Bald Guyz stellt Kopfwischtücher, Feuchtigkeitsgel und alle mögli-chen anderen tollen Sachen für Männer her, die sich für ein haarlo-ses Leben entschieden haben. Das Unternehmen hat sich für diese Erwähnung bisher nicht erkenntlich gezeigt, ich hoffe jedoch sehr, dass das noch nachgeholt wird oder dass man mir ein Paket mit Gra-tisprodukten zusendet.
Ich hätte über so viele Passagen in Claire Tomalins wundervoller Biografie begeistert schreiben können. Nach der Veröffentlichung der Kolumne stellte sich heraus, dass dieser Brief eine Fälschung war und dass die beiden großen Männer sich nie begegnet sind. Sie sollten ihr Buch dennoch lesen.
Michel de Montaigne, Essais, übersetzt von Hans Stilett, »Die andere Bibliothek«/Eichborn, Frankfurt 1998 (S. 101)
Sarah Bakewell, Wie soll ich leben? oder Das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig Antworten, übersetzt von Rita Seuß, C. H. Beck, München 2012 (S. 15)
John Updike, Heirate mich! Eine Romanze, übersetzt von Angela Praesent, Rowohlt, Reinbek 1978 (S. 15 und S. 152/53)
Jon Ronson, Die Psychopathen sind unter uns: Eine Reise zu den Schaltstellen der Macht, übersetzt von Martin Jaeggi, Klett-Cotta, Stuttgart 2012 (S. 74/75)
David Almond, Mina, übersetzt von Alexandra Ernst, Ravensburger, Ravensburg 2011 (S. 135 u. S. 82)
Für Harry Ritchie
Von den Herausgebern des Believer
Dies ist die dritte auf Deutsch erscheinende Sammlung von Kolumnen des preisgekrönten englischen Romanciers, Drehbuchschreibers, Journalisten und Kritikers Nick Hornby aus der amerikanischen Literaturzeitschrift The Believer. Sie enthält Hornbys Lesetagebuch aus anderthalb Jahren, das in der Zeitschrift regelmäßig unter der Überschrift »Zeug, das ich gelesen habe« erscheint. Die Kolumne beginnt immer gleich: Hornby listet die Bücher auf, die er im vorangegangenen Monat gekauft hat, danach die Bücher, die er gelesen hat. Erfahrene Leser, vertraut mit den Unwägbarkeiten des Buchsammlerlebens, können sich wahrscheinlich denken, dass es in fast keinem Monat Überschneidungen zwischen den beiden Listen gibt.
Hornbys Berichte bieten einen überraschenden, anregenden und witzigen Einblick in die Weite eines zutiefst toleranten und wohlmeinenden Intellekts. Hornbys Lektüre ist breit gefächert, seine Neugier ist unnachahmlich menschenfreundlich, gelegentlich aber auch sarkastisch. Die Essays dieses Bandes führen die Leser zu großartigen Büchern aller Genres und Epochen, von verstaubt bis poppig, sie stellen womöglich übersehene, abgelehnte oder auch schlicht gekaufte und dann im Stapel anderer Bücher vergessene Werke vor.
Wer Weniger reden … in seine eigene Liste der gelesenen Bücher einreiht, erneuert damit seine Leseenergie, um so den nächsten Stapel unbezwungener Taschenbücher anzugehen, und erwirbt gleichzeitig eine tolerantere Haltung gegenüber dem Anwachsen solcher Stapel.
Die Rückkehr des Bumerang-Kindes; Ärger Luft machen; Kritik von Seeleuten aus dem Hafen von Chatham; Mass Observation; versuchter Kitzel
Austerity Britain, 1945–51 – David Kynaston
Rost – Philipp Meyer
Puzzled People: A study in Popular Attitudes to Religion, Ethics, Progress and Politics in a London Borough, Prepared for the Ethical Union – Mass Observation
The British Worker – Ferdynand Zweig
Austerity Britain, 1945–51 – David Kynaston (ein Drittel)
Rote Zukunft – Francis Spufford
Rost – Philipp Meyer
Es ist nicht leicht, nach Hause zurückzukehren, wenn man draußen in der Welt gescheitert ist. Als ich diese Seiten 2008 für beendet erklärte, war meine Einstellung in etwa: »Lebt wohl, ihr Nerds und Loser! Ich habe so einiges vor – Dinge ausprobieren, die Welt sehen, Leute treffen!« Na gut. Was will man machen, wenn sich die Leute nicht treffen lassen wollen? Ich bin nun zu einem jener jämmerlichen modernen Phänome geworden, von dem Sie vielleicht schon gelesen haben: ein Bumerang-Kind – ein Kind, das hocherhobenen Hauptes aus dem Haus stolziert (typischerweise mit gestrecktem Mittelfinger), sich ein paar Jahre lang mit einem schlechten Job bei einer Zeitschrift oder einer Bank durchschlägt und dann mit eingekniffenem Schwanz zurückkommt, um sein Kinderzimmer wieder zu beziehen und sich zu wundern, wieso seine Eltern sich samstagabends so gut amüsieren.
