Gegen »butterweich zerschmelzen« verwahre ich mich allerdings immer noch.
Auch hier bietet Middlemarch wieder einen interessanten Vergleich. Vielen Lesern gefällt Lydgate besser, und sie sind enttäuscht, wenn Dorothea sich für Ladislaw entscheidet.
Die wirklich sehr gelungene Biographie heißt Wrapped in Rainbows: The Life of Zora Neale Hurston von Valerie Boyd. Sehr zu empfehlen ist auch die Briefsammlung Zora Neale Hurston: A Life in Letters, zusammengestellt und herausgegeben von Carla Kaplan.
Hurstons Autobiographie heißt Dust Tracks on a Road (auf Deutsch, leider vergriffen: Ich mag mich, wenn ich lache).
Die oben zitierten Kritiker-Stimmen stammen alle aus dem von Harold Bloom herausgegebenen Band Zora Neale Hurston’s »Their Eyes Were Watching God«: Modern Critical Interpretations.
Hurston hingegen wollte mit ihren Büchern demonstrieren, dass »Schwarze weder besser noch schlechter sind als alle anderen und mitunter auch genauso langweilig«.
Darunter nicht zuletzt Alice Walkers Vorwort zur ersten Ausgabe von Vor ihren Augen sahen sie Gott. Ihr Einsatz für das Buch hat Hurston aus einem vierzigjährigen Schattendasein erlöst.
Eine Fußnote für die Autoren unter den Lesern: Vor ihren Augen sahen sie Gott wurde in sieben Wochen geschrieben.
»Color Struck«, in etwa: Farbphobie, heißt ein nicht ins Deutsche übersetztes Theaterstück von Zora Neale Hurston. [Anm. d. Ü.]
Im 16. Kapitel von Hurstons Roman findet sich das traurige Porträt einer wahrhaft farbphobischen Dame: Mrs Turner.
Genau darauf wollte wohl auch meine Mutter hinaus.
So wie Kafkas Process jenen uralten kulturellen Bodensatz namens »Judentum« erforscht.
Unten in der Marsch freunden sich Janie und Tea Cake mit den »Saws« an, Plantagenarbeitern aus der Karibik.
Zumindest so lange, bis sie ein Buch lesen, in dem farbige Figuren vorkommen. Bei einem Literaturfestival hörte ich einmal einen jungen Weißen zu seinem Freund sagen: »Hast du den neuen Kureishi schon gelesen? Die alte Nummer – lauter Inder.« Worauf man am liebsten erwidern würde: »Und du, hast du schon den neuen Franzen gelesen? Die alte Nummer – lauter Weiße.«
Im häufigsten und banalsten Fall überlässt man sich einem Beat, folgt einem Rhythmus.
Im Oxford English Dictionary wird das englische Lehnwort schmaltz als umgangssprachliches Wort für »exzessiv sentimental, gefühlvoll« definiert, vor allem bezogen auf Filme oder Musik. Seinen Ursprung hat es in den Dreißigern und leitet sich vom jiddischen Wort schmaltz sowie dem deutschen Schmalz her.
Und was wäre weniger soulful als der Versuch, soulfulness zu definieren?
Literaturkritisch gesehen wissen wir, dass es einen neuralgischen Punkt gibt, ab dem das kulturell Spezifische – ohne dadurch weniger kulturell spezifisch zu werden – von den Lesern als neutral-universell akzeptiert wird. Die einstmals »jüdischen Romane« von Philip Roth sind heute einfach »Romane«. Wir haben aus den spezifischen Beschwerden Portnoys die universellen Behauptungen Jedermanns gemacht.
Bei dem Buch handelt es sich um The BBC Talks of E. M. Forster, 1929–1960, University of Missouri Press 2008, herausgegeben von Mary Lago, Linda K. Hughes und Elizabeth MacLeod Walls.
Er bezieht sich auf die Prosafassung der Zauberflöte von Goldsworthy Lowes Dickinson.
