Ali Mitgutsch
Herzanzünder
Mein Leben als Kind
Mit Bildteil
Deutscher Taschenbuch Verlag
Ingmar Gregorzewski wurde 1952 in Gütersloh geboren. Seit 1975 lebt er, unterbrochen von einigen beruflichen Auslandsaufenthalten, in seiner Wahlheimat München. Er ist Publizist, Lehrbeauftragter an verschiedenen Medieninstituten und Drehbuchautor, u. a. für den Münchner »Tatort«. Als langjähriger Freund und Berater von Ali Mitgutsch hat er dessen Erinnerungen aufgezeichnet.
Der Erfinder der »Wimmelbücher« erinnert sich an seine Kindheit: Aus vielen kleinen Episoden entsteht ein eindrucksvolles »Wimmelbild« einer Kinder- und Jugendzeit in München zur Zeit des Zweiten Weltkriegs.
Ali (Alfons) Mitgutsch kam 1935 als jüngster Sohn einer alteingesessenen Münchner Familie zur Welt. Schon bald wird die Kindheitsidylle getrübt durch den Krieg. Doch da war nicht nur die schreckliche Angst im Luftschutzkeller, die Sorge um den großen Bruder, der eingezogen worden war, oder die Zeit der Evakuierung auf dem Land, wo Städter nicht gern gesehen waren. Vor allem Schönes hat in der Erinnerung überlebt: nächtliche Ausflüge mit einem leeren Krug zur Straßenschänke, um für den Vater Bier zu holen oder der Familienpfiff, der die Klingel ersetzte. Und auch dem Schrecken des Krieges begegneten die Kinder mit Phantasie: die Trümmerlandschaften Schwabings und der Maxvorstadt waren für sie ein riesiger Abenteuerspielplatz.
Originalausgabe 2015
© 2015 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,
München
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ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-28057-0
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ISBN (epub) 9783423427135
»Ich habe nicht das Glück vor Augen,
sondern das Leben.«
Ali Mitgutsch
Am 5. Juni 1940 waren erste Brandbomben auf München gefallen. Ich war noch keine fünf Jahre alt. Ab 1942 wurden die Luftangriffe häufiger und zur ständigen Bedrohung für die Bevölkerung. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war der Zweite Weltkrieg auch in meiner Heimatstadt angekommen. Ende April 1945 flogen die Bomber zum letzten Mal über eine mittlerweile stark zerstörte Stadt hinweg. Die Flugzeuge der Alliierten kamen oft in der Nacht. Sie dröhnten über das verdunkelte München. Sie konnten unser Dasein auslöschen oder in eine Hölle verwandeln. Jedes Mal stand alles auf dem Spiel. Diese Luftangriffe gehören zu meinen frühesten Erinnerungen an die Kindheit.
Ich wurde in eine gutbürgerliche Familie hineingeboren, im Münchner Stadtteil Maxvorstadt, der zwischen der Altstadt und dem Künstlerviertel Schwabing liegt. Meine Eltern lebten im dritten Stock eines Mietshauses in der Schraudolphstraße. Das Haus hatte ursprünglich den Eltern meiner Mutter gehört. Mein Großvater war Bäcker gewesen, ein rechtschaffener und fleißiger Handwerker, den seine Gutmütigkeit teuer zu stehen kommen sollte: Für einen Mehllieferanten hatte er Wechsel unterschrieben, die platzten. Er musste dann mit fast seinem gesamten Vermögen dafür haften. Dadurch geriet meine Großmutter nach seinem Tod im Jahre 1917 in wirtschaftliche Not. Am Ende blieb ihr nichts anderes übrig, als das Haus 1923, im Jahr der Hyperinflation, für viele Milliarden Mark zu verkaufen, um die Familie auf diese Weise über jene schwierige Zeit zu retten. Die Käuferin des Hauses war eine Mieterin, zu der meine Eltern ein gutes Verhältnis hatten und die auf diesem Weg zu unserer Vermieterin geworden war.
