Martina Borger
Maria Elisabeth Straub
Im Gehege
Roman
Die Erstausgabe erschien
2004 im Diogenes Verlag
Umschlagfoto von Konrad Wothe (Ausschnitt)
Copyright © Konrad Wothe
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2015
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 23505 0 (3. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60658 4
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] 1
Vier vor halb, zum ersten Mal war er der letzte. Der Parkplatz war voll. Erst ganz hinten, neben der Bank unter der großen Kastanie, fand Jon noch einen Platz neben Kowalskis senfgelbem Passat-Kombi, dessen Heck schräg aus der Reihe herausragte. Nicht einmal anständig einparken konnte das dumme Schwein.
Ich aber schrieb das elfte Gebot, sagte Robert Gernhardt. Jon zog den Zündschlüssel ab und stieg aus. Seitdem er die Lesung auf CD hatte, gehörte Gernhardts Imitation der göttlichen Stimme zu seinen Favoriten. Du sollst nicht lärmen zum Gebot zu erklären, sprach ihm aus der Seele.
Kowalski stand vor dem Haupteingang und rauchte. Sein Bauch zeichnete sich unter dem labberigen lila Polohemd ab. Und so einer war Sportlehrer. Gerade mal fünfundvierzig und konnte keine drei Treppen steigen, ohne aus der Puste zu kommen. Die Schüler hatten Jon erzählt, daß er sich beim Sportunterricht darauf beschränkte, mit seiner Pfeife zu trillern. Beim alljährlichen Fußballturnier der Lehrer gegen die Abiturienten stand er nur noch im Tor und brüllte, seinem Spitznamen »Krawallski« machte er alle Ehre. Seinetwegen hatten sie beim letzten Mal acht Tore kassiert, die Hälfte davon völlig unnötig. Und diese Null durfte in ein paar Wochen mit ihr verreisen, ganze fünf Tage lang.
[6] Während er auf den Kollegen zuging, musterte Jon zufrieden seine eigene Gestalt, die sich neben dem Fettwanst im Türglas spiegelte. »Wahnsinn, diese Ähnlichkeit mit Paul Newman«, hatte Vera bei ihrer ersten Begegnung in der Thalia-Buchhandlung in der Alten-Post-Passage gesagt, »besonders wenn Sie lachen.« Er hatte diesen Vergleich schon oft gehört und wie immer abgewehrt und auf seine dunkleren Haare und seine grünen Augen verwiesen, außerdem schätzte er den Schauspieler mindestens einen Kopf kleiner ein. Insgeheim hatte er sich gefreut, es gab schlimmere Vergleiche.
»Hi.« Kowalski nahm einen letzten Zug und drückte den Stummel in dem stinkenden Blechaschenbecher aus. »Schöne Scheiße, was? Der ganze Freitagnachmittag im Eimer. Heike ist stinksauer, wollte mit mir zu Ikea.« Er zerrte am Bund seiner abgewetzten Cordhose, konnte sich nicht entscheiden, ob sie oberhalb oder unterhalb seines Bauches sitzen sollte, und entschied sich schließlich für unterhalb. »Und hinten raus kommt doch sowieso nichts«, sagte er.
Jon sagte nur: »Na, mal sehen«, und betrat das Gebäude. Sich auf eine Unterhaltung mit Kowalski einzulassen war immer ein Fehler. Seine Tiraden über Heike und die übrige Welt waren beim gesamten Kollegium des Wilhelm-Busch-Gymnasiums gefürchtet.
In der Eingangshalle war es kühl. Das süßliche Aroma von Desinfektionsmitteln mischte sich mit dem üblichen Geruch nach Kreide und altem Papier, im Gang vor der Physikabteilung feudelten zwei Reinmachefrauen den Boden. Auf der Treppe zum ersten Stock konnte Jon das vielstimmige Murmeln aus dem Konferenzraum hören und den [7] Kaffee riechen. Er nahm zwei Stufen auf einmal. Bestimmt war sie schon da.
Vor der offenen Tür stand Achim Wilde und redete auf die Geschonnek ein, wobei er nervös an seinem Backenbart zupfte. Auch so ein Schwaller, vor allem, wenn er Gelegenheit hatte, sich als Liberaler zu profilieren; er hielt am Busch eisern die Stellung der GEW.
Jon blieb stehen und ließ seinen Blick schweifen. Die Clique um Uli Koch und Philipp Schröder hatte sich um die Kaffeemaschine in der Ecke versammelt, Schröder wie immer der Wortführer. In der anderen Ecke brabbelte Bio-Meier auf den Schulleiter ein, das Frettchen, wie von Sell unter der Hand genannt wurde. Vermutlich ging es wieder um die dringend benötigten neuen Mikroskope, für die von der Schulbehörde kein Geld bewilligt worden war, Bio-Meier kannte seit Monaten kein anderes Thema. Daneben Per Strunz und Kerstin Schmidt-Weidenfeld, die Köpfe dicht nebeneinander, guckten sie in eine Zeitung. Jon nannte sie im stillen die Zwillinge. Sie waren gleichzeitig ans Busch gekommen und vom ersten Tag an unzertrennlich, jeder im Kollegium war sich sicher gewesen, daß sie ein Verhältnis miteinander hatten. Aber dann hatten sie kurz nacheinander geheiratet, die Familien waren eng befreundet und teilten sich seit vergangenem Jahr ein Doppelhaus in Stellingen, gleich hinter Hagenbecks Tierpark. Am Konferenztisch saß bislang nur der englische Meier, stoisch korrigierte er einen Stapel blau eingebundener Hefte.
Sie war nicht da.
Damit hatte Jon nicht gerechnet. Auf der Fahrt hatte er sich einen Einstieg für ein Gespräch zurechtgelegt, er [8] wollte an ihre letzte Unterhaltung anknüpfen und nach ihrer Schwester fragen, wie es auf Sylt gewesen war. Sie sollte merken, daß er ein aufmerksamer Zuhörer war, eine seltene Eigenschaft bei den meisten Männern nicht nur seines Alters. »Und? Wie war es an der Nordsee, Frau Schwertfeger?«
In seinen Gedanken nannte er sie längst Julie. Er liebte ihren Namen, er war wie sie, jung, leuchtend, vielversprechend und irgendwo dahinter auch ein bißchen fremdartig. Und er hatte den Vorteil, daß er sich gefahrlos in jedes Gespräch einflechten ließ, ob in der Schule oder zu Hause. Im Juli begannen die großen Ferien, im Juli mußten die Fenster des Wintergartens geputzt werden, im Juli hatte Robert Geburtstag. Jon machte sich mittlerweile einen Sport daraus, ihren Namen so oft wie möglich in Gegenwart anderer auszusprechen, auch und gerade vor Charlotte. Sie hatten längst aufgehört, über die Schule zu reden, nie fragte sie nach neuen Kollegen oder gar deren Namen, sein Beruf interessierte sie nicht mehr. Falls er sie überhaupt je interessiert hatte. Es hatte keinen Grund gegeben, ihr ausgerechnet von dieser neuen Kollegin zu erzählen, von Julie Schwertfeger, die am dritten Februar ans Busch gekommen war. An seinem Geburtstag.