Hier empfiehlt er das Buch The Social Substance of Religion von Gerald Heard.
Neben der Zeile »Nun ist sein Bild mit ihrem Traum verflossen« stehen die Worte: »Das heißt, er hat sie gefickt, oder?«
Mit ihm auf dem Podium: Desmond MacCarthy, Rose Macaulay, Graham Greene, Evelyn Waugh und Philip Toynbee.
»Ich bin in keinem Club und keiner Clique. Ich angle nicht, koche nicht, tanze nicht, mache mich nicht für anderer Leute Bücher stark, signiere meine eigenen Bücher nicht, esse keine Austern, betrinke mich nicht, gehe nicht zur Kirche, gehe nicht zum Analytiker und beteilige mich nicht an Demonstrationen.«
Selbst das von ihm 1944 zusammengestellte und ins Englische übersetzte Lyrik-Lesebuch Three Russian Poets: Selections from Pushkin, Lermontov and Tyutchev enthält noch drei brillant geschriebene Kurzbiographien der Dichter.
Vielleicht kann man die Unterscheidung auch noch auf andere Weise fassen: Der eine Stil vertritt die Überzeugung, Schreiben solle das Tempo, die Leichtigkeit und den Fluss des Lesens (oder gar des Sprechens) nachahmen. Der andere dagegen vertritt die Überzeugung, Lesen solle die Schwierigkeiten und das zähe Ringen des Schreibakts nachempfinden. Raymond Carver würde sich auf der ersten Achse ansiedeln. Nabokov befindet sich am äußeren Ende der zweiten. Und Joyce am alleräußersten.
Es handelt sich dabei um Vorlesungen über die Meisterwerke europäischer Literatur, die Nabokov vor Studenten der Cornell University hielt. Sie wurden erst nach seinem Tod gesammelt und veröffentlicht.
Eigentlich poschlost, das russische Wort für »gewöhnlich, vulgär«. Nach Nabokovs Definition: »nicht nur unverblümter Schund […], sondern auch alles verlogen Bedeutsame, verlogen Geistreiche, verlogen Anziehende«.
Nabokov-Narren plappern häufig sklavisch seine eigensinnigen Ansichten nach. Ich bin mit Sicherheit nicht die Erste, in deren Geist Nabokov sein Gift gegen Dostojewski geträufelt hat.
»In vieler Hinsicht bedeutet der Akt des Schreibens, ›ich‹ zu sagen, sich anderen aufzudrängen, ihnen mitzuteilen: Hör mir zu, betrachte die Dinge so wie ich, ändere deine Ansicht. Das ist ein aggressiver, fast schon feindseliger Akt. Man kann das Aggressive daran verschleiern, so viel man will, mit Nebensätzen, Abtönungspartikeln und zaghaften Konjunktiven, mit Auslassungen und Ausweichmanövern – dem ganzen manierierten Spiel aus Andeutungen statt Behauptungen, Anspielungen statt Aussagen; trotzdem wird man der Tatsache nicht entkommen, dass Worte zu Papier zu bringen die Taktik eines heimlichen Tyrannen ist, eine Invasion, eine Zumutung, bei der der Autor sich mit seiner Sichtweise in die intimsten Räume seines Lesers drängt.« – Joan Didion
Dicht gefolgt von Vera, seiner Frau und »ersten und besten Leserin«.
