Martina Borger
Maria Elisabeth Straub
Kleine Schwester
Erzählung
Die Erstausgabe erschien
2002 im Diogenes Verlag
Umschlagillustration: David Hockney, ›Nice‹, 1968 (Ausschnitt)
Copyright © David Hockney
Auch wenn dieser Geschichte eine
tatsächliche Begebenheit zugrunde liegt,
so sind doch Personen und Ereignisse fiktiv;
etwaige Übereinstimmungen wären
rein zufällig.
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2015
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 23390 2 (7. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60660 7
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] 1
Sie haben mich in einem schwarzen Auto hierher gebracht. Die Fahrt hat fast eine halbe Stunde gedauert, ich konnte auf die Autouhr sehen. Die ganze Zeit hat niemand mit mir gesprochen. Sie haben meinen Rucksack in ein Regal gestellt und mir gezeigt, wo das Klo für Frauen ist. Keiner hat mich richtig angesehen, sie haben an mir vorbeigeguckt und in die Luft geredet. Sie haben gesagt, ich soll mich hinsetzen und warten, gleich kommt jemand und kümmert sich um mich. Dann haben sie mich allein gelassen. Darüber bin ich froh, ich will niemanden sehen.
Wenn ich es mir vorgestellt hab, abends im Bett vorm Einschlafen, hab ich immer gedacht, es passiert in der Nacht. Ich hab die Autos kommen hören, nicht nur eins, sondern immer drei oder vier. Dann die Klingel. Schritte, die Tür, undeutliche Stimmen, auch die von Ela und Carl. Ela redet immer lauter, immer schneller, noch mal Schritte, das Öffnen der Tür zum Keller. Jetzt ist es vorbei, hab ich dann gedacht und bin eingeschlafen. Ich bin nie so weit gekommen, mir auch den Rest vorzustellen.
In Wirklichkeit war es ganz anders. Es war Mittag, ich bin von der Bushaltestelle gekommen. Im Kopf hab ich schon den Aufsatz angefangen, den Frau Zander uns aufgegeben hat, Meine liebste Jahreszeit. Ich hatte Angst [6] gehabt vor diesem Tag in der Schule, ich hatte sogar überlegt, zum ersten Mal in meinem Leben zu schwänzen und mich irgendwo zu verstecken, in der Nähe der Schule sind Kleingärten und dahinter ein Wäldchen, aber ich war zu feige gewesen. Und dann war es auch gar nicht so schlimm, gleich in der ersten Stunde haben wir über unsere Klassenreise gesprochen, und Clara hat ein neues Handy gehabt mit vielen Spielen drauf, keiner hat sich um mich gekümmert, sie hatten die Party schon vergessen, Gott sei Dank.
An den Brief hab ich gar nicht mehr gedacht, ich hab überlegt, wie es wär, wenn es keinen Frühling mehr gibt oder keinen Sommer, weil ich rausfinden wollte, auf welche Jahreszeit ich auf gar keinen Fall verzichten kann. Ich bin gut in Deutsch, vor allem bei Aufsätzen, ich denk mir gern Geschichten aus. Mathe mag ich noch lieber, da gibt es für alles eine Lösung, die ist entweder richtig oder falsch, etwas anderes gibt es nicht.
Ich bin um die Straßenecke gekommen und noch ein ganzes Stück weitergegangen, bevor ich es gemerkt hab, ich war so in Gedanken. Erst vor Naumanns Haus hab ich hochgeguckt, da standen sie. Mein erster Gedanke war: So schnell? Ich hab den Brief doch erst am Samstag eingeworfen und gedacht, vor Dienstag können sie ihn nicht kriegen. Und daß wir noch einen Tag haben zusammen.
