Geleitwort
Thierry Courvoisier und Jürg Pfister
Die Schweiz
Ein Land von Naturforschenden
Patrick Kupper und Bernhard C. Schär
Eiszeit
Jean de Charpentier als tragischer Wegbereiter einer wissenschaftlichen Umwälzung
Tobias Krüger
Wie die Natur in die Städte kam
Augustin-Pyramus de Candolle und die Entstehung der naturhistorischen Museen in der Schweiz
Flavio Häner
Das Wetter in Tabellen
Christian Gregor Brügger und die Institutionalisierung der Meteorologie
Franziska Hupfer
Evolution, Geschlecht und Rasse
Darwins Origin of Species in Clémence Royers Übersetzung
Bernhard C. Schär
Für Basel und die Wissenschaft
Fritz und Paul Sarasin in Ceylon
Serge Reubi
«Verschollen in den Alpen»
Herbert Haviland Fields bibliografische Reform
Patrick Kupper
Durch Jurawiesen und Müllhalden
Rudolf Probsts «Beiträge» zur Solothurner Flora
Tobias Scheidegger
Revolution nach Feierabend
Albert Einsteins annus mirabilis 1905
Alexis Schwarzenbach
Zürich als Labor der globalen Rassenforschung
Rudolf Martin, Otto Schlaginhaufen und die physische Anthropologie
Pascal Germann
«Nach uns die Angestellten»
Alfred de Quervain und die Anfänge des Schweizerischen Erdbebendienstes
Remo Grolimund
Schlachtabfälle im Labor
Tadeus Reichstein und der Aufstieg der Naturstoffchemie
Lea Haller
Diplomatie statt Heldentum
Robert Haefeli, die Schweizer Polarforschung und der Kalte Krieg
Lea Pfäffli
Wissenschaft im Kalten Krieg
Hedi Fritz-Niggli und die Strahlenbiologie
Sibylle Marti
Auf der Suche nach Boukary Porgo
Fragmente einer Schweizer Wissensgeschichte in Westafrika
Lukas Meier
Biografie eines Netzwerks
SystemsX und naturwissenschaftliches Forschen im 21. Jahrhundert
Alban Frei
Auf der Suche nach Wissen über die Schweiz und die Welt
Patrick Kupper und Bernhard C. Schär
«Eine einfache und anspruchslose Organisation»
Zur Geschichte der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz
Patrick Kupper und Bernhard C. Schär
Wissenschaftsnation Schweiz
Bundesrat Johann N. Schneider-Ammann
Zu den Autorinnen und Autoren
Dank der Herausgeber
Die Welt ist im Umbruch. Die politischen, wirtschaftlichen und auch wissenschaftlichen Pole verschieben und vervielfachen sich. Zudem zwingen globale Herausforderungen wie der Klimawandel oder die Begrenztheit natürlicher Ressourcen die Gesellschaften weltweit, sich in grossen Teilen neu zu erfinden. In dieser Phase des Umbruchs erstaunt es wenig, dass ein Land wie die Schweiz sich fragt, welches ihre Wurzeln, welches ihre tatsächlichen Stärken sind. Was also macht die Schweiz aus?
In der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz, welche 1815 gegründet wurde und damit die älteste wissenschaftliche nationale Organisation des Landes ist, bestand der starke Eindruck, dass sich die Schweiz ihrer wissenschaftlichen Wurzeln wenig bewusst ist. Im Hinblick auf ihren 200. Geburtstag regte die Akademie deshalb an, diese Wurzeln zu erkunden.
Die Historikerinnen und Historiker legen im vorliegenden Buch ein überaus reiches Wurzelwerk offen. Die Naturforschenden, die heutigen Naturwissenschafterinnen und Naturwissenschafter, prägten nicht nur die politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Schweiz entscheidend mit, sie vernetzten und verankerten die Schweiz auch international. Diese kräftigen wissenschaftlichen Wurzeln der Schweiz, so ein weiterer Befund der Historikerinnen und Historiker, liegen in weiten Teilen noch im Dunkeln und fehlen in Übersichtswerken zur Schweiz weitgehend. Das vorliegende Buch ist insofern nur eine Skizze dieser Wurzeln und eröffnet ein weites Forschungsfeld.
Die Schweiz wird sich in den kommenden Jahrzehnten wesentlich verändern. Die Akademie der Naturwissenschaften Schweiz wird die Gesellschaft dabei begleiten. Zu den Aufgaben der Akademie gehört es, einerseits gegen innen zu wirken und die Naturwissenschaften darin zu unterstützen, sich selbst zu organisieren. Andererseits bündelt die Akademie die Expertise und diskutiert diese mit der Politik und der Gesellschaft. Neben Expertise zu Themen wie Klima, Energie oder Ressourcen wird die Akademie sich dafür einsetzen, dass Historikerinnen und Historiker ihre Erkundung der wissenschaftlichen Wurzeln fortsetzen und dass ihre Erkenntnisse in die Debatte zur Zukunft der Schweiz einfliessen. Unsere Gesellschaft soll im Wandel auf ihren tatsächlichen Stärken aufbauen können.
