Waris Dirie
Schmerzenskinder
Knaur e-books
Waris Dirie, geboren 1965, floh im Alter von 14 Jahren aus ihrer Heimat Somalia, um ihrer Zwangsverheiratung zu entgehen. In London schlug sie sich mit Gelegenheitsjobs durch und wurde schließlich als Model entdeckt. Mit der von ihr gegründeten Desert Flower Foundation kämpft sie heute weltweit gegen weibliche Genitalverstümmelung und setzt sich für die Rechte afrikanischer Frauen ein.
www.desertflowerfoundation.org
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Ein Unternehmen der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München.
Copyright © 2005 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin.
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Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Karl Holzhauser
ISBN 978-3-426-43450-5
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Alle Telefonate wurden in Englisch geführt.
Schweißgebadet wache ich auf. Es ist sehr früh, noch nicht einmal sechs Uhr morgens. Die Nacht war kurz und unruhig. Schwere, düstere Träume haben mich immer wieder aus dem Schlaf gerissen. Noch einmal mache ich die Augen zu, doch sofort sehe ich die schrecklichen Bilder wieder vor mir: ein billiges Hotelzimmer, eng, mit vergilbten Tapeten an den Wänden. Auf dem großen Bett liegt ein Mädchen, das zehn, höchstens zwölf Jahre alt ist. Es ist nackt. Vier erwachsene Frauen stehen um das Bett herum und halten das Mädchen fest. Vor seinen gespreizten Beinen sitzt eine alte Frau, die ein Skalpell in der Hand hält. Das Bettlaken ist tiefrot, von Blut durchtränkt. Das Mädchen schreit durchdringend, es hört nicht auf zu schreien. Es schreit direkt in mein Herz.
Dieser Schrei hat mich immer wieder geweckt. Und es ist so, als würde er sogar in meinem Zimmer nachhallen. Verstört stehe ich auf und hole mir ein Glas Wasser aus der Küche. Ich blicke zum Fenster hinaus. Es beginnt hell zu werden. Ich bin in Wien, niemand schreit, es war alles nur ein Traum, versuche ich mich zu beruhigen.
Erst gestern Abend kehrte ich von einem Wochenendtrip aus Cardiff zurück. Bevor ich nach Wien gezogen bin, habe ich knapp zwei Jahre lang in der walisischen Hauptstadt gelebt. Eigentlich wollte ich dort nur Freunde treffen und mich ein bisschen entspannen, auf zwei erholsame Tage hatte ich mich gefreut. Doch es kam anders. Am Tag meiner Abreise war ich bei Freunden zum Mittagessen eingeladen. Es war eine aufgeweckte Runde, wir kannten uns alle von früher, und es gab jede Menge zu erzählen. Nur einer der jüngeren Männer, Mariame, sagte die ganze Zeit nichts. Mir fiel auf, dass er mich während des Essens ein paar Mal eindringlich anschaute. Ich konnte mir jedoch nicht erklären, was es zu bedeuten hatte. Als ich schließlich aufbrechen musste und mich von allen verabschiedet hatte, begleitete er mich hinaus. Ich nutzte die Gelegenheit, ihn zu fragen, was denn los sei.
»Waris«, antwortete er mir, »ich bewundere deine Kraft. Jetzt weiß ich endlich, mit welchen Qualen Beschneidungen verbunden sind. Ich würde gerne helfen, die Leute darüber aufzuklären. Viele wissen nichts darüber. Die Eingriffe werden einfach nur gemacht, weil es immer schon so üblich war. Keiner denkt über die Folgen nach.«
Ich musste lächeln. Es gibt immer mehr Männer, die es ablehnen, dass Mädchen beschnitten werden. Das macht mir Mut. Wenn doch schon alles der Vergangenheit angehören würde.
Plötzlich wurde Mariame ganz ernst: »Ich wollte dir aber noch etwas ganz anderes erzählen. Mir ist vor wenigen Tagen eine schreckliche Geschichte zu Ohren gekommen.« Und dann erzählte er mir von einer afrikanischen Familie aus Cardiff, die ihre zehnjährige Tochter beschneiden lassen wollte. Sie habe hier ein Hotelzimmer gemietet und eine alte libysche Frau dorthin bestellt, die für 200 Pfund die grausame Prozedur durchführen sollte. Doch die Beschneiderin habe danebengeschnitten – und das Mädchen habe so stark geblutet, dass sie zum Arzt gebracht werden musste. »So habe ich davon erfahren«, sagte Mariame, »sie wäre fast verblutet.«
»Ja, hat denn niemand die Polizei gerufen?«, fragte ich.
»Ich weiß nicht«, antwortete er.
»Wie heißt die Familie? Wo wohnt sie? Wie geht es dem Mädchen jetzt?«, bohrte ich weiter nach.
Mariame kannte keine Details. »Deshalb bedrückt mich diese Geschichte auch so. Ich weiß, dass es passiert ist, und kann einfach nichts dagegen machen.«
Es war nicht das erste Mal, dass ich von einer Genitalverstümmelung in Europa erfuhr. Durch meine Bücher bin ich so etwas wie eine Symbolfigur für den Kampf gegen Genitalverstümmelung geworden, und deshalb höre ich immer wieder von diesem schrecklichen Ritual in afrikanischen und arabischen Familien. Doch jedes Mal, wenn ich Details wissen wollte, um endlich einen Täter anzeigen zu können, wurde ich mit Ausflüchten abgespeist. Dass Genitalverstümmelung vor Staatsgrenzen nicht haltmacht und daher auch Frauen und Mädchen in Europa betrifft, ist in den afrikanischen Communities ein offenes Geheimnis. Mehr wurde mir gegenüber bisher nicht preisgegeben. Hier in Cardiff war nun offenbar ein Arzt oder ein Krankenhaus involviert, diesmal würde ich bestimmt Genaueres herausfinden können.
