Michael Tsokos
mit Andreas Gößling
True-Crime-Thriller
Knaur eBooks
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Redaktion: Regine Weisbrod
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
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ISBN 978-3-426-43488-8
Genau im richtigen Moment stieß er die Fahrertür des ockerfarbenen Peugeot Kastenwagens auf. Metall krachte gegen Metall, und die junge Frau kippte mitsamt ihrem Fahrrad ganz einfach um. Schotter und Staub spritzten zur Seite, als ihr Körper auf der schmalen, unbefestigten Straße aufschlug. Genauso, wie er sich das im Voraus ausgemalt hatte. Hunderte Male, tage- und nächtelang.
Er stieg langsam aus und setzte ein breites Lächeln auf, das sich für ihn selbst nach gebleckten Reißzähnen anfühlte. Sein Herzschlag war stark beschleunigt, ihm war etwas schwindlig. Das Adrenalin war zurück. Endlich.
Mach langsam, ermahnte er sich, sonst ist gleich alles wieder vorbei. Der große Kick, von dem er schon so lange geträumt hatte.
Er musterte das Durcheinander aus nackten Beinen und Armen, aus Speichen und zwei im Leeren drehenden Rädern. In Gedanken schnitt er ihr bereits die Kleider vom Leib.
Er würde sie beschriften, sorgfältig und langsam, jeden einzelnen ihrer Körperteile. Er hatte eine ganze Sammlung an Messern beiseitegeschafft, was nicht leicht gewesen war. Ständig hatten alle rumgenervt, weil schon wieder ein Messer verschwunden war. Mal ein Gemüsehackmesser, dann das große, axtartige Schlachtmesser, mit dem man zur Not bestimmt auch Knochen zerteilen konnte.
Zur Not, dachte er. In solche Not kann man schon mal kommen.
Die kleine Straße führte mitten durch den Wald, weit draußen vor der Stadt. Um diese Morgenstunde war hier niemand unterwegs. Er beugte sich über die junge Frau und griff sich das Fahrrad an Lenker und Rahmen. Unter den verbogenen Speichen ihr Gesicht, jung, hellhäutig, dreckverschmiert. Sie wimmerte irgendetwas, aber er hörte nicht hin. Es wurde Zeit, dass er sie wegbrachte.
Das Fahrrad warf er in den zugewucherten Straßengraben. Da unten lag jede Menge Müll, niemand würde dort nach einem Fahrrad suchen. Und wenn schon, dachte er.
Als er sich wieder zu dem Mädchen umwandte, versuchte sie gerade, wegzukriechen. »Das hast du dir wohl so gedacht, Schätzchen!«, schrie er.
Mit drei Schritten war er bei ihr. Sie drehte den Kopf über die Schulter zu ihm zurück. Stirn und Wange schwarz-rot-grau verschmiert mit Öl, Blut und Staub. Weit aufgerissene Augen voller Angst. Nackter Angst vor dem, was kommen würde.
Er brauchte nicht groß auszuholen, wenn er hart zuschlagen wollte. Darüber hatten sich die Leute schon öfter gewundert. Vielleicht war er nicht besonders hochgewachsen, aber das glich er durch die Schlagkraft seiner Fäuste locker aus. Er traf sie seitlich am Hals. Ihr Körper wurde augenblicklich schlaff.
Er warf sie ins Innere des Kastenwagens, kletterte hinterher und kauerte sich neben sie. Sie fing schon wieder an, sich zu bewegen und vor sich hin zu wimmern, und für einen Moment geriet er fast in Panik. Verdammt, er hatte nicht daran gedacht, dass er sie irgendwie ruhig kriegen musste. Nicht tot, aber ruhig. Schließlich konnte er nicht während der Fahrt immer wieder nach hinten hechten und sie aufs Neue k.o. hauen.
Seine Augen huschten durch das Innere des Wagens. In der Ladefläche eingebaut war eine Klappe, und als er sie öffnete, quoll ihm ein orangefarbenes Seil entgegen. Ein Abschleppseil, ein bisschen grob für seine Zwecke, aber es gelang ihm, das Mädchen mit dem Strick an Händen und Füßen zusammenzubinden.
Sie sträubte sich, wimmerte lauter und rollte mit den Augen. Aber nachdem er ihr noch einen Schlag verpasst hatte, diesmal an die Schläfe, wurde sie wieder schlaff. Mit einem Streifen Verbandspflaster aus dem Erste-Hilfe-Kasten klebte er ihr zum Schluss noch den Mund zu.
Reisefertig, dachte er und kletterte nach draußen. Erst als er die Fahrertür öffnete, fiel ihm die Delle unter dem Schloss auf. Verflucht, sein Bruder würde stinksauer sein. Der Lack war total zerkratzt, und die Delle war so tief, dass er den halben Daumen darin versenken konnte.
Die Wut kochte in ihm hoch. Daran ist nur diese verfluchte kleine Schlampe schuld! Er wurde von Visionen überschwemmt, in denen er das Flittchen da drinnen mit bloßen Händen erwürgte. Wie sie unter ihm lag und zuckte, wie sie sich aufbäumte und stöhnte wie bei der Liebe. Eine halbe Ewigkeit lang kämpfte er gegen den Drang an, sie auf der Stelle kaltzumachen.
Versau es nicht wieder, ermahnte er sich. Du hast es perfekt vorbereitet, also zieh es jetzt auch so durch.
Er atmete noch ein paarmal tief ein und aus, dann hatte er sich wieder im Griff.
Er würde seinem Bruder einfach irgendeine beschissene Story erzählen. Er hatte die Karre irgendwo abgestellt, und als er zurückkam, war da eben diese gottverdammte Delle. Wer interessierte sich schon für so etwas Dämliches wie Beulen und Kratzer an Autos?
Er selbst bestimmt nicht – er interessierte sich höchstens für Kratzer in Frauenkörpern und sonst für gar nichts. Für die Wörter, die er ihr jetzt endlich in die Haut schneiden würde, wie er sich das schon lange ausgemalt hatte.
Nein, diesmal würde er es nicht versauen. Er hatte sogar ein Versteck gefunden, wo er sie in aller Ruhe beschriften konnte. Niemand würde sie dort suchen. Niemand würde auf die Idee kommen, dass sich in diesem Loch etwas anderes als Ratten aufhalten könnte.
Er glitt hinter das Steuer des Kastenwagens, knallte die Tür zu und fuhr mit durchdrehenden Rädern los.
Berlin-Tegel,
Donnerstag, 2. Juli, 19:45 Uhr
Der kleine Supermarkt war genauso in die Jahre gekommen wie die ganze Mehrfamilienhaussiedlung am nordwestlichen Stadtrand. Und wie ein großer Teil ihrer Bewohner.