Prof. Dr.Thierry Courvoisier, Präsident, Akademie der Naturwissenschaften Schweiz
Dr. Jürg Pfister, Generalsekretär, Akademie der Naturwissenschaften Schweiz
Die Schweiz gehört zweifellos zu den führenden Wissenschaftsnationen der Gegenwart. In internationalen Hochschulrankings belegen ihre Universitäten regelmässig Spitzenplätze. Auch die Industrieforschung gilt als äusserst wettbewerbsfähig. Gerade die Beiträge aus den Naturwissenschaften und der Medizin werden überdurchschnittlich häufig zitiert und international ausgezeichnet. Die Liste der Nobelpreisträger für Physik, Chemie und Medizin weist darauf hin, dass dies kein neues Phänomen ist. Über 20 Forscher aus der Schweiz bedachte das Stockholmer Nobelpreiskomitee seit Anfang des 20. Jahrhunderts mit dieser höchsten wissenschaftlichen Auszeichnung.1 Doch die Spuren einer schweizerischen Wissenschaftsnation reichen noch weiter zurück. Bereits 1873 stellte der Genfer Botaniker und Wissenschaftshistoriker Alphonse de Candolle fest, dass Schweizer Naturforscher im internationalen Vergleich eine aussergewöhnliche Präsenz aufwiesen. Lange bevor internationale Rankings in Mode kamen, wendete de Candolle eine quantitative Methode an, um die Güte von Wissenschaftsstandorten bestimmen und vergleichen zu können. Er wertete die Listen der Ehrenmitglieder der traditionsreichsten und renommiertesten wissenschaftlichen Akademien – der französischen Académie des Sciences, der britischen Royal Society und der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin – aus. Seine Analyse zeigte, dass Schweizer Forscher bereits seit dem 17. Jahrhundert überdurchschnittlich oft zu Ehrenmitgliedern dieser drei Vereinigungen ernannt worden waren. Damit nicht genug: Sobald er die Ernennungen mit der Bevölkerungszahl gewichtete, kam die Schweiz gar unangefochten an die Spitze seines Länderrankings zu stehen.2
Der internationale Erfolg ist das Aushängeschild des schweizerischen Forschungsstandorts. Es handelt sich dabei aber nur um einen kleinen Ausschnitt einer grösseren Geschichte. Denn seit den Anfängen der modernen Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert umfasste das Naturstudium in der Schweiz stets eine grössere Gruppe von Personen, die meisten davon sogenannte «Liebhaber» – also Amateure in der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs. Dazu zählten im Verlauf der Jahrhunderte Magistraten, Patrizier und Pfarrer, Ärzte, Lehrer und Militärpersonen, höhere Angestellte, Beamte und Industrielle. Naturforschung in der Schweiz beruhte auf einer breiten gesellschaftlichen Bewegung, was sich unter anderem darin zeigte, dass zwischen 1600 und 1800 nicht weniger als 150 sogenannte Gelehrte Gesellschaften gegründet wurden, in denen sich die grosse Mehrheit der Amateure mit den wenigen spezialisierten Forschern austauschten.3 Mit der Naturforschenden Gesellschaft der Schweiz (SNG, heute Akademie der Naturwissenschaften Schweiz SCNAT) entstand im Jahr 1815 die erste nationale Vereinigung der Naturforschenden. Sie umfasst bis heute zahlreiche kantonale Sektionen sowie disziplinäre Fachgesellschaften wie etwa die Schweizerische Entomologische Gesellschaft (die Gesellschaft der Insektenkundler) mit ihren eigenen kantonalen Zweigen. In diesem weitverzweigten Vereinsnetzwerk haben sich bis heute ungezählte Naturforschende aus professionellen oder privaten Interessen heraus engagiert.4 Bis ins späte 19. Jahrhundert war die Mitgliedschaft in einer Gelehrten Gesellschaft freilich ein exklusiv männliches Privileg. Die Gesellschaften waren zudem vorwiegend in den protestantischen Mittellandkantonen verankert. Es darf jedoch davon ausgegangen werden, dass Ehefrauen, Töchter und Schwestern sich ebenso wie die Bewohnerinnen und Bewohner der alpinen Regionen am Studium der «vaterländischen Natur» beteiligten.5 Sei es als lokale Führer für Schmetterlingssammler aus dem Flachland oder beim Bestimmen und korrekten Aufbewahren gesammelter Pflanzen im Studierzimmer eines Ärzte-, Lehrer- oder Pfarrerhaushalts.
Es darf also mit Fug behauptet werden: Die Schweiz ist ein Land der Naturforschenden. Nur ist sie sich dessen nicht bewusst. Historische Darstellungen, welche dieses Phänomen zu fassen und erklären versuchen, sind rar.6 An dieser Lücke setzt das vorliegende Buch an. Es erzählt 15 Geschichten zum Wissenschaftsstandort Schweiz. Ausgangspunkt der einzelnen Beiträge sind Figuren aus der schweizerischen Naturwissenschaftsgeschichte: bekannte, weniger bekannte und auch solche, die selbst den Fachhistorikerinnen und Wissenschaftsforschern unbekannt sein dürften. Die Autorinnen und Autoren dieses Buchs haben wir gebeten, die Geschichten dieser Personen nicht als klassische Biografien zu erzählen. Wir haben sie vielmehr zu einem Vorgehen ermuntert, das vorab im angloamerikanischen Sprachraum weitverbreitet ist: nämlich Personen als Instrumente oder Sonden zu benutzen, um jene historischen Zeitabschnitte auszuleuchten, in denen diese Personen gelebt, gehandelt und gedacht haben.7 Auf diese Weise werden die weiteren Kontexte der Wissenschaft sichtbar. So etwa die Rolle wissenschaftlicher Netzwerke und Institutionen, aber auch die Zeitgebundenheit wissenschaftlicher Vorstellungen und Praktiken. Erkennbar wird auch, wie sich gesellschaftliche Hierarchien namentlich entlang sozialer, geschlechtlicher und «rassischer» Grenzen in der Naturforschung niederschlugen respektive inwiefern Naturforschende aus der Schweiz ihre Forschung nutzten, um solche Hierarchien zu kritisieren oder zu stabilisieren, und damit die Gesellschaft in der Schweiz formten. Schliesslich geht es aber auch um die Beziehungen, die schweizerische Naturforschende aus unterschiedlichsten Motiven zu Menschen inner- und ausserhalb der Schweiz und Europas aufbauten. Unsere Perspektive taucht die geschilderten Personen in ein eher ungewohntes Licht. Vermeintlich wohlbekannte historische Persönlichkeiten (wie Louis Agassiz oder Albert Einstein) werden neu beleuchtet, und bislang vernachlässigte Figuren (wie Clémence Royer oder Boukary Porgo) verlassen ihr Rand- oder Nichtdasein und werden in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Naturwissenschaften in der Schweiz sichtbar.
Der Fokus auf die Bedingungen der Zeitabschnitte, in denen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bewegten, erlaubt es uns, nach der Bedeutung des Schweizerischen und allgemeiner des Nationalen für die Produktion wissenschaftlichen Wissens zu fragen. Was machte den Wissenschaftsstandort Schweiz aus, und wie präsentierte er sich zu unterschiedlichen Zeiten? Inspirierte, beförderte oder behinderte das Schweizerische oder das Nationale die Forschungsanstrengungen? Und umgekehrt: Wie beeinflusste die gesellschaftlich starke Naturforschung die Schweiz? Worin bestand dieses Schweizerische: in den sozialen, politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Verhältnissen des Landes oder in einer spezifischen schweizerischen Identität beziehungsweise einem nationalen Image? Und wie vertrugen sich politische Grenzziehungen mit dem wissenschaftlichen Credo des freien Ideenaustauschs, wie nationale Organisationsweisen mit wissenschaftlichen Universalitätsansprüchen?
Die 15 in diesem Band versammelten Texte ergeben keine umfassende oder repräsentative Geschichte des Wissenschaftsstandorts, sondern sind Erkundungen in einem weiten und in vielen Teilen noch unbekannten Terrain. Die Autorinnen und Autoren bewegen sich an den Grenzen des historisch Bekannten und verschieben diese Grenzen. Sie thematisieren relevante historische Zusammenhänge und fördern eine erstaunliche historische Vielfalt zutage, und zwar sowohl jeder Beitrag in sich als auch, verstärkt, in ihrer Gesamtheit. So entsteht beim Lesen das wenig vertraute Bild einer Schweiz als eines Landes von Naturforschenden, einer global vernetzten Nation, die sich nicht nur über die politischen und wirtschaftlichen, sondern auch über die wissenschaftlichen Aktivitäten ihrer Bewohnerinnen und Bewohner zu definieren lernte.