In der ersten großen Pause hatte das Frettchen ihm im Lehrerzimmer mit warmen Worten eine bibliophile Horaz-Ausgabe überreicht. Jon hatte sich herzlich bedankt und nicht erwähnt, daß er das Buch bereits besaß, er würde es gelegentlich ins Antiquariat bringen. Der englische Meier hatte ihm für einen kurzen Moment die Hand an den Oberarm gelegt, und Kowalski hatte wie üblich etwas von einer [9] Sektflasche gefaselt, die er leider zu Hause vergessen hatte. Und dann war die Schulsekretärin Frau Sonnich ins Lehrerzimmer gekommen, und mit ihr die neue Kollegin.
Das erste, was ihm an ihr auffiel, waren ihre dunklen Locken, die sich wild um ihr Gesicht ringelten. Er verspürte sofort Lust, in diese Fülle zu greifen, ihren Geruch einzuatmen. Die Brauen auffallend kräftig und gerade, Augen und Lippen ungeschminkt. Eine weite schwarze Hose aus seidig glänzendem Stoff, ein schwarzer Pullover mit V-Ausschnitt. Einziger Farbtupfer ihre Schuhe: knallrote geschnürte Stiefel, wie bei Boxern oder Formel-1-Piloten.
Das Frettchen stellte sie vor, sie unterrichtete Kunst, war ein halbes Jahr am Auguste-Hirsig-Gymnasium gewesen, auf Angestelltenbasis, und sollte auch am Busch nur bis zum Ende des Schuljahres bleiben, nach den Sommerferien würde Frau Kampradt aus dem Mutterschutz zurückkehren. Während das Frettchen sprach, sah sie mit einem eigenartig intensiven Blick in die Runde. Kowalski zog den Bauch ein. Schröder, der kürzlich eine brünette gegen eine rothaarige Referendarin ausgetauscht hatte, Sport gegen Ethik, pfiff leise durch die Zähne. Und die Geschonnek murmelte: »Eine Selbstbewußte, gratias agimus tibi.« Koch stieß Strunz an und flüsterte: »Die hab ich schon mal gesehen, auf einer Fete. Irgendwas war da, irgendwelche Männergeschichten.« Strunz sagte nur: »Wenn man so aussieht?«
An der Seite des Frettchens ging sie von einem Kollegen zum anderen und wechselte mit jedem ein paar Worte. Sie sprach knapp und artikuliert, ein einziges Mal hörte Jon sie lachen, Bio-Meier ließ wahrscheinlich einen seiner abgestandenen Scherze los. Ihr Lachen war kein Kichern, wie [10] man es vom weiblichen Zwilling kannte, sondern eine akkurate Vierer-Tonfolge. Der letzte Ton hell und hoch über seinen drei dunklen Vorläufern.
In diesem Augenblick wußte Jon, daß es um ihn geschehen war. Dennoch zögerte er den Moment ihrer Begegnung möglichst weit hinaus, ging zur Kaffeemaschine und füllte sich einen Becher, den er stehenließ, ohne getrunken zu haben. Er sprach Schröder auf die Pläne für die Reise mit den zehnten Klassen im Juni an und lachte, wahrscheinlich zu laut, als Schröder die bevorzugten Ziele der Schüler nannte: London, New York, Los Angeles. Dabei behielt er sie ständig im Auge.
Als es zum Pausenende klingelte und der allgemeine Aufbruch stattfand, kam von Sell mit ihr zu ihm herüber. Jon fühlte sich, als sollte er zum ersten Mal in seinem Leben vom Zehnmeterbrett springen. »Und last not least eine unserer Säulen, liebe Frau Schwertfeger«, sagte von Sell. »Oberstudienrat Ewermann, seit elf Jahren am Busch, Deutsch und Latein. Er hat übrigens heute Geburtstag.«
»Oh«, sagte sie, »ich wünsche Ihnen alles Gute.« Ihr Händedruck war energisch.
»Danke«, sagte er. »Herzlich willkommen.«
Das Frettchen stellte sich auf die Zehenspitzen, erhob seine Patschhände und legte jeweils eine auf Julies und Jons Schulter. »Tut mir leid, ich muß. Aber der Kollege Ewermann wird Ihnen in allem beistehen. Viel Glück bei uns im Busch.«
Sie sah dem Schulleiter nach, in ihrem Lächeln ein Hauch von Spott. Jon konnte einen Moment lang ungestört ihr Gesicht betrachten, ihren ziemlich großen Mund, die [11] Oberlippe ebenso ausgeprägt wie die Unterlippe, die dichten dunklen Wimpern. Dann schaute sie ihn wieder an, zog eine kleine Grimasse und sagte: »Sie sind also eine Säule. Ionisch, dorisch, korinthisch?«
»Das überlasse ich Ihnen«, sagte er. »Sie sind die Expertin.«
Wieder dieses Lächeln, wieder dieser Hauch von Spott. »So auf Anhieb? Vielleicht doch komposit. Ein Mix.« Sie klemmte eine Lockensträhne hinter ihr Ohr und wandte sich der Schmidt-Weidenfeld zu, die sie auf eine Schulbegehung mitnehmen wollte.
Er kam zu spät zum Unterricht, und am Ende der Stunde wußte er nicht mehr, welchen Stoff er durchgenommen hatte. Am Abend ließ er seine Geburtstagsfeier über sich ergehen, Charlotte fiel seine innere Abwesenheit nicht auf. Am Tag darauf traf er sich mit Vera und beendete ihre drei Wochen alte Affäre. Er behauptete, seine Frau sei dahintergekommen.
Seit jener ersten Begegnung im Lehrerzimmer hatte er jeden Tag auf die Gelegenheit zu einem Gespräch mit Julie gewartet. Aber wenn sie sich trafen, auf den Korridoren, im Lehrerzimmer oder auf dem Pausenhof, waren entweder Kollegen dabei oder sie war von Schülern umlagert, sie war auf Anhieb beliebt. Sie hatten einander angelächelt, sich manchmal auch einen Gruß zugerufen. Zwei Tage vor den Frühjahrsferien waren sie auf der Treppe aneinander vorbeigelaufen, nach dem Klingeln zur Stunde, er auf dem Weg in seine Klasse, sie mit Arbeitshandschuhen und irgendwelchen Glasscheiben. Sie waren beide nach ein paar Stufen stehengeblieben, er unten, sie oben, und hatten sich [12] umgewandt, gleichzeitig. Hatten sich einen Moment lang in die Augen gesehen und nichts gesagt. Und während er noch nach Worten gesucht hatte, war am Fuß der Treppe eine lärmende Schülergruppe mit Sporttaschen aufgetaucht und nach oben getrampelt. Über ihr Gesicht war ein Lächeln geflogen, sie hatte kaum merklich ihre Schultern gehoben und war weitergegangen. Und er hatte ihr so lange wie möglich nachgesehen. Sie hatte wieder diese roten Stiefel angehabt.
Die zwei Ferienwochen waren ihm quälend lang vorgekommen. Erst am zweiten Schultag sprachen sie wieder miteinander, vorvorgestern. Sie kam ihm aus der Lehrerbibliothek entgegen und rief »Ganz bestimmt nicht, Philipp« über ihre Schulter, es versetzte ihm einen Stich, daß sie Schröder duzte. Um ein Haar prallte sie gegen ihn, er konnte einen Hauch von Parfum wahrnehmen, etwas Frisches, Zitroniges. Sie wich erst einen Schritt zurück, trat dann an ihm vorbei in den Flur. »Das war jetzt knapp.« Sie lachte. Ihre Haut war gebräunt, und sie hatte sich die Haare abschneiden lassen, sie reichten ihr jetzt nur noch bis zum Kinn. Im Ausschnitt ihres hellen Pullovers ein glänzend roter Träger.