Mein Vater hatte ebenfalls das Bäckerhandwerk erlernt, auch er war der Sohn eines Bäckermeisters. Eine Handverletzung, die er sich im Ersten Weltkrieg zugezogen hatte, zwang ihn dazu, seinen geliebten Beruf für immer aufzugeben. Er war ein großartiger Bäcker gewesen und bekannt dafür. »Der Wiggerl, der hat die besten Semmeln gemacht …!«, schwärmten die Leute noch, da war der Vater längst schon Beamter bei der Bahn. Eine Tätigkeit, die er zwar tadellos ausführte, aber auch eine Tätigkeit, die ihm längst nicht die Erfüllung brachte, die ihm das Leben in der Backstube beschert hatte.
Als er meine Mutter kennenlernte – die schüchterne, aber selbstbewusste Pauline –, da übte der junge Ludwig Mitgutsch noch voller Überzeugung seinen Lehrberuf aus. Draußen vor den Toren der Stadt lag das Gelände des Bäckererholungsheims, das sogenannte Waldheim. Es wurde 1906 errichtet und diente ursprünglich als Ferienheim für Münchner Bäckerskinder. In den Jahren 1913 und 1914 kamen Übernachtungsmöglichkeiten dazu. »Von da an gehörte Lochham alljährlich während der Ferienzeit den Bäckerskindern«, heißt es in der Chronik des Heims. Aber auch Bäcker-Fachvereinler, Bäcker-Sänger und Bäcker-Kegler nutzten den Ort für ihre Veranstaltungen. An den Wochenenden traf sich die Bäckerjugend dort regelmäßig zum Tanz.
Und so kam es, dass meine Eltern in einer Sommernacht bei einem Tanzabend in Lochham aufeinandertrafen, sich ineinander verliebten und schließlich heirateten.
Sie sollten eine durchaus turbulente Ehe führen. So gütig meine Mutter war, so warmherzig und verzeihend, so dickköpfig konnte sie sein. Und der Vater stand ihr in dem Punkt nicht nach, auch er konnte ausgesprochen stur sein. Nicht selten kam es vor, dass die beiden nach einem Streit drei Wochen lang kein Wort wechselten. Das war angesichts der beengten Wohnverhältnisse äußerst unangenehm. In den kleinen Zimmern, in denen sich das Familienleben abspielte, herrschte dann dicke Luft. Der Vater saß da und schaute wie abgekoppelt vom Leben um ihn herum in seine Zeitung, nicht bereit, nachzugeben. Auch die Mutter ließ sich nicht erweichen, obwohl ihr das sonst nicht so schwerfiel. »Zwei richtig Büffelköpfige« seien sie – mit diesem schönen Ausdruck beschrieb mein Vater die Situation sehr treffend und nicht ohne einsichtigen Humor.
Unsere Wohnung war für mich eine uneinnehmbare Festung. Es gab eine Küche, in der sich das Familienleben vorrangig abspielte. Sie kam mir vor wie ein winziges Boot, um das herum das Weltmeer bedrohlich toste. Mächtige Wellen drohten über uns zusammenzuschlagen und uns alle in die Tiefe zu ziehen. Das durfte nicht passieren. Die Enge der Küche war auch mein großer Trost. An diesem Ort konnte uns nichts und niemand auseinanderreißen.
Auf dem geschenkten, winzigen Sofa durfte derjenige liegen, der krank war und besonderen Schutz brauchte. Gut aufgehoben und geborgen unter uns anderen. Gewärmt von der Liebe der Familie. Im Fieberwahn sah ich Unebenheiten, die auf mich zukamen. Sie waren nicht überwindbar. Hilflos und nass geschwitzt ruhte ich auf dem Sofa, erschöpft gestrandet auf dem geliebten Möbel. Die Schritte der Mutter kamen näher, sie streichelte meine Stirn, verschwand kurz und kam mit einem kalten feuchten Lappen zurück. Ihre Stimme flüsterte. Aber der Sinn ihrer Worte versiegte in den Galaxien der Fiebersonne. Die kleinen Gesten der Mutter, des Vaters und der Geschwister entwickelten sich zu einer großen Wohltat. Alles wurde am Ende wieder gut.
Aber das kleine Küchensofa diente auch anderen Zwecken. Erschien Besuch bei uns, verwandelte es sich in eine Theaterloge, in die wir Kinder uns alle hineinzwängten. Wir liebten es, Publikum zu sein, zuzuhören.