»Was soll man als Elternteil tun?«, jammert der Autor eines (für mich jedenfalls) erschreckenden Artikels zu ebendiesem Thema auf der Webseite eHow.com. »Es fällt schwer, die eigenen Kinder fortzuschicken. Eltern sollten ihnen in dieser Situation begreifen helfen, dass sie jetzt selbst erwachsen sind und die Regeln sich geändert haben.« Zu den neuen Regeln sollte unter anderem gehören, heißt es da weiter, dass die Kinder Miete bezahlen und Hygieneartikel und andere Kleinigkeiten des täglichen Bedarfs selbst kaufen. Ich bin ziemlich sicher, dass ich mich bei Hygienekleinigkeiten durchsetzen werde, sollte es zum Äußersten kommen. Es ist ziemlich heiß hier in den Believer Towers, und ich vermute, dass der Polysyllabic Spree – die 115 Menschen mit müden Augen, aber duftenden Leibern, die diese Zeitschrift herausgeben – viel eher einknickt als ich. Trotzdem. So hatte ich mir das eigentlich nicht vorgestellt, als ich wegging: dass ich achtzehn Monate später für Gratisdeo wieder hier arbeiten würde. Besonders erniedrigend ist in meinem Fall, dass ich im Gegensatz zu den meisten Bumerang-Kindern deutlich älter bin als diejenigen, die mich wieder aufgenommen haben. Die Leute vom Believer sind zwar auch nicht mehr so jung, wie sie mal waren, aber dennoch.
Ich habe beschlossen, meinem Ärger Luft zu machen, indem ich mich mit einer Reihe von Büchern beschäftige, die, so hoffe ich, die Leserschaft dieser Zeitschrift keinen Deut interessieren werden. David Kynastons hervorragendes Werk Austerity Britain ist über sechshundert Seiten dick und beschäftigt sich mit nur sechs Jahren (1945–51) im Leben meines Landes. Der zweite Band der Serie – Family Britain, 1951–57 – ist bereits veröffentlicht, und darauf werde ich mich als Nächstes stürzen; Kynaston will uns bis zur Wahl Margaret Thatchers im Jahr 1979 führen, und ich warne Sie jetzt schon, dass ich vorhabe, jedes einzelne Wort davon zu lesen und mich ausgiebig in dieser Kolumne darüber zu verbreiten.
Ich habe noch nicht mal ein Drittel von Austerity Britain gelesen, aber das reicht, um es als ein Hauptwerk der Sozialgeschichte zu erkennen: süffig, herausragend recherchiert, informativ und fesselnd. Zum Teil beruht Kynastons triumphale Leistung auf seiner ungeheuren Fähigkeit, sämtliche zur Verfügung stehenden Materialien zu verarbeiten und zu ordnen: Manchmal gewinnt man den Eindruck, er habe jeden im betreffenden Zeitraum geschriebenen Roman gelesen sowie jede Autobiografie, ob sie nun von einem Mitglied der Labour-Nachkriegsregierung stammte oder von einem Mitglied der englischen Nachkriegs-Cricketmannschaft. (Auf Seite 199 meiner Taschenbuchausgabe zitiert er den ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden der Labour Party, Roy Hattersley, den Rolling-Stones-Bassisten Bill Wyman und die Kochbuchautorin Elizabeth David, alle zum Thema des ungewöhnlich kalten Winters 1947.) Und selbstredend hat er jede Radiosendung gehört und jede Zeitung durchforstet.
