Das Größenwahn Märchenbuch · Band 2
Reihe: Es war einmal …
Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buch in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Erste Auflage 2014
© Größenwahn Verlag Frankfurt am Main Sewastos Sampsounis, Frankfurt 2014
www.groessenwahn-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-942223-98-0
eISBN: 978-3-942223-99-7
Edit Engelmann (Hrsg.)
Band 2
IMPRESSUM
Das Größenwahn Märchenbuch
Band 2
Reihe: Es war einmal …
Herausgeberin
Edit Engelmann
Illustrationen
Marti O´Sigma
Seitengestaltung
Größenwahn Verlag Frankfurt am Main
Schriften
Constantia, Lucida Calligraphy
Covergestaltung
Marti O´Sigma
Coverbild
Marti O´Sigma: ›Hirschpark‹
Lektorat
Edit Engelmann
Druck und Bindung
Print Group Sp. z. o. o. Szczecin (Stettin)
Größenwahn Verlag Frankfurt am Main
November 2014
ISBN: 978-3-942223-98-0
eISBN: 978-3-942223-99-7
PROLOG · Nancy Konradt
DER KÖNIG VON BRATASULIEN · Edit Engelmann
KREUZFAHRT MIT SINDBAD · Lilly Friedstein
ZAUBER AM NACHMITTAG · Brigitte Münch
DAS PLATTENBAU-ROTKÄPPCHEN · Michalis Patentalis
DER VON-ALLEM-ETWAS BAUM · Doris Trampnau
NONA, DER KLEINE DELFIN · Marion Schneider
MONDSÜCHTIG · Todor Todorov
DIE STEINERNEN BRÜDER · Philipp Schmidt
DER SCHLANGENKÖNIG · Vougar Aslanov
WARUM SCHWEINE ROSA SIND UND EIN RINGELSCHWÄNZCHEN HABEN · Leonidas Chrysanthopoulos
DAS LUFTKUFELDORF · Eva Ieropoulou
USCHIS WELT · Kerstin Fischer/Grit Peschke
DAS MODEL AUF DER MANGO · Britta Voss
BRAUTSCHAU · S. A. Urban
WA(H)RE FREUNDE · Kyro Ponte
DER STATTHALTER UND DAS MÄDCHEN · Petra Ewering
DER M’BA-UCH · Wilfried von Manstein
DIE RAUMFAHRER · Georg Potyka
WIR PFEIFEN AUF’S SCHLARAFFENLAND · Doris Lautenbach
RECHT UND BILLIG · Manfred Voita
PRINZ GESUCHT · Rudolf Gier
EPILOG · Edit Engelmann
BIOGRAPHISCHES
Von einem rustikalen Türmchen schaue ich auf die märchenhafte Waldwelt, die sich vor mir ausbreitet, so weit mein Auge reicht. Im September röhren Hirsche in den dunklen Laubwäldern, am Wochenende genusswandern Menschen aus der Umgebung. Das sind die Synonyme für unsere nordhessische Landschaft.
Es wäre wahrhaft nicht verwunderlich, wenn Sie einer Ziege begegneten, die zwar munter grast, aber dann doch abends hungrig bleibt, oder einem Prinzen, der hinter einer alten knorrigen Eiche auftaucht und noch einen weiten Weg vor sich hat. Auch Maus, Katz und Bratwurst könnten Sie in einer kleinen Holzhütte zwischen den Bäumen entdecken – obwohl, die Bratwurst vielleicht doch eher in einer Metzgerei, die Sie sicher in einem der zahlreichen Dörfchen aufspüren. Wundern Sie sich bitte nicht über die knorzeligen, wunderlichen Gestalten, die Ihnen aus den Fenstern der Fachwerkhäuschen hinterherschauen. Beim zweiten Besuch Ihrerseits werden Sie sicher ins Gespräch kommen.
So ähnlich, aber auch ganz anders, könnte Ihr Aufenthalt in unserer märchenhaften nordhessischen Natur sein. Letztendlich entscheidet aber Ihre Phantasie darüber, wieviel Geheimnisvolles, nahezu Mystisches Sie sehen und entdecken werden.
Genauso wird es Ihnen mit den Geschichten in diesem Band des Größenwahn-Märchenbuch ergehen. So viel unterschiedliches Leben steckt in den Köpfen der Autorinnen und Autoren. Phantasien und Gedanken – hin und her geschüttelt und gerüttelt, möglicherweise in anderen märchenhaften Landschaften entstanden, oder im städtischen Trubel, oder noch ganz woanders – wurden von diesen kreativen Personen zu Märchen gemacht. Das Eintauchen in diese Welt für wenige Minuten oder gar ganze Stunden, Ablenkung von den Realitäten des Alltags, Empfindungen mit den Protagonisten teilen oder das Leben mit anderen Augen sehen: Das schenkt Ihnen ab sofort diese Lektüre.