Auf der anderen Seite des Flurs ein Wohnzimmer, ferner ein Mädchenzimmer für meine Schwestern, ein Bubenzimmer für meinen Bruder und der Raum, in dem die Eltern schliefen. Ich, der kleine Ali, getauft auf den Namen Alfons, schlief ebenfalls im elterlichen Schlafzimmer. Ich war das jüngste Mitglied der Familie Mitgutsch, gut behütet von Vater, Mutter und drei deutlich älteren Geschwistern. Meine große Schwester war schon neunzehn Jahre alt, als ich 1935 geboren wurde.
Sobald die Luftschutzsirenen aufheulten, waren alle hellwach. Neben meinem Bett wartete ein kleines »Sackerl« auf mich, eine Art Rucksack, der sich oben zusammenbinden ließ, hauptsächlich gefüllt mit mir zugedachter Nahrung. Das Sackerl lehnte an dem Pappkoffer, der alles enthielt, was die Familie unbedingt retten wollte. Draußen herrschte frostiger Winter. Schlaftrunken richtete ich mich auf, stand auf wackligen Beinen, versank bis zu den Knien im wohligwarmen Federbett, weinte vergeblich gegen das Geheule der Sirenen an und wartete darauf, dass sich endlich jemand meiner erbarmte.
Meistens war das meine älteste Schwester. Sie packte mich in meine Hose ein, schüttelte meinen matten Kinderkörper mit kräftigem Rucken in das Kleidungsstück, bis sich alles ordnungsgemäß an die richtigen Stellen verteilt hatte. Wenn Arme und Beine ihren Platz gefunden hatten, erfolgte das dazugehörige Festzurren der Stoffhosenträger. Anschließend bekam ich das Sackerl in die Hand gedrückt und trottete den anderen hinterher.
Stufe für Stufe trampelten die Familie und all die anderen Hausbewohner das hölzerne Treppengebirge abwärts. Ein jeder schleppte schwer an seinem Gepäckstück, dabei war die unfreiwillige Reise nur kurz – so zumindest die Hoffnung aller.
Die Prozession fand erst einmal in den Kellergewölben des Hauses ein Ende. Was dann kam, wohin wir alle wirklich aufgebrochen waren, ob letztendlich wieder zurück in die Wohnung, in eine Notunterkunft oder gar in den gemeinsamen Tod, das lag nicht mehr in unserer Hand. Immerhin hatte man die Kellerwände zu den Nachbarhäusern aufgebrochen, um uns im Falle eines Bombentreffers mehrere Fluchtmöglichkeiten zu eröffnen.
Die schläfrige Schicksalsgemeinschaft sammelte sich, wie vom »Führer« befohlen. Die Hausgemeinschaft – egal ob Freund oder Feind – rückte in zunehmender Enge immer dichter zusammen. Die Luft zum Atmen verbrauchte sich schnell.
In dieser Gruft lauerte sie meistens schon, die Rotte der alten Frauen. Sie sahen brav und bieder aus und eigentlich ganz harmlos. Während die Flämmchen der Kerzen, die als Notleuchten dienten und die »Dunkelfeind« genannt wurden, tapfer vor sich hin flackerten, tränkten diese Frauen den Keller mit noch mehr Düsternis. Sie erzählten Schauergeschichten.
Sie kannten all die Toten, die Zusammenbrüche, die Gräueltaten und Zerstörungen. Sie schienen mehr zu wissen als wir anderen, sie schienen auf ihre eigene Art und Weise in all die Schrecken und all das Elend des Krieges eingeweiht. Sie schienen jedes Grauen ertragen zu können, ihnen machte keiner etwas vor. Nur zu gerne hätten sie die Geschicke der Menschheit gelenkt. Hatte das Publikum übermüdet und wehrlos endlich seine Plätze eingenommen, richteten sie alsbald ihre Gesichter auf uns, allen voran auf uns Kinder.
»Haben Sie’s schon g’hört?!«
Mit einem schweren Seufzer eröffnete die erste Norne den Austausch über die Neuigkeiten der Nacht, scheinbar nur die nächste Nachbarin meinend. Dieser vertrauliche Tonfall steigerte die Neugier unter den anderen Zuhörern nur umso mehr. Wir erwarteten die Wahrheit mit all ihrer Wucht.