Die kurze Zeit, die mir noch bis zum Abflug blieb, nutzte ich, um mit möglichst vielen Bekannten in Cardiff telefonisch Kontakt aufzunehmen: Hatte jemand etwas gehört? Wusste jemand, um welches Mädchen es sich handeln könnte? Es war enttäuschend. Niemand konnte mir Auskunft geben, ja, mehr noch, keiner wollte über ein solches Thema sprechen. Auch über Krankenhäuser, die Polizei und soziale Einrichtungen konnte ich nichts in Erfahrung bringen. Dann war es schließlich so weit: Mein Flug zurück nach Wien war zum Einsteigen bereit. Ich ließ Cardiff hinter mir. Das Bild von dem Mädchen im Hotelzimmer jedoch nahm ich mit – bis in meine Träume.
An Schlaf ist jetzt nicht mehr zu denken. Ich hole meine Joggingschuhe aus dem Schrank, ziehe einen Trainingsanzug an und gehe hinunter auf die Straße. Laufen ist die beste Medizin für mich, besonders in Momenten, in denen mich etwas innerlich sehr aufwühlt. Beim Joggen kann ich mich beruhigen, aber auch nachdenken.
Draußen ist es kalt. Als ich am Fluss entlanglaufe, sind bereits die ersten Schulkinder unterwegs. Langsam wird mein Kopf wieder klar. Wie schön es ist, in Österreich zu sein, denke ich erleichtert. Hier kann man sicher sein, dass den Mädchen nichts passiert.
Kann ich mir denn da wirklich so sicher sein? Am Ende sind die Fälle von Genitalverstümmelung in Europa, von denen ich gehört habe, nicht nur Einzelfälle? Geschieht das vielleicht überall? Sogar hier in Wien? Und wieder muss ich an meine Alpträume denken. An den Schrei des Mädchens, mitten in einer europäischen Industriestadt.
Mir fallen die Interviews ein, die ich im Zusammenhang mit meinen Buchveröffentlichungen gegeben habe. Die Kongresse, an denen ich als UN-Sonderbotschafterin teilgenommen habe. Immer haben wir über Afrika gesprochen, immer wurde ich zu Somalia befragt. Habe ich schon jemals mit einer Expertin aus Europa gesprochen? Nein, das hätte ich nicht vergessen. Ich kenne keine Studien und keine Zahlen über Genitalverstümmelung in Europa. Gibt es etwa noch mehr Opfer? Ich setze mich auf die nächste Parkbank. Waris, sage ich zu mir, du musst etwas tun. Du musst Antworten finden.
Damals hoffte ich, meine Befürchtungen würden sich nicht bestätigen. Heute weiß ich, dass ich mit meinen Vermutungen richtig lag. Der Entschluss, mich diesem Thema zu widmen, sollte meinem Leben eine neue Wendung geben. Ich bin jetzt keine »Wüstenblume« und keine »Nomadentochter« mehr.
An jenem Morgen begann mein drittes Leben.
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte,
UN-Resolution, 10. Dezember 1948
Eine Woche später sitze ich in einem Kaffeehaus an der Wiener Ringstraße. Draußen rattern die rot-weißen Straßenbahnen vorbei, die Gebäude gegenüber sind alt und pompös. Die Leute an den Tischen um mich herum lesen Zeitung. Viele verweilen hier stundenlang, oft nur bei einer Tasse Kaffee, und keiner regt sich darüber auf. Diese typisch wienerische Gelassenheit schätze ich sehr. Seit einem Jahr lebe ich nun schon hier, und es gefällt mir sehr gut. Oft werde ich gefragt: Warum bist du gerade nach Wien gezogen? Und ich antworte darauf immer: Warum nicht? Wien ist eine wunderschöne Stadt. Ich habe hier viele neue Freunde gefunden. Ja, ich habe tatsächlich das Gefühl, endlich angekommen zu sein.
Die letzten Jahre bin ich viel gereist. Als UN-Sonderbotschafterin habe ich überall auf der Welt Vorträge gehalten und bin auf vielen Charity-Veranstaltungen aufgetreten. Trotzdem hatte ich immer das Gefühl, zu wenig zu tun. Daher entschloss ich mich, selbst etwas auf die Beine zu stellen: Ich gründete hier in Wien die »Waris Dirie Foundation«. Mit einem kleinen Team sammeln wir Geld für Projekte gegen Genitalverstümmelung in meinem Heimatland Somalia.
Im Moment ist Somalia weit weg für mich. Ich warte auf Corinna. Sie ist Politikwissenschaftlerin und Journalistin, und wir haben schon oft zusammengearbeitet. Meist recherchiert sie für mich Daten über Frauen in Afrika und über dortige Projekte gegen Genitalverstümmelung. Vor ein paar Tagen bat ich sie, mir so schnell wie möglich all die Informationen zusammenzustellen, die ihr über dieses Thema in Europa zugänglich sind. Sie kommt ein paar Minuten zu spät, aber jemanden wie mich, der selbst ein legeres Verhältnis zu Uhrzeiten und Terminen hat, kümmert das wenig. Jetzt bin ich gespannt, was sie mir zu erzählen hat.
Sie setzt sich, knallt einen grünen Leitz-Ordner mit Hunderten von Seiten auf den Tisch. »Da drin steht alles, was ich bisher weiß«, sagt sie atemlos. Sie bestellt sich einen Kaffee, biegt den Ordner auseinander, nimmt die erste Seite in die Hand und beugt sich in meine Richtung: »Waris«, flüstert sie. »Du hast recht. Alle glauben, Genitalverstümmelung sei im Rückzug. Aber das stimmt überhaupt nicht. Sie wird in immer mehr Ländern praktiziert. In Asien, in Europa – aber es gibt nur bruchstückhafte Informationen darüber.«
Es stimmt, denke ich. Auch im arabischen Raum, im Jemen, in Pakistan erfuhr ich von Tausenden Mädchen, deren Geschlechtsteile entfernt wurden. In Indonesien und Malaysia tauchen immer mehr Fälle auf. Und jetzt auch in Europa. Darüber wusste ich bisher allerdings wenig – hier muss es wohl ein Randproblem sein. Das dachte ich zumindest noch.