Jon zog die Tür zu. »Waren Sie verreist? Sie sehen erholt aus.« Er hatte die Erfahrung gemacht, daß solche banalen Sätze für einen Gesprächseinstieg besser geeignet waren als verkrampft witzige Bemerkungen, mit denen andere Männer Eindruck zu schinden versuchten. Er stapelte am Anfang lieber tief.
»Das täuscht«, sagte sie. »Ich hatte eigentlich nur Streß, ich bin umgezogen.«
[13] Er verriet ihr nicht, daß er das schon wußte, die korrigierte Telefonliste hatte in seinem Fach gelegen. »Sie sehen eher nach zwei Wochen Karibik aus.«
Sie lachte wieder und legte kurz ihre Hand an ihr Gesicht. »Deshalb? Nur drei Tage Sylt.«
Hoffentlich nicht mit Schröder, dachte er.
Und sie, als hätte sie seine Gedanken erraten: »Mit meiner Schwester. Falls Sie das interessiert.« Dabei sah sie ihn mit einem forschenden Blick an.
Jon hatte das Gefühl, als wenn ihr Blick ihm unter die Haut fuhr und sich in Wellen heller heißer Energie in seinem ganzen Körper ausbreitete. Bis unter die Schädeldecke. Bis in die Kniekehlen. »Natürlich«, sagte er.
»Bitte?«
»Es interessiert mich. Erzählen Sie.«
»Von Sylt? Oder von meiner Schwester.«
»Alles.«
Er hatte ihr ein Treffen vorschlagen, sie zum Essen einladen wollen. Er hatte gespürt, daß sie darauf wartete. Aber ausgerechnet in diesem Moment waren Kira Przybilla, Luca della Mura und Timo Voss aus der 10 a dazugekommen, alle drei hatten zum zweiten Mal die Rückgabe der letzten Lateinarbeit versäumt und fadenscheinige Entschuldigungen vorgebracht. Julie war mit einem bedauernden Lächeln weitergegangen, und Jon hatte die Schüler extrem kurz abgefertigt: Sollte er die Arbeiten auch am nächsten Tag nicht vorliegen haben, würde er den Eltern eine entsprechende Mitteilung schicken.
Das war vor drei Tagen gewesen. Seitdem fühlte er sich wie ein Hindernisläufer in den Startlöchern.
[14] Uli Koch winkte ihm zu und hob seinen Becher: »Kaffee, Jon?« Auch er war braungebrannt, er war mit seinem Lebensgefährten in Spanien gewesen, oder war es Griechenland?
Jon winkte ab. Er hatte keine Lust auf eine Unterhaltung, obwohl Koch ihm einer der liebsten Kollegen war, er hatte einen hintergründigen Witz, der Jon gefiel. Er setzte sich neben den englischen Meier, der einen dreiteiligen Anzug trug, hellgrau, mit blütenweißem Hemd und Krawatte, nie hatte Jon ihn anders gekleidet gesehen. Von Kowalski einmal auf seine »piekfeine Montur« angesprochen, hatte der englische Meier die Stirn gerunzelt und erwidert, es müsse ja nicht jeder auch ihm gleich den Lehrer von weitem ansehen.
Jon lehnte sich zurück, streckte die Beine aus und beobachtete Meiers Rotstift, der in gleichmäßiger Bewegung die Zeilen entlangfuhr, kurz innehielt, sich senkte, einen Fehler anstrich. Zweifach, im Wort selbst und am Rand der Seite. Sich weiter bewegte. Ob sie noch kommen würde? Oder hatte sie sich entschuldigt? Dann mußte sie einen triftigen Grund haben. Gestern hatte er im Vorbeigehen gehört, wie sie der Geschonnek etwas von einem Ausstellungsbesuch mit ihrem Leistungskurs erzählte. War der ausgerechnet für heute geplant?
»Können wir dann?« Das Frettchen nahm umständlich am Kopf des Tisches Platz. Gleichzeitig drängte sich eine Gruppe von Kollegen, darunter Wilde, die Geschonnek und Kowalski, durch die Tür herein, die Kowalski zu laut hinter sich schloß. Unsensibler Trottel. Ein heftiges Stühlerücken, Papierrascheln und Räuspern hob an, der englische Meier setzte die Kappe auf seinen Rotstift, klappte das vor [15] ihm liegende Heft zu und legte es ordentlich zuoberst auf den Stapel, dann schaltete er sein Handy aus.
Von Sell wartete, bis Ruhe eingekehrt war, dann vollzog er den üblichen Girlandenblick von einem Kollegen zum anderen. Er hatte sich in den Ferien neue Zähne verpassen lassen, zu groß und zu weiß. »Die Tagesordnung liegt Ihnen vor. Punkt eins: die Projektwoche…«
Wie immer schleppte sich die Sitzung zäh dahin. Nachdem Jon nach sechs Jahren nicht mehr kandidiert hatte, war neben der Geschonnek jetzt Wilde der zweite Vertrauenslehrer. Langatmig referierte er über das Ergebnis der letzten Schülerratssitzung. Es folgte das Dauerthema Raucherzimmer, Bio-Meier hielt wieder mal seinen Vortrag über die Gefahren des Nikotins, und wieder mal wurde die Entscheidung vertagt. Der Hausmeister, Herr Gmelin, hatte erneut das mangelnde Aufstuhlen nach Unterrichtsende moniert, auch das ein Dauerbrenner. Der weibliche Zwilling schlug die Anschaffung eines neuen Physikbuchs vor und geriet sich mit Schröder in die Haare, das Frettchen mußte schlichten.
Sie waren bei Punkt sechs angekommen, der Planung des Schulfestes, als sich die Tür öffnete. Jon schreckte aus seinen Gedanken auf und wandte den Kopf. Da stand sie, im Gegenlicht, von Staubpartikelchen umtanzt. Ihr Gesicht gerötet, die Locken ein wilder Bausch. Sagte etwas von ihrem Auto, nicht angesprungen, Batterie. Setzte sich schnell auf den nächsten freien Stuhl und schob sich die Haare aus der Stirn. Dann sah sie zu ihm herüber und lächelte ihn an. Ihr Blick war so intensiv und leuchtend, daß er den Atem anhielt.
[16] 2
Eine halbe Stunde später waren sie durch. Als erster verließ der englische Meier fluchtartig den Konferenzraum, gefolgt von Wilde und der GEW-Fraktion. Bio-Meier stürzte sich auf das Frettchen, wahrscheinlich wieder die Mikroskope. Die Schröder-Clique verabredete sich für den Abend in einem portugiesischen Restaurant in St. Georg. Jon lehnte Kochs Aufforderung ab; er hatte Julie zu Schröder sagen hören, sie hätte schon eine Verabredung.
Als er zur Tür ging, unterhielt sie sich mit Strunz. Er überlegte einen Moment, ob er sich dazustellen sollte, aber ihm fiel kein Vorwand ein, sein Kopf war mit einemmal wie leergefegt. Er ging dennoch hinüber, seine Beine fühlten sich an wie Betonmasten.
»Ich klär das gleich morgen ab, ich geb dir auf jeden Fall am Montag Bescheid«, hörte er Strunz zu ihr sagen. Auch mit ihm war sie also schon per du, aber unter Fachkollegen wohl nicht verwunderlich. Erleichtert sah er, daß Strunz seinem Zwilling zuwinkte und sich von Julie verabschiedete: »Schönes Wochenende. Dir auch, Jon.«
»Dito.« Jon wartete, bis Strunz mit der Schmidt-Weidenfeld hinausgegangen war. Dann sah er Julie an. »Wie geht’s?« Er kam sich vor wie ein Pennäler bei seiner ersten Verabredung.