Eine wunderliche Lesezeit wünscht Ihnen
Ihre
Nancy Konradt
Märchenverliebte & Geschäftsführerin der Kurhessen-Lädchen,
die sich in der Grimm-Heimat Nordhessen befinden.
Es geschah einmal vor langer Zeit in dem kleinen Königreich Bratasulien mitten in den waldigen Bergen. Dort herrschte ein gütiges und freundliches Königspaar. Doch leider hatte es einen ausgesprochen despotischen Sohn, der außer sich und seiner eigenen Meinung nichts und niemanden gelten ließ. Von seinem eigenen Land wusste er nur wenig, und auch sein Vater, König Wohlderbar, hatte ihn nicht davon überzeugen können, sich mit der Geschichte und Kultur der Bratasen mehr zu beschäftigen. Prinz Brasotutin war schlichtweg der Meinung, dass dieses Land ohnehin hinterwäldlerisch und hoffnungslos altmodisch war.
Entsprechend wütend war er, als sein Vater darauf bestand, ihn traditionsgemäß mit der Tochter des Hirschkönigs von Waldbersien zu vermählen, so wie es seit undenklichen Zeiten in Bratasulien üblich war.
»Diese Zeiten sind vorbei, und jeder kann sich heute die Frau suchen, die ihm gefällt«, schrie er seinen Vater an. Er würde sich nie und niemals an eine Frau binden, die ein überdimensionales Geweih auf dem Haupte trüge und sich überhaupt nur einmal im Jahr zur Frühjahrssonnenwende für einen Monat in ein menschliches Wesen verwandele – auch nicht, wenn sie während der Zeit das bezauberndste Geschöpf der Welt wäre.
Noch lange hatte der Prinz mit seinem Vater diskutiert. Aber der alte König Wohlderbar war hart geblieben. Er würde die Tochter des Hirschkönigs heiraten oder er würde nie und nimmer sein Erbe antreten können.
Im nächsten Frühjahr war die Hochzeit. Am Abend vor den Feierlichkeiten, an dem die Königswürde vom alten König auf die Neuvermählten übertragen wurde, war der Hirschkönig Olynth mit seiner Tochter auf dem Schloss erschienen. Sie war wirklich die schönste und bezauberndste Frau, die Prinz Brasotutin jemals gesehen hatte. Beinahe wäre er in Versuchung gekommen, ihr ein Kompliment zu machen. Da erhob sich der Hirschkönig von der Dinner-Tafel, klopfte mit dem silbernen Löffel einmal ans Glas, sein goldenes Geweih blitzte im Kerzenlicht und seine Stimme erschallte weithin: »Prinz Brasotutin von Bratasulien und Prinzessin Vanessa von Waldbersien, so hört denn beide die alten Bestimmungen, dass keiner von Euch in Zukunft ohne den anderen entscheide. Nur in Eintracht und Einstimmigkeit sollt ihr Euer gemeinsames Amt als König und Königin von Bratasulien ausführen. So vermählt euch dann, meine Kinder, zum Wohle eurer Untertanen.«
Er hatte noch nicht ausgesprochen, als Prinz Brasotutin bereits von seinem Stuhl aufgesprungen war.
»Wer bin ich denn?«, brauste er auf. »Ich soll die Zustimmung einer Frau brauchen? Ich, der ich in einem Eliteinternat im Ausland erzogen wurde und an einer ebensolchen Elite-Universität der Ivy League mein Examen in Staatsbürgerkunde, Politik und Wirtschaft abgelegt habe. Ich, der ich bei den besten Professoren der Welt studiert habe? Macht euch nicht lächerlich. Ich denke ja gar nicht daran.«
»Du wirst dich daran gewöhnen, wie sich alle vor dir daran gewöhnt haben. Das Wichtigste ist das Wohl des Volkes«, antwortete der Hirschkönig Olynth gelassen. »Solltest du nicht entsprechend handeln, so wird dir die Königswürde kein Glück bringen und dein Land wird im Unglück versinken.«
»Mein Sohn kann die Pflicht seines zukünftigen Amtes noch nicht einschätzen«, suchte der alte König Wohlderbar zu beschwichtigen und warf einen scharfen Blick auf seinen Sohn, um diesen zum Schweigen zu bringen.