Achtung: Diese Fußnote ist nur etwas für Pnin-Fanatiker. Galya Diments erhellende Studie Pniniad lüftet das Geheimnis, dass Nabokov Pnin ursprünglich umkommen lassen wollte und an diesem Plan bis weit in den Roman hinein festhielt. Offenbar haben wir es hier mit dem Fall zu tun, dass ein Autor zu sehr in den Bann seiner eigenen Schöpfung geraten ist, um sie zu töten. Aber es bedeutet auch, dass die Anklänge an Tolstoi und Lermontow – dieses Gefühl, von anderen nur ganz beiläufig erwähnt oder gar karikiert zu werden, während man selbst etwas hochgradig Persönliches und tiefgreifend Reales durchlebt – ihrer endgültigen Erfüllung beraubt bleiben, so wie das Entrinnen Pnins aus den Klauen des Todes seinen Widerhall in der Glasschale findet, die auf wundersame Weise den Abwasch überlebt. Im Ansatz können wir uns vorstellen, wie das letzte Kapitel ausgesehen hätte: Der Erzähler und Jack Cockerell geben ihre schäbigen, langweiligen kleinen Pnin-Parodien zum Besten, während Pnin im Sterben liegt oder vielleicht schon tot ist. (Was uns zu der Frage führt: Was ist eigentlich so typisch russisch daran, andere Leute über jemanden reden zu lassen, der im Sterben liegt?)
Und natürlich taucht im Buch auch ein echter van Eyck auf, bei Pnins gelungenem kleinen Fest, als Laurence Clements, der gedankenverloren in einem Wörterbuch blättert, mit dem Porträt des Kanonikus van der Paele aus der Hand des Meisters verglichen wird. Etwas später beim selben Fest blättert Laurence gelangweilt »in einem Bildband mit Flämischen Meisterwerken«.
Sie kommen alle im englischen Original von Pnin vor: bole bezeichnet die Rinde eines Baumes, ist aber zugleich das winzige Auge auf dem Flügel eines Schmetterlings; crepitation gehört zu Nabokovs Lieblingswörtern, bezeichnet aber, neben »Knistern« und »Knacken« im Allgemeinen, auch die Aktivität des Bombardierkäfers, wenn er mit einem unvermittelten lauten Knall ein übel riechendes Sekret absondert. Und Punchinello steht in Pnin selbstverständlich für jene hässliche Figur aus der italienischen Commedia dell’Arte, die klein und gedrungen ist und deshalb, im vorliegenden Vergleich, an eine Zunge erinnert. Zugleich ist er aber ein wunderhübscher Schmetterling.
Aus Pnin: »Er platzierte nacheinander verschiedene Gegenstände – einen Apfel, einen Bleistift, einen Schachbauern, einen Kamm – hinter ein Glas mit Wasser und studierte jeden mit aufmerksamem Blick: Der rote Apfel wurde zu einem sauber begrenzten roten Streifen, den ein gerader Horizont abschloss, ein halbes Glas Rotes Meer, Arabia Felix. Wenn man den kurzen Bleistift schräg hielt, krümmte er sich wie eine stilisierte Schlange, doch waagerecht gehalten wurde er ungeheuerlich dick, fast eine Pyramide. Wenn man den schwarzen Bauern hin und her schob, zerfiel er zu ein paar schwarzen Ameisen. Wurde der Kamm aufrecht gehalten, so füllte sich das Glas scheinbar mit einer schön streifigen Flüssigkeit, einem Zebracocktail.«
»Meine Unterrichtsmethode schloss genuinen Kontakt mit meinen Studenten von vornherein aus. Bestenfalls würgten sie in den Prüfungen ein paar Gedankenbrocken von mir hervor.«
Michel Foucault, »Was ist ein Autor?« in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hg. Fotis Jannidis u. a., Stuttgart, Reclam, 2000. S. 198–229, hier S. 228. Übersetzt von Karin Hofer u. Anneliese Botont.
Er selbst bezeichnete solche Kritiker als »den frettchenhaften human interest-Freak, den fidelen Banausen«. Auch das clevere Nachwort zu Lolita erfüllt eine ganz ähnliche Funktion.
Foucault, »Was ist ein Autor?«, S. 228.
Im Fall von Nabokov geht das in Richtung Sadomaso – eine Erfahrung, von der man glauben könnte, dass sie auch Foucault Spaß gemacht hätte.