Corinna klappt den Ordner zu, drückt ihn mir in die Hand. »Am besten, du schaust selbst einmal in meine Unterlagen. Du wirst schnell merken, wie groß das Problem bei uns in Europa schon ist.«
Ich schlage die erste Seite auf, überfliege den Text mit den unzähligen Randnotizen von Corinna. An einem Absatz bleibe ich hängen. Hier werden die unterschiedlichen Namen aufgelistet, mit denen das große Unrecht bezeichnet wird, das uns Frauen geschieht: weibliche Genitalverstümmelung, FGM (Female Genital Mutilation), MSF (Mutilations Sexuelles Feminines), weibliche Zirkumzision, das arabische Wort »khafd«. Achtung! Den Begriff Beschneidung finden viele Opfer abstoßend, weil er verharmlost, hat Corinna mit Bleistift vermerkt.
»Stimmt«, sage ich zu Corinna. »Beschneidung erinnert an männliche Beschneidung – doch das ist überhaupt nicht vergleichbar. Im Grunde genommen ist es mir aber egal, wie man es nennt. Ich will, dass es aufhört. FGM ist nichts anderes als Gewalt an Frauen, eine Menschenrechtsverletzung. Das haben auch die Vereinten Nationen festgestellt.« Corinna nickt, blättert in ihren Unterlagen und zieht ein Blatt Papier mit der UN-Erklärung von 1993 heraus. Nach Schätzung der UNO und der Weltgesundheitsorganisation WHO wurden bisher 150 Millionen Frauen und Mädchen Opfer von Beschneidungen. 150 Millionen! Wahrscheinlich ist die tatsächliche Zahl noch viel, viel höher. Denn Dutzende Länder gelten als »blinde Flecken«: Man weiß schlicht nicht, ob und wie viele Opfer es dort gibt. 150 Millionen Mädchen und Frauen – das sind mehr Menschen, als zusammengerechnet in Deutschland, der Schweiz, Österreich, den Niederlanden, Belgien und Dänemark leben. Zu den Opfern gehören sieben bis acht Tage alte Babys, Mädchen in der Pubertät bis hin zu dreißigjährigen Frauen.
Jedes Mal, wenn ich über Beschneidungen spreche, muss ich an meine eigene denken. Dann bin ich wieder fünf Jahre alt und sitze auf einem Felsen in meiner somalischen Heimat. Es ist ganz früh am Morgen. Ich habe Angst. Meine Mutter sitzt hinter mir, hat ihre Füße um mich geschlungen und steckt mir das Stück einer abgebrochenen Wurzel in den Mund, um zu verhindern, dass ich mir vor Schmerz die Zunge abbeiße. »Waris«, sagt sie, »du weißt, dass ich dich nicht halten kann. Ich bin hier ganz allein mit dir. Also sei brav, meine Kleine. Sei tapfer, um meinetwillen, dann hast du es bald hinter dir.«
Ich sehe die Fratze der alten Frau, die strengen Blicke aus ihren toten Augen, die alte Tasche aus Teppichstoff, ihre langen Finger, mit denen sie die zerbrochene Rasierklinge aus der Tasche herausnimmt, das eingetrocknete Blut auf der Klinge. Meine Mutter verbindet mir die Augen. Dann spüre ich, wie mein Fleisch, meine Geschlechtsteile weggeschnitten werden. Dieses Gefühl kann ich bis heute nicht richtig beschreiben. Für diesen Schmerz gibt es keine angemessenen Worte. Ich höre das Geräusch der stumpfen Klinge, die wieder und wieder in meine Haut fährt. Ich erinnere mich an das Zittern meiner Beine, an das viele Blut und daran, wie ich vergeblich versuche, ruhig sitzen zu bleiben. Ich schicke Stoßgebete zum Himmel. Schließlich werde ich ohnmächtig. Als ich wieder aufwache, ist mein erster Gedanken, nun habe ich es wenigstens hinter mir. Die Augenbinde ist weggerutscht. Ganz deutlich sehe ich die Alte, diese Schlächterin, und den Haufen Akaziendornen, der neben ihr liegt. Der Schmerz ist unsäglich, als sie beginnt, mit den Dornen Löcher in meine Haut zu stechen. Dann fädelt sie den weißen Zwirn durch die Löcher, um mich zuzunähen. Meine Beine werden taub. Dieser Schmerz macht mich wahnsinnig. Ich habe nur einen Gedanken: Ich möchte sterben.
Ich sehe das Gesicht meiner Mutter vor mir, als wenn es gestern gewesen wäre. Sie ist fest davon überzeugt, das Beste für mich zu tun. Das einzig Richtige. Ich weiß nicht, wie oft ich meine Geschichte schon erzählt habe. Jedes Mal kommt es mir so vor, als würde ich über jemand anderen sprechen. Als wäre die kleine Waris ein anderer Mensch.
»Vielleicht wollen Sie doch noch etwas trinken?«, fragt mich plötzlich ein freundlicher Kellner in klassischem Schwarz-Weiß. Ich schaue dem jungen Mann überrascht ins Gesicht. Schnell bestelle ich einen Orangensaft. Ob er bemerkt hat, durch welches Tal der Erinnerungen ich gerade gegangen bin? Corinna ist völlig vertieft in ihre Unterlagen. Oder sie tut zumindest so. Sie ist sensibel genug, mich jetzt nicht zu fragen, was mit mir los ist. Ein kleines Kind, das am Nebentisch sitzt, schaut mir direkt in die Augen und lacht.
Schnell nehme ich eine weitere Studie zur Hand: Es geht um die medizinischen Auswirkungen von Beschneidung. Ich muss sie nicht lesen, ich kenne sie – die Schmerzen bei der Menstruation, die Infektionsgefahren, die Angst vor Berührung. Ich erinnere mich an eine alte Redensart in meiner Heimat Somalia: »Liebe tut dreimal weh«, heißt es, »bei der Beschneidung, bei der Vereinigung mit dem Mann und bei der Geburt der Kinder.« Verstümmelte Frauen werden nach der Hochzeit ein Stück weit und vor Geburten meist ganz aufgeschnitten. »Das vielleicht Allerschlimmste für uns Frauen steht hier aber nicht«, sage ich zu Corinna. »Dass es nämlich dieses furchtbare, ungeschriebene Gesetz gibt: Du musst schweigen. Du darfst mit niemandem über die Schmerzen sprechen.«
Ich muss eine kurze Pause machen, trinke einen Schluck Saft. Vieles, was hier schwarz auf weiß steht, habe ich am eigenen Leib erlebt. Ich kenne die Schmerzen, aber die Zeit war gnädig mit meiner Erinnerung. Viele Erlebnisse sind mir zumindest nicht mehr ständig präsent. Doch sie lassen sich leider jederzeit wieder abrufen, so, als wären sie niemals weg gewesen.