[17] »Ganz gut«, sagte sie. »Bis auf diese idiotische Verspätung, ziemlich peinlich.«
Unter ihrer Lederjacke trug sie ein weißes T-Shirt, an ihrem Schlüsselbein blitzte etwas. Ein kleiner Stern? In Griechenland hatte er vor Jahren das Meeresleuchten erlebt, Charlotte und er waren nachts schwimmen gegangen, das Wasser auf ihrer Haut hatte golden geschimmert. Vielleicht war Julie über und über mit Sternen besät, unter ihrer Kleidung. Ihr die Lederjacke abnehmen, das Hemd und die Jeans herunterstreifen… »Machen Sie sich darüber keine Gedanken«, sagte er. »Soll ich Sie nach Hause fahren?«
»Wenn Sie Zeit haben?«
Und ob er Zeit hatte. Zeit war alles, was er hatte. Oder auch nicht, je nachdem.
Nebeneinander gingen sie durch den Korridor. Sie hatte die gleiche Schrittlänge wie er, obwohl sie um einiges kleiner war. Es kostete ihn Mühe, Abstand zu halten.
Vor einem der Fenster stand Kowalski und drehte sich eine Zigarette. »Gehst du noch mit einen trinken, Jon? Doch sowieso gelaufen, der Nachmittag.«
Für dich vielleicht, dachte Jon. Und sagte: »Keine Zeit, Harald, andermal.« Wie viele andermal hatte es schon gegeben? Kowalski kapierte es einfach nicht.
Am Ende des Korridors schauten sie wie auf Verabredung beide im gleichen Moment zurück: Kowalski fing die Geschonnek ab, sie hob reflexartig beide Hände.
»Armer Teufel«, sagte Julie.
»Im Schnitt schleppt jede Schule mindestens vier bis fünf untragbare Kollegen durch«, sagte Jon. »Jeder weiß das, aber wehe, man spricht das Thema an.«
[18] Sie lachte auf, nur zwei dunkle Töne. »Wenn man das mal zusammenzählt. Was ein einziger inkompetenter Lehrer im Lauf seiner Tätigkeit verkorksen kann. Selbst bei nur dreißig Dienstjahren kommen Tausende von Schülern zusammen, die im schlimmsten Fall für das Fach versaut sind bis an ihr Lebensende.«
»Ein Wunder, daß so viele überleben«, sagte Jon.
»Schüler? Oder Lehrer.« Wieder lachte sie auf und fügte unvermittelt hinzu: »Wie groß sind Sie eigentlich?«
»Einsfünfundneunzig«, sagte Jon, »einundachtzig Kilo, zweiundfünfzig Jahre, Nichtraucher. Und Sie?«
»Einsachtundsiebzig. Gelegenheitsraucherin. Und dreiunddreißig. Jahre natürlich, nicht Gewicht. Das verrate ich nicht.«
»Darf ich Sie noch etwas fragen?«
»Klar.« Sie durchquerten die frisch gewischte Eingangshalle, Julie setzte ihre Füße in den schwarzen Turnschuhen genau in die Fußspuren, die Koch und seine Clique hinterlassen hatten.
»Haben Sie gar nichts Rotes an heute?«
Sie blieb stehen. »Das ist Ihnen aufgefallen?«
»Natürlich. Ihre Stiefel. Ihre Jacke. Gestern die Kette. Aber heute?«
Sie zog den Reißverschluß ihrer Lederjacke auf und hob das weiße T-Shirt. Durch die Schlaufen ihrer Jeans war ein roter Gürtel mit silberner Schnalle gezogen.
Für einen kurzen Moment konnte er einen schmalen Streifen gebräunter Haut sehen. »Ich bin beruhigt«, sagte er. Das Gegenteil war der Fall.
»Ein Tick«, sagte sie, »aber irgendeine Macke muß man [19] ja schließlich haben.« Sie ging so dicht vor ihm durch die Tür, daß ihre Locken ihn streiften.
Draußen blieb sie stehen und blinzelte in die Sonne. Über der Turnhalle stand eine einsame Wolke am emailleblauen Himmel. Hinter ihnen verließ Conzelmann das Gebäude, einer dieser farblosen Referendare mit randloser Brille und Kurzhaarschnitt. »Du rufst mich an?« fragte er im Vorbeigehen. Offensichtlich war sie mit allen per Du, nur nicht mit ihm.
»Mach ich. Ciao, Markus.« Sie sah Conzelmann nach, er ging zu den Fahrradständern hinüber.
Wieso durfte dieser Milchbubi mit ihr telefonieren. »Noch ein Verehrer?« Jon hoffte, daß seine Frage leicht und amüsiert klang.
»Ach, der braucht nur eine Klagemauer«, sagte sie und zog den Reißverschluß wieder hoch, am Zeigefinger der linken Hand hatte sie ein angegrautes Pflaster. »Er hat ziemliche Schwierigkeiten mit der 9 a.«
Die 9 a war in diesem Schuljahr die bei den Lehrern am meisten gefürchtete Klasse. Jon unterrichtete sie nicht, aber er kannte die Schüler, ein Haufen verzogener und neurotischer Rüpel, darunter ein paar verschüchterte magersüchtige Mädchen. Die Hälfte von ihnen absolvierte die Klasse zum zweitenmal, dennoch war das Leistungsniveau unterirdisch. Kurz nach Beginn des Schuljahrs hatte eine Deutschreferendarin nach einer katastrophalen Unterrichtsstunde einen hysterischen Anfall erlitten und sich wochenlang krank schreiben lassen. Jon hatte nur am Rande mitbekommen, was passiert war, angeblich war sie mit Gegenständen beworfen worden. Flaschen? Bücher? [20] Pausenbrote? Schuhe? Einer der wenigen, die mit der Klasse keine Probleme hatten, war der englische Meier, der sie an die kurze Leine genommen hatte, gleich von der ersten Stunde an. Vor ihm hatten sie Schiß, vor seinem verletzenden Sarkasmus kuschten sie wie ein atavistisches Rudel vor seinem Alphatier. Lehrer wie Kowalski, die es mit kumpelhafter Anbiederei versuchten, waren dem Widerstand und der Verachtung preisgegeben. Angeblich schrie Kowalski hilflos herum und drohte permanent drakonische Strafen an, die er dann nie in die Tat umsetzte. Koch, der in der benachbarten 9 b Geschichte unterrichtete, hatte ihn einmal nachgemacht, in großer Runde. Es war sehr komisch gewesen, wenn auch weniger für Kowalski.
»Wundert mich nicht«, sagte Jon. »Doch klar, daß die so einen Milchbubi fertigmachen.« Sie gingen über den Parkplatz. Schröder fuhr an ihnen vorbei und winkte, die rothaarige Referendarin saß neben ihm.