Kynaston erzielt damit eine außerordentliche Wirkung: Großbritannien ändert sich von Monat zu Monat, wie ein Kind, und am Ende hat man das Gefühl, dass jeder Mensch die Gelegenheit haben sollte, ein so gutes Buch über sein eigenes Land zu lesen. Ich bin aber froh, dass es noch nicht jeder Mensch in Großbritannien gelesen hat (obwohl es sich ziemlich gut verkauft), denn man kann Anekdoten daraus klauen und sie als seine eigenen ausgeben. Eine meiner Lieblingsstellen bisher ist der Bericht des Regisseurs David Lean darüber, wie er seinen Film Begegnung in einem Kino in Rochester in Kent einem hartgesottenen Publikum präsentierte, hauptsächlich Seeleute und Arbeiter aus der Werft von Chatham. »Bei der ersten Liebesszene fing eine Frau in den vorderen Reihen an zu lachen. Das werde ich nie vergessen. Bei der zweiten Szene lachte sie noch mehr. Davon ließ sich das ganze Publikum anstecken, die Leute warteten nur auf ihr Lachen, um alle einzustimmen, und am Ende war es der reinste Zirkus. Die Leute lagen johlend unter den Sitzen.« Begegnung ist in Großbritannien äußerst beliebt, und oft holen Leute ihn hervor und wedeln damit herum, wenn sie zeigen wollen, wie sehr wir uns als Nation verändert und was wir verloren haben: In der guten alten Zeit haben wir unsere Sprache ebenso wie unsere Gefühle besser beherrscht, sind verheiratet geblieben und nicht bei erstbester Gelegenheit aus den Kleidern gesprungen usw. Wir sind anscheinend von der unerschütterlichen Gewissheit befallen, dass wir so viel mehr wissen als die Leute vor uns, in vor-ironischer Zeit, und deshalb macht es sowohl klüger als auch demütiger, wenn man erfährt, dass schon Hafenarbeiter aus Rochester vor einem halben Jahrhundert keine Satire-Webseite brauchten, um zu wissen, wann sie sich totlachen sollen.
Das beste Material gewinnt Kynaston aus dem britischen »Mass-Observation«-Projekt, das von den späten 30er-Jahren bis Mitte der 60er lief. Die Gründer von MO – der Anthropologe Tom Harrisson, der Dichter Charles Madge, der Filmemacher Humphrey Jennings und viele andere (sogar der kolossale und kolossal kluge Literaturkritiker William Empson wirkte an irgendeiner Stelle mit) – gewannen fünfhundert Freiwillige, die für sie Tagebuch führten und Fragebögen ausfüllten, und die Ergebnisse sind ein unübertroffenes Dokument dessen, was der Krieg und seine Nachwirkungen für den normalen Briten bedeutete. Sicher, es waren auch eigenwillige Charaktere beteiligt: Henry St. John, ein Beamter aus Bristol, verzeichnete penibel jede Gelegenheit zur Selbstbefriedigung, wann immer sie sich bot. Ein Besuch im Londoner Windmill Theatre, berühmt für seine nackten tableaux vivants, regt ihn zu folgender Beobachtung an: »Ich zögerte die Masturbation hinaus, bis wieder eine nackte Nebenfigur von vorn zu sehen war, der etwas Stoff zwischen den bloßen Brüsten herabhing.« Am Tag nach Hiroshima besucht Henry eine öffentliche Toilette im Nordosten, »um zu schauen, ob ich nicht angesichts der Wandzeichnungen masturbieren könnte«. Man kann ja über das Internet sagen, was man will, aber für eine bestimmte Sorte unterbeschäftigter Männer ist das Leben einfacher und hygienischer geworden.
Es geht aber natürlich nicht nur ums Wichsen. Austerity Britain beschreibt die mentale Verfassung eines ramponierten und bankrotten Landes und seine Versuche, sich wieder aufzurichten; es geht um Lebensmittelrationen und Stadtplanung, um Wohnraum und Kultur, um Sozialismus und Aufstieg, und das Buch vergisst keine Sekunde, dass die vielen (vor allem grauen und braunen) Steinchen zusammen ein riesengroßes Mosaik unserer kleinen, belagerten Insel ergeben. Wenn Sie Prosa lesen oder schreiben, dann freut es Sie vielleicht zu sehen, wie Kynaston sich auf zeitgenössische Literatur stützt, um seiner Darstellung Farbe und Authentizität zu verleihen. Es heißt immer, dass allzu zeitgebundene Romane nicht von Dauer seien; aber was taucht sonst so tief in das Denken und Fühlen einer bestimmten Epoche ein? Ich vermute, in fünfzig oder hundert Jahren werden wir uns kaum dafür interessieren, was jemand im Jahr 2015 über den amerikanischen Bürgerkrieg zu schreiben hatte. Ich will Ihnen nicht die Laune verderben, wenn Sie gerade den letzten Absatz eines 700-Seiten-Epos über Gettysburg schreiben – ich bin überzeugt, Sie werden jede Menge Preise gewinnen und dergleichen. Aber das war’s dann auch.