Dass grosse Bereiche Europas während der Eiszeiten mit Gletschern bedeckt waren, gehört heute faktisch zur Allgemeinbildung. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war dieser Gedanke hingegen gänzlich unbekannt. Eine der Personen, die bei der Entdeckung und Erforschung der Eiszeiten eine massgebliche Rolle spielte, war Jean de Charpentier (1786–1855). Seine Beteiligung an einer der umwälzendsten geologischen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts, aber auch die damit verbundene persönliche Tragik sollen hier dargestellt werden.
Der Name lässt zunächst einen Westschweizer oder Franzosen vermuten. Tatsächlich stammte de Charpentier jedoch aus Sachsen. Seinen französischen Namen verdankte er der Herkunft seiner Familie aus der Normandie. Seine Vorfahren waren einst vermutlich als protestantische Glaubensflüchtlinge nach Sachsen gelangt. Jean de Charpentier kam im erzgebirgischen Städtchen Freiberg als jüngstes von sieben Kindern zur Welt. Sein Vater war Professor an der dortigen Bergbauakademie und erstellte unter anderem 1778 eine der ersten modernen geologischen Karten weltweit.1 Auf ihr kennzeichnete er Gesteinsarten mit unterschiedlichen Farben, was damals eine Innovation darstellte. 1802 stieg Jeans Vater zum Berghauptmann auf und stand bis zu seinem Tod an der Spitze des Berg- und Hüttenwesens im damaligen Kurfürstentum Sachsen.2 Dieser familiäre Hintergrund scheint prägend für den jungen Jean gewesen zu sein. In der Schule erhielt er eine klassische humanistische Bildung. Anschliessend studierte er, wie zuvor sein älterer Bruder Toussaint, Bergwesen in Freiberg. Nachdem er kurze Zeit unter seinem Bruder im schlesischen Waldenburg, heute Walbrzych in Polen, im Kohlebergbau gearbeitet hatte, nahm er eine Stelle in den französischen Pyrenäen an. Dort beabsichtigte eine Bergbaugesellschaft, den Kupferabbau aufzunehmen. Nachdem sich dieses Projekt zerschlagen hatte, blieb de Charpentier dort und widmete sich während vier Jahren der Erforschung der Pyrenäen. Ab 1812 belegte er Vorlesungen für Chemie und Naturgeschichte in Paris. Im folgenden Jahr bereiste er die Auvergne und das Vivarais. Zu dieser Zeit erhielt er durch Vermittlung eines Studienfreundes, des Waadtländer Kantonsförsters und Geologen Charles Lardy (1780–1858), das Angebot, die Leitung der Salinen in Bex zu übernehmen.3 Deren Salzproduktion war zu diesem Zeitpunkt kostspielig und unbefriedigend. De Charpentier nahm die Herausforderung an und vermochte die in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Anstatt wie anhin den salzhaltigen Quellen nachzugraben, gelang es ihm, durch gezielte geologische Untersuchungen und Berechnungen die salzhaltigen Gesteinsschichten aufzuspüren. Dadurch konnte er die Salzgewinnung in Bex auf eine neue, auch wirtschaftlich gesunde Basis stellen und die Produktion vervierfachen.4 Zum Dank liess die Waadtländer Regierung in Les Dévens für de Charpentier 1825/26 durch Kantonsingenieur Adrien Pichard (1790–1841) die klassizistische, leichte Anklänge an die regionale Architektur zeigende Villa Solitaire bauen.5
Durch seine berufliche Tätigkeit und sein ausserberufliches Engagement als Naturforscher knüpfte de Charpentier rasch Kontakte zu Schweizer Forschern. Im Jahr 1815 rief der Genfer Apotheker und Mineralwasserfabrikant Henri-Albert Gosse (1753–1816) die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft, kurz SNG, die heutige Akademie der Naturwissenschaften Schweiz, ins Leben.6 Unter den 36 eingeladenen Gründungsmitgliedern war der 29-jährige Salzbergwerksdirektor Jean de Charpentier. Dieser sollte sich in den folgenden Jahrzehnten als leidenschaftlicher und vielseitiger Forscher erweisen. Bereits während seiner Zeit in den französischen Pyrenäen hatte er deren geologischen Aufbau studiert. Für diese Untersuchung zeichnete ihn die Académie de France 1822 mit dem Preis für Statistik aus.7 Seine volkskundlichen und linguistischen Aufzeichnungen zur Sprache der in den Pyrenäen lebenden Basken stellte er 1822 dem preussischen Sprachforscher und Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt (1767–1835) zur Verfügung. Dieser benutzte sie für seine Untersuchungen zur baskischen Sprache.8
Im waadtländischen Bex erforschte de Charpentier nicht nur die lokalen Salzlagerstätten, sondern die Geologie der Alpen allgemein. So konnte er mit Charles Lardy 1814 ein deutlich jüngeres Alter der Alpen als bis dahin angenommen nachweisen.9 Im Lauf der Jahre legte de Charpentier überdies ein Herbar mit gut 26 000 Pflanzen an und entwickelte sich damit zu einem der besten Pflanzenkenner der Schweiz.10 Die grösste Leidenschaft des Salinendirektors galt wahrscheinlich den Schneckentieren. Der Katalog seiner Land- und Flussschneckensammlung führte nebst den Fundorten insgesamt 3707 Arten in 37 570 Exemplaren auf.11 Es handelte sich um de Charpentiers letzte grosse wissenschaftliche Arbeit.
Heute ist Jean de Charpentier dagegen vor allem als Pionier der Eiszeitforschung bekannt. Dies ist nicht ohne historische Ironie. Zwar war er bereits etliche Jahre, bevor er seine eigenen Forschungen begann, mit Fragen aus dem Umfeld der späteren Gletscher- und Eiszeitforschung in Berührung gekommen. Doch lehnte er die Vorstellung eines ehemals kälteren Klimas und einer grösseren Ausdehnung der alpinen Gletscher zunächst ab und ging von einem wärmeren Klima in früheren Erdzeitaltern aus.