Ein vorwiegend romantisches Konzept. Und wurden dafür nicht auch immer dieselben Beispiele gebracht? Entweder war es Homer beziehungsweise irgendeine nicht näher spezifizierte »archaische Kultur«, in der »eine Erzählung niemals von einer Person [kam], sondern von einem Vermittler (einem Schamanen oder Erzähler), an dem man höchstens die ›Ausführung‹ [performance] bewundern kann, aber niemals das ›Genie‹« (Barthes) – oder aber das eher schwachbrüstige Modell »Beaumont und Fletcher«.
Der Reihe nach: Walter Benjamin, Milena Jesenská, Erich Heller und Felice Bauer.
Die wurde seit Edmund Wilsons Aufsatz »Eine ketzerische Ansicht über Kafka« nicht mehr ernstlich angezweifelt.
Von Begley erfahren wir, Brod habe Kafkas Briefe an Milena und Felice gar nicht unmittelbar veröffentlicht, sie aber auch nicht »gedrängt, ihm die Briefe zur Vernichtung auszuhändigen oder sie selbst zu verbrennen«. Das hatte zur Folge, dass Brod die Übersicht darüber verlor. Als das deutsche Heer in Prag einmarschierte, vertraute Milena ihre Briefe Willy Haas an, der sie 1952 veröffentlichte; Felice, die nach Amerika ausgewandert war, verkaufte die ihren 1955 an den Verlag Schocken Books.
Er setzte sich häufig für Künstler ein, u. a. für Leoš Janáček, Franz Werfel und Karl Kraus.
Der eigentlich verherrlichende Text ist aber Gustav Janouchs Gespräche mit Kafka. Der junge Gustav freundete sich im letzten Lebensjahr des Dichters in Berlin mit Kafka an. Wann immer ich in diesem Essay aus dem Buch zitiere, geschieht das unter der Prämisse, dass es sich dabei gewissermaßen um eine »Redewiedergabe« handelt, die allerhöchstwahrscheinlich für die Veröffentlichung beschönigt wurde.
Gustav Janouch, Gespräche mit Kafka. Frankfurt am Main, S. Fischer, 1968, S. 238.
Ebd., S. 195.
Wobei er sich selbst naturgemäß als sehr viel extremeren Fall betrachtete, wie er mit seinem Gedicht »The Literary World« deutlich zeigt: »Kafka, mein Bester / Hast du erst mal fünf Jahre hinter dir, nicht nur fünf Monate / Fünf Jahre einer unbändigen Kraft, die da auf ein / Bewegungsloses Etwas trifft in deinem Bauch, / Dann weißt du, was Depressionen sind.«
Aus dem Gedicht »Selbst ist der Mann« von Philip Larkin.
Aus Kafkas Tagebuch. Mit »sie« meint er Felice.
Traditionell schreibt die Literaturkritik Felice Bauer die Ehre zu, »Das Urteil« – die erste Geschichte, mit der Kafka selber zufrieden war – zumindest teilweise inspiriert zu haben. Die Beweisführung beruht auf Indizien, ist aber dennoch überzeugend: Die Geschichte ist Felice gewidmet, sie wurde zu Beginn ihres Briefwechsels verfasst, und die Protagonistin, die Verlobte des Helden, trägt dieselben Initialen: Frieda Brandenfeld, ein »Mädchen aus wohlhabender Familie«.
Das heutzutage meist auf die neueren Einwanderer in den Demokratien des Westens angewendet wird.
Begley: »Zu seinen Lebzeiten gab es drei ›Ritualmord-Prozesse‹, Rückfälle ins Mittelalter, unvorstellbar für Juden, die überzeugt waren, in einem Zeitalter moralischen wie materiellen Fortschritts zu leben.«
Aus ihrem Vorwort zu Walter Benjamins Illuminationen. Begley weist darauf hin, dass »Benjamin und Kafka […] fast Zeitgenossen« gewesen seien, weshalb »Arendts Kommentar unmittelbare Aussagekraft für Kafkas Situation« habe.