»Drüben, beim ›Völkischen Beobachter‹ … wissen S’, gleich nebenan … in der Molkerei, da ist oben eine Luftmine rein, das ganze Gebäude ist danach in Schutt und Asche gelegen … aber vorher … vorher ist eine Brandbombe neig’fallen. Dadurch sind die aus der Molkerei alle verkocht. Alle. Kein Einziger von denen hat’s überlebt. Der Butter und das Fett in der Molkerei, das hat alles gebrannt, und dann haben s’ die Toten doch noch rausgebracht … so groß wie gebratne Gänse … die Leichen, wissen S’ … jeder einzelne Mensch so groß wie eine gebratne Gans, in reiner Butter gebraten … und gerochen hat das!«
Wir Kinder trauten unseren Ohren nicht. Menschen in köstlicher Butter gebraten, was für eine gruselige Vorstellung. Obwohl wir noch nicht wirklich Hunger litten, hätte das Wort Butter allein schon ausgereicht, um einen jeden im Raum in einen Schwebezustand zu versetzen.
Misstrauisch beäugten wir die Flämmchen des Dunkelfeinds, immerhin ein kleiner, sich arglos gebender Verwandter des großen, alles vernichtenden Feuers, das uns jetzt umso unheimlicher war.
»Das ist so unglaublich defätistisch, dass Sie diese schrecklichen Sachen erzählen, gerade auch weil die Kinder dabei sind. Hören Sie doch auf damit!«, schimpfte mein Vater die Frauen aus. »Singen Sie doch was!«, riet er ihnen.
Den so ausgelobten Sängerinnen verschlug es prompt die Stimme.
Sie bekamen vor unterdrückter Wut über die Zurechtweisung ganz schmale Lippen, die ab jetzt für den Rest der Nacht erst einmal verschlossen bleiben sollten. So eine Behandlung hatte keine von ihnen nötig, schließlich hatten sie eher Dankbarkeit für ihre Nachrichtentätigkeit erwartet. Sie meinten es mit allem doch nur gut.
»Ja, wenn’s doch wahr ist! – Aber ganz wie Sie meinen, Herr Mitgutsch! Ganz wie Sie meinen. Ich sag’ nix mehr!« Damit begab sich die Wortführerin auf den Rückzug. Ein Lied war in dieser Nacht selbstverständlich auch nicht mehr zu hören gewesen rund um den Dunkelfeind. Dafür hätte die Luft im Keller auch kaum ausgereicht.
Viel Zeit blieb uns nicht, den wohligen Schauder zu genießen, den diese Geschichten auslösen sollten. Schlagartig wurde es ernst. Draußen pfiffen die ersten Bomben vom Himmel. Die Einschläge rückten immer näher und die Mauern unseres Hauses zitterten. Die Erde um uns herum bebte. Es rieselte der Staub, die Luft wurde noch dicker.
Mein Vater war ein überzeugter Anhänger der Nazis. Die Ordnung und die Logistik der Nationalsozialisten beeindruckten ihn. Auch er grüßte überall mit »Heil Hitler!«. Er war ein williges Werkzeug. Aber er war nicht in der Partei. Er war Bahnbeamter und man hatte ihm nahegelegt, in die Partei einzutreten, da er sonst nicht befördert werden würde. Das widersprach völlig seinem Gerechtigkeitssinn. Er wollte sich nicht auf diese Weise Vorteile verschaffen. Also trat er nicht in die NSDAP ein und verharrte zum Dank ganz unten in der Hierarchie. Ohne Beförderung blieb auch sein Gehalt klein. Der Vater verdiente bei der Bahn wenig. Ging es auf den Ersten eines Monats zu, saß die Familie um den Küchentisch versammelt, und die Mutter öffnete sorgenvoll die abgenutzte, mit Resten von Buntheit versehene Zigarettendose. Aus der holte sie das letzte Geld hervor und legte es auf den Tisch. Sie verteilte die spärlichen Münzen, indem sie sie bestimmten noch offenen Ausgaben zuordnete.
Wie ein Croupier fuhr sie mit dem Arm über den Tisch und zog die Münzen wieder ein: für den Kaufmann, den Metzger, den Bäcker. Auf diesem Weg verschwand das wenige Geld zurück in die Blechschachtel.