»Gebt ihm Zeit«, bat auch die Mutter des Prinzen, Königin Maggi, und sie blickte gutmütig bittend zu ihrem Sohn. »Auch mein Gemahl brauchte damals Zeit, bis er sich an mich als Gattin gewöhnt hatte. Und schaut, wie gut wir uns heute verstehen. Ich habe schon ein Jahr nach der Hochzeit bei der Geburt meines Sohnes das Geweih verloren. Seitdem lebe ich hier respektiert und geliebt.«
Am nächsten Tag wurden die beiden miteinander vermählt. Wie es die alten Gesetze vorschrieben, verbrachte Prinz Brasotutin die Hochzeitsnacht mit seiner jungen Frau, Prinzessin Vanessa. Am nächsten Morgen wurden beide feierlich im Thronsaal als König und Königin in ihr neues Amt eingeführt. Doch kaum hatten der Königsvater und der Hirschkönig die alten Einweihungsformeln gesprochen, als der frischgekrönte Brasotutin von seinem Thron aufstand und eiskalt verkündete:
»Ich, König Brasotutin, habe es nicht nötig, mich mit einer Hirschkuh zu vermählen.«
Alle Anwesenden im Krönungssaal erstarrten vor Schreck.
»Ich, König Brasotutin, habe es nicht nötig, mir von Waldhirschen befehlen zu lassen, wie ich regieren soll.«
»Aber, Sohn …«, hörte man gleichzeitig erstaunt die Stimmen von Königin Maggi und König Wohlderbar.
»Ich bin der König!«, schrie Brasotutin, und nun erlosch auch das letzte Geräusch im Raum. »Wem auch immer dies nicht gefällt, der möge jetzt gehen. Und meine sogenannte Frau …«, sagte er ironisch und zeigte auf die weinende Königin Vanessa, »kann er gleich mitnehmen. Ich will und brauche sie nicht.«
Erschrocken blickten seine Eltern ihn an, aber sie wagten nichts mehr zu sagen, er wies ihnen die Tür. Ermattet stand Hirschkönig Olynth auf und rief seine Tochter zu sich. Zusammen verließen sie den Saal. An der Tür wandte sich der Herrscher des Waldes noch einmal um: »Du hast über dein Schicksal entschieden und das deines Landes. Das Unglück wird über dich und deine Untertanen kommen, da du die alten Gesetze nicht respektierst.«
»Akte! Gesetze! Gebräuche! Tradition! Pff!«, antwortete hochnäsig König Brasotutin. »Wen interessieren schon alte Gesetze? Die modernen Experten haben alles im Griff. Die heutige Wissenschaft braucht keine alten Gesetze. Verschwindet ihr alle, die ihr nur Schlechtes unkt. Ich werde es euch schon zeigen.«
Durch das Fenster konnte König Brasotutin sehen, wie seine Untertanen vor dem Schloss eine Gasse bildeten, um die Herrscher des Waldes hindurch zu lassen. Er beobachte, wie das goldene Geweih seine stolze Haltung verlor. Von seinen Eltern war schon längst nichts mehr zu sehen.
»Na also …«, murmelte König Brasotutin, »das hätten wir. Neue Zeiten brechen an.« Dann zog er an der goldenen Klingelschnur. »Minister!«, rief er. »Her mit euch faulem Pack! Wir werden aus Bratasulien das modernste Land der ganzen Welt machen.«
Und so begannen die Brasaner nach Anweisungen des neuen Königs Fabriken zu bauen, weiteten den Handel mit anderen Ländern aus, stauten die Flüsse, um mehr Energie für die Fabriken gewinnen zu können, teilten die Felder auf, um bessere Ernten zu erwirtschaften. Und den Brasanen ging es auch tatsächlich gut. Sie bauten geräumige Häuser, fuhren große Autos, aßen das beste Essen, und nach und nach konnten sie sich den größten Luxus leisten. Niemand kümmerte sich mehr um das, was der Hirschkönig beim Verlassen des Saales gesagt hatte. Ja, die meisten erinnerten sich nicht einmal mehr daran. Alle lobten und umjubelten König Brasotutin, der sich eifrig um das Wohlbefinden seines Landes kümmerte.