Irina Petrowa stand in der Kassenschlange, und jeder einzelne Knochen ihres sechsundsiebzigjährigen Körpers tat ihr weh. Obwohl die Stadt seit acht Tagen unter einer Hitzeglocke schmorte, fröstelte die alte Frau in ihrem Sommermantel. Ihr Augenlicht war vom grauen Star getrübt, in ihren Ohren ertönte unaufhörliches Tinnitusklingeln. Desto angestrengter sperrte sie Augen und Ohren auf, um möglichst viel von dem mitzubekommen, was um sie herum passierte.
Das war allerdings im Moment nicht sonderlich viel. Alle in der Kassenschlange wirkten müde und abgekämpft. Einige hatten sichtlich einen langen Arbeitstag hinter sich und kauften kurz vor Ladenschluss noch Berge an Lebensmitteln ein. Die meisten Kunden aber schienen ein einsames Leben zu führen, denn in ihren Einkaufswagen lagen nur wenige Artikel. So wie bei Irina Petrowa.
Mit einer Hand schob sie ihren Einkaufswagen zentimeterweise voran, mit der anderen umklammerte sie den Griff ihres altmodischen Spazierstocks. Ein Erbstück von Sascha, ihrem jüngsten Bruder, der im letzten Sommer mit nur einundsiebzig Jahren verstorben war. Wodka, der Fluch Russlands, dachte sie. Zur Beerdigung war sie nach Sankt Petersburg geflogen, und es hatte sie ihre letzten Kräfte gekostet.
Die Reise, die Stadt ihrer Jugend, die Erinnerungen, die sie seitdem nicht mehr losließen.
Irina Petrowa war noch zu Zeiten des Kalten Krieges nach Deutschland gekommen, natürlich der Liebe wegen, die allerdings bald schon im grauen DDR-Alltag verwelkt war. Mehr oder weniger ihr ganzes Erwachsenenleben hatte sie in der deutschen Hauptstadt verbracht – zuerst im Osten, seit dem Mauerfall im Westen Berlins. Seit über zehn Jahren war sie verwitwet.
An Saschas Grab war ihr zum ersten Mal der Gedanke gekommen, dass sie ihr Leben verpasst hatte, wie man auf dem Bahnhof einen Zug verpasst. Seitdem spürte sie, wie tief in ihr die Lebensgier brodelte. Die meisten ihrer Mitbewohner in der Seniorenwohnanlage hatten mehr oder weniger mit allem abgeschlossen. Irina Petrowa aber wollte leben, auch wenn ihr mit jedem Tag jede Bewegung noch mehr weh tat.
Sie hatte die junge Frau an der Kasse noch niemals vorher gesehen. Entweder sie tauschten die Kassiererinnen hier alle paar Tage aus, oder ihr Kurzzeitgedächtnis ließ genauso rapide nach wie ihre Sehkraft. Irina Petrowa bat die Angestellte, ihr beim Verstauen ihres Einkaufs zu helfen, und machte sich mit ihrem Stock und der Plastiktasche auf den Heimweg.
Neben dem Ausgang waren Sonderangebote für Gartenfreunde aufgebaut. Den untersetzten Schwarzen, der die Kollektion aus Liegestühlen und Holzkohlegrills betrachtete, nahm sie nur als verschwommenen Schatten wahr. Schritt für Schritt schleppte sie sich über den Parkplatz, und der schwarze Schatten folgte ihr.
Linker Hand gab es eine kleine Grünanlage mit Parkbänken, auf denen wie immer die Trinker saßen. Irina Petrowa achtete darauf, den alten Männern mit den Reibeisenstimmen nicht zu nahe zu kommen. Aber es half nichts. Sie sind wie Sascha. Der Leichenbestatter hatte sein Bestes gegeben, trotzdem hatte ihr armer kleiner Bruder in seinem Sarg ausgesehen wie eine Mumie. So ausgemergelt und eingeschrumpft, als hätte der Alkohol ihn von innen her verbrannt.
Nachdem sie den Parkplatz überquert hatte, waren es nur noch etwa hundert Meter bis zu ihrer Haustür. Doch für Irina Petrowa fühlte es sich an wie ein Gewaltmarsch durch die Wüste. Die immer noch grelle Abendsonne stach ihr in die Augen, so dass sie alles wie in gleißenden Nebel gehüllt sah. Schweiß lief ihr in Bächen den Rücken herunter, gleichzeitig war ihr erbärmlich kalt. Verbissen stieß sie ihren Stock mit dem versilberten Falkenkopfgriff vor sich auf den Gehweg. Natürlich hätte sie sich ihren Einkauf in die Wohnung liefern lassen können, aber das kam nicht in Frage. Der abendliche Gang zum Supermarkt war für sie der Höhepunkt des Tages.
Jeden Morgen um neun kam ihre Betreuerin, eine karibische Schönheit namens Mercedes Camejo, zu ihr in die Wohnung, um für sie den Haushalt zu erledigen und ihr bei der Körperpflege zu helfen. Aber Irina Petrowa war jedes Mal froh, wenn sie die dralle Person wieder los war. Sie konnten sowieso kaum ein vernünftiges Wort wechseln, da ihre Betreuerin nur gebrochen Deutsch sprach und die Betreute mehr oder weniger nur sinnloses Klingeln in ihren Ohren vernahm.
Endlich hatte Irina Petrowa die sechsgeschossige Wohnanlage erreicht, die fast schon in Sichtweite des Flughafens Tegel lag und sechzig Senioren in altersgerechten Apartments Platz bot. Sie beugte sich vor, lehnte ihren Stock neben der Haustür an die Wand und suchte in ihrem Mantel nach dem Schlüssel. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite studierte der Mann mit der rußfarbenen Haut die Plakate an einer Litfaßsäule. Irina Petrowa spürte undeutlich, dass der Schatten immer noch in ihrer Nähe war, aber in ihren Gedanken hatte er sich in etwas anderes verwandelt.
Nach Jahrzehnten der Entfremdung waren ihr Bruder Sascha und sie sich vor seinem Tod noch einmal nahegekommen. Sie hatten einander Briefe geschrieben und mehrmals im Monat telefoniert. Sascha war ihr früher immer wie ein roher Draufgänger erschienen, der jeden tieferen Gedanken für Zeitvergeudung hielt. Aber durch irgendeine wundersame Wandlung war er kurz vor seinem Tod geradezu ein Mystiker geworden.
Entweder er hat sich früher immer verstellt, oder der Wodka hat ihn zu einem Weisen gemacht, dachte Irina Petrowa. Letztlich schienen ihr beide Möglichkeiten gleichermaßen unwahrscheinlich. Sie kämpfte mit ihrem Schlüssel, der sich im Futter ihrer Manteltasche verheddert hatte, und ihr war unerträglich heiß.
Die Schatten, die uns umgeben, sind nichts anderes als unsere eigenen sündigen Gedanken, hatte Sascha ihr erklärt, wenige Wochen bevor er ins Koma gefallen war. Verstehst du, Irina?