»Hast du irgendeine Studie, Daten, Analysen über FGM in Europa gefunden?«, frage ich Corinna. Sie fischt einen Zettel aus dem Ordner und deutet auf die hingekritzelten Zahlen. Frankreich 70000 steht da, Großbritannien 80000, Italien 35000. Wie? Was sind das für Zahlen? Die Namen einiger afrikanischer und arabischer Staaten sind aufgelistet, des Weiteren irgendwelche Prozentangaben. Und darunter, doppelt unterstrichen, mit rotem Filzstift geschrieben, diese Zahl: 500000! Ungläubig schüttle ich den Kopf und frage nach: »Was bedeutet diese Zahl? 500000 was? Etwa betroffene Frauen? Hier in Europa? Das kann doch nicht sein.«
Corinna nickt. Als sie ansetzt, mir zu antworten, unterbreche ich sie. »Warte«, sage ich zu ihr. Ich bin zutiefst schockiert. Dass wir von einer halben Million Frauen sprechen, die in Europa von FGM betroffen sind, damit habe ich nicht gerechnet. »Wie kommst du darauf? Kannst du die Zahl belegen?«
Laut Corinna gibt es in manchen europäischen Staaten genaue Statistiken darüber, wie viele Einwanderinnen aus Ländern kommen, in denen FGM praktiziert wird. Von der Weltgesundheitsorganisation weiß man den Prozentsatz der Frauen, die in diesen Herkunftsländern verstümmelt werden – so kommt man auf die Zahl der beschnittenen Frauen. »Aber diese Zahlen gibt es nicht für jedes Land«, sagt Corinna. »Und viele Afrikanerinnen, Araberinnen und Asiatinnen haben keine Papiere und tauchen in den Statistiken nicht auf.«
Ich schaue sie fragend an. Sie schluckt: »Das heißt: Eine halbe Million ist die Mindestzahl.«
Ich muss tief durchatmen. Um mich herum verschwimmt alles, mein Kreislauf bricht für einen Moment zusammen. 500000 betroffene Mädchen und Frauen in Europa. 500000, die wieder Töchter haben, die umso mehr auf ihren Traditionen bestehen werden, als sie hier in Europa nicht gut aufgenommen werden. Eine halbe Million Opfer hier vor unserer Haustür, und wahrscheinlich kommen jeden Tag neue dazu. Und niemand weiß es, niemand kümmert sich darum.
»Corinna«, sage ich schließlich. »Ich will das genauer wissen. Wer sind diese Frauen? Wie leben sie hier in Europa? Gibt es Gesetze, Vorsorgeuntersuchungen, Hilfestellungen? Wie wird mit ihren Töchtern umgegangen, und wer arbeitet zu diesem Thema in Europa?« Wieder muss ich an die Geschichte in Cardiff denken, an das Mädchen in dem Hotelzimmer. Ein Mädchen, das sich von den seelischen und körperlichen Verletzungen dieses Tages nie erholen wird. »500000 Frauen sind 500000 potenzielle Mütter. Wir müssen diese Frauen erreichen, sie unterstützen!«
Ich klappe den Ordner zu und fasse einen Entschluss: Vom heutigen Tag an gehört mein Leben dem Kampf gegen Genitalverstümmelung in Europa. Bis zu dem Tag, an dem jedes Kind hier sicher ist. Bis zu dem Tag, an dem allen bewusst ist: FGM ist nicht Kultur. FGM ist Folter.
Ich konnte zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, auf welch lange und beschwerliche Reise ich mich begeben würde.
Als ich mich von Corinna verabschiede, sagt sie zu mir: »Schau doch mal ins Internet, in eines der Diskussionsforen. Das sind die Seiten, auf denen jeder anonym schreiben kann, was er will. Du wirst staunen, wie offen hier über FGM geredet wird.«
»Corinna, du weißt doch, dass ich keinen PC zu Hause habe. Außerdem kenne ich mich nicht so gut mit dem Internet aus. Natürlich interessiert mich das sehr. Treffen wir uns doch morgen im Büro! Dann kannst du mir auch dabei helfen, die richtigen Seiten zu finden«, bitte ich sie.
Tags darauf sitzen wir in meiner Foundation gemeinsam vor dem Computer. Wenn ich hier aus dem Fenster schaue, habe ich einen wunderbaren Blick über Wien. Ich kann die Donau sehen und die Berge im Hintergrund. Alles wirkt sehr harmonisch und friedlich. Der Gegensatz könnte nicht größer sein zu der Welt, in die ich nun abtauche.
Corinna tippt die erste Internet-Adresse ein. Eine Seite mit einem violetten Titelkopf öffnet sich. Mehrere Forumseinträge zum Thema sind hier aufgeführt. Ich klicke den ersten Artikel an – und zucke zusammen: Eine offenkundig genitalverstümmelte Frau schildert detailliert, wie sie unter unglaublichen Schmerzen ihr Baby zur Welt brachte, weil sich ihre Vagina aufgrund der Verletzung nicht ausreichend dehnen konnte. »Ich wäre beinahe gestorben«, schreibt sie.
Ich bin wie gebannt, kann meine Augen von diesem Text nicht lösen. Selten in meinem Leben hat sich mir jemand so direkt über FGM mitgeteilt wie hier und jetzt. Ich klicke weiter – und weiter.
Medyna:
Ich wurde mit zwölf Jahren verstümmelt und bin jetzt neunzehn, und ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen wäre. Seitdem habe ich keine Lust mehr zu leben. Ich habe mehrere Selbstmordversuche hinter mir, und ich ertrage es nicht, dass ein Typ mich berührt. Ich habe mir geschworen, nie sexuelle Beziehungen zu haben, aus Scham. Bitte helft mir – es ist nicht einfach, davon zu sprechen, es ist hier das erste Mal, dass ich davon spreche.