Und ich wusste, oh weh, da war was in der Luft. Sie schloss vorsichtig den Deckel und sah den Vater traurig an.
»Wiggerl, du müsstest wieder Vorschuss nehmen!«
Der Vater nahm das stumm zur Kenntnis. Er schimpfte nicht, sondern versprach höchstens, sich zu kümmern.
Mir tat die Mutter leid, mein Herz wurde ganz schwer.
Mein Vater wurde zum Luftschutzwart und dann zusätzlich zum Blockwart für unseren Häuserblock ernannt. Es war seine Aufgabe, die Schäden, die der Bombenhagel angerichtet hatte, so gut wie möglich zu beheben.
In erster Linie galt es, Brände zu löschen und natürlich immer wieder Menschen zu retten. Oft wurde das Hab und Gut, sofern überhaupt möglich, im letzten Moment aus den brennenden Wohnungen geschafft. Schnell sammelten sich ganze Möbellager unter dem freien Himmel an. Das alles konnte er unmöglich alleine schaffen. Deshalb wählte mein Vater starke Frauen und vom Kriegseinsatz verschonte Männer in den Luftschutzkellern aus, die ihm bei seiner gefährlichen Arbeit helfen sollten.
»Nein, Willi, bleib da, Willi, bleib da, lass die andern raufgehen!«, flehte eine Frau, als mein Vater den so beschworenen Willi aufrief, damit er ihm aus dem Keller nach oben in die Ungewissheit folgte.
»Es nützt ja nichts«, rief mein Vater, »wir müssen löschen!«
Er zeigte eine schier unermüdliche Einsatzbereitschaft. Während der Angriffe war er ständig oben in den Wohnhäusern unterwegs und hielt wie ein Türmer Ausschau nach dem Stand der Zerstörungen. Die Brandbrille, die er praktisch Tag und Nacht trug, hinterließ rotblaue Druckstellen in seinem Gesicht, die nicht vergehen wollten. Trotz der Schutzbrille waren seine Augen vom Rauch und Staub ständig rot entzündet, und seine Überlebenschancen galten bei solchen Einsätzen als nicht besonders hoch.
Nach dem Ende des Krieges, als wir aus der ungeliebten Evakuierung wieder nach München zurückkehrten, sind auf der Straße oft Menschen auf ihn zugegangen und haben ihm die Hand geschüttelt.
»Wir sind Ihnen so dankbar, nur Ihnen verdanken wir, dass wir unsere Möbel noch haben! Sie haben unsere Wohnung gerettet!«
Blockwarte waren zu Recht bei der Bevölkerung nicht besonders gut angesehen. Oft waren sie als Schnüffler für die Partei tätig, mit dem Auftrag, ihre Mitmenschen zu denunzieren.
Damit hatte mein Vater überhaupt nichts im Sinn, er war durch und durch charakterfest, eher ein Einzelgänger, mit wenigen, aber dafür guten Freunden.
Der Dunkelfeind in seiner flachen Blechdose, die einzige Lichtquelle in diesen beklemmenden Nächten, entfachte kaum noch Strahlkraft, das wenige Wachs war jetzt fast aufgebraucht, wieder war ein nächtlicher Bombenangriff überstanden und wir lebten noch. Die Sirenen erlösten uns, wir durften heraus aus dem Verlies, endlich wieder ins Freie, endlich wieder an die Luft.
Dieser durch Mark und Bein gehende Sirenenton, der sich zu Beginn des Alarms oft schon mit dem Pfeifen der herabfallenden Bomben vermischte, sorgte dafür, dass sich mir buchstäblich die Haare aufstellten.
Zusammen mit den Erwachsenen durfte ich die ersten Male noch mitten in der Nacht durch das brennende München wandern. Wir alle, meine Eltern und meine Geschwister, zogen los und sahen uns staunend die Zerstörungen an. Es war ein gigantisches Schauspiel. Man konnte einen regelrechten Feuersturm beobachten, der die tonnenschweren Papierballen aus einer Druckerei mit einem Funkenschweif zehn, fünfzehn Meter in den Himmel hob und sie irgendwo wieder herunterdonnern ließ. Es war ein Spektakel, das alle physikalischen Gesetze außer Kraft zu setzen schien. Lichterloh brannte in der Schellingstraße ein Haus mit einem Erker, ich konnte schon die Stahlgerippe erkennen. Die Stahlträger glühten erst rot, dann weiß, dann neigten sie sich plötzlich zur Straße und bogen sich einfach durch, als wären sie aus Butter. Das alles hat einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen.