Eigentlich hatte sie es nicht verstanden. Es war nicht logisch, jedenfalls auf den ersten Blick. Doch wenn man es als mystische Weisheit auffasste, schien es eben doch eine Art Sinn zu ergeben.
Mit zitternder Hand schob sie den Schlüssel ins Schloss. Nachdem sie aufgeschlossen und ihren Stock wieder an sich genommen hatte, schleppte sie sich in die Eingangshalle. Die Liftkabine lockte mit offener Tür und surrendem Neonlicht, doch Irina Petrowa wandte sich entschlossen der Treppe zu. Den Aufzug haben die Bestatter erfunden, hatte Grigorij, der Priester ihrer orthodoxen Gemeinde, ihr schon vor Jahren eingeschärft.
Das hatte Irina Petrowa eingeleuchtet, ganz ohne Mystik. Ihr Hausarzt hatte im Grunde dasselbe gesagt, nur ohne Seitenhieb auf die Bestatter. Jedenfalls mühte sie sich Tag für Tag über die Treppe in den ersten Stock hoch. Flüchtig wunderte sie sich, dass sie diesmal gar nicht gehört hatte, wie hinter ihr die Haustür ins Schloss gefallen war. Aber in ihren Ohren klingelte es wie in einer anfahrenden Straßenbahn.
Trotzdem drehte sie sich auf der Plattform im ersten Stock um und spähte angestrengt nach unten. Doch da war nichts, oder höchstens ein Schatten auf der halben Treppe, und schon waren ihre Gedanken wieder bei Sascha. Es gibt keine Schatten, verstehst du, Irina?
Ja, Brüderchen, ich verstehe, was du meinst. Vor ihrer Wohnungstür musste sie erneut das beschwerliche Ritual ausführen. Sie lehnte den Stock gegen die Wand, zog den Schlüssel aus der Manteltasche und schloss auf. Dann hangelte sie wieder nach der Gehhilfe und schob die Tür mit dem gummiüberzogenen Stockende weit auf.
Im selben Moment bekam sie einen harten Stoß in den Rücken. Was war das? Um Himmels willen! Sie stolperte in ihre kleine Diele und riss die Arme hoch. Stock und Einkaufstasche fielen ihr aus den Händen und landeten auf dem Teppichboden. Sie wollte sich umdrehen, doch da bekam sie einen zweiten, noch kräftigeren Stoß in den Rücken, der sie endgültig von den Füßen riss. Irina Petrowa fiel der Länge nach hin. Ihre Arme und Handgelenke, mit denen sie den Sturz abzufedern versucht hatte, taten höllisch weh. Sie wollte schreien, aber es ging nicht. Zwei kräftige Hände hatten ihren Kopf und Nacken gepackt und drückten ihr Gesicht in den muffig riechenden Teppich. Hilflos lag sie auf dem Bauch und kämpfte dagegen an, ohnmächtig zu werden.
Schatten, dachte sie, und plötzlich war alles schwarz.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie immer noch in ihrer Diele, doch seltsamerweise auf dem Rücken. Die Wohnungstür war geschlossen, und neben ihr kauerte ein Mann auf dem Boden und sah sie aufmerksam an. Sein Augenweiß und seine Zähne hoben sich unwirklich hell von seinem schwarzen Gesicht ab. Obwohl sie immer noch benommen war, wusste Irina Petrowa, dass es der stämmige Mann vom Supermarktparkplatz sein musste.
Der Schatten, du hast dich geirrt, Sascha, dachte sie. Er ist ganz einfach ein Räuber, der es auf meinen Schmuck abgesehen hat.
Sein Mund ging auf und zu, anscheinend redete er mit ihr. Aber Irina Petrowa verstand kein Wort. Der Tinnitus schrillte in ihren Ohren. Das Herz schlug ihr bis in die Kehle hinauf. »Sie können alles haben!«, stieß sie hervor.
Er bleckte die Zähne, packte ihren Rock und zog ihn bis zu ihrer Hüfte hoch. Dann zerrte er ihr die Strumpfhose herunter.
Irina Petrowa erstarrte. Ein Perverser, dachte sie. Oh, mein Gott. Er wird mich vergewaltigen!
Sie wollte um Hilfe schreien, da legte er ihr die Hände um den Hals und drückte zu. Wenn ich nur den Stock noch hätte! Panisch scharrten Irina Petrowas Hände über den Boden. Aber sie konnte das elende Ding nicht finden. Sie schlug um sich und strampelte. Als all das nichts half, krallte sie ihre Fingernägel in seine Hände, die wie ein eisernes Band um ihre Kehle lagen.
Aber sie hatte keine Chance. Noch einmal lief ein Zucken durch ihren Körper, dann fielen ihre Arme schlaff herab, und ihr Blick wurde für immer leer.
Berlin, Treptowers, BKA-Einheit »Extremdelikte«,
Freitag, 3. Juli, 07:25 Uhr
Schon beim Frühstück hatte Dr. Fred Abel einen Anruf aus dem Sekretariat erhalten: Auf einem Kleinflughafen in der Uckermark war am frühen Morgen eine Cessna beim Landeanflug abgestürzt. Acht Fallschirmspringer plus Besatzung. Keine Überlebenden.
Alle verfügbaren Rechtsmediziner vom Berliner Landesinstitut und vom rechtsmedizinischen Institut der Charité waren zum Unfallort beordert worden, um die Toten noch vor Ort in einer provisorisch eingerichteten Leichenhalle zu identifizieren. Also mussten Abel und seine Kollegen von der rechtsmedizinischen Abteilung der BKA-Einheit »Extremdelikte« wieder einmal für den gewöhnlichen Bereitschaftsdienst einspringen. Jeden auch nur halbwegs rätselhaften Todesfall würden sie in den nächsten Tagen auf den Tisch bekommen, bis die Kollegen von den beiden Berliner Instituten mit den abgestürzten Fallschirmspringern durch waren.
Anstatt den Tag beim Frühstück mit seiner Lebensgefährtin Lisa einigermaßen ruhig angehen zu lassen, hatte Abel hastig seinen Kaffee ausgetrunken und war aus dem Haus gestürzt. Von ihrem Townhouse in Berlin-Grünau bis zu den Treptowers brauchte man um diese Zeit mit dem Auto mindestens eine halbe Stunde.
Als ob wir nicht schon genügend Leichen im Keller hätten, dachte Abel, während er seinen schwarzen Audi A5 auf dem Parkplatz der Berlin Treptowers abstellte. Die Box daneben, in der sonst Herzfelds Range Rover stand, war leer. Ausgerechnet heute.
Am gestrigen Donnerstag hatte Professor Paul Herzfeld, der Leiter ihrer Sonderabteilung, einen fünftägigen Kurzurlaub angetreten. Als seinem Stellvertreter kam Abel die zweifelhafte Ehre zu, das anbrandende Chaos zu koordinieren.
Also los, packen wir’s an.