»Also ich finde die 9 a ganz okay«, sagte Julie. »Bei mir sind die total zahm. Ja, ich weiß, was Sie jetzt sagen wollen. Daß es am Fach liegt, weil es da weniger um Zensuren und Leistung geht. Ich muß keinen Druck ausüben.« Sie blieb neben ihm vor seinem A6 stehen. »Schöner Wagen.«
»Haben Sie was für Autos übrig?«
»Klar«, sagte sie. »Leider hab ich ein Faible für Luxus. Und das bei meinem Gehalt.« Sie schnitt wieder diese kleine Grimasse, bei der sich die Haut auf ihrer Nase in winzige Falten legte und die Oberlippe etwas anhob. Ihre Zähne glänzten. »Ich muß übrigens ins Schanzenviertel. Schäferstraße. Sicher, daß Ihnen das nicht zu weit ist?«
»Hundert Prozent sicher«, sagte er. »Wenn Sie wollen, [21] kann ich Sie aber auch gleich zu Ihrer Verabredung fahren.«
»Welche Verabredung?«
Er öffnete den Wagen und hielt ihr die Tür auf. »Haben Sie nicht so was gesagt? Als Sie vorhin mit Schröder gesprochen haben? Ich hab’s zufällig mitgekriegt.«
»Ach das. Nee, ich wollte ihn nur loswerden. Der kann nämlich ziemlich hartnäckig sein.« Sie ließ sich auf den Sitz gleiten, zog die langen Beine nach.
»Und hat damit Erfolg.«
»Nicht bei mir«, sagte sie und schlug wie zur Bekräftigung die Autotür zu.
[22] 3
Von der Niendorfer Marktkirche schlug es vier. Er wartete den letzten Ton ab, dann drehte er den Zündschlüssel um, und Robert Gernhardt sagte: Als nun der Herr herabgefahren war. Julie lachte. Jon wollte den CD-Player abschalten, aber sie machte eine abwehrende Handbewegung. »Lassen Sie doch.«
Er fuhr los, und sie hörte zu, lachte laut und ausgelassen, immer wieder alle vier Töne komplett, drei dunkle, ein heller. Am meisten freute sie sich über die Vorschrift Du sollst nicht tönen.
Er schaltete den Player ab, bevor das nächste Stück begann. Sosehr er Gernhardt auch liebte, die Zeit mit ihr war zu kostbar. »Wenn Sie wollen, brenn ich Ihnen eine Kopie«, sagte er.
»Das wär klasse. Danke.« Sie sah auf ihre Uhr, dann lehnte sie den Kopf zurück.
Vor ihnen staute sich der Verkehr. Freitags um diese Zeit mit dem Auto unterwegs zu sein war Schwachsinn. »Mit der U-Bahn wären Sie schneller zu Hause gewesen«, sagte er.
»Ich hab’s nicht eilig«, sagte sie.
Ihre Finger lagen entspannt auf ihren Oberschenkeln, lang, kräftig. Kein Ring. Jons Blick wanderte immer wieder [23] zu dem ausgefransten Pflaster. »Und wo haben Sie vorher gewohnt?« fragte er.
»Hinterm Hauptbahnhof, Lange Reihe. Ich mußte raus wegen Eigenbedarf. Jetzt bin ich bei einem Freund untergekommen, erst mal für ein halbes Jahr. Er ist in den USA.«
»Und dann?«
»Keine Ahnung. Mal sehen. Wer weiß, ob ich überhaupt eine neue Stelle kriege, nach den Sommerferien. Und wo.«
»Stell ich mir anstrengend vor, diesen ständigen Wechsel«, sagte er.
»Ach, hat auch seine Vorteile.« Sie faßte mit beiden Händen in ihre Haare und schob sie zurück. Wieder roch er einen Hauch ihres Parfums. »Mir gefällt es eigentlich«, sagte sie. »Immer wieder neue Kollegen, neue Schüler. Man rostet nicht ein. Haben Sie es eigentlich wirklich nicht eilig?«
»Wieso?«
»Naja, da steht so ein Ungetüm von Schrank in der Wohnung. Ich würde ihn gerne umstellen, er nimmt zuviel Licht weg, aber allein schaff ich es nicht. Dauert vielleicht drei Minuten.«
Er lockerte seinen Griff um das Lenkrad. »Kein Problem«, sagte er.
Als er direkt vor ihrem Haus in der Schäferstraße einen Parkplatz fand, sagte sie: »Veni, vidi, vici, wenn ich mich richtig erinnere. Wissen Sie, wo mein Golf steht? Drei Straßen weiter.«
Sie wohnte im dritten Stock. Als er hinter ihr die Treppe hinaufstieg, war er versucht, seine Hand auf ihren Po in den [24] engen Jeans zu legen. Auf dem Türschild stand »Ben Milton«.
»Milton? Wir mußten damals die ersten fünfzig Zeilen von Paradise Lost auswendig lernen. Mal sehen, ob ich’s noch kann«, sagte er. »Of man’s first disobedience, and the fruit of that forbidden tree, whose mortal taste brought death into the world.«
Sie schloß die Tür auf und sagte: »Bravo, Herr Oberstudienrat. Du sollst nicht tönen.«
Er mußte lachen. »Verzeihung. Amerikaner, Ihr Milton?«
»Engländer. Er hat hier an der Kunsthochschule unterrichtet. Da haben wir uns kennengelernt.« Sie warf ihre Lederjacke über eine Trittleiter. Bis auf die Leiter war der Flur leer, kein Spiegel, keine Garderobe, kein Regal, an der Wand nur ein paar Fotos, mit Reißzwecken befestigt. Die Tür zur Küche stand offen, einem großen, nur mit dem Nötigsten ausgestatteten Raum. Spüle, Herd, Kühlschrank, ein Tisch und zwei Stühle, ein Regal mit Geschirr und Vorräten. »Ich biete Ihnen jetzt keinen Kaffee an«, sagte sie.
»Um Gottes willen«, sagte er. »Wir stellen den Schrank um, und schon bin ich wieder weg.«
Die nächste Tür war nur halb geöffnet, auf dem Fußboden eine breite Matratze mit hellblau zerwühltem Bettzeug, daneben ein Stapel Bücher, ein Wecker, eine kleine Lampe. Neben dem Fenster ein Kleiderständer auf Rollen.
»Hier lang«, sagte sie, »aber nicht so genau hingucken.« Sie führte ihn durch ein Zimmer, das leer war bis auf einen riesigen Tisch, übersät mit Papierbögen, Stiften, Flaschen und Tuben, Pinseln und Schneidewerkzeugen. Es roch nach [25] Terpentin. An den Wänden Keilrahmen und Leinwände in verschiedenen Größen. Eine Staffelei.
»Ihr Arbeitszimmer?«
»Sie sind ein scharfer Beobachter. Und nein, Sie dürfen nichts ansehen.«
Auch der nächste Raum war mit einem Sofa, einem kleinen Fernseher und einem tragbaren CD-Player nur sparsam möbliert. Der Schrank stand zwischen den beiden Fenstern zur Straße. Auf dem Fußboden Bücherstapel, zwei Becher mit eingetrockneter Flüssigkeit, Kaffee wahrscheinlich. Und an der Wand neben dem Sofa ein gerahmter Druck, den Jon nur zu gut kannte. »Dieser Rauschenberg«, sagte er. »Die Wild Strawberry Eclipse. Ihrer?«
Sie nickte. »Hab ich schon ewig. Ich mag das Bild immer noch. Es hat was Wildes, finde ich. Aufbruch ins Exotische oder so ähnlich.«
Er sah ihr in die Augen. »Es hängt seit Jahren in meinem Arbeitszimmer.«
Sie erwiderte seinen Blick, sagte aber nichts.