Doch irgendwann wollten selbst wir Kinder freiwillig wieder nach Hause. Die Eindrücke waren einfach zu stark und zu erschöpfend. Als ich endlich im Bett lag, zogen die Geschehnisse noch einmal im Geiste an mir vorüber. Es waren verbrannte Leichen herausgetragen worden, zusammengeschrumpft und so groß wie gebratene Gänse. Wie die alte Frau es erzählt hatte. Die Luft war erfüllt gewesen vom Heulen der Feuerwehrsirenen, von den aufgeregten Rufen der Menschen, die auf der Straße herumliefen. Schließlich konnte ich einschlafen. Ich fühlte mich in meinem Bett doch einigermaßen beschützt und sicher vor all dem Grauen.
Nach nicht allzu langer Zeit unterband meine Mutter ohnehin diese nächtlichen Ausflüge durch das bombardierte München, und es ging gleich nach dem Aufenthalt im Keller wieder zurück in die Wohnung. Als die Luftangriffe immer schwerer und häufiger wurden, ging ich bereits zur Schule. Der Lehrer hat uns stets verboten, überhaupt von dem zu sprechen, was bei Bombenangriffen in der Nacht passiert war. Er wollte auf diese Weise für eine Art von Normalität im Schulalltag sorgen.
Es gab einen Kriegssommer, in dem verfügte die Obrigkeit, alle Uhren im Land sollten um zwei Stunden zurückgestellt werden. Eine neue Sommerzeit wurde ausgerufen, und Mensch und Tier und der Rest der Natur – alle hatten sich zu fügen. So kam es, dass es erst ab zehn oder elf Uhr abends richtig dunkel wurde. Trotzdem mussten wir Kinder um acht Uhr im Bett liegen. Alles ohne Widerrede, versteht sich. Auch wenn die Sonne noch mit voller Kraft durch die Fenster schien und uns Kindern das Gefühl gab, der Tag sei noch lange nicht ausgeschöpft, es gäbe noch so unendlich viel zu erleben, immer lautete der Befehl:
»Ali, Marsch ins Bett!«
Und da lag ich nun. Von Müdigkeit nicht die geringste Spur, gequält von Langeweile, die Ohren weit aufgesperrt, neugierig auf das, was die Straße so an akustischer Unterhaltung zu bieten hatte.
Überall in den Häusern waren die Fenster offen und die Fensterbänke mit bequemen Kissen ausgepolstert. Die Bewohner lehnten sich hinaus und unterhielten sich kreuz und quer, selbst mit den Leuten, die auf der anderen Straßenseite wohnten. Das Automobil war damals noch ein seltener Anblick, nur ab und zu fuhr mal eines knatternd über den Basalt. Stattdessen kletterte friedliches Stimmengewirr die Fassaden hoch und drang durch die offenen Fenster auch zu mir ins Zimmer. Alles, was die Langeweile unterbrach, war mir hochwillkommen.
Die jungen Strizzis, die Halbstarken, die Stenzen, egal wie man sie schimpfte, sie defilierten erhobenen Hauptes durch die Straßen und pfiffen oder sangen dazu aus voller Kehle die allerneuesten Schlager. Die Straße war ihre Bühne. Ich lag in meinem Bett und ein Chor erhob sich und schmetterte den Foxtrott:
»Für eine Nacht voller Seligkeit«
Eine gewisse Fröhlichkeit und Unbeschwertheit erfüllten die Luft. Auch Mädchenstimmen waren auszumachen. Die jungen Leute zogen durch die Straßen und sangen dabei, teilweise sogar gekonnt mehrstimmig. In den geöffneten Fenstern fanden sie ihr Publikum.
Ab und zu ertönte ein Familienpfiff, zu der Zeit ein üblicher Hausklingelersatz. Auch die Familie Mitgutsch besaß ihren eigenen Familienpfiff, ein Motiv aus einer Wagneroper. Mein Vater brachte es in die Familie. Er war in seiner Freizeit ein überzeugter Wagnersänger. Stets wurde unten so lange gepfiffen, bis es oben in der Wohnung jemand hörte.