Er atmete tief durch, während er auf den Eingang des imposanten Büroturms im Berliner Stadtteil Treptow zuging. Um diese Stunde war die Hitze noch erträglich, aber spätestens am Mittag würde das Thermometer wieder tropische Werte anzeigen. Allerdings nicht im Innern des weitläufigen Bürokomplexes, der mit einer erbarmungslos effizienten, neuen Aircondition ausgerüstet worden war.
Der glasummantelte Turm am Spreeufer, dem die Treptowers ihren Namen verdankten, war mit hundertfünfundzwanzig Metern das höchste Bürogebäude Berlins. Doch Abel hatte in den fünf Jahren, die er nun schon hier beim BKA war, nur selten Gelegenheit gehabt, die legendäre Aussicht von der Dachterrasse zu bewundern. Die rechtsmedizinische Sonderabteilung mitsamt Leichenkühlraum, Laboren und Obduktionssaal befand sich gut zehn Meter unter der Erde.
Er betrat die Eingangshalle, nickte dem Pförtner zu und fuhr mit dem Lift ins zweite Untergeschoss.
Bei der Frühbesprechung, die jeden Morgen um 7:30 Uhr im grau in grau möblierten Meetingraum stattfand, fehlte glücklicherweise keiner der zum Dienst eingeteilten Kollegen. Der österreichische Assistenzarzt Dr. Alfons Murau erzählte wieder einmal boshafte Anekdoten in breitem Dialekt. Dabei strich er sich über den Spitzbauch, als wäre sein Wiener Schmäh eine schmackhafte Speise. Dr. Sabine Yao, die zierliche Deutschchinesin, hörte ihm mit einem angedeuteten Lächeln zu, während sie sich Tee in eine winzige Porzellantasse einschenkte.
Nur Dr. Martin Scherz, Oberarzt und dienstältester Rechtsmediziner der Abteilung, schien seine lebenden Mitmenschen wie üblich zu ignorieren. Laut schlürfend trank er aus seinem Kaffeebecher und starrte gelangweilt ins Leere. Mit seinem schütteren, grauen Vollbart, der das Doppelkinn eher betonte als verdeckte, und dem griesgrämigen Gesichtsausdruck war er nicht gerade eine erfreuliche Erscheinung. Jahrzehnte am Obduktionstisch hatten ihn emotional abgestumpft. Aber auch wenn Scherz kein angenehmer Zeitgenosse war, schätzte ihn Abel als Rechtsmediziner sehr. Der grobschlächtige Mann verfügte über immense Erfahrung. In seinem unbestechlichen Gedächtnis bewahrte er wie in einem digitalen Archiv Hunderte Obduktionsberichte auf, die er jederzeit mit Namen, Sektionsdatum und Befunden wieder abrufen konnte.
»Ich trübe nur ungern die gute Stimmung«, sagte Abel, nachdem er die Runde begrüßt hatte. »Aber in den nächsten Tagen haben wir es mal wieder mit sämtlichen ungeklärten Berliner Todesfällen zu tun, nicht nur mit den Opfern von Extremdelikten.« Er klopfte auf den Schnellhefterstapel, der vor ihm auf dem Besprechungstisch lag. »Amtshilfe für die Kollegen vom Landesinstitut und von der Charité.«
Yao hob ihre wie mit dem Tuschepinsel gezeichneten Augenbrauen. Scherz gab ein langgezogenes Schnauben von sich. Es klang, als würde das letzte bisschen Luft aus einem lecken Schlauchboot abgelassen. »Heilige Scheiße, das auch noch«, knurrte er.
Nur Murau schien die drohende Mehrarbeit nichts auszumachen, im Gegenteil. Sein rundes Gesicht drückte Vorfreude aus. Er tätschelte sich den Bauch und begann halblaut zu rezitieren: »Es ist ein Schnitter, der heißt Tod / Hat Gewalt vom höchsten Gott / Heut wetzt er das Messer / Es schneid’t schon viel besser / Bald wird er drein schneiden / Wir müssen’s nur leiden. / Hüte dich, schön’s Blümelein!«
Abel hatte großen Respekt vor Muraus Repertoire an schwarzer Poesie. Aber heute fehlte ihm definitiv der Sinn für lyrische Aus- und Abschweifungen. Ihm war auch so schon düster genug zumute.
»Vielleicht haben Sie es unterwegs im Radio gehört.« In knappen Worten fasste er zusammen, was auf dem Flughafen in der Uckermark passiert war. »Die Extremdelikte haben natürlich weiterhin Vorrang.« Er klopfte erneut auf den Stapel. »Aber wir müssen jederzeit damit rechnen, dass uns das LKA wegen irgendwelcher Mord- und Totschlagsfälle hinzuzieht.«
Er schlug die Schnellhefter aus dem Stapel einen nach dem anderen auf und referierte kurz die jeweilige Sachlage. In Charlottenburg war ein mit Sprengstoff präparierter Geldautomat in die Luft geflogen – das zerfetzte Opfer war möglicherweise der Bankräuber selbst; Hinweise auf seine mögliche Identität lagen bisher nicht vor. Eine weitgehend skelettierte Frauenleiche war in einem Waldstück im Berliner Nordosten aufgefunden worden – der Schädel von mehreren Geschossen durchlöchert, Liegezeit unbekannt. Eine türkische Frau war in Kreuzberg von ihrem Ehemann mit einem Krummsäbel regelrecht abgeschlachtet worden. Zur Krönung hatte der Mann den Kopf seiner Frau vom Balkon im vierten Stock in den Innenhof geworfen – vor den Augen ihrer gemeinsamen vier Kinder und zahlreicher Nachbarn, die durch das Geschrei der um ihr Leben kämpfenden Frau an ihre Fenster gelockt worden waren.
Bei dem bizarrsten Fall des Tages war offenbar sexuell motivierter Kannibalismus im Spiel gewesen. Oder außer Kontrolle geratener Wahnsinn. Vielleicht auch von beidem etwas. Jedenfalls hatte die Polizei in einer Wohnung am Berliner Stadtrand die zerstückelte und postmortal geschändete Leiche eines fünfunddreißigjährigen Mannes gefunden. Er hieß Maximilian Kowalske und war ein erfolgreicher Fondsmanager gewesen. Abseits des Börsenparketts und seiner Familie hatte er ein bizarres Parallelleben geführt. Sein homosexuelles Schäferstündchen mit dem zehn Jahre älteren Kunstlehrer Markus Bossong, zu dem er in einem einschlägigen Internetportal Kontakt aufgenommen hatte, war allem Anschein nach aus dem Ruder gelaufen. Am Ende kochte sein abgetrennter Kopf jedenfalls in einem Topf auf Bossongs Induktionsherd. Und Kowalskes Rumpf und Extremitäten lagen, in zwölf Einzelteile zersägt, sorgsam verpackt in der Wohnung des Lehrers.