Mit Fragen des Gletscherwachstums dürfte de Charpentier erstmals im Sommer 1815 konfrontiert gewesen sein. Damals unternahm er einen Ausflug ins Val de Bagnes im Wallis. Dabei stiess der junge Salinendirektor auf die Vorstellung, ortsfremde, in der Landschaft verstreut liegende Felsblöcke könnten von Gletschern an ihre heutigen Fundorte transportiert worden sein. Viele Jahre später, im Februar 1840, berichtete er dem Berner Geologen Bernhard Studer in einem privaten Brief: «Die Person, die mir zum ersten Mal von Gletschern als Ursache des Transports der erratischen Trümer [sic!] sprach[,] war ein Bauer aus Lourtier im Bagne-Thale, Nahmens Perotin, welcher wahrscheinlich jetzt todt ist. Es war im July 1815 als ich auf einer Reise in das dortige Thal, bei ihm übernachtete. Da behauptete er steif und fest[,] dass in früheren Zeiten das Bagne- und Entremont-Thal völlig mit einem Gletscher erfüllt gewesen, welcher sich bis Martigny erstreckt und daselbst die grossen Granitblöcke abgesetzt habe. Dass ich diese Idee ganz verwarf[,] versteht sich von selbst.»12 Bei dem erwähnten Perotin handelte es sich um den Zimmermann und Gämsenjäger Jean-Pierre Perraudin (1767–1858). Entgegen de Charpentiers Mutmassung war er zum Zeitpunkt des Briefes keineswegs tot, sondern quicklebendiger Walliser Grossrat. Perraudins Beobachtungen hielt de Charpentier wahrscheinlich deshalb für mitteilenswert, da sich dieser auf überprüfbare Beobachtungen stützte und argumentierte, die ortsfremden Felstrümmer seien für einen Transport durch Wasser zu gross und schwer. Damit wandte Perraudin intuitiv das schon damals unter Geowissenschaftlern verbreitete Prinzip des Aktualismus an, wonach in der Gegenwart beobachtbare Vorgänge zur Erklärung vergangener geologischer Abläufe herangezogen werden. Tatsächlich waren ähnliche Ansichten wie jene von Perraudin unter den Bewohnern des Alpenraums recht verbreitet, und zeitgenössische Gelehrte berichteten verschiedentlich darüber.13 Wenige Monate später, im Oktober 1815, sah sich de Charpentier erneut mit dem Rätsel des Ursprungs ortsfremder Felstrümmer konfrontiert, als Henri-Albert Gosse im Oktober 1815 anlässlich der Gründung der SNG in Genf einen Vortrag zum Thema hielt.14
Im folgenden Jahr kam de Charpentier mit einer weiteren Frage aus dem Umfeld der späteren Gletscher- und Eiszeitforschung in Berührung. Er trug anlässlich der zweiten Jahresversammlung der SNG in Bern Untersuchungsergebnisse des Walliser Kantonsingenieurs Ignaz Venetz (1788–1859) vor und sicherte diesem so die Aufnahme in die Gesellschaft. In seiner Arbeit befasste sich Venetz mit der Frage, wie Gletscher Gegenstände transportieren, die in ihnen eingeschlossen sind.15 Wie und wann sich de Charpentier und Venetz kennengelernt haben, ist nicht bekannt. Sicher ist, dass sie ab 1818 beruflich miteinander zu tun hatten. In jenem Jahr brach der Giétroz-Gletscher ab. Sein Eis stürzte in die Tiefe, und der danach aufgestaute Gletschersee verwüstete bei seinem Ausbruch das Val de Bagnes. Um die von Kantonsingenieur Venetz ergriffenen Schutzmassnahmen zu überprüfen, beauftragte die Walliser Kantonsregierung unter anderem de Charpentier als Gutachter.16 Später begegneten sich die beiden Männer gelegentlich, da sie an der Korrektion und Eindämmung der Rhone mitwirkten.17
1821 reichte Venetz bei der SNG ein Manuskript ein, in dem er deren 1817 ausgeschriebene Preisfrage, ob das Klima abkühle und rauer werde, zu beantworten versuchte. Der Kantonsingenieur argumentierte gestützt auf alte Gletscherstände, Findlinge und Moränen, dass sich das Klima während der Frühen Neuzeit verschlechtert habe. Schwieriger zu erklären waren für ihn jedoch Spuren alter Moränen, die bis zu fünfeinhalb Kilometer von den damals aktuellen Gletscherzungen entfernt lagen.
Venetz bat – vermutlich Ende August 1822 – über Jean de Charpentier sein Manuskript zurück, um es für die Drucklegung zu überarbeiten.18
Bis zu diesem Zeitpunkt war de Charpentiers wissenschaftliche Welt in Ordnung. Dies änderte im Frühjahr 1829, als Ignaz Venetz den Salinendirektor in Bex aufsuchte. Nach de Charpentiers Erinnerungen erklärte ihm Venetz, seine Beobachtungen hätten ihn zur Überzeugung geführt, «dass nicht nur das Tal von Entremonts, sondern das ganze Wallis einstmals von einem Gletscher bedeckt gewesen sei, der sich bis zum Jura erstreckt habe und der die Ursache für den Transport erratischer Geschiebe gewesen sei».19 De Charpentier war alles andere als überzeugt von dieser kühnen These. Die Vorstellung einer so gewaltigen Vergletscherung erschien ihm, wie er nachträglich bekannte, «wahrhaftig verrückt und übersteigert».20 Auf der folgenden Jahresversammlung der SNG im Juli 1829 auf dem Grossen St. Bernhard trug Venetz seine Überlegungen in einem Referat vor. Darin erklärte er die Verbreitung ortsfremder alpiner Gesteinstrümmer in den Alpen und im Jura, aber auch die Verbreitung von Findlingen in Nordeuropa durch «die Existenz ungeheurer Gletscher, die seither verschwunden seien».21 Das Echo auf den Vortrag des Kantonsingenieurs fiel sehr kritisch aus. Die Herkunft ortsfremder Felsblöcke schien nämlich durch die damals verbreiteten Geröll- und Schlammfluttheorien bereits hinreichend erklärt. In Versteinerungen tropischer Pflanzen in ganz Europa erblickten die damaligen Gelehrten einen klaren Beleg für ein ehemals wesentlich wärmeres Klima in Europa. Dementsprechend ging die Mehrzahl der damaligen Geologen von einer sich im Lauf der Erdgeschichte langsam abkühlenden Erde aus. In den Augen der meisten anwesenden Forscher dürfte Venetz ein schlecht informierter Autodidakt aus der Provinz gewesen sein, zumal er sich nur auf Beobachtungen in der Umgebung von Gletschern der Walliser Alpen stützte.22 Auch de Charpentier zählte zu jener Zeit zu Venetz’ Kritikern. Um seinen Freund von dessen vermeintlichem Irrtum abzubringen, machte sich Jean de Charpentier daran, dessen These zu prüfen und zu widerlegen.23 Seine Feldstudien dauerten knapp vier Jahre. Sie führten ihn jedoch zu einem ganz anderen Resultat als erwartet. De Charpentier kam zur Überzeugung, dass nicht Venetz, sondern er und die anderen Naturforscher im Irrtum waren. So schloss sich der Waadtländer Salinendirektor allmählich den Ansichten des Walliser Kantonsingenieurs an. Dies bekundete de Charpentier erstmals