Mya:
Ich bin Malierin mit französischer Staatsbürgerschaft. Ich bin mit dreizehn nach Mali gekommen und wurde dort verstümmelt.
Marissam:
Wenn ich mit meinem Freund geschlafen habe, habe ich überhaupt nichts Positives gespürt. Aber weil ich weiß, dass es ihm gefällt, wenn ich sage, »ja, es ist gut so, mach weiter«, habe ich es gesagt – damit wenigstens er etwas davon hat. Es ist hart, überhaupt keine Lust zu verspüren, wenn man mit dem Liebe macht, den man liebt. Es ist sehr, sehr hart!!!
Samia:
Ich wurde sehr jung verstümmelt, ich erinnere mich nicht daran. Ich habe sehr darunter gelitten, weil ich es nicht verstanden habe. Als junge Frau hatte ich Beziehungen, aber ohne Lust.
Maia:
Ich weiß fast gar nichts über Genitalverstümmelung. Ich habe es durchgemacht, als ich sehr jung war, ich erinnere mich an gar nichts mehr. Ich habe es eines Tages von meiner Mutter erfahren. Man hat mir auch gesagt, dass ich keinen Spaß daran haben würde, mit einem Jungen zu schlafen. Das hat mir Angst gemacht. Ich hatte große Probleme mit den Typen, denn ich wollte nie mit einem ins Bett, weil ich dachte, das geht mit mir nicht. Ich verstehe Leute nicht, die für Genitalverstümmelung sind. Sie bringen mich in Rage. Ich habe nie darum gebeten. Wer hat das Recht, mir etwas zu nehmen, was mir gehört?
Die Schmerzenskinder – hier sprechen sie offen. In der Anonymität des Web trauen sie sich, von ihrem Schicksal zu erzählen. Hier tauschen sie sich mit anderen Betroffenen aus, hier holen sie sich Rat – hier fassen viele zum ersten Mal ihr Leid in Worte. Eine Stunde lang habe ich Dutzende solcher Einträge gelesen. Einige gehen mir ganz besonders zu Herzen: Sie stammen von Mädchen, die offenbar außerhalb der Anonymität des Internets niemanden haben, mit dem sie sprechen können. Warum wird nirgendwo sonst so offen über diesen Alptraum gesprochen?
Diese Frauen brauchen dringend Unterstützung. Solche Probleme kann man alleine nicht lösen, denke ich mir. Ich rufe weitere Texte auf und stoße durch Zufall auf »Kadi«. Sie scheint sich häufig in den Chatroom einzuklicken, manchmal sogar täglich. Ich greife mir wahllos einen ihrer Einträge heraus und bin sofort gefesselt:
Bitte helft mir! Ich wurde beschnitten, als ich vier Jahre alt war. Meine Eltern sind dafür mit mir in mein Heimatland gereist. Ich habe nicht die geringste Lust auf eine Beziehung. Beschnittene Frauen, bitte erklärt mir, was ihr wirklich spürt? Stimmt es, was die Ärzte erzählen? Danke für alle, die mir weiterhelfen. Ich bin wirklich verzweifelt.
Irgendetwas fasziniert mich an ihr. Ihre nüchterne Art vielleicht oder die Unsicherheit, die sie im Umgang mit ihrem Körper, ihrer Sexualität offenbart – das, was sie umtreibt, erinnert mich jedenfalls sehr an mein eigenes Leben. Deshalb entschließe ich mich ganz spontan, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Liebe Kadi, schreibe ich ihr, ich habe deine Einträge im Forum gelesen und dein Schicksal hat mich sehr berührt. Du musst wissen: Du bist nicht allein mit deinen Problemen. Wenn ich dir irgendwie helfen kann, schreibe mir.
Dann habe ich fürs Erste genug und schalte den Computer ab.
Ein paar Tage später antwortet Kadi. Von nun an tauschen wir uns regelmäßig aus, in der ersten Zeit besonders intensiv. Kadi schildert mir ihr Leben, und ich berichte ihr von meinen noch vagen Plänen im Kampf gegen FGM in Europa.
Ich wurde vor zwanzig Jahren in Paris geboren und wohne mit einer meiner Schwestern im 14. Bezirk, schreibt sie. Meine Eltern sind aus Mali, genauer aus der Ethnie Bambara. Mein Vater ist polygam, er hatte drei Frauen und insgesamt 22 Kinder. Meine Mutter ist vor sechs Jahren an den Folgen eines ärztlichen Kunstfehlers gestorben, der bei meiner Geburt gemacht wurde. Erst vor kurzem habe ich davon erfahren, und es hat mich tief erschüttert. Ich bin mir sicher, dass dies nicht passiert wäre, wenn meine Mutter nicht verstümmelt worden wäre.
Ich respektiere die Polygamie meines Vaters. Für mich war es nie schockierend, drei Mütter zu haben, es war eher normal. Fast alle Familien in Mali sind polygam. Meine Cousine ist 27 Jahre alt und lebt seit zwei Jahren in Frankreich. Ihr Mann hat nur eine Frau, und sie beschwert sich darüber – ich verstehe sie wirklich nicht. Sie sagt: Wenn ich sterbe, dann ist niemand mehr da für meinen Mann …
Mein Vater hat dreizehn Töchter. Elf davon hat er beschneiden lassen. Die zwei Ältesten sind in Mali geboren, also hatte er keine Probleme. Die Dritte ist in Frankreich geboren und ist hier verstümmelt worden, vor dem Verbot, das seit 1983 gilt. Wo der Eingriff gemacht wurde und wer ihn gemacht hat, kann ich nicht sagen.
Bei mir ist es auf einer Reise mit meiner Mutter nach Mali passiert, in einem Busch, weit weg vom Dorf meines Vaters. Ich kann mich erinnern, dass man mir sehr weh getan hat. Aber meine Erinnerungen waren verschwommen, und ich wusste nicht, worauf sie sich bezogen – bis ich Bilder von einem anderen Fall gesehen und eine Erklärung dazu gelesen habe. Da habe ich alles verstanden, und ich war sehr schockiert.