Bossong selbst hatte die Polizei alarmiert und behauptet, Kowalske habe ihn aufgefordert, ihn an Händen und Füßen zu fesseln und ihm den Mund zunächst mit Sekundenkleber zuzukleben und dann luftdicht mit Paketband zu verschließen. »Davon hat er sich den ultimativen Sexkick versprochen«, hatte Bossong zu Protokoll gegeben. Er habe das Klebeband aber so angebracht, dass Kowalske noch etwas Luft bekam, wenn auch leider nicht genug, wie sich dann herausgestellt habe. Anschließend habe er, wie von dem anderen Mann gewünscht, mit einer Spritzpistole große Mengen an handelsüblichem Bauschaum in den Enddarm des Fondsmanagers gespritzt, was diesen zusätzlich hochgradig erregt habe. Dass Kowalske erstickt sei, habe er erst bemerkt, als dieser kein Lebenszeichen mehr von sich gab.
»Herr Kowalske wollte das so«, hatte Bossong bei seiner Vernehmung immer wieder beteuert. Warum er den Körper des Toten anschließend zerstückelt und den Kopf gekocht hatte, blieb allerdings auch nach seiner Vernehmung im Dunkeln. Und die Staatsanwaltschaft hatte nun angeordnet, Todesursache und tatsächliche Todesumstände durch eine Obduktion zu klären.
»Da hat wohl jemand beim ultimativen Sexkick den Kopf verloren«, merkte Murau mit der ihm eigenen Bosheit an.
Scherz zog geräuschvoll die Nase hoch. Die Klimaanlage in der Decke des Besprechungsraums stieß eisige Luftschwaden aus.
»Sie übernehmen bitte den Fall aus Kreuzberg«, sagte Abel zu Sabine Yao, die mit einem angedeuteten Nicken ihre Zustimmung signalisierte. Ihr feingeschnittenes, blasses Gesicht erinnerte ihn an eine kunstvolle Porzellanmaske. »Sie kümmern sich um das Sprengstoffopfer und Sie um die Tote aus dem Wald«, wandte er sich an Murau und Scherz. Er selbst würde Maximilian Kowalske obduzieren.
Er beendete die Frühbesprechung, und alle erhoben sich von ihren Stühlen. Die zierliche Sabine Yao, die sich am Obduktionstisch auf einen Schemel stellen musste, um dort ihrer Arbeit nachgehen zu können, reichte ihm gerade bis zum Brustbein. Aber mit seiner Körpergröße von eins neunundachtzig überragte Abel auch den hochgewachsenen Alfons Murau noch um einige Zentimeter. Er war schlank und für einen Mann Mitte vierzig ziemlich muskulös, dabei sah er allerdings deutlich fitter aus, als er sich fühlte. Seine Arbeit ließ ihm nur wenig Zeit für Sport und Erholung. Außerdem war es in den letzten Monaten mit der Gesundheit seiner Mutter rapide bergab gegangen, und Abel hatte sie in jeder freien Stunde im Krankenhaus besucht.
»Tod, komm her, ich fürcht dich nicht / Eil daher in einem Schnitt«, rezitierte Murau, während sie den Besprechungsraum verließen.
Scherz ließ seine Hosenträger schnalzen.
»War das etwa Applaus, Kollege?«, fragte ihn Murau.
Der graubärtige Oberarzt grunzte.
»Also nein«, seufzte Murau.
Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit beteiligte sich Abel mit keinem Wort an den Flachsereien seiner Mitarbeiter. Dabei hielt er überhaupt nichts von Chefallüren. Er war zwar der Vorgesetzte und der Leiter der Sonderabteilung, solange Professor Herzfeld abwesend war. Aber als Team konnten sie nur dann funktionieren, wenn alle zusammenarbeiteten und sich zugehörig fühlten. Seine Kollegen waren keine schlechteren Rechtsmediziner als er, auch wenn er ihnen möglicherweise seinen vielgerühmten kriminalistischen Instinkt voraushatte.
Doch heute war er nicht gerade in blendender Laune. Letzte Woche war seine Mutter mit neunundsechzig Jahren an multipler Sklerose gestorben. Die Trauer um ihren Verlust hatte sich wie ein Schatten auf seine Seele gelegt. Zu allem Überfluss hatte ihn gestern seine Schwester Marlene angerufen und ihm vorgeworfen, dass er für den Tod ihrer Mutter in gewisser Weise verantwortlich sei.
Das Schlimmste aber war die Stimme in seinem Innern, die ihm zuflüsterte: Vielleicht hat Marlene ja recht!
Berlin, Treptowers, BKA-Einheit »Extremdelikte«,
Freitag, 3. Juli, 07:45 Uhr
Im Sektionssaal arbeiteten Abel und seine Kollegen den ganzen Vormittag über parallel an vier Obduktionstischen. Zunächst waren alle Körperteile von Maximilian Kowalske im Computertomographen gescannt worden, und Abel hatte sich ein Bild von den Sägespuren an den Abtrennungsstellen von Rumpf und Extremitäten gemacht. Anschließend setzte er die zwölf einzelnen Körperteile und den gekochten Kopf auf dem blanken Stahl seines Sektionstisches zu einem grotesken Puzzle zusammen.
Kurz darauf stand fest, dass Kowalske tatsächlich erstickt war. Der breite Klebebandstreifen, den Bossong ihm über den Mund geklebt hatte, war nach oben gerutscht, höchstwahrscheinlich weil er nicht ausreichend auf den von Sekundenkleber verschmierten Lippen haftete. Jedenfalls hatte das Klebeband zusätzlich die Nasenlöcher verschlossen, was mit dem Leben von Kowalske nicht lange vereinbar gewesen war.
Zum Abschluss der Obduktion schnitt Abel mit einer Darmschere den Enddarm des Fondsmanagers auf und förderte den zweieinhalb Kilogramm schweren Klumpen ausgehärteten Bauschaums zutage. Murau erging sich gerade in einem anspielungsreichen Monolog über homosexuelle Penetrationsriten und -objekte vom alten Griechenland bis zur Gegenwart, als die Sekretärin Renate Hübner in den Sektionssaal stürmte. Mit ausgestrecktem Arm trug sie ein altmodisches Mobiltelefon vor sich her, dessen weit ausgefahrene Antenne auf und ab schlenkerte.
»Möglicherweise auch geeignet«, kommentierte Murau, was sogar dem Kollegen Scherz den Anflug eines Lächelns entlockte.
Frau Hübner, eine hagere Mittfünfzigerin von gefürchteter Humorlosigkeit, warf dem Österreicher einen strengen Blick zu.