gesprächsweise gegenüber dem angehenden Arzt Hermann Lebert (1813-1878), der ihn im Hebst 1833 besuchte.24 Im Folgejahr, 1834, stellte de Charpentier seine neue Sichtweise an der Jahresversammlung der SNG in Luzern erstmals einem wissenschaftlichen Publikum vor. Sein Vortrag trug den Titel Anzeige eines der wichtigsten Ergebnisse der Untersuchungen des Herrn Venetz über den gegenwärtigen und früheren Zustand der Walliser Gletscher.25 Darin versuchte de Charpentier zu beweisen, dass der Rhonegletscher einst bis ins Schweizer Mittelland gereicht habe. Womöglich fühlte sich de Charpentier in seinen kühnen Thesen durch ein Erlebnis bestätigt, das ihm ein paar Tage zuvor, auf dem Weg nach Luzern, widerfahren war. So berichtete der Salzwerkdirektor im erwähnten Brief an Bernhard Studer, wie er mit seinem Vortragsmanuskript in der Tasche auf dem Brüningpass einen Holzfäller aus Meiringen einholte und ein Stück des Weges mit ihm ging: «Dieser behauptete unaufgefordert, dass die Granitblöcke, welche wir am Wege liegend sahen, von der Grimsel aus durch Gletscher hierher gekommen wären, welcher sich noch etwas weiter als Bern erstreckte. Da ich in diesem Augenblick mein mémoire in der Tasche hatte[,] um es in Luzern vor zu lesen, so freute mich die Bemerkung[,] so dass ich dem Mann ein gutes Trinkgeld gab.»26
In Übereinstimmung mit den damaligen Theorien zur Erdentstehung ging de Charpentier von der Vorstellung einer Erde aus, die sich im Lauf der Erdgeschichte kontinuierlich abgekühlt habe. In Anlehnung an die damaligen Gebirgserhebungstheorien nahm er an, im Untergrund wirkende, sogenannte plutonische Kräfte hätten die Alpen samt ihrem Umland emporgehoben. Durch Spalten und Klüfte des neu entstandenen Gebirges sei Wasserdampf ausgetreten. Da die Alpen kurz nach ihrer Entstehung wesentlich höher und das dortige Klima dementsprechend kälter als gegenwärtig gewesen seien, habe dies zu fortdauernden Schneefällen geführt. Ein abnormes Gletscherwachstum sei die Folge gewesen. Ein alpiner Supergletscher sei in der Folge über das Schweizer Mittelland hinweg bis an den Jura vorgestossen. Als sich das neu entstandene Gebirge gesetzt habe, seien die Alpen auf ihre heutige Höhe abgesunken. Dies habe eine Erwärmung des Alpenraums und ein Ende der Vergletscherung bewirkt. Innerhalb dieses Interpretationsrahmens betrachtete de Charpentier die ausgedehnte Gletscherbedeckung der Alpen als eine vorübergehende regionale Erscheinung. Damit glaubte er seine und Venetz’ Beobachtungen mit den damals vorherrschenden Theorien der Erdgeschichte in Einklang bringen zu können. Insgesamt ähnelte de Charpentiers Ansatz damit jenem des schwedischen Botanikers Göran Wahlenberg (1780-1851), der sich 1818 mit der Herkunft der Findlinge in Skandinavien befasst hatte und dort eine vorübergehende regionale Abkühlung und Vergletscherung des skandinavischen Gebirges vermutete.27 De Charpentier publizierte seinen Beitrag 1835 in der angesehenen französischen Bergbauzeitschrift «Annales des Mines».28 Das deutschsprachige Publikum erfuhr von diesem Beitrag 1836 zunächst durch einen Hinweis in Karl Büchners (1806-1837) «Literarischer Zeitung».29 Im gleichen Jahr druckten eine deutschsprachige und eine englischsprachige Zeitschrift eine geringfügig überarbeite Übersetzung ab.30 Ein zweiter Artikel, worin de Charpentier seine Vergletscherungstheorie in einen etwas weiteren erdgeschichtlichen Rahmen stellte, erschien 1836 auf Französisch und Englisch. Schliesslich druckte die damals führende deutschsprachige geowissenschaftliche Zeitschrift, das «Neue Jahrbuch für Mineralogie, Geognosie und Geologie», 1837 die beiden Beiträge de Charpentiers zusammen ab.31 Offensichtlich war Jean de Charpentier von seiner Theorie überzeugt und bestrebt, diese zu verbreiten und in die wissenschaftliche Diskussion einzubringen.
Eine Gelegenheit, seine Überlegungen weiter zu diskutieren, bot ihm 1836 die Jahresversammlung der SNG in Solothurn. Dort traf de Charpentier auf den deutschen Naturforscher Karl Friedrich Schimper (1803-1867) und dessen Studienfreund, den Fossilienkundler Louis Agassiz (1801-1872), Inhaber des Lehrstuhls für Naturgeschichte an der Akademie in Neuenburg. Mit Letzterem stand de Charpentier seit 1833 in Briefwechsel.32 Er lud Agassiz ein, mit seiner Familie die Ferien in Bex zu verbringen. Solche Einladungen sprach de Charpentier regelmässig gegenüber anderen Naturforschern aus. Agassiz nahm das Angebot des waadtländischen Salinendirektors an. Im Lauf des Sommers vermochte ihn de Charpentier von seiner Vergletscherungstheorie zu überzeugen, obwohl Louis Agassiz dieser anfänglich ablehnend gegenüberstand.33 Schliesslich rief Agassiz auch Schimper nach Bex. Dieser hatte bereits 1833 einen Wechsel aus warmen und kalten Phasen im Lauf der Erdgeschichte vermutet.34 Im Winter 1836/37 entwickelten Schimper und Agassiz die Vergletscherungstheorie in Neuenburg auf eigene Art weiter. Dabei prägte Karl Friedrich Schimper für ihr neu formuliertes Konzept die eingängige Metapher Eiszeit.35
Im Juli 1837 fand die jährliche Versammlung der SNG in Neuenburg statt. Präsidiert wurde sie von Louis Agassiz, der die Gelegenheit nutzte, in seiner Eröffnungsansprache die gemeinsam mit Schimper weiterentwickelte neue Theorie vorzutragen. Zunächst knüpfte Agassiz an die Erkenntnisse von Venetz und de Charpentier an, indem er erklärte, die Gletscher, die man gegenwärtig in der Schweiz antreffe, seien einst viel grösser gewesen. Dann berichtete er von seinen eigenen Beobachtungen ortsfremder, scharfkantiger Gesteinsblöcke im Jura, aus denen er ableitete, jenes Gebirge sei ebenfalls vergletschert gewesen. Im Gegensatz zu de Charpentier verneinte er jedoch, dass die jurassischen Gesteinsblöcke durch einen alpinen Supergletscher dorthin transportiert worden seien. Agassiz stellte stattdessen die These auf, Europa sei vom Nordpol her mit einer bis zum Mittelmeer reichenden Eiskappe bedeckt gewesen. Als die Alpen bei ihrer Erhebung diesen Eisschild durchbrochen hätten, seien Gesteinstrümmer darauf bis zum Jura geglitten. Eine zeitweilige grössere Höhe der Alpen sah Agassiz im Gegensatz zu de Charpentier nicht als entscheidende Ursache für ein kühleres Klima an.36 Vielmehr habe sich am Ende jeder geologischen Periode ein plötzlicher globaler Temperatursturz ereignet, der «eine