Ich muss damals fünf Jahre alt gewesen sein. Später hat mir eine Cousine erzählt, dass ich fast daran gestorben wäre. Ich kann mich erinnern, dass das Blut rann und es gar nicht mehr aufhörte. Nach unserer Rückkehr nach Frankreich hat die Beschneiderin ihre Arbeit verloren, weil ihr niemand mehr seine Tochter ›anvertrauen‹ wollte. Sie hatte auch einen Finger zu wenig.
Ich erinnere mich, dass mich Erwachsene festhielten, an beiden Armen und Beinen. Ich erinnere mich auch, dass ich mit aller Kraft um mich geschlagen und laut geschrien habe. Ich erinnere mich auch, dass man mir ein seltsames Stück Stoff um die Taille gebunden hat, das mir als Slip diente, und ich erinnere mich genau, wie ich das weiße Fleisch zwischen meinen Beinen gesehen habe. Ich war danach sehr schockiert und ich konnte nicht gehen – und ich habe so lange geweint, bis ich keine Tränen mehr hatte. (…) Wenn ich daran denke, was man mir als kleines Mädchen angetan hat, ohne Betäubung, zittere ich immer noch.
Ich hatte danach sehr viele Alpträume. Ich hatte Angst, dass sie meine zwei kleinen Schwestern attackieren würden, die noch nicht angerührt worden waren. Kein einziger Tag vergeht, ohne dass ich daran denken muss. Wenn ich Klassenkameradinnen sehe oder einfach nur irgendwelche Frauen auf der Straße oder in der U-Bahn, dann denke ich daran, dass man diesen Frauen nichts weggenommen hat, und ich frage mich, warum hat man gerade mir so etwas angetan. Aber, so ist vielleicht das Leben!
Ich habe sogar schon daran gedacht, zu einem Psychologen zu gehen, weil ich niemanden habe, dem ich mich anvertrauen kann – niemanden in meiner Familie und niemanden in meinem Umfeld. (…)
FGM, das ist ein totales Tabuthema. Mein Vater hat darüber mit uns nie gesprochen, und ich habe ihn auch nie mit anderen darüber sprechen hören. Die erste von meinen Stiefmüttern ist dafür, und die zweite ist dagegen. Die zweite hat sogar erfolgreich ihre jüngere Schwester eingeschüchtert, die um jeden Preis ihre zweite Tochter beschneiden lassen wollte, trotz der Drohungen der Polizei, der das Gemetzel an der ersten Tochter nicht entgangen war. (…)
Heute fühle ich mich behindert. In deinem Buch »Wüstenblume« habe ich mich wiedererkannt, Waris. Sehr lange Zeit hatte ich große Angst vor Jungen, und ich habe mir geschworen, nie eine sexuelle Beziehung einzugehen. Ich habe bisher in meinem Leben nur einen Freund gehabt. Mit ihm bin ich immer noch zusammen. Seit einem Jahr und drei Monaten kennen wir uns nun schon, aber es passiert nichts zwischen uns. Ich habe ihm gesagt, dass ich lieber warten will, bis wir verheiratet sind, weil es mir meine Religion, ich bin muslimisch, befiehlt. Aber das ist nicht der wahre Grund. Er ist zwar auch aus einer Mali-Familie, aber er ahnt nichts, und ich weiß immer noch nicht, wie ich es ihm sagen soll. Eigentlich wollte ich es ihm überhaupt nie sagen, aber es wird doch nötig sein, dass ich das eines Tages mit einem Mann bespreche. Im Moment steht es nicht an.
Es ist wahr, dass die Männer, besonders die, die in Frankreich geboren sind, sehr wenig darüber wissen, was ihren Schwestern in der Heimat angetan wird. Ich glaube nicht, dass meine Brüder auch nur eine Ahnung davon haben. Niemand spricht zu Hause darüber.
Alles, was ich gerade erzählt habe, habe ich noch nie jemandem gesagt, mein ganzes Leben lang nicht. Es hat mir gutgetan, darüber zu reden.«
In den vergangenen Monaten habe ich die Mails von Kadi immer wieder gelesen. Sie gaben mir die Kraft, weiterzukämpfen, gerade dann, wenn mir die Arbeit über den Kopf wuchs. Kadi wurde so etwas wie mein Leuchtfeuer. Ihr Schicksal war mir Warnung und Auftrag zugleich. Durch sie erkannte ich, dass beschnittene Frauen in Europa noch mit einem weiteren Problem zu kämpfen haben: nämlich damit, dass sie in zwei Welten leben, in der afrikanischen Welt ihrer Eltern und in der europäischen Welt, in die sie geboren wurden und in der sie aufgewachsen sind.
In meiner Heimat ist es leider normal, beschnitten zu sein. Die Frauen kennen es nicht anders und alle haben deswegen große Probleme – aber: Sie kämpfen alle mit denselben Problemen. Die jungen Frauen, die hier in Europa aufwachsen, spüren, dass sie anders sind. Das ist eine schwere Bürde: Sie können sich niemandem mitteilen, und wenn sie es tun, bringen sie ihre Familie und ihre Kultur in Misskredit.
Ich habe schon oft in europäischen Schulen Vorträge gehalten. Die Schülerinnen und Schüler reagierten immer mit großem Entsetzen. Was rufen solche Reaktionen bei denen hervor, die aus diesen Kulturkreisen kommen? Wie müssen sie sich fühlen, wenn von »barbarischen Sitten« und »unfassbarer Folter« die Rede ist? Es trifft doch auf ihre Familien zu. Kein Wunder, dass die meisten sich nicht öffnen wollen und mit ihren Problemen lieber alleine bleiben.
Mit ein paar Freundinnen habe ich ein kleines Rechercheteam gebildet: Corinna ist dabei, außerdem noch Lea und Julia, zwei junge Journalistinnen. Alle drei kennen sich sehr gut in Menschenrechtsfragen aus. Uns ist inzwischen auch klar, dass Genitalverstümmelung tatsächlich ein großes Problem in Europa ist. In jedem europäischen Land gibt es Tausende Opfer – und Tausende Menschen, die wissen, wo und von wem die Eingriffe gemacht werden. Aber niemand außerhalb dieser Gruppe der »Bescheidwisser« erfährt etwas darüber. Das Netz scheint ziemlich dicht zu sein. Ich fasse es nicht!