»Ich brauch’ den Schlüssel!«, rief ich dann.
Oben im dritten Stock wurde die Fracht in Zeitungspapier gewickelt und heruntergeschmissen. So war niemand gezwungen, die vielen Treppen zu laufen. Das Gleiche passierte mit dem Geldbeutel, sobald er gebraucht wurde. Auch der nahm seinen Weg aus dem dritten Stock und fiel einem gezielt vor die Füße, wahlweise in Zeitungs- oder Klopapier gewickelt – was meistens dasselbe war …!
Stets wurden am frühen Abend die Haustüren von den zuständigen Hausmeistern zugesperrt. Alles musste seine Ordnung haben. Manchmal sind wir allerdings erst um elf oder zwölf Uhr nachts von einer Fahrt ins Umland zurückgekommen. Dann lag schon eine halbe Stunde Fußmarsch vom Bahnhof hinter uns, weil eine Straßenbahnfahrt viel zu teuer gekommen wäre. Hundemüde vom Tag haben wir schon an der Ecke unserer Straße angefangen zu pfeifen, um den Schlüsselabwurf durch ein daheimgebliebenes Familienmitglied möglichst unverzüglich in Gang zu setzen.
Denn es gab insgesamt nur zwei Hausschlüssel in der Familie, einen davon trug mein Vater stets bei sich, der andere verblieb in der Wohnung. Deshalb bekamen wir Kinder den Schlüssel nur von oben heruntergeworfen. So hatten die Eltern natürlich auch automatisch mehr Kontrolle, wer wann ging und kam.
Die Menschen lehnten sich also aus den Fenstern und haben sich unterhalten, während ich im milden abendlichen Sommerlicht bereits im Bett liegen musste.
»Ja, Frau Müller, haben Sie’s schon g’hört? Den Kramer da vorn, den hat der Schlag getroffen!«
»Was?!? Der Schlag? – Du, habt ihr das g’hört …!«, wurde dann über die Straße rübergerufen. »Habt ihr das g’hört: Den Kramer da vorne hat der Schlag ’troffen!«
Auf diese Weise vollzog sich zu jener Zeit der Austausch von Sensationsnachrichten, oder zumindest wurden alle Arten von Neuigkeiten auf diesem Weg zu solchen gemacht. Oft entwickelte sich daraus aber auch ein regelrechter Schwatz, die Nachrichten wurden bei nachlassender Strahlkraft ausgeschmückt, mit einer gewissen Erleichterung darüber, dass das Unglück nicht die eigene Familie getroffen hatte.
Selten kam ein Passant ungeschoren davon. Es wurde genau geschaut, wer vorbeiging.
»Hast du den gesehen?« – »Sag mal, hat der einen neuen Anzug angehabt? Woher der den hat, gell?« – »Ob er das Geld hat? Woher hat denn der das Geld? Der ist doch bloß so ein Hilfsarbeiter.« – »Einen neuen Anzug, sag einmal, wo hat er den denn her?«
Wir Kinder fühlten uns in dieser Nachbarschaft aufgehoben und geborgen. Jeder kannte jeden, oder zumindest schien es so.
Auf der anderen Seite hatte so ein Leben aber auch gewisse Nachteile. Denn es gab für uns Kinder kein Entkommen.
Das Größte für die Kinder aber war die »Bierkruglegitimation«. Die funktionierte wie folgt:
Mein Vater konnte sich nicht jeden Tag ein Bier leisten. Aber wenn er sich eins leisten konnte oder wenn Besuch da war, dann bekamen wir immer das Geld und einen Maßkrug in die Hand gedrückt und sind losgeschickt worden, den Krug füllen zu lassen. Sollte sich viel Besuch eingefunden haben, oder traf man sich zum Kartenspiel bei uns, gab es auch ein Tragerl für mehrere Maßkrüge. Meistens jedoch zog ich mit einem Krug los.
Für uns Kinder war der Auftrag, Bier zu holen, eine herrliche Angelegenheit. Endlich durften wir nach unten, auch wenn eigentlich schon Schlafenszeit war.