»Ein Anruf für Sie, Herr Kriminaldirektor«, sagte sie mit der Lebhaftigkeit eines Navigationsgeräts zu Abel. »Hauptkommissar Markwitz vom LKA 1. Es ist dringend.«
Abel unterdrückte einen Seufzer. Landeskriminalamt, dachte er. Bestimmt ging es um ein Wald-und-Wiesen-Delikt, für das sie als BKA-Spezialisten vollkommen überqualifiziert waren. Aber Amtshilfe ist Amtshilfe. Solange die Kollegen da draußen mit der Identifizierung der Fallschirmspringer beschäftigt waren, blieb ihm nichts anderes übrig, als mit Todesfällen seine Zeit zu vertrödeln, die nicht einmal durch kriminelle Gewalteinwirkung verursacht worden waren.
Er nahm das Telefon, begrüßte den Hauptkommissar und hörte sich kommentarlos seinen knappen Bericht an.
»Ich bin jetzt seit mehr als zwanzig Jahren bei der Kriminalpolizei, aber so etwas habe ich noch nicht gesehen«, sagte Markwitz am Schluss. »Wann können Sie am Tatort sein, Doktor?«
Berlin-Tegel, Seniorenwohnanlage,
Freitag, 3. Juli, 13:20 Uhr
Die Senioreneinrichtung war in einem Siebziger-Jahre-Block untergebracht, und die Fassade flehte geradezu um einen frischen Anstrich. Zwischen dem fünften und dem sechsten Stockwerk stand in verschnörkelten Lettern Sonnenresidenz. Doch der altersgraue Bau sah eher wie eine betongewordene Schlechtwetterwolke aus.
Abel parkte hinter dem weißen Mercedes Sprinter der Spurensicherung. Vor der gläsernen Eingangstür waren zwei Streifenpolizisten postiert, um Neugierige fernzuhalten. Aber in der Mittagshitze interessierte sich ohnehin nur eine Handvoll halbwüchsiger Müßiggänger für den Polizeiauftrieb im Seniorenhort.
»Bringen die sich da drin jetzt gegenseitig um?«, fragte gerade einer der tätowierten Burschen, als sich Abel mit seinem Tatortkoffer zwischen ihnen seinen Weg bahnte.
»Macht doch keinen Sinn, Alter«, gab ein Typ mit Stiernacken und Muskelshirt zurück. »Denk doch mal nach, die sind sowieso praktisch schon tot.«
Sie prosteten einander mit ihren Bierdosen zu, und Abel sah unvermittelt seine Mutter in ihrem Sterbebett vor sich. Zuletzt war sie nur noch Haut und Knochen gewesen, eine abgezehrte Miniaturversion ihrer selbst. Doch sie hatte so sehr am Leben gehangen. Obwohl sie gewusst hatte, dass sie diesen letzten Kampf nicht gewinnen konnte, hatte sie buchstäblich bis zum letzten Atemzug um ihr Leben gerungen.
Den jüngeren der beiden Streifenpolizisten kannte Abel vom Sehen, auch wenn ihm der Name gerade nicht einfiel. Er nickte dem Beamten zu und deutete ein Lächeln an. Der Uniformierte tippte an seine Mütze und trat zur Seite, um ihn durchzulassen.
Die Eingangshalle machte einen genauso trostlosen Eindruck wie die Fassade der Sonnenresidenz. Wände aus Glas und Sichtbeton. Zerschlissene Sessel in den Orange- und Gelbtönen der schrillen Siebziger luden weniger zum Hinsetzen als zu sofortiger Flucht ein. Auch die spiralförmige Treppe bestand aus nacktem Beton, der zernarbt und abgetreten aussah. In der stickig heißen Luft hing der Geruch von Alter und Einsamkeit.
Sein Tatortkoffer kam Abel schwerer als gewöhnlich vor, als er über die Treppe in den ersten Stock hinaufging. Vorhin am Telefon hatte Hauptkommissar Markwitz ihm nur ein paar Basisinformationen gegeben: Die alte Dame hieß Irina Petrowa und hatte im ersten Obergeschoss allein in einem Apartment gewohnt. Heute gegen neun Uhr war sie von ihrer Betreuerin tot aufgefunden worden. Der Leichenfundort war auch der Tatort, und auf den ersten Blick sah alles nach Raubmord aus.
»Aber es gibt da ein paar Besonderheiten, zu denen ich gerne Ihre Meinung hören würde«, hatte Markwitz hinzugefügt. »Könnte ein glücklicher Zufall sein, dass gerade Sie heute Bereitschaft haben.«
Mit Markwitz hatte Abel in den letzten Jahren schon ein paarmal zusammengearbeitet. Der erfahrene Kriminalist war siebenundvierzig, ein Jahr älter als er selbst. Abel schätzte Markwitz’ ruhige und besonnene Arbeitsweise. Der Hauptkommissar seinerseits hatte einen Heidenrespekt vor Abels »Bauchgefühl«, den er allerdings hinter gutmütigen Spötteleien verbarg.
Vor der Tür zu Irina Petrowas Apartment standen zwei Kriminaltechniker in Jeans und T-Shirt neben dem silberfarbenen Schrankkoffer der Spurensicherung. Das Behältnis sah wie ein Hybrid aus überdimensioniertem Werkzeugkasten und altmodischem Kühlschrank aus. Leider enthielt es keine eisgekühlten Softdrinks, sondern alle erdenklichen Hilfsmittel zur Sicherung tatrelevanter Spuren – von Kontrastpulvern und DNA-Abstrichröhrchen über Klebestreifen und Asservatenbehälter zum Nachweis von Faserspuren bis hin zu Wasserwaage, Schraubenschlüsseln und Scheinwerfern.
Abel kannte die beiden KTU-Beamten von diversen gemeinsamen Einsätzen und den unvermeidlichen Weihnachtsfeiern und Sommerfesten der Kriminalpolizei. Der Ältere mit der Halbglatze hieß Karl Mierschmann, hatte ein monatelanges Trennungsdrama hinter sich und wirkte immer noch ziemlich mitgenommen. Joe Morow, sein gut zehn Jahre jüngerer Kollege, hatte seine goldblonden Bartkoteletten in exakte Fischstäbchenform getrimmt. Er war vor kurzem zum zweiten Mal Vater geworden und sah entsprechend übernächtigt aus.
»Dauert noch ein bisschen«, sagte Morow zu Abel. »Sie kennen das ja.«
Abel nickte und stellte seinen Koffer neben dem silberfarbenen Kasten ab. Durch den Spalt der nicht ganz geschlossenen Wohnungstür konnte er sehen, wie die Spurensicherung drinnen vorankam. Einige Beamte fotografierten das Opfer und die im Umkreis herumliegenden Gegenstände. Andere streuten schwärzliches Kontrastpulver aus, das zum Auffinden von Fingerabdrücken diente, und klebten die bestreuten Flächen dann mit spezieller Folie ab.
Während Abel ihnen zusah, erkundigte er sich bei Joe Morow nach dem Befinden des jüngsten Familienmitglieds und der Kindsmutter. Karl Mierschmann gab bekannt, dass er mit seiner Ex nach monatelangem Rosenkrieg »jetzt auch emotional fix und fertig« sei, was immer das bedeuten sollte. Abel fragte lieber nicht nach. Er hatte mehr als genug mit seinem eigenen emotionalen Durcheinander zu tun.