Es war ein Monat, in dem ich an unwahrscheinlichen Stellen Lesefreude gefunden habe, und David Kynaston möge mir verzeihen, dass ich mich vorher gefragt habe, ob ein dickes Sachbuch mit dem Wort »Austerität« im Titel Spaß machen werden würde. Francis Spuffords Roman Rote Zukunft behandelt Nikita Chruschtschows Planwirtschaft und enthält den Satz (zugegebenerweise in den ausführlichen Fußnoten am Ende) »die Multiplikatoren, von denen Kantorowitschs Lösung der Optimierungsprobleme abhing«, und er ist großartig. Sicher, das Lesen gestattet einem auch eine Portion Selbstgefälligkeit – »Seht mich an! Ich lese ein Buch über Engpässe in der sowjetischen Gummiindustrie Anfang der 60er-Jahre, und ich liebe es!« Aber ehrlich gesagt sind solche Gedanken völlig fehl am Platz und werden Spufford absolut nicht gerecht, denn er hat es geschafft, das womöglich trostloseste Ausgangsmaterial aller Zeiten in ein unglaublich kluges, überraschend fesselndes und zutiefst exzentrisches Buch zu verwandeln, eine Hammer-und-Sichel-Version von Robert Altmans Nashville mit Zentralkomitee anstelle von Countrymusik. (Aus Rote Zukunft ließe sich wahrscheinlich ein wunderbarer Film machen, aber ich überlasse es anderen, diesen Vorschlag einem Hollywoodstudio zu unterbreiten, das dafür zahlen soll.) Spufford bietet ein großartiges Ensemble auf, eine Mischung aus realen und fiktiven Figuren, und zeigt in Hunderten von Vignetten, wie sich Chruschtschows ehrenwerte Kampagne, seinen hungrigen und unterdrückten Landsleuten genug von dem zu geben, nach dem sie verlangten, auf das Leben von Ökonomen, Landwirten, Politikern, Schwarzmarkthändlern und sogar von Lohnschreibern auswirkte. (Es gab natürlich auch nur Lohnschreiber, denn man schrieb, was einem vorgeschrieben wurde.)
Francis Spuffords Name ist in dieser Kolumne schon einmal gefallen: The Child That Books Built ist sein brillantes Erinnerungsbuch darüber, was wir lesen, wenn wir jung sind, und warum. Und ich bin zwar nicht der Einzige, der ihn für einen der originellsten Köpfe der zeitgenössischen Literatur hält, aber wir sind eindeutig zu wenige. Daran ist zum Teil seine geradezu perverse Themenwahl schuld – außer Rote Zukunft und den Lesememoiren hat er Bücher über Eis und englische Tüftler und Erfinder geschrieben –, aber am Ende ist man immer überzeugt, dass das verstaubte Thema seiner Wahl so mannigfaltig nachhallt, wie man es nie geahnt hätte. Eins seiner Themen in diesem Buch ist die schiere Geisteskraft, die für das erstaunliche Experiment namens Sowjetkommunismus benötigt wurde; wir wissen inzwischen, dass das Experiment scheiterte, aber alle Aspekte von Angebot und Nachfrage kontrollieren zu wollen ist auch sehr viel komplizierter, als sich einfach zurückzulehnen und alles vom Markt regeln zu lassen. Wie sich zeigt, braucht man dafür Genie. Für Konzeption, Recherche und Verfassen dieses außerordentlichen Romans war nicht ganz so viel vonnöten, aber das liegt nur daran, dass geniale Romane nicht ganz so viel brauchen wie geniale Wirtschaftssysteme. Ganz im Ernst.
Vor ungefähr einem Jahr wählten mein Mitherausgeber und ich eine Kurzgeschichte von Philipp Meyer für eine Anthologie aus. (Die Sammlung erschien tatsächlich. Einer der vielen Pläne zum Geldverdienen, die in den letzten achtzehn Monaten kein Geld einbrachten. Kurzgeschichten von jungen, größtenteils unbekannten amerikanischen Autoren! Veröffentlicht nur in Großbritannien! Was konnte da schon schiefgehen? Nichts im Grunde. Darum vermute ich auch, dass ich übers Ohr gehauen wurde und mein Mitherausgeber irgendwo in Florida Kokain schnupft und Rennpferde kauft.) Diese Kurzgeschichte war ziemlich gut, und als ich dann eine ziemlich ekstatische Rezension von Meyers erstem Roman Rost las, und das ausgerechnet im Economist, da … na ja, ich würde gern wichtigtuerisch sagen, ich habe nicht eher geruht, bis ich das Buch endlich in den Händen hielt, wie ein unerbittlicher bibliophiler Detektiv, aber wir wissen ja alle, dass es heutzutage nur etwa zwei Sekunden dauert, ein Buch aufzutreiben.