An einem sonnigen Tag des zwanzigsten Herrschaftsfrühlings König Brasotutins tauchte am Hof Königin Vanessa auf. Sie sah noch genauso schön aus wie an ihrem Hochzeitstag, doch diesmal ging sie nicht an der Seite ihres Vaters, sondern wurde von einem jungen Fräulein begleitet, das beinahe genauso aussah wie sie selbst. Lange blonde Haare fielen ihr bis auf die Hüfte, rehbraune Augen blickten aufmerksam um sich und auf ihrer Stirn war der erste Ansatz eines goldenen Geweihs zu sehen. Ohne Umschweife begaben sich die beiden in den Thronsaal.
Mit Verblüffung erkannte König Brasotutin, wer hereingekommen war. Das war das letzte, was er brauchte. Jemanden, der ihn an die Vergangenheit erinnerte. »Was willst du hier?«, herrschte er seine Frau an. »Hatte ich nicht gesagt, dass ich dich hier niemals wieder sehen will.«
»Das hast du …«, nickte sie königlich. »Ich bringe dir deine Tochter.«
»Meine was?«, ertönte vor Wut und Erstaunen die Stimme des Königs durch den Thronsaal.
»Sie ist die Frucht der einen Nacht und lebte bei mir, wie es die alten Gesetze vorschreiben.«
König Brasotutin näherte sich mit vorsichtigen Schritten dem Gespann der zwei Frauen.
»Jetzt ist sie eine junge Prinzessin und hat das Alter erreicht, um sich zu binden.«
Der König forschte mit seinen Augen im Gesicht des schüchternen jungen Mädchens und erkannte ein orangenes Muttermahl am linken Ohrläppchen, ein Zeichen, das auch er an der gleichen Stelle trug. Ein eindeutiger Beweis, dass dieses Geschöpf tatsächlich seine Tochter war.
»Der alte Hirschkönig, mein Vater, König Olynth, ist verstorben …«, erzählte Königin Vanessa mit fester Stimme weiter, »ein neuer wurde gewählt. Um der alten Gesetze willen, musst du unsere Tochter mit seinem Sohn vermählen. Die alte Ordnung muss wieder hergestellt werden, sonst wird es dir und deinem Land schlecht ergehen.«
»Du wagst es, hierherzukommen und mir Vorschriften zu machen?«, schnauzte er sie an. »Siehst du nicht, wie gut es mir und meinem Land geht?« Seine Augen sprühten Funken.
»Ich sehe es«, antwortete die Königin sanft. »Doch dieser Wohlstand ist vorübergehend, wenn du nicht …«
»Wenn, wenn, wenn!«, triumphierte der König mit Hochmut. »Wie dein Vater, so auch du! Immer diese Drohungen!«
»Ich bitte dich, es geht um unsere Tochter, schau sie dir an!«
Er beobachtete das schöne Fräulein, das ängstlich vor sich hin blickte.
»Sie kann heiraten, wen auch immer sie will, sie braucht meine Zustimmung nicht!«, herrschte er sie an und sah mit Genugtuung die erschrockenen Gesichter der Frauen.
»Mein Herr, das alte Gesetz verlangt, dass du, als Vater und König, sie ihrem Mann zuführst.«
Der König hatte seit langem niemanden mehr über die alten Gesetze sprechen hören. Er hatte alle alten Maßnahmen, Vorschriften und Gesetze abgeschafft. Neue, moderne Weltanschauungen waren gefragt für sein Land. Das Königreich Bratasulien war aufgeblüht. Und jetzt wollte eine verblasste Erinnerung seine Weltordnung stören?
»Geh zurück in deinen Wald«, befahl er mit fester Stimme an die adlige Frau gewandt, »und wage es nicht noch einmal, hier aufzutauchen.«
Würdevoll nickte die Königin und senkte ihr goldenes Geweih.
»Ich werde gehen. Unser Kind jedoch werde ich hier lassen.«
Der König war außer sich.
»Höre, Gemahl …«, versuchte die Königin ihn zu besänftigen.
»Hör auf, mich Gemahl zu nennen! Wir leben seit zwanzig Jahren nicht mehr zusammen!«, schrie König Brasotutin.
»Du hast nur noch wenige Jahre Zeit«, flüsterte Königin Vanessa ihrem Gatten zu und umarmte gleichzeitig liebevoll ihre Tochter. Sie schritt mit erhobenem Haupt Richtung Tür, während der König hinter ihr her fluchte und das Fräulein weinte. Das Herz der Königin zerriss vor Schmerz, doch sie würde nach vorne blicken. Sie tat das, was man von ihr erwartete. An der Türschwelle hielt sie kurz inne und sagte nur noch dieses: »Hast du bis zum nächsten Erscheinen des Hirschsterns am Abendhimmel den alten Riten nicht Genüge getan und unsere Tochter mit dem Sohn des neuen Hirschkönig vermählt, wird sich alles gegen dich kehren.«
König Brasotutin stand wütend im Thronsaal mit der weinenden Prinzessin vor sich.