»Mein aufrichtiges Beileid zum Tod Ihrer Mutter«, sagte Mierschmann.
Das hat sich also auch schon herumgesprochen. Abel dankte ihm. Auch Morow murmelte etwas, das nach Anteilnahme klang, und Abel schüttelte ihm gleichfalls die Hand.
Berlin war zwar eine Riesenstadt mit dreieinhalb Millionen Einwohnern, und allein beim LKA in der Keithstraße arbeiteten mehrere hundert Kriminalbeamte. Aber es war trotzdem eine kleine Welt. Wie auf dem Dorfplatz sprach sich in dieser Gemeinschaft alles rasend schnell herum.
Nachdem Abel zwanzig Minuten lang die Zeit totgeschlagen hatte, war er endlich am Zug. Er streifte blaue Plastikfüßlinge, den weißen Spurensicherungsanzug und Handschuhe über, nahm seinen Tatortkoffer und betrat Irina Petrowas Apartment.
Berlin-Tegel, Wohnung von Irina Petrowa,
Freitag, 3. Juli, 13:44 Uhr
Drinnen empfing ihn muffige Luft, typisch für die Wohnungen alter Menschen, die nur selten lüfteten. Es war stickig heiß. In dem nicht atmungsaktiven KTU-Anzug brach Abel sofort der Schweiß aus, aber das war er von unzähligen Einsätzen gewohnt. Und da war noch etwas in der Luft, das er nur zu gut kannte. Der Hauch des Todes. Ein stechender, zwar süßlicher, aber dennoch unangenehmer Leichengeruch.
Die Tote lag in der Vordiele auf dem Teppichboden, in Rückenlage und noch mit Mantel und Straßenschuhen bekleidet. Irgendetwas stimmte nicht mit ihren Beinen, doch Abel konnte nicht erkennen, was es war. Der kleine Raum war durch eine Stehlampe nur schummrig beleuchtet. Außerdem standen ein Fotograf und ein Techniker von der Spurensicherung über die Leiche gebeugt und verdeckten ihm die Sicht.
Der Türrahmen gegenüber füllte sich mit einer bulligen, schnauzbärtigen Gestalt. »Gleich dürfen Sie ran, Doktor!«, rief Markwitz ihm zu. »Die Spurensicherung ist in einer Minute fertig.«
Er bahnte sich einen Weg durch den schmalen Vorraum zu Abel. »Geht es Ihnen einigermaßen?«, fragte er und sah ihn mitfühlend an. »Ich meine, nach dem Tod Ihrer Mutter?«
Er machte eine Bewegung, als wollte er Abel am Arm berühren, zog die Hand mit dem weißen Plastikhandschuh aber vorher zurück. Auf so viel Anteilnahme war Abel nicht gefasst gewesen. Er musste sich räuspern, bevor er betont nüchtern antwortete: »Geht schon. Danke der Nachfrage.«
Markwitz war nicht entgangen, dass sich Abel unangenehm berührt fühlte. Er hob beide Hände zu einer entschuldigenden Geste und winkte dann einen jungen Mann herbei, der allen und jedem im Weg zu stehen schien.
»Tekin Okyar, unser neuer Praktikant«, sagte er. »Tekin, das ist Dr. Abel«, fuhr er fort. »Sperr Augen und Ohren auf, so eine Gelegenheit bietet sich dir so bald nicht wieder.«
Der junge Mann sah aus wie eine jüngere Version des Regisseurs Fatih Akin: buschige Augenbrauen, Knollennase und ein markantes Kinn. »Dr. Abel?«, wiederholte er und strahlte Abel an. »Doch nicht der Abel? Die Supernase vom BKA?«
»Glauben Sie nur nicht alles, was die Leute erzählen«, riet ihm Abel. »Das meiste davon ist entweder Schmeichelei oder üble Nachrede. Und manchmal kann man das eine kaum vom anderen unterscheiden.«
Tekin nickte zögernd und sah mit verwirrtem Gesichtsausdruck zu Abel auf. »Aber warum sind Sie heute hier? Bei dem Mordfall gestern hatten wir einen Rechtsmediziner von der Charité dabei. Und heute das BKA! War die Frau hier eine Sowjetagentin im Ruhestand oder so etwas?«
Schön wär’s. Abel unterdrückte ein Schmunzeln.
Markwitz verdrehte die Augen in seine Richtung und erklärte dem Praktikanten in kurzen Worten, dass sich auf einem Flughafen in Brandenburg ein Unglück mit zahlreichen Todesopfern ereignet hatte. »Alle verfügbaren Rechtsmediziner von den beiden Instituten in der Turmstraße sind im Moment da draußen im Einsatz.«
»Süper«, sagte der Praktikant. Sein rundliches Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Noch ein missglückter Versuch von Berlin und Brandenburg, einen Flughafen in Betrieb zu nehmen«, flachste er. »Aber zumindest verschafft uns das die Ehre, heute Dr. Abels Licht über unseren Häuptern leuchten zu sehen.«
Markwitz boxte ihm spielerisch gegen die Schulter. »Das reicht jetzt, Junge.«
Er wandte sich wieder an Abel. »Also zur Sache. Wie ich die Auffindesituation einschätze, ist hier nach der eigentlichen Tat nichts mehr verändert worden. Weder durch den Täter noch durch die Betreuerin, die die alte Dame heute Morgen hier aufgefunden hat. Sie hat bei Frau Petrowa geklingelt. Als ihr nicht aufgemacht wurde, hat sie versucht, Frau Petrowa telefonisch zu erreichen, gleichfalls ohne Erfolg. Daraufhin hat sie sich bei der Verwaltung den Zentralschlüssel geholt und ist nach Rücksprache mit ihrer Vorgesetzten hier rein. Alles nach Vorschrift. Sie hat nur einen Blick in die Diele geworfen und die alte Dame so vorgefunden.« Er deutete auf das starre Gesicht der toten Greisin. »Dann ist sie schreiend zu ihrer Chefin gerannt, und die hat uns sofort angerufen.«
»Mercedes Camejo aus Santo Domingo!«, mischte sich Tekin ein. Seine Stimme war plötzlich eine halbe Oktave höher. »Eine Schönheit wie aus Tausendundeiner Nacht!«
Abel und Markwitz sahen ihn erstaunt an. Der Praktikant bedeckte seinen Kopf mit beiden Händen, als wollte er am liebsten unsichtbar werden.