Sylvia Plath deutet es an: »Ich denke, ich bin vielleicht ein Jud.«
»Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.« Obwohl dieses Wort [deutsch im Original, Anm. d. Ü.] im Englischen bereits mit »insect«, »cockroach« – also Schabe, zum größeren Entsetzen Nabokovs, der nachdrücklich darauf hinwies, das Geschöpf habe doch Flügel – »bug« oder »dung-beetle« übersetzt wurde, wäre die wörtliche Übersetzung doch vermin. Diese eigentliche Bedeutung bleibt nur in den Übersetzungen von David Wyllie, Joachim Neugroschel und Stanley Corngold erhalten.
McCarthy hat noch einen zweiten Roman, Men in Space, verfasst.
Man kann ihn sich unter http://www.listen.to/necronauts anhören.
Ein weiterer INS-Bericht beschreibt diese Zeile als »aktives Konstrukt, in dem das ›Nichts‹ ein Ereignis, womöglich sogar ein einschneidendes Ereignis, bezeichnet«.
Der Ausdruck bezieht sich auf einen inzwischen verbotenen Song des Rappers Lowkey, der mit dem Gleichklang im Englischen zwischen »Obamanation« und »abomination« (Gräuel, Abscheulichkeit) spielt. [Anm. d. Ü.]
Alessandro Blasetti (3. Juli 1900–1. Februar 1987) hat bei mehr als zwanzig Filmen Regie geführt, u. a. bei Lüge einer Sommernacht (Quattro passi fra le nuvole, 1942) und Wie herrlich, eine Frau zu sein (La fortuna di essere donna, 1956).
Die Bikini-bewehrten Showgirls aus dem italienischen Fernsehen.
Wörtlich übersetzt: »eine eiserne Empfehlung« – ein gutes Wort, das eingelegt wird, um dem Bewerber die fragliche Position zu sichern.
Die Bezeichnung für italienischen Massenwohnbau, vergleichbar mit britischen oder amerikanischen Sozialsiedlungen.
Aus einem Interview, das Larry McCaffery 1993 für die Dalkey Archive Press mit Wallace führte, während der gerade an den Kurzen Interviews schrieb. Die große Mehrzahl der Wallace-Zitate im Text stammt aus diesem Interview.
Das MacArthur Fellows Program vergibt alljährlich mit mehreren Hunderttausend Dollar dotierte Stipendien (die sogenannten Genie-Preise) an Einzelpersonen aus jedem beliebigen Betätigungsfeld, die »eine außerordentliche Begabung sowie die Hoffnung auf fortgesetzte und verstärkte kreative Arbeit offenbaren«. Wallace erhielt sein Stipendium 1997. 1999 veröffentlichte er die Kurzen Interviews.
Wyatt Mason, Wallace’ aufmerksamster Mainstream-Kritiker, hat in seiner Rezension »Keine Lust? Keine Spielverpflichtung!« von 2004 genau auf diesen Punkt hingewiesen. Er stellt darin die Frage: »Warum soll man [als Leser] Wallace auch nur eine seiner Forderungen erfüllen, wenn man als Leser, nicht ganz zu Unrecht, den Eindruck hat, seine Forderungen seien unzumutbar?«, und gibt die einzig mögliche, ehrliche Antwort darauf: eine Schilderung seiner eigenen Freude »an der Lektüre der acht Geschichten aus Oblivion; an der Wiederlektüre, nachdem ich manche schwierig zu lesen fand, weil sie eben schwierig sind und ich durch diese Schwierigkeiten Dinge übersehen habe; an der Erkenntnis nach der Wiederlektüre, wie sie funktionieren, wie gut sie funktionieren, wie fest sie dieses Funktionieren in sich verschlossen halten und die Schlüssel zu ihren Schätzen auf dem obersten Regalbrett verstecken; am Auffinden zumindest mancher dieser Schlüssel; und daran, am einsamen Ort des Lesens eine bunte Auswahl trauriger, bewegender, lustiger und faszinierender menschlicher Objekte von unbestreitbarem und ungewöhnlichem Wert entdeckt zu haben«. Bei Lesern, die schon Wallace’ Gewohnheit, den englischen Ausdruck »with regard to« (bezüglich) mit w/r/t (bezügl.) abzukürzen, als unzumutbare Forderung empfinden, hat allerdings sowieso kein Gegenargument eine Chance.