»Du brauchst dir gar nicht einzubilden, etwas Besonderes zu sein«, herrschte er seine Tochter an. »Verschwinde in die Küche und komm mir nie mehr unter die Augen.«
Nach diesem Tag schien sich alles gegen den König und Bratasulien verschworen zu haben Das Land um die Fabriken herum wurde zusehends trockener, die Erde grau und das Gras braun. Bald schauten die kahlen Felsen heraus. Auf den Feldern wuchs zunehmend weniger. Die Flüsse waren verschmutzt von Industrieabfällen. Ein brauner Smog hing in der Luft. Die Erde dörrte aus und die Ernten fielen immer spärlicher aus. Das Wenige teilten die Menschen unter sich. Der Viehbestand verringerte sich immer mehr.
Ungeduldig rief der König seine Minister, Experten und Spezialisten zu sich. Zusammen erarbeiteten sie einen Maßnahmenkatalog, der den Problemen ein Ende bereiten sollte.
Doch es kam noch schlimmer. Kaum jemand hatte noch Arbeit. Die Händler kamen von ihren Reisen zurück, aber sie verkauften nichts mehr. Die Fabriken blieben auf ihren Waren sitzen, und eine nach der anderen stellte ihre Produktion ein. Was immer König Brasotutin auch versuchte, nichts wollte ihm gelingen. Die Pracht der vergangenen Jahre konnte er nicht zurückbringen. Als er wieder einmal seinen Palast verließ, sah er die ersten Städter ihr Bündel packen. Sie wollten in der Ferne ihr Glück suchen.
»Du hast uns einen schlechten Dienst erwiesen«, riefen sie ihm zu.
»Du hast uns ruiniert. Früher hatten wir weniger, aber es ging uns besser. Wir hatten keine großen Häuser, keine teuren Autos, keinen Luxus. Aber wir hatten Arbeit, Wohnung und Essen. Wir hatten gesunde Luft zum Atmen, gesundes Wasser zum Trinken und gesunde Nahrung für uns und unsere Kinder. Es ging uns gut.«
»Du bist ein schlechter Herrscher.«
Und so verließen sie das Land.
König Brasotutin saß in seinem Schloss und wunderte sich. Wieso hatte sich bloß alles geändert? Was war schief gelaufen? Es musste – jawohl – das musste es sein: Dieser verdammte Hirschkönig war schuld daran. Dessen Tochter. Und deren Tochter. Seit diese bei ihm im Palast war, ging es ihm und dem Land schlecht.
Stehenden Fußes marschierte er hinunter zur Küche, wo er seine Tochter hinter dem Herd entdeckte. Mit ausgestrecktem Finger wies er auf sie und befahl seinen Wachen: »Ergreift sie. Bindet sie auf das Rad. Sie soll auf dem Marktplatz zur Schau gestellt werden. Schmiert sie mit Honig ein, dass die Bären, die Füchse, die wilden Tiere des Nachts kommen und sich an ihren Eingeweiden genüsslich tun. Ein jeglicher soll hart bestraft werden, der versucht, ihr zu helfen. Sie ist schuld. Seit sie hier ist, geht es uns allen schlecht.«
Sofort wurde der Befehl ausgeführt. Und die wilden Tiere kamen. Doch sie griffen sie nicht an, sondern weinten bittere Tränen zu ihren Füßen. Auch die Brasanen hatten Mitleid mit dem schönen Mädchen, das stumm auf dem Marktplatz stand und kein einziges Mal klagte. Einzig der König hatte kein Einsehen. Per königlichem Dekret verkündete er, dass sie am kommenden Festtag gehenkt werden solle, damit das Unglück, das über Bratasulien herrschte, ein Ende hätte.
Eine große Anzahl Menschen hatte sich eingefunden, um dem traurigen Schauspiel zuzusehen. Doch als die Wachen das Mädchen holen wollten, fanden sie das Rad leer.
»Was soll das heißen, sie ist verschwunden?«, schrie der König vor Wut.