Wir treffen uns zu einer Besprechung in einem winzigen Fischrestaurant am Naschmarkt. Diesen Platz in Wien mag ich besonders gern: Berge von Obst und Gemüse werden hier feilgeboten, die Händler kommen aus aller Welt, und das Treiben dort erinnert mich ein bisschen an die Märkte in Afrika. Selbst spezielle afrikanische Lebensmittel wie Maniok und Kochbananen kann man hier problemlos kaufen. Als ich das Restaurant betrete, sitzen Julia und Corinna bereits an einem Tisch und diskutieren heftig – vor ihnen aufgetürmt ein Stapel Ordner, Mappen und Papier. »Jetzt wird erst einmal gegessen«, sage ich bestimmend und schiebe den ganzen Packen zur Seite.
Nun kommt endlich auch Lea. Sie hat Österreich zum Schwerpunkt ihrer Recherche gemacht. Immerhin ist hier die Gesetzeslage nicht ganz so schwammig wie in vielen anderen europäischen Ländern. Seit 2002 ist sogar eine Passage ins Strafgesetzbuch aufgenommen worden. FGM gilt als Körperverletzung, die mit bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe geahndet wird. Dass es dieses Gesetz gibt, ist wiederum einer Undercover-Recherche zu verdanken, mit der das österreichische Nachrichtenmagazin profil 2001 herausfinden wollte, ob es in Österreich Ärzte gibt, die Genitalverstümmelungen vornehmen. »Ich bin der Geschichte nachgegangen und habe mit einigen Beteiligten gesprochen«, erzählt uns Lea. Und das, was sie uns nun berichtet, ist ziemlich erschreckend.
Ala (Name geändert) ist in Österreich geboren. Ihr Vater ist Araber, ihre Mutter Österreicherin. Dem Arzt, einem Chirurgen, stellte sie sich als Araberin vor, die plane, einen Ägypter zu heiraten. Sie habe das Problem, nicht mehr Jungfrau zu sein, und wolle sich deshalb auf Wunsch ihres künftigen Ehemanns einer »reinigenden Beschneidung« unterziehen. Der Arzt stimmte dem Eingriff umgehend zu. Die dafür nötigen Instrumente, Medikamente sowie Verbandsmaterial würde er mitbringen. Das OP-Besteck habe er einem Wiener Krankenhaus abgekauft und auf Flohmärkten erstanden. »Aber keine Angst, das sind keine rostigen Blechteile«, habe er ihr gegenüber geäußert. Er wolle die Operation in einer Privatwohnung durchführen, da dies den Vorteil habe, dass seine Patientin nach dem Eingriff in Ruhe ausschlafen könne. Schließlich sei die Gefahr groß, dass es zu starken Nachblutungen kommt. Er gab an, über keine eigenen Praxisräume zu verfügen, aber jederzeit die Praxis eines Kollegen für siebzig Euro anmieten oder die Räume einer Kollegin nutzen zu können, mit der er bereits gesprochen habe. Die Operation würde er gerne mit einer Videokamera aufzeichnen. »Danach kann ich Sie ja mit dem Auto heimfahren. In so einer Situation ist es besser, nicht die Straßenbahn zu nehmen«, habe er Ala angeboten. Nach mehreren Vorgesprächen wurde schließlich ein Termin für den Eingriff festgelegt. Die Operation sollte in zwei Etappen durchgeführt werden. Das war dann der Zeitpunkt, an dem Ala das Ganze abbrach. Noch mindestens zwanzigmal habe der Arzt in den folgenden Wochen bei ihr angerufen. Er wollte die Operation unbedingt durchführen. Er bot ihr sogar an, dies gratis zu tun, »als Hochzeitsgeschenk«, wie er sagte. Nur die siebzig Euro Miete müsse er von ihr verlangen.
Das profil-Team nahm ein paar Wochen später Kontakt mit dem Chirurgen auf und konfrontierte ihn mit den Ergebnissen der Undercover-Recherche. Seine fadenscheinige Ausrede lautete, er hätte den Eingriff nur durchgeführt, wenn er juristisch unbedenklich gewesen wäre. Außerdem habe er Schlimmeres verhindern wollen. »Wäre Ala zu jemand anderem gegangen, hätte es durchaus sein können, dass ihr die gesamte Klitoris weggeschnitten worden wäre. Das wäre chirurgischer Murks gewesen«, sagte er.
»Ich habe nachgeforscht«, schließt Lea mit großer Empörung ihre Ausführungen, »der Arzt praktiziert auch heute noch. Immerhin wurde nach diesem Vorfall das Anti-FGM-Gesetz erlassen. Heute ist es in Österreich auch verboten, Genitalien zu verstümmeln, wenn eine Frau das selbst verlangt.«
»Immerhin«, wiederhole ich. »Das klingt ja nicht so schlecht.«
»Auf dem Papier sieht es ganz gut aus«, fährt Lea fort. »Aber in der Realität nicht. Bisher fand noch kein einziger Prozess statt. Kein einziger Täter, keine einzige Täterin landete vor Gericht.«
»Aber das gibt es doch nicht«, entrüste ich mich.
»Doch, doch. Ich gebe dir noch ein anderes Beispiel. Eltern, die ihre Töchter in Afrika beschneiden lassen, gelten nach dem Gesetz als Anstifter. Aber bisher wurde auch noch kein einziger Anstifter angezeigt. Und das, obwohl viele wissen, dass Mädchen auf Heimaturlauben, aber auch bei uns beschnitten werden.«
»Aber warum gibt es dann keine Anzeigen?«, frage ich. »Es gibt doch auch Organisationen, die davon wissen müssten!«
»Weil es so ist wie in allen anderen Ländern Europas auch«, antwortet Lea. »Ich glaube, die Organisationen haben Angst, ihren Kontakt zur Afrikanischen Gemeinde zu verlieren, wenn sie Täter auffliegen lassen. Denn wer plaudert, gilt sofort als Verräter.«
Ich schüttle ungläubig den Kopf und ziehe eine Studie der »African Women’s Organisation«, der Organisation afrikanischer Frauen in Wien, aus den Unterlagen. Lea hat auf einer Seite die wichtigsten Ergebnisse dieser repräsentativen Umfrage unter afrikanischen Migrantinnen und Migranten in Österreich zusammengefasst. Ich bin schockiert: 30,5 Prozent der Befragten lassen ihre Töchter beschneiden. Über drei Viertel tun dies aus Gründen der »Tradition«, fast die Hälfte meint, FGM sei »gut für die Moral der Frau«, und ein Viertel denkt, dass »Frauen dadurch mehr Kontrolle über ihre Sexualität« bekommen würden. Die meisten, die ihre Töchter beschneiden lassen, fahren dazu nach Afrika – aber 11,5 Prozent der Eingriffe werden in Europa gemacht, 1,9 Prozent davon in Österreich und 9,6 Prozent in Deutschland oder Holland.