»Also kurz gesagt«, fuhr der Hauptkommissar fort, »meiner Ansicht nach haben wir es mit Raubmord durch einen Nachläufer zu tun. Unser Täter hier hat alles durchwühlt und im Schlafzimmerschrank den Schmuck der alten Frau gefunden. Er hat sämtliche Ketten, Ringe und Broschen auf dem Bett nebeneinander aufgereiht und sich anscheinend die wertvollsten Stücke herausgesucht. In ihrer Schmuckkassette hat Frau Petrowa nach Aussage ihrer Betreuerin außerdem ständig zwischen dreihundert und fünfhundert Euro aufbewahrt, von denen gleichfalls jede Spur fehlt. So weit alles typisch für einen Nachläufer.«
Abel sah das charakteristische Tatmuster sofort vor sich. Dieser Tätertypus stellte vorzugsweise allein lebenden alten Menschen nach. Der Nachläufer folgte seinem Opfer vom Supermarkt oder von der Kirche nach Hause und schlüpfte hinter ihm unbemerkt durch die Haustür. Wenn das Opfer seine Wohnungstür geöffnet hatte und eintrat, versetzte ihm der Täter einen Stoß, drang in die Wohnung ein und schloss hinter sich die Tür. Dann fesselte oder tötete er sein Opfer, durchsuchte die Räumlichkeiten und machte sich mit seiner Beute aus dem Staub.
»Allerdings handelt es sich hier um einen Nachläufer mit Sendungsbewusstsein«, sprach der Hauptkommissar weiter. Er trat einen Schritt zur Seite, so dass Abel erstmals freien Blick auf die Tote hatte.
Markwitz deutete auf die Beine des Opfers, die in ungelenken Lettern beschriftet waren. »Respectez« hatte der Täter mit knallrotem Lippenstift vom Fußknöchel aufwärts auf Irina Petrowas rechtes Bein geschrieben. Und auf das linke Bein: »Asia«.
Abel ging neben der Toten in die Knie. Mit den Fingerspitzen der behandschuhten Rechten fuhr er behutsam über den Schriftzug auf Irina Petrowas Beinen. Die alte Frau trug trotz der Sommerhitze eine durchsichtige Strumpfhose. Der Täter hatte seine Parole jedoch nicht auf ihre Strümpfe geschrieben, sondern sich auf den nackten Beinen seines Opfers verewigt. Das kam Abel fast noch seltsamer vor als die Botschaft selbst.
»Er hat ihr danach die Strumpfhose wieder richtig angezogen«, sagte er erstaunt. »Und wofür soll das gut sein?«
»Ich dachte, das könnten Sie mir sagen.« Markwitz stand über Abel gebeugt, die Hände auf seine Oberschenkel gestützt. »Hat er das inszeniert, um uns auf eine falsche Fährte zu führen? Will er, dass wir denken, das wäre kein einfacher Raubmord eines Nachläufers, sondern eine Beziehungstat?«
Er schnaufte vernehmlich, was Abel nicht verwunderte. Der bullige Kriminalbeamte verfügte über einen beachtlichen Bauchumfang und bekam daher in vorgebeugter Haltung zu wenig Luft.
»Dafür bin ich eigentlich nicht der richtige Ansprechpartner«, antwortete Abel. »Aber wenn Sie mich schon fragen – um eine Beziehungstat vorzutäuschen, hätte er sich wahrscheinlich nicht die Mühe gemacht, ihr die Strumpfhose herunterzuziehen, die Beine zu beschriften und dann wieder akkurat anzukleiden. Diese Vorgehensweise ist für mein Gefühl eindeutig sexuell gefärbt – ob das Opfer zu diesem Zeitpunkt noch am Leben war oder nicht.«
Markwitz kehrte schnaufend in die Senkrechte zurück. »Nicht schlecht, Dr. Holmes«, sagte er. »Haben Sie noch weitere Geistesblitze zu bieten?«
»Ein Punkt ist mir gleich aufgefallen«, sagte Abel. »Ich habe in Lausanne studiert und kann einigermaßen Französisch. Unser Täter dagegen hat nicht nur eine Message, sondern auch ein grammatikalisches Problem. Wenn er uns auf Französisch auffordern will, Asien zu respektieren, müsste er eigentlich Respectez l’Asie schreiben.«
»Na ja, wer kann heute schon noch korrekt schreiben?«, wandte Markwitz ein.
»Hier geht es um weit mehr als korrekte Schreibweise«, sagte Abel. »Kein französischer Muttersprachler würde einen solchen Fehler machen. Umgekehrt würden Sie als Deutscher ja auch niemals sagen: ›Ich respektiere das Asien.‹«
Sein Jagdeifer war geweckt. Vielleicht ist das hier ja tatsächlich kein Allerweltsfall, dachte er.
Autobahn nahe Marseille,
fünf Jahre zuvor
Er war gerade auf die linke Spur ausgeschert, um den museumsreifen Renault R4 zu überholen, dem bei der kleinsten Steigung die Luft ausging. Und genau in diesem Moment fing die junge Frau hinter ihm an zu schreien.
Die Wut kochte in ihm hoch. »Halt’s Maul, du dreckige Fotze!«, brüllte er und riss so heftig am Lenkrad, dass er kurz ins Schlingern kam. Der schrottreife R4 stieß einen asthmatischen Hupton aus, und der Fahrer gestikulierte wild zu ihm herüber.
»Fick dich selbst, du fetter Wichser.« Er zog den Kastenwagen knapp vor der Stoßstange des R4 wieder nach rechts. Gleichzeitig verrenkte er sich fast den Hals, um im Rückspiegel zu sehen, was die kleine Schlampe da hinten anstellte.
Zum Glück hatte der Wagen seines Bruders im Laderaum keine Seitenfenster. Der fette Renault-Fahrer hätte bestimmt noch viel mehr Stunk gemacht, wenn er die gefesselte Frau gesehen hätte.
Irgendwie hatte sie es geschafft, das Klebeband vor ihrem Mund loszuwerden. Es klebte nur noch an einer Seite fest, und das dämliche Flittchen warf den Kopf hin und her und schrie wie am Spieß.
»Maul halten, du verfickte Nutte!«, brüllte er.
Schlagartig hörte sie auf zu schreien. Na, geht doch, dachte er. Ihre Augen, groß vor Angst, starrten ihn im Rückspiegel an.
Kaum hatte er den Blick wieder auf die Straße gerichtet, fing sie aufs Neue an zu schreien. »Hilfe!«, kreischte sie. »Ich bin entführt worden. Polizei!«
Seine Augen flackerten unruhig hin und her. Jetzt nur keine Panik, ermahnte er sich. Am Straßenrand tauchte ein Schild auf, das einen Parkplatz in fünfhundert Metern ankündigte.
Seine Hände zitterten. Er konnte vor Anspannung kaum noch das Lenkrad festhalten. Und die kleine Schlampe schrie sich die Seele aus dem Leib.
»Du kannst es wohl nicht erwarten?«, brüllte er. »Und weißt du was? Ich auch nicht!«
Ohne seine Geschwindigkeit nennenswert zu verlangsamen, zog er nach rechts und bog in den Parkplatz ein.
Zeit für ein paar kleine Schreibübungen mit dem Gemüsemesser, dachte er.