Dann hab ich gesehen, daß es wirklich mehrere Autos waren, zwei Polizeiwagen und ein Notarzt, sie haben gerade die Türen zugeschlagen. Ein paar Nachbarn waren auf der Straße, Frau Hundertmark von schräg gegenüber und Herr Naumann, der immer zu Haus ist, seit er mit dem Arm in die Kreissäge gekommen ist, und dann noch [7] die junge Frau, die erst seit ein paar Wochen drei Häuser weiter wohnt. Die hatte ihr Baby auf dem Arm. Ich hab noch gedacht, ein Baby sollte so was nicht sehen, obwohl es vielleicht noch gar nichts kapiert, aber trotzdem. Ich war nur froh, daß Herr Muus nicht dabeistand und sein Freund auch nicht.
Dann ist mir schwindelig geworden, ich hab mich am Zaun festgehalten und hab versucht zu überlegen, was ich tun soll. Weglaufen, bevor sie mich sehen, damit sie mich nicht finden. Aber wohin. Die einzige, zu der ich gewollt hätte, ist Janina, aber die wohnt zu weit weg, ich hatte kein Geld. Zu Tante Bella kann ich jetzt auch nicht mehr.
Oder einfach eine Zeitlang rumlaufen irgendwo. Und erst wiederkommen, wenn sie alle weg sind, die Polizisten, der Arzt und die Nachbarn. Damit es nicht gleich so viele sind, die mich anstarren. Bestimmt denken sie alle, daß ich auch schuld hab, obwohl mir das egal ist. Für mich ist das einzig Schlimme, daß ich sie verraten hab. Die zwei Menschen, die ich am liebsten hab auf der ganzen Welt.
Der Notarztwagen ist losgefahren, an mir vorbei, mit Blaulicht und Sirene. Ich hab ihm nachgeschaut, in meinem Bauch ist irgendwas nach unten gesackt wie ein kalter Klops. Dann hab ich wieder zurück zum Haus geguckt, und genau in dem Moment ist Ela rausgekommen. Sie war allein, Carl war morgens ins Krankenhaus gefahren. Ein Polizist ist neben ihr gegangen, er hat sie nicht angefaßt. Sie hat die Jacke angehabt, die Carl ihr zu meiner Kommunion gekauft hat, und ihre Handtasche über die Schulter gehängt, als ob sie nur zum Einkaufen geht. Ihr Gesicht war ganz normal, überhaupt nicht wütend oder [8] ängstlich, ich versteh das nicht. Sie ist vor dem Polizisten zu einem der Autos gegangen, es stand halb auf dem Gehweg.
Irgendwie haben meine Beine angefangen sich zu bewegen, ohne daß ich es wollte, ich bin hingerannt zu ihr, vorbei an den Nachbarn. Vielleicht hab ich auch ihren Namen geschrien. Sie wollte gerade einsteigen, sie hat sich umgedreht zu mir und hat mich angelächelt und gesagt: »Hab keine Angst, Lilly. Ich komm bald wieder.«
Sie ist ins Auto gestiegen, und sie hat es nur gesagt, damit ich nicht heule. Sie hat nicht mal versucht, mich in ihre Arme zu nehmen. Ich hab schon vorher gewußt, daß sie ganz lange nicht wiederkommt, und Carl auch nicht. Aber erst in diesem Moment ist mir richtig klargeworden, was das bedeutet.
[9] 2
Eine Frau ist zu mir gekommen. Sie hat rote Haare und diese grüne Polizistenuniform an und ein Hemd wie Erbsensuppe und einen Schlips wie ein Mann, das sieht eklig aus. Sie hat einen Bauch. Sie riecht nach Zigaretten, so wie Ela früher, als sie noch geraucht hat, ich hab das nie gemocht. Sie hat mir ihren Namen gesagt, ich soll sie Cora nennen, und daß sie sich eine Weile um mich kümmert. Sie versucht, nett zu mir zu sein, sie lächelt immerzu, aber nicht echt. Sie hat mir ein Würstchen und Brot und eine Cola mitgebracht. Während ich gegessen hab, hat sie mich die ganze Zeit nur angesehen. Als ich fertig war, hat sie angefangen zu fragen. Ich hör nicht hin, ich brauch meinen Kopf für mich allein.
