreichs, Polens, der Slowakei, Sloweniens, Tschechiens und Ungarns teil. Zu diesem Anlass gab die slowenische Post eine Briefmarke mit Wappen dieser mitteleuropäischen Staaten heraus:
Slowenische Briefmarke 1997
Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wurde »Mitteleuropa« in Richtung Osten und Südosten erweitert. Beim neunten Treffen, 2002, diesmal im slowenischen Bled, waren sogar 16 »mitteleuropäische« Staaten vertreten: Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Deutschland, Italien, Jugoslawien (das sind zu diesem Zeitpunkt Serbien – mit dem Kosovo – und Montenegro), Kroatien, Mazedonien, Moldawien, Österreich, Polen, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, Tschechien, die Ukraine und Ungarn. Auch zu diesem Treffen wurden eigens eine Briefmarke und ein Stempel gestaltet, die jeweils ein »erweitertes« Mitteleuropa zeigten:
Slowenische Briefmarke mit Sonderstempel 2002
Das elfte Treffen fand 2004 im rumänischen Mamaia, unweit von Constanţa statt, das zwölfte in Zagreb und das dreizehnte in Varna. Auf dem letzten betonte der ehemalige slowenische Präsident Dr. Janez Drnovšek, »Mitteleuropa« werde »ein geografischer Begriff bleiben, und kein politischer. An seine Stelle wird nämlich die Europäische Union treten, und die Mitteleuropäer werden in ihr keine eigene politische Einheit darstellen, weil das unnötig sein wird« (Delo, 19. Mai 2006).
Der Begriff Westbalkan ist also sowohl ein geografischer als auch ein politischer; oder, sprachwissenschaftlich formuliert, diese zwei Aspekte sind nicht synonym, sondern homonym, sie decken nicht dasselbe semantische Feld ab und hinter ihnen stehen verschiedene ideologische Muster. Wie im Falle der Bezeichnung Balkan, wird auch der Westbalkan zunehmend »mit sozialen und kulturellen Bedeutungen angereichert […], die seine bezeichnete Bedeutung weit über seine direkte und konkrete Bedeutung [also die geografische; T. P.] hinaus ausweiten« (Todorova 1999, S.42). Der politische Terminus Westbalkan mit all seiner ideologischen Last10 wird heute im öffentlichen Diskurs viel häufiger verwendet, was weitreichende Folgen hat.