Sein Mund wurde trocken. »Wo soll der Schrank hin?«
Sie wies über seine Schulter hinweg zur Wand gegenüber den Fenstern. Er drehte sich um und erschrak fast. Wieso hatte er das Foto bis jetzt übersehen? Schwarzweiß, in etwa doppelter Lebensgröße. Ihr Kopf zurückgeworfen, ihr großer Mund, ihre Augen geschlossen. An den langen Wimpern Wassertropfen. Die Locken naß, wie Schlangengewirr. Der Ausdruck ihres Gesichts zugleich verloren und ekstatisch. Die nackte Schulter angeschnitten, Tropfen liefen herunter.
»Das kommt natürlich weg, Moment.« Sie ging hinüber [26] und nahm das schwarz gerahmte Foto von der Wand. »Ben hat es gemacht. In Spanien, vor zwei Jahren.« Sie trug es zum Sofa, lehnte es dagegen.
Jon starrte auf die Stelle zwischen den Schlüsselbeinen, auf den glitzernden Tropfen, der sich in der kleinen Mulde gefangen hatte. Die bloße, nasse Schulter. Dieser Ben hatte einen Ausschnitt gewählt, der kaum zu ertragen war. »Ist er Fotograf?« fragte er.
»Ziemlich bekannt sogar in der Branche. Und schwul, ganz nebenbei. Weil Sie so gucken.« Mit einem ähnlichen Lächeln hatte sie das Frettchen bedacht, bei ihrer ersten Begegnung.
»Ich gucke überhaupt nicht«, sagte er und wandte sich dem Schrank zu. »Haben Sie eine Fußmatte? Dann können wir ihn schieben.«
Sie lief aus dem Zimmer, dabei streifte sie ihn mit ihrem nackten Arm. Er durfte das Foto nicht noch einmal ansehen. Er ging zum Fenster. Durch die kahlen Zweige der Birken konnte er die gegenüberliegenden Häuser sehen, auf einem Balkon hob ein alter Mann mit Schirmmütze einen Vogelkäfig von der Brüstung und trug ihn ins Zimmer. Zwanzig Jahre weiter, und er würde auch so ein Greis sein, verhutzelt, steif, auf einen Piepmatz im Käfig angewiesen.
»Wissen Sie, daß Sie der erste spannende Lateinlehrer meines Lebens sind?« Sie kam wieder herein und warf eine blaue Badematte und ein großes rotes Handtuch auf das Sofa. »Ich hab schon gedacht, so was existiert gar nicht. Wenn ich an meine Schulzeit denke.« Sie ging zum Schrank, zog mit Zahlen und einzelnen Buchstaben beschriftete [27] Kartons aus den Fächern und stellte sie auf den Fußboden. »Ich hab Latein gehaßt. Caesar, mein Gott. Ewig diese militärischen Almauftriebe, diese Winterlager und Kohorten.«
»Es gibt jede Menge großartige Literatur«, sagte er und wartete darauf, daß sie sich wieder bückte. Ihr Po war unwiderstehlich. »Auch ausgesprochen komische. Terenz zum Beispiel. Eine seiner Komödien lese ich gerade mit meinem Leistungskurs. Soll ich helfen?«
»Nee«, sagte sie, »nachher bringen Sie noch Unordnung in den Kram hier. Ist nämlich nicht meiner. Unterhalten Sie mich lieber ein bißchen. Von Terenz hab ich keine Ahnung, ich weiß nur, daß es Dürer-Illustrationen zu diesen Komödien gibt. Holzschnitte. Ziemlich pfiffige sogar.«
»Ich weiß.«
Sie schaute nur kurz über ihre Schulter.
Er mußte aufpassen, er durfte auf keinen Fall neunmalklug daherkommen. »Also in aller Kürze«, sagte er. »Punische Kriege. Karthago, okay? Hundertfünfundachtzig vor Christus von den Römern besiegt.«
»Hannibal und Hasdrubal.« Sie nahm sich das nächste Fach vor. »Und wo bleibt Ihr Terenz?«
»Sekunde. Das besiegte Nordafrika liefert jede Menge Sklaven nach Rom, und ein gewisser Senator Terentius kauft sich einen hübschen Jungen.«
»Verstehe.«
»Nicht dafür«, sagte Jon. »Er hat diesen Publius hochkarätig erzogen und ausgebildet und schließlich sogar freigelassen. Woraufhin der Junge den Namen seines ehemaligen Herrn annahm und als Dichter Karriere machte.«
Sie knallte den letzten Karton mit Schwung auf den [28] Stapel und wischte sich die Hände an den Jeans ab. »Erzählen Sie weiter.«
»Weil er aus Afrika kam, hat man ihm noch ein afer an den Namen gehängt«, sagte Jon, während sie gemeinsam das schwere Möbelstück ein paar Zentimeter von der Wand zerrten. »Also Publius Terentius Afer. Die Schüler machen natürlich After daraus. Sein genaues Geburtsdatum ist nicht bekannt, vielleicht war er noch nicht mal dreißig, als er starb, im Jahr hundertneunundfünfzig. Er ist ertrunken.«
»Wieso ertrunken?« Sie warf die Badematte und das Handtuch vor den Schrank und kniete sich hin. »Wollen wir?«
»Er hat eine Studienreise nach Kleinasien gemacht, mit dem Schiff. Anschließend wollte er nach Griechenland, um nach verschollenen Theaterstücken zu suchen. Sagt Ihnen Menander etwas?«
»Null. Sie heben, ich schieb drunter, okay?«
Jon stemmte die Vorderseite des Schranks hoch. Sie schob die Matte links darunter, das Handtuch rechts. Ihre Schulter berührte seinen Oberschenkel.
»Vier von den sechs erhaltenen Terenz-Komödien lehnen sich dicht an Stücke von Menander an«, sagte er.
Sie hob ihr Gesicht zu ihm auf: »Runter.«
Er ließ den Schrank herab und ging neben ihr in die Hocke. »Man nimmt an, daß ein Sturm aufgekommen ist«, sagte er. »Schiffbruch in der Ägäis, so was war ja damals an der Tagesordnung. Von Terenz, beziehungsweise einer seiner Figuren, stammt übrigens der inzwischen ziemlich platte Satz…« Er hielt inne. Der Stern an ihrem Schlüsselbein war nicht mehr da.
[29] »Satz?« fragte sie.
Er legte seine Fingerspitzen auf ihr Schlüsselbein. »Vorhin hatten Sie da einen kleinen Stern.«
Sie neigte ihr Gesicht, ihre Locken kitzelten seinen Handrücken. »Die fallen immer wieder ab.« Ihre Worte waren kaum zu verstehen, ihr Kinn berührte seine Finger. »Also welcher platte Satz?«
»Homo sum, humani nil a me alienum puto.«
»Ich hab nur mit aller Gewalt das kleine Latinum geschafft«, flüsterte sie.
»Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd. Er ist wirklich banal, ich kann nichts dafür«, sagte er und schob seinen Daumen zwischen ihre Lippen. Als er spürte, daß sich ihre Schneidezähne in seine Fingerkuppe gruben, schob er seinen kleinen Finger zwischen ihre Brüste.
[30] 4
Fünf nach sieben bog er in den Bansgraben ein. Früher hatte er schon auf den ersten Blick sehen können, ob Charlotte zu Hause war, selbst bei Eis und Schnee hatte sie ihren Wagen immer auf der Straße geparkt. Aber seit Dezember stand ihre schwarze A-Klasse in der Garage. Kurz vor Weihnachten war sie bei einer Routinekontrolle mit einem Promille erwischt worden, sie hatten ihr für ein Jahr den Führerschein abgenommen. Eine vierschrötige maskuline Person mit durchdringender Stimme, deren Namen Jon sich nicht merken wollte, holte sie seither morgens ab und brachte sie abends nach Hause, wozu hatte sie neun Angestellte. Jon hatte den Verdacht, daß sie diese Situation dazu ausnutzte, schon im Betrieb zu trinken, und das nicht nur während der letzten Arbeitsstunde, wenn sie die ausgehende Post durchsah, ihre Mails und die Bestellungen checkte.