Keiner hatte eine Erklärung, was mit der Prinzessin passiert sein konnte. Man suchte sie Tag und Nacht, doch man fand keine Spur von ihr. Nur der Wind, der aus den Tiefen Waldbresiens kam, brachte immer wieder Stimmen mit sich: »Wir haben unsere Tochter zu uns zurückgeholt.«
An nebligen Tagen erzählten sich die Brasanen, dass sie den alten Hirschkönig durch das Land reiten sahen.
»Blödsinn!«, tobte König Brasotutin. »Der ist doch seit Jahren tot!«
Ein uralter Zauberer behauptete sogar, Königin Vanessa gesehen zu haben, wie sie mit ihrer Tochter durch die Straßen Bratasuliens wandelte. Angeblich flogen ihnen eine Schar von Elfen, Schmetterlingen und Singvögeln hinterher.
»Was für ein Märchen!«, lachte König Brasotutin. »Es gibt doch keine Elfen!« Er war sich sicher, denn er hatte den Glauben an Märchen und Märchengestalten gleich am ersten Tag seiner Herrschaft für verboten erklärt. Lang war das nun her.
Er kratzte sein altes Haupt und versuchte, das Chaos der Wirtschaftsituation zu erklären, das nunmehr seit Jahren seine Existenz bedrohte. Sein Land war durch Fortschritt und Wissenschaft, durch Macht und Gewinn ein Trümmerhaufen geworden. Auch Jahre nach dem Verschwinden der Prinzessin, seiner Tochter, die er niemals nach ihrem Namen gefragt hatte, wollte sich der alte Wohlstand nicht wieder einstellen.
König Brasotutin hatte viele Probleme. Eines davon war, seinen Thron zu retten. Seine Untertanen hatten sich längst als Volk gegen ihn gestellt und waren zu einer Macht geworden, die stärker war als er. Man erklärte ihn für abgesetzt.
So richtig konnte er sich diese Entwicklung nicht erklären. Und dass sein Volk mittlerweile ohne ihn regierte und sich selbst neue Werte geschaffen hatte, fegte er mit den Worten weg: »Was seid ihr schon ohne mich? Ohne mich, der ich in einem Eliteinternat im Ausland erzogen wurde und an einer ebensolchen Elite-Universität mein Examen in Staatsbürgerkunde, Politik und Wirtschaft abgelegt habe. Ihr wollt einen Staat führen? Ohne mich, der ich bei den besten Professoren der Welt studiert habe? Macht euch doch nicht lächerlich!«
Das wasserdichte Logbuch von
»Planet«-Chefreporterin Shirin Sch. Razade
Känguruhoden fressen, in Schlangen baden, auf Pritschen in der Wildnis campen – die Fernsehzuschauer lieben es. Jetzt gibt es das Urwaldabenteuer für jedermann zum Anfassen: Auf der ersten Dschungel-Kreuzfahrt der Welt! Initiator, Reeder und Kapitän ist niemand anderes als Sindbad, der berühmteste Seefahrer Arabiens.
Von seinem Heimathafen Basra aus stach Sindbad einst in See, entdeckte einsame Eilande, überlebte Schiffbruch, Wirbelstürme, Attacken von Menschenfressern, Riesenschlangen, Horden Wilder. Mit Gold und Diamanten beladen kehrte er zurück. Warum nicht die verwunschenen Inseln seiner Jugend mit Extremtouristen von heute erneut bereisen? Die MS Sindbad ist soeben vom Stapel gelaufen.
Ich wage mich auf die sechstägige Jungfernfahrt und teste die Kreuzfahrt. Der Katalog verspricht: Abenteuer, Askese, kulinarische Kuriositäten – und täglich geht einer über die Planke! Auf unserem ›Planet‹-Onlineportal blogge ich live von Bord. Jeden Abend lesen Sie mein Tagesvoting mit Punkten von 1 (SOS, schickt mir die Seerettung!) bis 10 (Ich schippere mit um die ganze Welt!). Leinen los, und auf in den Dschungel-Wahnsinn für alle – nicht nur für TV-Fuzzis!
Logbuch Tag 1: Die Einschiffung / Meine Reisegefährten
Ankunft am Hafen von Basra, Irak. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber die MS Sindbad hat keinen Kussmund. Stattdessen Haifischzähne, schwefelgelbe Schlangenaugen und einen Rumpf in Tarngrün. Gedränge vor der Gangway, die Kreuzfahrt ist ausgebucht. Jeder der 400 Gäste hat rund 2.500 Euro geblecht, um an Bord zu gehen. Ich sehe Männer in Basecaps, Muscleshirts, Cargohosen – nur wenige Frauen, das wundert mich nicht. Mit Strohhut und Tunika steche ich heraus. Meine rot lackierten Fußnägel in den Prada-Sandaletten sind die ersten Opfer der Reise: Ein tribal-tätowierter Meister Proper tritt sie platt. Grant aus Kentucky, stellt er sich vor, Ex-Marine. Action suche er hier, endlich mal wieder. Seit er aus dem Irakkrieg daheim ist, sei sein Leben fad.