eisige Kälte produziert» und alles Leben ausgelöscht habe.37 Danach habe sich der Planet durch chemische Reaktionen im Erdinneren wieder erwärmt und sei von einer neuen Schöpfung besiedelt worden. Auf diese Weise seien jeweils ältere urtümlichere Lebensformen ausgelöscht worden, was wiederum Platz für neuere und, nach Auffassung von Agassiz und Schimper, höher entwickelte Lebensformen geschaffen habe. Da der Fossilienkundler Agassiz und der Botaniker Schimper die Vorstellung der Wandelbarkeit von Arten ablehnten, blieb ihnen nur die Annahme grosser globaler Katastrophen, um die Aufeinanderfolge zunehmend komplexer, nach ihrer Auffassung höher entwickelter Lebensformen im Lauf der Erdgeschichte zu erklären. Mit der Entdeckung Eiszeit schienen diese Katastrophen identifiziert zu sein.38 23 Jahre vor Charles Darwins wegweisendem Werk On the Origin of Species glaubten Agassiz und Schimper in den Eiszeiten eine Erklärung für die Abfolge verschiedener Lebensformen in der Geschichte unseres Planeten gefunden zu haben. Diese, von der romantischen Naturphilosophie beeinflusste, Erklärung für die Abfolge der Arten war zwar hochspekulativ. Sie war es jedoch, die in Agassiz’ und Schimpers Augen die meiste Aufmerksamkeit verdient hätte. Entsprechend frustriert dürfte Agassiz gewesen sein, als die Thematik der Artenfolge in den Hintergrund geriet und stattdessen die bereits von de Charpentier und Venetz bearbeitete Frage einer vorzeitlichen Vergletscherung in den Vordergrund rückte. Möglicherweise war dies ein Grund, weshalb Agassiz den Beitrag de Charpentiers zu seiner und Schimpers Theoriebildung nicht besonders hervorhob und es auch unterliess, dem Salinendirektor in den nachfolgenden Veröffentlichungen in der Bibliothèque universelle de Genève für dessen Einführungen und Hinweise zu danken. Stattdessen markierte Agassiz Distanz zur Theorie von Venetz und de Charpentier. Er stützte sich zwar auf deren genaue Beobachtungen von Moränen und Findlingen, hielt jedoch fest, dass er nicht beabsichtige, Venetz’ und de Charpentiers theoretische Überlegungen zu verteidigen.39
Während Agassiz und Schimper die Beobachtungen de Charpentiers für ihre eigene spekulative Theorie heranzogen, kritisierte der Genfer Jean-André Deluc (1763-1847) an der gleichen Jahresversammlung dessen Vergletscherungstheorie vehement.40 Für Jean de Charpentier war dies nach eigenem Bekunden Anstoss genug, seine Vergletscherungstheorie ab Herbst 1839 in einem Buch genauer auszuführen.41 In der Summe schienen sich die Dinge bis zu diesem Zeitpunkt im Sinn de Charpentiers zu entwickeln. Seine Beiträge zur Existenz eines alpinen Supergletschers hatten international Beachtung gefunden, seine Überfegungen konnte er mit den vorherrschenden Gebirgserhebungstheorien in Einklang bringen, und nun hatten mit Schimper und Agassiz sogar zwei Forscher ausserhalb der Erdwissenschaften seine Theorie, wenn auch in etwas eigenwilliger Ausdeutung, aufgegriffen. Allerdings sollte dieser für de Charpentier erfreuliche Zustand nicht lange anhalten.
Louis Agassiz hatte zwischenzeitlich eigene Forschungsanstrengungen unternommen und begonnen, seine Eiszeittheorie ebenfalls in einem Buch darzulegen, das im Herbst 1840 erschien. In seiner hastig niedergeschriebenen Darstellung überging er, wie er selbst einräumte, Schimpers Beitrag zur Eiszeittheorie. Dem noch an seinem Buch arbeitenden de Charpentier kam Agassiz einige Monate zuvor. Damit konnte er für sich in Anspruch nehmen, die erste grosse Darstellung zur Thematik veröffentlicht zu haben. Indem er sie als globale Eiszeittheorie formulierte und in den Rahmen seiner naturgeschichtlichen Überlegungen stellte, vermochte er ihr seinen Stempel aufzudrücken.
Dies verbitterte Jean de Charpentier. Er hatte offenbar erwartet, der junge Professor lasse ihm den Vortritt, da er es gewesen war, der Agassiz in die Gletscher- und Eiszeitforschung eingeführt hatte. Schliesslich erschien 1841 de Charpentiers Essai sur les glaciers et sur le terrain erratique du bassin du Rhône. Darin stand die Frage nach der Herkunft der Findlinge im Zentrum. Er setzte sie in Beziehung zu den durch Gletscherschliffe und Moränen geformten Landstrichen, die er als terrain erratique bezeichnete. Die Annahmen und Einwände der Vertreter der verschiedenen Schlamm- und Geröllfluttheorien widerlegte er in seiner Darstellung systematisch. Auch die These von Agassiz und Schimper, wonach die Alpen nach der Entstehung einer Poleiskappe entstanden seien, entkräftete er. De Charpentier zeigte, dass die Verteilung von Findlingen dem Verlauf der grossen Alpentäler folgt. Das wäre nicht der Fall gewesen, wenn die entstehenden Alpen ähnlich einem Löwenzahn, der Asphalt durchbricht, erst eine bestehende Eiskappe hätten durchbrechen müssen. Daneben zitierte de Charpentier auch seine Vorläufer, den Schotten John Playfair (1748-1819) und Johann Wolfgang von Goethe (1781-1832), die vor ihm den Transport von Findlingen mit Eis in Verbindung gebracht hatten. Nicht bekannt war de Charpentier offenbar Jens Esmark (1763-1839). Der dänisch-norwegische Geologe hatte bereits 1824 eine Eiszeittheorie publiziert, die von mehreren globalen Kältephasen mit einem jeweils massiven Anwachsen von Gletschern und Eisfeldern verursacht durch Schwankungen der Erdbahn ausging.42
Trotz gründlichen Beobachtungen und qualitätsvollen Abbildungen durch Zeichner aus dem Umfeld de Charpentiers erreichte sein Werk nicht die Bekanntheit von Agassiz’ Darstellung. Es war eben nur der zweite Titel zum Thema. Obendrein erschien sein Buch in Lausanne, was für dessen internationale Verbreitung nachteilig gewesen sein dürfte. Möglicherweise spielte bei der Wahl des Publikationsorts eine gewisse Verbundenheit mit dem Kanton Waadt eine Rolle, wie sie auch die Wahl seiner übrigen Forschungsgegenstände und Veröffentlichungen nahelegt. Dafür spricht, dass de Charpentier der Kantonsregierung ein spezielles Exemplar mit einer Widmung zukommen liess.43 Zudem war Jean de Charpentier nicht der Mann, der wie sein jüngerer Kollege durch entsprechende Vorträge und Artikel in Zeitungen und Journalen für Publizität sorgte. Gesellschaftliche Ambitionen gingen dem sächsischen Aristokraten allem Anschein nach ohnehin ab.44 Vor allem aber dürfte ihn seine Position als Salinendirektor zeitlich in Anspruch genommen haben.