Er schloß die Haustür auf. »Charlotte?«
In der Diele roch es nach grüner Seife, Emine, ihre türkische Putzfrau, kam schon seit Jahren dienstags und freitags. Auf dem roten Sessel lag Columbus und schlief. Jon strich ihm im Vorbeigehen über das fuchsfarbene Fell und ging hinauf in sein Arbeitszimmer. Der Anrufbeantworter zeigte zwei Nachrichten an. Frau Voss hatte seinen Brief [31] erhalten; Timo hatte die fragliche Lateinarbeit leider nicht finden können, nun hatte sie selber gesucht und war tatsächlich erfolgreich gewesen. Sie wollte veranlassen, daß ihr Sohn noch heute, spätestens aber morgen die Arbeit bei Jon zu Hause abgab. Sie hoffte, er wäre nicht allzu verärgert, dankte für sein Verständnis und wünschte ihm noch einen schönen Tag.
Jon stoppte den Apparat und wählte die angegebene Nummer, um Frau Voss zu sagen, daß Timo die Arbeit gefälligst am Montag in der Lateinstunde zurückgeben sollte. Daß Schüler bei ihm zu Hause antanzten, war das Letzte, was er sich wünschte, sechs Unterrichtsstunden täglich reichten. Im übrigen würde er ihr den Rat geben, sich in Zukunft aus den schulischen Angelegenheiten ihres Sohnes herauszuhalten. Timo war fast achtzehn, weiß Gott alt genug. Im Moment wiederholte er die zehnte, nachdem er schon in der siebten hängengeblieben war. Dabei war er nicht dumm, nur abgrundtief faul, die Hausaufgaben machte er grundsätzlich nicht, in der kommenden Woche sollte er deshalb zu einer Nacharbeit antreten.
Er ließ es zehnmal klingeln, niemand nahm ab, wahrscheinlich war Frau Voss noch bei der Arbeit. Die Familie besaß acht Schlachterei-Filialen in ganz Hamburg, eine davon am Niendorfer Marktplatz im Tibarg-Center, Charlotte kaufte dort ein. Er würde im Lauf des Abends noch einmal anrufen müssen.
Die zweite Nachricht war von Robert, der seine Verspätung ankündigte. Offenbar war für den Abend ein gemeinsames Essen geplant, von dem Jon nichts wußte. Oder er hatte es vergessen. Roberts Besuch warf seine Pläne über [32] den Haufen, aber vielleicht war es ohnehin besser, das Gespräch mit Charlotte auf morgen zu verschieben. Wenn sie nüchtern war.
Einen Moment lang betrachtete er den Rauschenberg-Druck über dem Schreibtisch. Die Abendsonne warf schräge Lichtbahnen durch die Sprossenfenster und ließ das tiefe Rot in der linken Bildhälfte aufglühen. Auf dem leuchtendgelben Rechteck daneben war ein amerikanischer Straßenkreuzer abgebildet, er hatte schon oft vergeblich versucht, die Automarke zu identifizieren. Darüber war eine Art Wellblechhütte, auf ihrem Dach eine Gruppe dunkelhäutiger junger Männer. Sie strahlten den Betrachter an, Jon lächelte zurück. Bis heute hätte er nicht in Worte fassen können, warum er ausgerechnet dieses Bild so liebte, jetzt wußte er es. Wie so vieles andere war auch der Rauschenberg ein Omen.
Er zog sein Handy aus der Hosentasche und wählte. Während er auf Antwort wartete, ging er zum Sofa. Beinahe wäre er über den Handwerkskasten gestolpert, seit Tagen wollte er den Wackelkontakt in der Schreibtischlampe reparieren. Den Kasten hatte er seinerzeit von Charlottes Vater übernommen, ein Teil der Schrauben- und Nägelsammlung stammte bestimmt noch aus Vorkriegszeiten. Wie oft hatte er sich schon vorgenommen, den ganzen Krempel mal auszumisten. Dieses Vorhaben konnte er jetzt von der Liste streichen, er würde das Fossil bestimmt nicht mitnehmen.
»Hallo?«
Im Hintergrund laute Musik, ein dröhnender monotoner Rhythmus, er konnte ihre Stimme kaum verstehen. »Julie? [33] Ich bin’s.« Er legte die Füße hoch und schaute hinüber in das erleuchtete Rot.
»Jon! Moment.«
Die Musik wurde leiser gestellt, war aber für seine Begriffe immer noch zu laut. Ein schneller Sprechgesang legte sich über den wummernden Baß. »Was hörst du da?«
»Ach… Rap«, sagte sie.
»So was magst du?«
»Manchmal. Bist du schon zu Hause?«
»Seit fünf Minuten. Ich wollte dir nur schnell sagen, daß ich sehr glücklich bin.« Der Sprechgesang steigerte sich, wurde schärfer, aggressiver. »Bist du noch da?«
»Ja.« Sie klang sehr weit entfernt.
»Geht’s dir gut?«
Sie zögerte. »Ich weiß nicht.«
»Falls du dir Gedanken machst wegen meiner Frau«, sagte er, »wir trennen uns.«
»Nein, Jon, warte…«
»Bitte hör mir zu. Du bist nicht der Grund. Unsere Ehe ist am Ende, schon lange. Es war nur eine Frage der Zeit.«
»Aber ich will das nicht«, sagte sie. »Du sollst nicht meinetwegen…«
»Es hat nichts mit dir zu tun, glaub mir. Egal, wie es mit uns weitergeht, mit dir und mir, meine ich. Zwischen meiner Frau und mir ist es vorbei.« Durch die Musik konnte er ein Klirren hören. »Was war das?«
»Nur ein Glas.«
»Bist du in der Küche?«
»Ich komm gerade aus der Dusche. Ich muß mich anziehen, Jon, mir ist kalt.«
[34] Er schloß die Augen und sah die blauen Laken, ihren zurückgeworfenen Kopf, die Schweißperlen an ihrem Hals, die aufgerichteten Brustwarzen. »Wann seh ich dich wieder?« Auf der Straße hielt ein Auto, er stand auf und ging mit dem Telefon ans Fenster. Charlotte stieg aus dem Lieferwagen der Gärtnerei Pustowka.
»Montag«, sagte Julie. »Im Busch. Ich fahr übers Wochenende nach Kiel. Zu einer Freundin.«
Charlotte warf die Wagentür zu, ging auf das Haus zu. »Viel Spaß«, sagte er. »Und vergiß mich nicht.«
»Wie könnte ich. Mach’s gut.« Sie legte auf.
Unten knallte die Eingangstür, dann schepperten Schlüssel. Charlotte pflegte ihren Bund auf den Dielentisch zu werfen, manchmal rutschte er über die ganze Tischplatte und fiel zu Boden. Früher hatte er das lustig gefunden.
»Jon?«
»Oben«, rief er. Er legte das Handy auf den Schreibtisch, ging ins Bad und wusch sich die Hände. Im Spiegel betrachtete er sein Gesicht. Konnte man ihm ansehen, was in den letzten Stunden geschehen war? Er schwor sich, keinen Streit anzufangen. Er würde besonders zuvorkommend zu Charlotte sein, zum letzten Mal.