Meine Ausgabe von Rost schmückt sich mit lobenden Zitaten von Patricia Cornwell und Colm Tóibín, was den Roman schon ganz gut einordnet: Rost ist eins der seltenen Bücher, das dem Leser nicht nur ein bedeutendes Thema bietet – das lange, langsame Sterben der amerikanischen Arbeiterklasse –, sondern auch einen packenden Plot, der uns mitten ins Thema hineinkatapultiert. Isaac und Poe, Anfang zwanzig, planen beide die Flucht aus ihrer kaputten Heimatstadt in Pennsylvania, die hauptsächlich aus verfallenden Stahlwerken besteht (das Buch schreit eigentlich auch noch nach einem Klappen-Zitat von Springsteen). Isaac ist klug und will auf eine Uni in Kalifornien; Poe hat ein Sportstipendium angeboten bekommen, ist aber zu planlos, es anzunehmen. Und dann tötet Isaac jemanden, und alles geht den Bach runter.
Diesem Buch fehlt nichts, soweit ich das beurteilen kann; es gibt nichts, was Meyer nicht könnte. Seine Charaktere sind wundervoll gezeichnet und unvergesslich – nicht nur Isaac und Poe, sondern auch die Schwestern und Eltern und die Polizeichefs, und sogar die Nebenfiguren, die Dickens’schen Herumtreiber und Kleinkriminellen, denen Isaac auf seiner Flucht aus Pennsylvania begegnet. Die Handlung ist so gebaut, dass allerlei delikate moralische Komplikationen entstehen, was jedoch dem kummervollen, wahrhaft empathischen Kern des Romans keinen Abbruch tut. Und anders als die meisten Romandebütanten weiß Meyer, dass wir alle sterben werden und dass wir vorher alle unser Leben irgendwie vermasseln werden. So. Ich hoffe, jetzt kaufen Sie alle das Buch.
Sie müssen zugeben: Wenn ich drei so gute Bücher direkt nacheinander lese, dann gebührt mir schon die größte Anerkennung. Sicher, ich weiß das handwerkliche Können zu schätzen, mit dem diese Bücher verfasst wurden, die Recherche, die Liebe, die Geduld, die Fantasie, das ungeheure Talent – so wie ich auch das handwerkliche Können zu schätzen weiß, mit dem ein vollkommen runder Fußball liebevoll von Hand genäht wird. Aber bei allem Respekt für Kynaston, Spufford und Meyer, es ist doch der Leser, der wirklich zählt und der den Ball ins Netz haut. Er schießt, er trifft. Drei Mal. Ein Hattrick, und das in der ersten Kolumne nach dem Comeback! Er kann es noch!
Geschichten eines Oscar-Nominierten; quantitative Analyse von Jennifer Anistons Karriere als Thema geistiger Beschäftigung; der Kinderfrieden
Die große Welt – Colum McCann
Die Besessenen: Abenteuer mit russischen Büchern und ihren Lesern – Elif Batuman
Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt – Richard H. Thaler, Cass R. Sunstein
Retter der Welt – John Wray
Lonelyhearts: The Screwball World of Nathanael West and Eileen McKenney – Marion Meade
Der Rest von Austerity Britain, 1945–51 – David Kynaston
Just Kids – Patti Smith
Die Besessenen: Abenteuer mit russischen Büchern und ihren Lesern – Elif Batuman
Fishing in Utopia: Sweden and the Future that Disappeared – Andrew Brown
Ein Teil von Puzzled People: A study in Popular Attitudes to Religion, Ethics, Progress and Politics in a London Borough, Prepared for the Ethical Union – Mass Observation
Im letzten Monat war ich also bei der Oscar-Verleihung. Und zwar als Nominierter , wie ich betonen möchte (kursiv und unterstrichen), nicht bloß als irgendein Loser, obwohl ich das gemeinerweise im Lauf der Veranstaltung wurde, und zwar infolge des archaischen und ganz bestimmt korrupten Abstimmungsprozesses der Academy. Und nun besteht meine Aufgabe darin, die Erwähnung dieser Tatsache in meiner Kolumne übers Lesen irgendwie relevant klingen zu lassen und nicht bloß willkürlich und selbstgefällig. Ich glaube, ich kann das schaffen: Mir ist aufgefallen, dass man so ziemlich