Nach der Publikation seines Essai engagierte sich de Charpentier weiterhin in der Eiszeitforschung. 1842 veröffentlichte er einen Aufsatz über die Anwendbarkeit der Venetz’schen Hypothese, wie er sie nannte, auf Nordeuropa.45 Damit bezog er nun Gebiete ausserhalb des Alpenraums in seine Überlegungen ein und näherte sich den bereits von Venetz vorgebrachten Gedanken weiter an. An einem Kongress in Mailand wandte er sich 1844 gegen die These eines piemontesischen Geologen, die erratischen Blöcke in den Pyrenäen seien durch Flutwellen abgelagert worden.46 1846 und 1847 widersprach de Charpentier in zwei Aufsätzen, die er an die Société Géologique de France in Paris sandte, nochmals dieser Ansicht.47 Danach scheint die Frage nach dem Ursprung der erratischen Felsblöcke für ihn erledigt gewesen zu sein. In den folgenden Jahren befasste sich Jean de Charpentier wieder mit den Land- und Süsswasserschnecken.
Als Naturforscher und Gelehrter, der fast die gesamte erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hindurch aktiv war, zeichnete sich Jean de Charpentier durch die erfolgreiche Leitung eines Salzbergwerks, vielseitige naturwissenschaftliche Interessen und seine internationale Vernetzung aus. Die von ihm mitbegründete SNG diente dem kontakt- und reisefreudigen de Charpentier als Plattform, um seine Beobachtungen und neuen Theorien vorzustellen und Kontakte zu anderen Naturforschern zu pflegen. Ebenso nutze er deren Verhandlungen für die Publikationen seiner Untersuchungen. Strebte er eine internationale Verbreitung seiner Arbeiten an, wählte er daneben auch andere Zeitschriften.
De Charpentiers Rolle als einer der Pioniere der Eiszeitforschung zeichnet sich durch eine gewisse Tragik aus. Obwohl sich Jean de Charpentier spätestens seit 1815 mit der Frage nach der Herkunft ortsfremder Felsblöcke konfrontiert sah, befasste er sich erst ab Anfang der 1830er-Jahre damit. Dabei erwies er sich als bestens mit den zeitgenössischen Theorien zur Erdgeschichte vertraut. Konsequent versuchte er, seine und Venetz’ Beobachtungen mit dem damals aktuellen Forschungsstand in Einklang zu bringen. Im Nachhinein betrachtet, bewegte er sich damit in bekannten Bahnen. Seinen Überlegungen fehlten weitgehend konzeptionelle Neuerungen. So gesehen erwiesen sich die unkonventionellen Gedanken seines Freundes Ignaz Venetz zu einer Vergletscherung Nordeuropas oder zu astronomischen Ursachen48 einer globalen Abkühlung des Klimas als weiterführender. Doch stellt sich die Frage, ob die These eines alpinen Supergletschers ohne diese Zugeständnisse an den vorherrschenden Interpretationsrahmen der damaligen Forschung überhaupt Beachtung gefunden hätte. Die vorangehenden Arbeiten von Esmark hatten ohne solche Anknüpfungspunkte kaum Widerhall in den deutsch- und französischsprachigen Ländern gefunden.
Schliesslich musste de Charpentier erleben, wie Louis Agassiz ihm durch sein Vorpreschen bei der Publikation seines Buchs die Schau stahl. Dadurch vermochte Agassiz die Eiszeittheorie entsprechend seinen naturgeschichtlichen Vorstellungen zu formulieren und mit seiner Person zu verknüpfen. Hier liesse sich die Frage stellen, wie gerecht die Forschung und die Zuschreibung wissenschaftlicher Leistungen sind. Jean de Charpentier seinerseits zeichnete sich durch ein hohes Mass an Integrität aus und achtete gewissenhaft darauf, die Verdienste anderer Naturforscher zu würdigen. Die Rolle seines Freundes Venetz als Anreger seiner Forschungen hob er zeitweise bis in den Titel seiner Publikationen hervor. Sorgfältige Beobachtungen und Feldstudien waren ein weiteres Merkmal seiner Arbeit als Forscher.
Bei aller Zeitgebundenheit Jean de Charpentiers dürfte seine wichtigste Leistung sein, dass der Gedanke grossräumiger Vergletscherungen in den deutsch- und französischsprachigen Ländern den Weg in die wissenschaftliche Agenda fand. Ebenso war er daran beteiligt, das Thema im englischen Sprachraum zu etablieren. So sind die pathetischen Verse in einem Gedicht des Geologen Arnold Escher von der Linth (1807-1872) über seinen Freund de Charpentier durchaus zutreffend: «Dieser wandte unsern Blick in die ferne Zeit hinaus, wo die hohe Gletschermasse reichte bis zur Bergterrasse […]. Der was anfangs schien vermessen, allen machte licht und klar.»49
Im frühen 19. Jahrhundert entstanden nicht nur in der Schweiz, sondern in ganz Europa neue Bauwerke, in denen Menschen die Natur studieren konnten, ohne dazu in die Natur hinausgehen zu müssen. Hierzu gehören die botanischen Gärten wie auch die ersten naturhistorischen Museen. Die Naturforschenden brachten hier die Gegenstände zusammen, die sie in der Natur gesammelt hatten, gaben ihnen Namen, klassifizierten und arrangierten sie. In den künstlich geschaffenen Räumen strebte man danach, die Natur als ein geordnetes System darzustellen. Doch die Einrichtung solcher Anstalten geschah nicht ohne Schwierigkeiten. Zum einen musste eine Vielzahl von Objekten aus der Natur in die Städte verfrachtet werden. Zum anderen mussten die Naturforschenden die Öffentlichkeit, also die Politik und auch die breite Gesellschaft, vom Nutzen und Zweck des Sammelns und Ausstellens von Objekten aus der Natur überzeugen. Gleichzeitig galt es, die Naturforschung überhaupt als eine eigenständige Wissenschaft zu etablieren.1
Eine der zentralen Figuren, die sich in der Schweiz für die Errichtung von botanischen Gärten, naturhistorischen Museen und damit für eine Modernisierung der Naturwissenschaften einsetzte, war der namhafte Genfer Botaniker Augustin-Pyramus de Candolle (1778-1841). In der Wissenschaftsgeschichte ist de Candolle vor allem für die Entwicklung eines neuen Klassifikationssystems für Pflanzen bekannt, auf das sich etwa auch Charles Darwin bezog.2 Hier soll seine Rolle bei der Entwicklung einer modernen naturwissenschaftlichen Infrastruktur in der Schweiz näher beleuchtet werden. Er und seine Zeitgenossen setzten sich dafür ein, dass sich die Naturforschung in der Schweiz von einem privaten Freizeitvergnügen wohlhabender Patrizier- und Magistratsfamilien zu einem öffentlichen und staatlich getragenen Projekt wandelte.