Kapitän Sindbad begrüßt uns persönlich per Handschlag. Bis zur Schulter reicht er mir, die Kapitänsmütze und die verspiegelte Sonnenbrille geben nur wenig von seinem Gesicht preis. Das Kinn springt hervor, um den Hals ankert eine Goldkette im Brusthaar. Er schwärmt von Wagemut, Grenzentesten, Natur pur, Urviechern hautnah und lädt uns ein, das Ablegemanöver an Deck zu erleben. Das Schiffshorn lässt Herz und Leber hüpfen. Im Willkommensdrink, Piña Colada, spießt ein Plastik-Fechtdegen einen weißlichen, glipschigen Ball auf. Eine Litschi, wie ich hoffe.
Neugier treibt mich in die Kabine: Durch das Bullauge glitzert das Meer. Eine Pritsche hängt an vier Tauen von der Decke, ein Baumstumpf dient als Nachttisch. Im Bad entdecke ich einen Holzbottich als Waschbecken, einen Eimer als Dusche und suche das Klo – ein Loch im Boden. Ich frage mich, ob der Bonus, mit dem mein Chef mich zu dieser Reportage überredet hat, nicht deutlich höher hätte ausfallen müssen – und noch habe ich das Buffet nicht gesehen. (Für den Notfall stecken in meinem Koffer 35 Müsliriegel.)
Biertische mit Tarnnetzüberwurf erwarten mich am Abend im Bordrestaurant. Ich komme neben einem Schweizer mit Zopf und Nickelbrille zu sitzen. John L. werde ich ihn nennen, denn so sieht er aus, nur ohne Yoko Ono. Auf seinem Teller türmen sich Reis und rote Bohnen. Mit Genuss kaut er jede Gabelfuhre. Das sei die wahre Form der Ernährung, sagt er. Kein Industriefutter, geballter Ballaststoff, köstlich.
Ich wage mich ans Buffet und erspähe frittierte Heuschrecken, gegrillte Kakerlaken am Spieß, Schlange in Sahnesauce, Lebende-Maden-Salat, Mini-Skorpione mit Schokoladenguss. Bevor ich kotzen muss, mache ich es John L. nach und überhäufe meinen Teller mit Reis und Bohnen.
John L. schwiezerdütscht vom Aussteiger-Traum. Sindbads Inseln seien die letzten urwüchsigen Eilande der Welt – er will sie spüren, vielleicht bleibt er gar auf einer zurück, sagt er. Sein Blick ist verklärt.
Ich wende mich zur Tischnachbarin auf der Linken. Grauer Bob, Leinen vom Hals bis zu den Korksandalen, eine Deutsche. Du, ich bin die Carla, sagt sie, sie ist Psychologin und will forschen. Was denn? frage ich. Das Verhalten des Menschen in archaischer, animalischer Umgebung. Aha. Auch sie hat leuchtende Augen vor Glück.
Langsam beginne ich zu begreifen, dass außer mir hier niemand normal ist. Aber was habe ich erwartet. Wer bucht schon freiwillig eine solche Kreuzfahrt?
»Weißt du«, fragt die Carla, »was das Großartige ist?«
Ich schüttele den Kopf, während ich die Bohnen mit einem Schluck Wasser hinunterspüle.
»Das Großartige ist«, sagt sie, »dass wir hier Darwinismus pur erleben werden!« Sie nickt eifrig.
Ich kaue Reis. Freut sie sich ernsthaft darüber?