Zweite Person Singular, Imperativ Präsens – ein beliebter Manierismus der Neunziger.
Vielleicht haben Schriftsteller diesen Traum ja häufiger als andere.
Ich habe Wallace einmal brieflich um eine Liste seiner Lieblingsautoren gebeten. Larkin war der einzige Lyriker, den er nannte.
Aus »Dockery und Sohn«.
Das Ende von »Hohe Fenster«: »Glas, das die Sonne einfängt, / und dahinter das tiefe Blau, endlos, / das nirgends ist und nichts enthält.« Und das Ende von »Wasser«: »und gegen Osten würde ich / ein Wasserglas erheben, / wo sich das Licht von allen Seiten / endlos versammeln könnte.«
Aus »Dockery und Sohn«.
Das Zitat stammt, so wie alle weiteren James-Zitate, aus dem Vorwort zu Prinzessin Casamassima von 1908. Martha Nussbaum hat diesen Teil des Vorworts schon einmal in ihrem Buch Love’s Knowledge dazu verwendet, den Zusammenhang zwischen Literatur und Philosophie zu erläutern.
Die er als »Kurbeldreher« bezeichnete: »Wenn wir von Nabokov und Coover reden, dann reden wir von den wahren Genies, von Schriftstellern, die echte Erschütterungen überstanden, die diesen ganzen Kram in der zeitgenössischen Literatur überhaupt erst erfunden haben. Aber nach den Pionieren kommen immer die Kurbeldreher, die kleinen grauen Männer, die dann die Maschinen übernehmen, die die anderen konstruiert haben, und einfach so lange an der Kurbel drehen, bis hinten kleine Stückchen Metafiktion rauskommen.«
Auf die zweite kommen wir noch.
Abreaktion ist laut dem Oxford English Dictionary ein Begriff aus der Psychoanalyse, der Angst durch Ausdruck und Freisetzen eines bisher unterdrückten Gefühls beseitigt, indem die Erfahrung, die es verursacht hat, noch einmal durchlebt wird.
Und lässt sich auch nicht gut mit Wallace’ Interesse und Wertschätzung für die Anonymen Alkoholiker vereinbaren, mit denen er sich beim Schreiben von Unendlicher Spaß ausführlich beschäftigte: »Ich war bei ein paar von deren Treffen und fand das irrsinnig eindrucksvoll […]. Anfangs fühlte ich mich richtig abgestoßen. Wegen dieses ›Nur für heute‹ […]. Aber anscheinend ist es ja Teil der Sucht, den Stoff so dringend zu brauchen, dass man am liebsten sterben will, wenn er einem weggenommen wird […]. Und etwas so Banales und Simplifizierendes wie dieses ›Nur für heute‹ hilft diesen Leuten dabei, durch die Hölle zu gehen […]. Das hat mich beeindruckt.«
Bemerkenswert ist auch, dass die Anonymen Alkoholiker ein von Grund auf gemeinschaftliches Unternehmen sind und bei ihren Therapien auf eine Art »Kumpelsystem« setzen.