Vor dem Hintergrund der Romantik und der aufblühenden Naturphilosophie avancierte die Schweiz im 18. Jahrhundert zu einem der beliebtesten Reiseziele für Naturliebhaber aus ganz Europa. Die unwegsamen Gebirge mit eisbedeckten Gletschern wurden nicht mehr als Schreckbilder und öde Wildnis empfunden. Gemeinsam mit den tiefen Tälern, waldbedeckten Hügeln und unzähligen Flüssen, Bächen und Seen mit ihren Auen- und Uferlandschaften wurde die schweizerische Landschaft zunehmend als eine Art weltliches Paradies gedeutet. So hielt der deutsche Arzt und Geograf Johann Gottfried Ebel gegen Ende des Jahrhunderts in seinem Reisehandbuch über die Schweiz fest:
«Es gibt zuverlässig kein Land, keinen Teil unsers Erdbodens, der in so vielen Rücksichten merkwürdig und interessant wäre als die Schweiz […]. Alles Grosse, Ausserordentliche und Erstaunenswürdige, alles Schreckliche, Reizende, Heitere, Ruhige, Süsserquickende, was in der ganzen Natur zerstreut ist, scheint sich hier in einen kleinen Raum vereinigt zu haben, um dies Land zu dem Garten von Europa zu bilden, wohin alle Anbeter der Natur pilgern und wo sie für ihre Opfer in dem vollsten, reinsten Masse Belohnung und Befriedigung erhalten sollten.»3
Der Ruf der Schweiz als Naturparadies wurde vor allem in den grossen europäischen Metropolen gefestigt. So nannte man in Paris einen im Jahr 1794 neu eröffneten Landschaftspark mit Tiergehegen und damit einen der ersten öffentlichen zoologischen Gärten der Welt schlicht la vallée suisse.4 Doch auch in der Schweiz selber lernten wohlhabende Bürger ihr Land mit anderen Augen sehen. Eine besondere Rolle spielten dabei die Naturalienkabinette, wie etwa der deutsche Universalgelehrte Christian Cajus Lorenz Hirschfeld im Jahr 1777 erläuterte:
«Man kann den Schweizern das Lob nicht entziehen, dass sie nicht nur auf die Merkwürdigkeiten ihres Landes sehr aufmerksam sind, sondern auch den Fremden mit Vergnügen vorzeigen. Selbst viele Prediger in den entlegenen Berggegenden fangen an, sich aus der Sammlung und Untersuchung der Naturalien ihres Vaterlandes eine eben so nützliche als angenehme Beschäftigung zu machen.»5
Die gelehrten Reisenden fanden Naturalienkabinette nicht nur in den grossen Städten wie Basel, Bern, Zürich, Genf, Lausanne, Neuchâtel oder Luzern, sondern ebenso in kleineren Ortschaften wie Schaffhausen, Solothurn, Yverdon, Altdorf, Glarus oder La Ferrière. Ihre Besitzer waren Professoren, Ärzte, Apotheker, Pfarrer, Schullehrer, Künstler. Auch manch vermögender Bankier oder Fabrikbesitzer pflegte eine kleine Sammlung von Naturgegenständen.6 Andere spezialisierten sich gar auf den Handel mit Naturalien und Naturgegenständen. Das Sammeln, Handeln und Tauschen von Naturalien war aber nicht bloss eine vergnügliche Freizeitbeschäftigung. Die Sammlungen bildeten die unerlässliche Grundlage für das Studium der Natur. Dies geht aus dem Eintrag zu den Naturalienkabinetten in der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert aus dem Jahr 1752 hervor:
«Die Wissenschaft der Naturgeschichte macht Fortschritte in dem Masse, wie sich die Kabinette vervollständigen; das Bauwerk wächst aber nur durch die Materialien, die es beherbergt, und es wird kein Ganzes bilden, bevor alle seine wesentlichen Bestandteile zusammengebracht sein werden […]. Erst in diesem Jahrhundert hat man sich mit dem notwendigen Eifer der Naturgeschichte angenommen und derart grosse Fortschritte in diesem Unternehmen gemacht. Es ist auch unser Jahrhundert, das sich durch die Gründung der vortrefflichsten Einrichtungen auszeichnet, der Naturhistorischen Kabinette.»7
Die ungezählten Naturalienkabinette, die im 18. Jahrhundert zumeist in den städtischen Räumen der damaligen Schweiz entstanden, waren in privatem Besitz. Sie für Studienzwecke zu verwenden, war meist ihren Besitzern vorbehalten.8 Doch Sammlungen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, war ein Gebot der Zeit, wie etwa die britische Schriftstellerin und Dichterin Helen Maria Williams (1761-1827) bei ihrem sechsmonatigen Aufenthalt in der Schweiz im Jahr 1794 bemerkte:
«Unter den Merkwürdigkeiten der Schweiz, welche die Aufmerksamkeit von Reisenden verdienen, sind die Naturhistorischen Kabinette nach der Meinung der Einheimischen von besonderem Rang. […] ein beachtliches und wertvolles Museum könnte einst aus diesen Sammlungen hervorgehen, wenn diese zusammengeführt und in den Dienst der Öffentlichkeit gestellt würden.»9
Es war allerdings nicht nur der mangelnde öffentliche Zugang zu naturhistorischen Sammlungen, die der Modernisierung der Naturforschung um 1800 im Weg stand. Es fehlte auch an Ausbildungsmöglichkeiten für angehende Naturforscher. Anders als an anderen grossen akademischen Hochschulen in Europa existierten in der Schweiz bis ins 19. 101112