jedes Buch, das ich in den letzten Wochen gelesen habe, als Antithese zu den Oscars bezeichnen kann. Austerity Britain? Da liegt es auf der Hand. Die beiden Worte im Titel stehen in direktem Gegensatz zu allem, was in der Preisverleihungssaison in Hollywood passiert. Man wird auch kaum einen Schauspielagenten in der Lobby des Chateau Marmont dabei erwischen, wie er Andrew Browns nachdenkliches, gelegentlich schmerzliches Buch über seine komplizierte Beziehung zum Land Schweden liest; Elif Batumans Die Besessenen: Abenteuer mit russischen Büchern und ihren Lesern ist von Menschen bevölkert, die ihr ganzes Leben lang eher über, sagen wir, die Erzählungen von Isaac Babel nachdenken als über Jennifer Anistons Karriere. (Ich will damit nicht sagen, dass eine geistige Beschäftigung der anderen überlegen ist, nur dass sie sich unterscheiden, vielleicht gar diametral gegenüberstehen.) Und selbst Patti Smiths Memoiren, die voller Stars und Glamour sein könnten, handeln ebenso sehr von Genet und Blake wie von Rock ’n’ Roll und sind von einer Zielstrebigkeit und Authentizität, die selbst dem Independent-Kino abgeht. Ach ja, und überhaupt nichts Fiktionales ist dabei, das muss doch auch etwas zu bedeuten haben, oder? Will man die Verderbnis abwehren, gibt es sicher kein besseres Mittel, als sich an den Swimmingpool zu setzen und ein Kapitel über die Wohnungsnot im Großbritannien der Nachkriegszeit lesen. Bei mir hat es jedenfalls funktioniert. Ich kann exklusiv enthüllen: Wenn Sie in Badehose an einem Swimmingpool in L.A. sitzen und David Kynaston lesen, lassen die Hollywood-Starlets Sie völlig kalt.
Austerity Britain zu Ende zu lesen war zweifellos meine größte Leistung in diesem Monat, sogar befriedigender, als dreieinhalb Stunden lang auf einem Plüschsessel anderen Menschen zu applaudieren, die sich kleine Statuen abholen. Vor einem Monat hatte ich nicht mal ein Drittel des Buches gelesen, doch da war bereits klar, dass die eigenwillige Breite und Tiefe von Kynastons Recherche mir mehr Freude bereiten würde, als ich erwarten durfte; auf den letzten paar Hundert Seiten brachte sie mich dann mehrmals zum Lachen. An einer Stelle zitiert Kynaston eine Presseerklärung des Vorstandsvorsitzenden der Hoover Company und fügt die hilfreiche Anmerkung hinzu, dass sie »wahrscheinlich von einer jungen Muriel Spark für ihn geschrieben wurde«. Diese Zusatzinformation macht zweifellos Freude, doch wenn man Kynaston kennt, weiß man auch um den Schmerz und die Frustration, die hinter dem Wort wahrscheinlich stecken: Wie viele Stunden seines Lebens, fragt man sich, hat er wohl mit dem Versuch verbracht, es zu streichen?
Während ich über die Geburtsstunde unseres National Health Service las, gewann Präsident Obama gerade die Schlacht um die Ausweitung der öffentlichen Gesundheitsversorgung in den USA; da ist es heilsam, den Erinnerungen der Ärzte zu lauschen, die in jenen ersten Tagen Briten aus der Arbeiterschicht behandelten. »Ich kann auf jeden Fall sagen, dass in den ersten sechs Monaten nach dem Beginn des NHS am 5. Juli 1948 bestimmt zwanzig oder dreißig Frauen mit den unglaublichsten gynäkologischen Beschwerden zu mir kamen – also, von diesen zwanzig oder dreißig war es bei mindestens zehn zu einem vollständigen Gebärmuttervorfall gekommen, und sie mussten das Organ mit einer Handtuchbinde im Körper halten, so als trügen sie eine große Windel.« Etwa acht Millionen kostenfreie Brillen wurden im ersten Jahr ausgegeben, dazu zahllose dritte Zähne. Es war nicht so, dass die Menschen ohne kostenfreie Gesundheitsversorgung starben; ihre Lebensqualität war aber unglaublich und unnötig niedrig. Vor dem NHSNHS422 Panto Round Oval;524 Contour.