»Hast du nicht im Prospekt gelesen, dass jeden Tag einer über die Planke geht?«
Allerdings habe ich das gelesen. Aber ich halte es immer noch für einen Scherz. Am Nachbartisch hebt Kapitän Sindbad sein Glas und schlägt mit dem Messer dagegen. Ein goldener Kapitänsknopf verfängt sich im Tarnnetz, als er aufsteht. Die Drinks seiner Sitznachbarn kippen um, er lässt sich nicht stören: »Liebe Gäste! Ich freue mich, dass Sie sich für die Jungfernfahrt der MS Sindbad entschieden haben. Sie haben die aufregendste Reise Ihres Lebens gebucht! Sie werden Wesen wie nicht von dieser Welt erleben, und ich kann Ihnen nur wünschen, dass Sie den Ausgang aus dem Höhlenlabyrinth finden. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass die Reederei keine Haftung übernimmt, sollten Sie verschwinden, verletzt oder getötet werden. Alles auf eigene Gefahr! Prost!« Er ext die eitergelbe Flüssigkeit aus seinem Glas. »Ehe ich es vergesse: Wer sich registrieren lassen möchte für unser Highlight, den Wettkampf ›Nur einer bleibt trocken‹, der melde sich bitte beim Stewart. Fünf knallharte Teilnehmer wird es geben. Alle Passagiere stimmen jeden Abend über deren Tagesperformance bei den Landgängen ab. Und täglich geht der Verlierer über die Planke.« Sindbad grinst wie eine Hyäne. »Ich wünsche Ihnen nun spannende Tage an Bord, passen Sie auf sich auf!« Er setzt sich wieder neben die bleichblonde Barbie im neonpinken Netzkleidchen, bekommt einen Zungenkuss und legt die Kapitänsmütze ab, um kräftig in etwas zu beißen, das aussieht wie ein fetttriefendes Eisbein. Aber wer weiß.
Mir ist der Appetit vergangen. Ich verabschiede mich von Carla, John L. und winke Grant zu, der bei Sindbad am Tisch sitzt. Als ich die Kabinentür hinter mir schließe und auf die Pritsche sinke, frage ich mich, ob sich tatsächlich fünf Irre finden werden, die bei ›Nur einer bleibt trocken‹ mitmachen.
Mein Tagesvoting:
· Optik und Ausstattung Schiff/Kabine: Testosteron und Askese pur – 7 Punkte für die Konzepttreue
· Willkommenscocktail: nichts für Phantasiebegabte – 0 Punkte
· Buffet: zwischen Würg! und Endlich-halte-ich-ganz-bestimmtmeine-Diät-durch – 4 Punkte
Logbuch Tag 2: Halber Seetag / Die Insel der Riesenadler
Die fünf Plätze für ›Nur einer bleibt trocken‹ mussten beim Frühstück (Fladenbrot) ausgelost werden. Mit dabei sind jetzt: Grant (warum wundert mich das nicht?), John L. (denkt, er sei Robinson Crusoe, vermute ich), Carla (will empirisch hautnah bei Darwin sein), Sindbad persönlich und Sindbads Blondine (Klarer Fall von Hörigkeit. Aber Silikon schwimmt wenigstens oben, nicht?).
Ich genieße den Vormittag in der Hängematte an Deck und beobachte, wie wir uns der Insel der Riesenadler nähern. Wie ein Kressekopf hockt Dschungeldickicht auf einem Granitplateau. Schon von weitem erkenne ich Vögel groß wie Segelflugzeuge, die majestätisch ihre Kreise ziehen. Ich habe diesen Landgang selbstverständlich gebucht. Wenn mir etwas passiert, zahlt mein Chef.
Die Ankerkette rattert aus dem Kasten, der Anker platscht ins türkisfarbene Wasser. Wir sind zwanzig Teilnehmer und klettern über eine Strickleiter ins Tenderboot. Die fünf Kandidaten von ›Nur einer bleibt trocken‹ sind dabei. Carla schreibt in einen Block auf ihren Knien. Sindbads Blondie zerrt an ihrem Top in Tarngrün, aber die Silikonboobies quillen trotzdem heraus. Grant und Sindbad stehen am Bug, Blick voraus. John L. döst langgestreckt in der Sonne.
An einem Felsvorsprung springen wir aus dem Boot und beginnen sofort mit dem Aufstieg. Ich rutsche ab und schürfe mir die Knie auf. Endlich überklettern wir den Plateau-Rand und stehen vorm Dschungel. Mit der Machete geht Sindbad voran. Nur wenig Licht dringt durch das Baumdach, Blätter patschen uns ins Gesicht, armdicke Lianen streifen unsere Basecaps. Mannshohe Blumen mit Blüten, die aussehen wie Scheiben von fetter Salami, stinken nach Aas. Wir fegen Raupen mit feuerroten Haaren vom Top des Vordermanns. Der Marsch über Wurzeln und Felsen bei der feuchten Hitze lässt mich nur mühsam atmen. Niemand spricht, nur das Schneiden der Machete ist zu hören, unser Keuchen und das Schreien der Adler über dem Blätterdach, laut wie Feuerwehrsirenen.