Auf ging’s zum Schelling-Salon, an der Ecke Schelling-/Barer Straße, der eine sogenannte Gassenschänke betrieb. Durch ein kleines Fenster hindurch, das zur Gaststätte gehörte, wurden wir abgefertigt, ohne das Wirtshaus betreten zu müssen.
Auf dem Weg dorthin traf man jede Menge Freunde, ein jeder mit dem Krug seines Vaters in der Hand. Nur so war es möglich, sich als Kind unbehelligt abends durch die Straßen zu bewegen. Ein Kind ohne Krug erschien den Erwachsenen äußerst verdächtig und gab Anlass zu sofortigen hartnäckigen Nachforschungen.
»Du, sag a mal, Ali, was ist denn, komm a mal her, was machst denn du da? Warum bist denn du net dahoam?«
Kam keine zufriedenstellende Antwort, wurde sogleich entweder bei den Eltern oben an der Wohnungstüre geläutet oder zu den Eltern nach oben gepfiffen. Die Meldung lautete:
»Du, da ist der Ali, darf der noch rumlaufen? Der hat keinen Bierkrug dabei!«
Mit einem Krug in der Hand warst du diese Art von Belästigungen mit einem Schlag los. Da es bei den Erwachsenen oft nicht bei einem Glas Bier blieb, standen die Chancen für uns Kinder gut, öfter losgeschickt zu werden. Wir konnten uns dann untereinander verabreden. Zu später, eigentlich verbotener Stunde traf man sich noch zum Ratschen oder Austauschen von Gegenständen. Das übte natürlich einen großen Reiz auch auf mich aus. Blieb ich zu lange weg, ertönte alsbald der Ruf meiner Mutter durch die Schraudolphstraße: »Aaaaaaali!« Es folgte eine äußerst energische Intonation des Familienpfiffs. Wohl oder übel musste ich den Spezln Lebewohl sagen und loslaufen. Der Daumen rutschte mir dabei immer wieder in den Bierschaum und ich fühlte mich dazu aufgerufen, ihn sogleich abzulecken. Ein unglaubliches Vergnügen.
Oft habe ich mir ausgemalt, wie es wäre, wenn ich von Zuhause weglaufen würde. Ich hätte einen Bierkrug mitnehmen müssen. Ohne den hätte ich es gar nicht geschafft, so weit von Zuhause wegzukommen, dass mich die Leute nicht mehr kennen.
Ich stand mit meinen Eltern insgesamt auf gutem Fuß. Wurde ich einmal bestraft, hatte ich eigentlich immer das Gefühl, es walte eine gewisse Gerechtigkeit und die Strafe sei nicht unverdient. Aber in meiner Phantasie kitzelte mich manchmal der Gedanke, dass ich, wenn ich wirklich einmal weglaufen müsste, das nur mit einem Bierkrug in der Hand tun würde. Den hätte ich dann irgendwann in einer geheimen Mauerecke abgestellt, quasi für den nächsten Ausreißer.
Denn ohne Bierkrug wäre man gleich »herg’schenkt«, er war eben für uns Kinder wirklich die einzige Legitimation, noch spät am Abend auf der Straße zu sein.
Einer dieser Sommerabende, die mir so langweilig und dröge vorkamen, ist mir besonders gut in Erinnerung geblieben. Draußen herrschten Fröhlichkeit und Unbeschwertheit. Die Nachbarschaft lehnte in den Fensterrahmen und war wie immer recht lustig.
Plötzlich ertönte der Ruf: »Der Hitler kommt. Der Hitler kommt!«
Ich sprang aus dem Bett und lief zum Fenster. In Windeseile sperrten Uniformierte die Straße ab und vorne an der »Osteria Bavaria« marschierten SA-Leute auf, die ebenfalls alle Wege abriegelten.
Ich lief zusammen mit meiner großen Schwester Pauline aus dem Haus, vor zur Schellingstraße. Überall Aufregung.
»Da kommt der Hitler!«, wurde aus dem Fenster, das dem Restaurant am nächsten war, gerufen.
Daraufhin ertönte es aus allen Fenstern: »Heil! Heil!«
In immer mehr Fenstern erschienen verzückte Menschen. Eine Woge der Hingebung brandete durch die Straße: »Heil! Heil! Heil!«