Diese Argumentationslinie wurde unlängst durch den amerikanischen Linguistikprofessor Dan Everett ins Wanken gebracht, dessen Aufsatz »Cultural Constraints on Grammar and Cognition in Pirahã« einen ganz gewaltigen Zoff unter den Leuten entfachte, die sich über linguistische Fragen zoffen können. Everett behauptet darin, im Regenwald im Nordwesten Brasiliens einen Stamm entdeckt zu haben – die besagten Pirahã –, dessen Sprache keine Rekursionen verwende und damit praktisch endlich sei. Der New Yorker hat dazu in seiner Ausgabe vom 16. April 2007 einen interessanten Artikel unter dem Titel »The Interpreter« veröffentlicht. [Ein deutscher Artikel zum Thema erschien unter dem Titel »Ein Leben ohne Nebensätze« am 3. April 2010 in der Frankfurter Rundschau. Anm. d. Ü.]
Als die depressive Person noch ein Kind war, haben die geschiedenen Eltern einen Kampf darüber ausgefochten, wer ihr (d. h. der depressiven Person) die kieferorthopädische Behandlung zu bezahlen habe. Von der Schriftstellerin Mary Karr weiß ich, dass dieses Detail keineswegs zufällig gewählt ist: Es stammt aus Verdammte schöne Welt, den Memoiren von Elizabeth Wurtzel.
Im Impressum zu den Kurzen Interviews bedankt sich Wallace bei der Mac-Arthur Foundation und der Lannan Foundation, der Paris Review sowie »bei der Belegschaft und dem Management von Denny’s 24-Hour Family Restaurant, Bloomington, IL«.
Dieselbe Ansicht vertrat er noch einmal ausführlicher in einem Interview mit Salon: »Mir scheint, die Intellektualisierung und Ästhetisierung von Prinzipien und Wertvorstellungen in diesem Land ist mit ein Grund, dass unsere Generation so ausgebrannt ist. Der ganze Kram, den meine Eltern mir immer eingeschärft haben, beispielsweise: ›Es ist ganz wichtig, nicht zu lügen.‹ Okay, alles klar, ist gebongt. Ich nicke, aber ich fühle nichts dabei. Bis ich dann um die dreißig bin und merke, wenn ich jemanden anlüge, kann ich ihm auch nicht mehr vertrauen. Ich leide irgendwie, ich bin nervös, ich bin einsam und weiß einfach nicht, warum. Und plötzlich wird mir klar: ›Hey, vielleicht wird man damit ja am besten fertig, wenn man tatsächlich nicht mehr lügt.‹ Dass etwas so einfach und im Grunde auch ästhetisch so uninteressant sein kann – was für mich immer hieß, dass ich es für die wirklich interessanten, komplexeren Sachen links liegen lasse – und dabei derart heilsam auf eine Weise, wie es der ganze hyper-meta-ironische Postmodernequatsch niemals fertigbringt, das ist für mich das eigentlich Wichtige. Mir scheint, das müsste unsere ganze Generation mal empfinden.«
Inzwischen wissen wir, dass sein letzter, unvollendeter Roman, Der bleiche König, sich mit der Fachsprache von Steuerinspektoren des Finanzamts befasst.
So nennen sich die Hardcore-Wallace-Fanatiker.
Aus Gründen der Länge (Wobei, wem mache ich hier eigentlich noch was vor?) habe ich die sechs Fußnoten ausgelassen, die Wallace in diesen Abschnitt einfügt.
Die Guggenheim-Stipendien werden an Menschen vergeben, die »eine außergewöhnliche Fähigkeit zu produktiver wissenschaftlicher Forschung oder ein außergewöhnliches kreatives Talent im künstlerischen Bereich unter Beweis gestellt haben«.