Sie stand am Kühlschrank und schenkte Gin in ein Wasserglas. »Du auch?« Sie hatte die Gummistiefel ausgezogen, trug aber noch ihre Arbeitskluft für die Gewächshäuser, einen verschossenen Overall mit hochgekrempelten Beinen, der unvorteilhaft ihren in die Breite gegangenen Hintern betonte.
»Nicht vor Sonnenuntergang, weißt du doch«, sagte er.
Auf dem Tisch lag die noch ungeöffnete Post vom [35] Morgen. Daneben ein Zettel in Emines Krakelschrift: »Bite füya Dinstak Boytel füya Sauge und Soyg füya Glasputse.«
»Ich hatte einen mörderischen Tag«, sagte Charlotte. »Wie war eure Sitzung?« Sie stellte die Ginflasche zurück, griff nach dem Tonicwasser und gab einen Fingerhut voll ins Glas.
»Langweilig. Wie immer.« Er ging zum Schrank, an dessen Seitenwand der Block mit der Einkaufsliste hing, und schrieb »Staubsaugerbeutel« und »Glasreiniger« auf.
»Ich muß unters Wasser, Robert kommt gleich.« Sie machte die Kühlschranktür mit dem Ellbogen zu und griff nach ihrem Glas. Diese Gier, mit der sie den ersten Schluck nahm. Ihr Konsum steigerte sich seit Monaten, seit Jahren genaugenommen. Aber erst vor kurzem war ihm aufgefallen, daß sich ihr Aussehen verändert hatte. Ihre Pupillen waren trübe, die Haut unter ihren Augen war aufgeschwemmt.
»Du kannst dir Zeit lassen«, sagte er. »Er kommt erst gegen halb neun, er hat angerufen. Er bringt alles mit, wir sollen nichts vorbereiten.«
Sie stellte das leere Glas so dicht an den Rand des Spülbeckens, daß es klirrend hineinfiel. »Um so besser. Hast du Columbus gefüttert?«
»Mach ich gleich.«
»Und stell schon mal Wein kalt.« Sie ging durch die Diele zur Treppe, ihre Bewegungen waren träge. Sie war müde oder schon betrunken.
Er füllte Columbus’ Napf, ging in den Wintergarten, legte sich auf den Deckchair und schaute hinaus. Der Himmel war hellblau und rosa gestreift, in der Höhe waren die Farben klar begrenzt, weiter unten gingen sie ineinander [36] über und vermischten sich zu einem perlmuttartig leuchtenden Grau. Er wäre gerne liegengeblieben, bis der ganze Himmel von diesem Ton überzogen war, der sämtliche Farben des Spektrums zu enthalten schien. Er hätte auch gerne noch den ersten Stern gesehen. Aber Charlotte rief ihn nach drinnen.
Robert kam mit dem Taxi, drei vollen Plastiktüten und einer Kiste St. Emilion. Sofort krempelte er die Ärmel hoch und begann zu kochen. Es sollte eine Consommé, frische Bandnudeln mit Jakobsmuscheln in Champagner-Sahnesoße und Lachs mit Sauerampfer geben.
Vor zwanzig Jahren, unter dem Einfluß seiner dritten und letzten Frau, hatte er sich zu einem ambitionierten Hobbykoch entwickelt. Barbara hatte ihn zu sündhaft teuren Kursen im ›Landhaus Scherrer‹ geschleppt und die Küche in Roberts Eigentumswohnung in Eppendorf komplett umbauen und mit Profigeräten ausstatten lassen. Ihr größter Stolz war der Einbau einer gigantischen Kühlkammer gewesen, in deren Regalen sie ihre mühevoll zubereiteten Fonds gelagert hatten. Unter Glasglocken waren Rohmilchkäse herangereift, an speziellen Edelstahlhaken hatten ganze Schinken gehangen. Bei jedem Essen war endlos über die Zubereitung der Speisen, die besten Einkaufsmöglichkeiten und interessante neue Restaurants palavert worden. Und in jedem Herbst waren die beiden ins Piemont gefahren, um sich eine Woche lang an Trüffeln satt zu essen und kistenweise Wein zu kaufen, den sie vorher bei den Winzern ausgiebig getestet hatten.
Jon war dieses Haute-Cuisine-Getue schon bald auf die [37] Nerven gegangen, mehr noch als die zickige und humorlose Barbara. Nach der Scheidung hatte Robert seine Kochorgien eingestellt und sich in die Arbeit gestürzt, eine erholsame Phase. Vor zwei Jahren aber hatte er seine Steuerkanzlei verkauft und sein Hobby wiederaufgenommen. Seitdem gefiel er sich in der Pose des golfspielenden Lebemannes und Connaisseurs.
Noch während sie Robert am Herd assistierte, öffnete Charlotte die erste Weißweinflasche. Beim Lachs folgte die zweite. Danach ging es dem St. Emilion an den Kragen.
»La douce France«, sagte sie und hielt ihr Glas vor die Lampe. Unter ihren Fingernägeln hielt sich immer ein Rest Schmutz, so hartnäckig sie auch ihre Hände schrubbte. Sie arbeitete nicht gern mit Handschuhen. »Da waren wir ewig nicht«, sagte sie. »Dieses Hotel bei Orange damals. Ein Traum. Wann waren wir dort, Jon? Doch mindestens zehn Jahre her.«
»Weiß ich nicht mehr. Ihr auch einen Espresso?« Er stellte das Geschirr zusammen. Auf Charlottes Teller lag ein matschiges Häufchen Wildreis mit Soße, bei jedem Essen ließ sie Reste übrig.
»Ich könnte sofort die Koffer packen«, sagte sie. »Seit Monaten bin ich urlaubsreif. Aber mein lieber Mann hat ja zuviel Arbeit. Nicht mal eine klitzekleine Woche kann er sich freinehmen.«
Für die Frühjahrsferien hatten sie acht Tage in der Toskana gebucht, aber Jon hatte die Reise wenige Tage nach seinem Geburtstag gecancelt. »Du hättest ja fahren können«, sagte er. »Mit einer deiner Freundinnen. Ich hab es dir mehrmals vorgeschlagen.«
[38] »Aber ich will mit dir dahin.« Sie wälzte ihren Schluck Wein im Mund hin und her, kaute, belüftete, schluckte. Eine Unart, die sie sich von Robert abgeguckt hatte.
»Das hatten wir jetzt schon hundertmal, Charlotte. Okay? Sorry, Robert. Also keinen Espresso für euch?«
»Doch«, rief Robert ihm nach, »einen doppelten. Und Wasser.«
Jon ließ sich Zeit mit dem Kaffee. Nach der Absage der Toskana-Reise hatte Charlotte ihn eine Woche lang beleidigt angeschwiegen. Er hatte keine Lust, die Geschichte noch einmal aufzuwärmen. Wenn er Glück hatte, brachte Robert das Gespräch inzwischen auf ein anderes Thema.
Aber als er ins Eßzimmer zurückkehrte, sprachen sie immer noch über Orange. Bisher hatte Charlotte in den kommenden Sommerferien nach Schottland fahren wollen, jetzt schwenkte sie um auf Südfrankreich. Sie versuchte, Robert zum Mitkommen zu bewegen. »Obwohl es da fürchterlich heiß sein kann«, sagte sie und nahm eine der beiden Espressotassen vom Tablett. »Im Juli.«