Ich überfliege die Zahlen noch einmal, rechne hoch: »Das bedeutet ja, dass in Europa schon Tausende Genitalverstümmelungen stattgefunden haben«, rufe ich erstaunt aus. Kann das sein? Kann es sein, dass Tausende Mädchen vor unseren Augen einer grausamen Folterung unterworfen wurden – und niemand hat etwas davon mitbekommen? Wo sind die Menschen, die so etwas tun? Sind es Ärzte? Krankenschwestern? Medizinische Laien?
Bald darauf fand ich heraus, dass die Antwort auf meine Fragen direkt vor meiner Haustür lag.
Laut der Studie der afrikanischen Frauenorganisation leben allein in Österreich 8000 verstümmelte Frauen. Wie geht man hier, wo viele noch nie etwas von FGM gehört haben, mit ihnen um? Wie ist es, wenn sie einen Mann kennenlernen oder wenn sie einen Arzt aufsuchen müssen? Und vor allem: Wie bringt man sie dazu, dass sie ihren Töchtern dieses Drama ersparen? Langsam wird mir eines immer klarer: Es geht gar nicht nur darum, herauszufinden, wer in Europa die Eingriffe vornimmt. Es ist mindestens ebenso wichtig, sich um die Frauen zu kümmern, die bereits beschnitten waren, als sie nach Österreich kamen. In meiner Heimat ist es leider »normal«, beschnitten zu sein. Aber hier? Hier wendet man sich angeekelt ab, wenn man davon hört. Ich weiß das aus eigener Erfahrung.
Das Schlimmste für mich ist: Egal, wo ich hinkomme, jeder weiß, was mir widerfahren ist. Ich werde nicht mehr als Frau wahrgenommen, ich bin überall nur die »Beschnittene«. Als ich mein erstes Buch schrieb, entblößte ich mich, indem ich öffentlich sagte: »Schaut her, das ist mir passiert. Menschen haben mir Gewalt angetan, als ich ein Kind war. Sie haben meine Geschlechtsorgane auf grausame Art und Weise verstümmelt.« Seither will jeder, der mich trifft, von mir wissen, wie ich da unten ausschaue und ob ich Sex haben kann und wie. Die Menschen, denen ich begegne, müssen mir nichts sagen, ich spüre es an ihren Blicken. Vielleicht ist es sogar schlimmer, wenn sie nichts sagen und nur gaffen. Ich weiß zwar, dass es die meisten gar nicht böse meinen. Viele wollen mir helfen, mir etwas Gutes tun. Aber gut gemeint ist eben oft das genaue Gegenteil von gut.
Eines von vielen Beispielen: Vor einem Jahr fand eine Messe in Österreich statt, auf der es auch einen Stand gab, an dem meine Bücher verkauft und Spenden für meine Projekte in Somalia gesammelt wurden. Als ich dorthin kam, fiel mir als Allererstes ein großes, gelbes Plakat auf, auf dem ein Foto von einer Beschneidungsszene zu sehen war. Noch mehr schockierte mich allerdings, dass unter diesem Foto in großen Buchstaben stand: Treffen Sie das Beschneidungsopfer Waris Dirie. Wer hat das Recht, so mit mir umzugehen? Stellen Sie sich vor, eine Frau würde Geld für missbrauchte Kinder sammeln und auf einem Plakat stünde: »Treffen Sie Missbrauchsopfer Marta Mustermann«? Würden Sie die Frau bei jedem Interview zuallererst fragen, wie es war, als sie mit sieben Jahren von ihrem Onkel missbraucht wurde? Nein, natürlich nicht. Es gehört sich doch, eine gewisse Intimsphäre zu respektieren.
Uns Opfern von FGM gegenüber werden solche Grenzen nicht eingehalten. Man zeigt mit dem Finger auf uns, bezeichnet unsere Gesellschaften als barbarisch und zurückgeblieben und merkt dabei gar nicht, wie barbarisch der Umgang mit uns hier in Europa ist. An all das muss ich denken, als ich mich mit Ishraga Hamid unterhalte. Wir treffen uns in ihrer Wiener Wohnung. Sie begrüßt mich in einem bunten, afrikanischen Kleid und bittet mich, im Wohnzimmer Platz zu nehmen.
Ishraga heißt mit vollem Namen Ishraga Hamid Mustafa, trägt einen Magister-Titel und kommt aus dem Sudan. Die heute 43-Jährige hat in Khartoum, dann in Österreich Publizistik studiert und arbeitet als Lektorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Zwischen 1997 und 2004 hat sie mehrere wissenschaftliche Studien über die Lebensbedingungen afrikanischer, schwarzer, muslimischer und arabischer Frauen in Wien durchgeführt. Sie weiß, was es heißt, als afrikanische Frau in Europa zu leben.
Die angenehme, mädchenhafte Stimme dieser zarten und freundlichen Frau beeindruckt mich. Trotz der sanften Ausstrahlung wirkt sie während des Gesprächs energisch und resolut. Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen lassen wenig Raum für Illusionen. Nur drei Prozent der befragten Afrikanerinnen arbeiten in Jobs, die ihrer Qualifikation entsprechen, obwohl achtzig Prozent einen Mittelschulabschluss und sogar 37 Prozent einen Hochschulabschluss haben. »Ich selbst habe mir früher mein Geld als Putzfrau verdient«, sagt Ishraga Hamid.