Allen dreien ist die Vorstellung gemeinsam, dass wahre Ethik vor allem das gute Verhältnis zwischen Menschen betrifft und nicht so sehr das Verhältnis des Einzelnen zu einem letzten Ziel oder Zweck. Für Kant sind alle Menschen Zweck an sich; für Weil sind sie in sich heilig. Und für Rawls sind sie Gemeinschaftswesen, deren Unterschiede zu respektieren sind, aber trotzdem nicht ins Gewicht fallen dürfen, sobald es um die Rechtsprechung geht, die sich nur um die Gerechtigkeit kümmern darf. Rawls zufolge müsste uns, wenn wir über die Grundlagen einer wahrhaft gerechten Gesellschaft entscheiden, ein »Schleier des Nichtwissens« übergebreitet werden, unter dem wir nichts von den persönlichen Eigenschaften der anderen (und auch nicht unseren eigenen) wissen, als da sind Rasse, Talent, Religion, Vermögensverhältnisse, Gesellschaftsschicht, Geschlecht – ein atemberaubender Gedanke, der mich an Wallace auf dem Höhepunkt des Gleichnishaften erinnert. Stellen wir uns einmal vor, wir hätten die Aufgabe, über die »Rolle der Frau« in unserer heutigen Gesellschaft zu entscheiden, einer Gesellschaft, in der wir selber leben werden. Doch während wir die Entscheidung treffen, wissen wir nicht, ob wir selbst Frauen sind oder nicht. Also entscheide dich!
Aus Weils Essay »Die Persönlichkeit des Menschen«.
Und doch hat sie Wallace seinen einzigen Literaturpreis eingebracht: den Aga-Khan-Preis für Literatur der Paris Review.
Die Übersetzung wurde durch ein Arbeitsstipendium des Deutschen Übersetzerfonds sowie durch das Literaturstipendium der Landeshauptstadt München 2011 im Bereich Übersetzung gefördert.
Dem Andenken meines Vaters
The time to make your mind up about people is never!
Tracy Lord in The Philadelphia Story
Sie entscheiden, was Sie glauben.
David Foster Wallace
Das vorliegende Buch entstand hinter meinem Rücken. Oder besser gesagt: Mir war nicht klar, dass ich es geschrieben hatte, bis mich jemand darauf aufmerksam machte. Ich dachte eigentlich, ich schriebe an einem Roman. Und dann an einem gewichtigen theoretischen Werk über das Schreiben: Besser scheitern. Beide Abgabetermine verstrichen. Und ich erledigte unterdessen die Anfragen, die hin und wieder eintrudelten. Fünf Seiten zum Thema Weihnachten? Zu Katharine Hepburn? Kafka? Liberia? So kamen irgendwann vierhundert Seiten zusammen.
Um »Gelegenheitsessays« handelt es sich insofern, als sie alle für bestimmte Gelegenheiten geschrieben wurden und für bestimmte Redakteure. Bob Silvers, David Remnick, Deborah Treisman, Cressida Leyshon, Lisa Allardice und Sarah Sands bin ich ganz besonders dankbar, weil sie mich überhaupt erst auf die Idee gebracht haben, mich als Filmkritikerin, Nachrufautorin, Amateur-Reisereporterin, Literaturrezensentin und Memoirenschreiberin zu versuchen. »Ohne sie wäre dieses Buch niemals entstanden«: ein Klischee, das sich in diesem Fall als empirisch wahr erwiesen hat.
Wenn man schon in jungen Jahren Bücher veröffentlicht, entwickelt sich das eigene Schreiben mit einem selbst weiter – und zwar in der Öffentlichkeit. Changing My Mind, auf Deutsch Sinneswechsel, erschien mir als passender, aufrichtiger Titel, um diesen Vorgang zu beschreiben. Wenn ich mir die einzelnen Texte noch einmal durchlese, muss ich allerdings wohl oder übel zugeben, dass ideologische Widersprüche für mich einer Glaubensfrage gleichkommen. Wie auch die verhalten optimistische Überzeugung, die Saul Bellow so treffend formuliert hat: »Am Rand des Lebens finden sich manchmal Wahrheiten.« Ich gebe die Hoffnung zwar nicht auf, glaube aber nicht, dass ich dem jemals entwachsen werde.
Zadie Smith
New York, 2009