Durch eine offene Tür kann ich ins nächste Zimmer sehen, da steht ein Sofa, vielleicht ruhen sich die Polizisten zwischendurch darauf aus. Ich würd gern schlafen. Komisch, daß ich so müde bin mitten am Tag. Wie spät es wohl ist, ich hab die neue Uhr vergessen heut morgen, sie liegt auf meinem Nachttisch. Wo werde ich schlafen in dieser Nacht. Wo werden sie mich hinbringen.
Mir ist kalt. Ich nehm meine Jacke von der Stuhllehne, dabei rutscht das Foto aus der Innentasche. Ich hab es immer bei mir, Ela und Carl. Die Polizistin ist schneller als [10] ich, sie hebt das Bild auf. Ich weiß, was sie jetzt denkt. Wie schön Ela ist, viel schöner als sie selbst. Niemals hätte Ela ihre Haare so kurz schneiden lassen, sie gehen ihr bis zum Po, sie läßt sie immer an der Luft trocknen, sie hat Panik vor Spliß. Wenn sie ausgeht, steckt sie sie manchmal hoch, und ich darf aussuchen, welche Spangen sie nehmen soll, sie hat einen ganzen Kasten voll, er ist mit blauen und roten Vögeln bemalt.
»Schönes Haus«, sagt die Frau. »Wo ist das?«
»Korden-Ehrbach«, sag ich, obwohl sie das nichts angeht. Aber es wär unhöflich, nicht zu antworten.
»Habt ihr da mal gewohnt?«
Ich nicke. Sie guckt immer noch das Foto an.
»Schön, wirklich schön«, sagt sie. Wie ein Papagei. Ich mag nicht, daß sie so auf Ela und Carl glotzt, sie soll sie mir zurückgeben.
»Carls Vater hat es gebaut«, sag ich und streck die Hand aus. »Als er noch jung war.«
»Carls Vater?«
Sie ist wirklich ein Papagei. Sie zieht ihre Augenbrauen hoch und läßt sie gleich wieder runtersacken. Dabei wackelt ihre Nasenspitze. Sie hat Mitesser.
»Dein Großvater also?« Sie reicht mir endlich mein Bild und fragt: »Nennst du deine Eltern immer mit Vornamen?«
Ich steck das Foto ein, ich geb keine Antwort. Warum fragt sie, sie hat es doch gehört.
[11] 3
Eine Zeitlang wollte ich sie unbedingt Mama und Papa nennen oder Mam und Paps, wie die anderen Kinder. Carl fand es okay, aber Ela wollte nicht.
»Warum nicht gleich Mutti«, hat sie gesagt, und daß das grauenhaft klingt, nach Pudel-Dauerwellen und dickem Hintern und Hausschuhen. Und daß sie nicht so sein will wie andere Mütter.
Hausschuhe und Dauerwellen, darüber hab ich gelacht. Weil Ela ganz anders aussieht, ihre Haare haben ganz von allein Wellen, sie sind ganz dick und ganz schwarz, Carl sagt immer deine Rabenhaare. Sie geht nie zum Friseur, sie schneidet sich die Spitzen immer selbst ab. Sie paßt jetzt noch in ihre allerersten LEVI’S-Jeans, die hat sie bekommen, als sie vierzehn war. Sie sind ganz verwaschen und am Po zerrissen, manchmal zieht sie sie an und zeigt uns, wie leicht der Knopf zugeht. Und Schuhe. Im Haus trägt sie nie welche, immer geht sie barfuß, sogar im Winter. Sie lackiert sich die Fußnägel, sie hat vier Fläschchen mit Lack in verschiedenen Rottönen, Crazy, Samba, Admiral, Purple Moon.
Das Foto ist älter als ich, im September vor meiner Geburt wurde es gemacht, ich bin schon in Elas Bauch, aber man sieht noch nichts. Damals haben noch zwei Bäume vorm Haus gestanden, Rotdorne, die sind später [12] eingegangen, alle beide zur gleichen Zeit, als hätten sie sich verabredet, sagt Carl, aber ich kann mich nicht daran erinnern. Carl sitzt auf der Harley und Ela auf dem Sozius, ihre Arme um seinen Bauch, er hat die schwarze Lederjacke an, die Ela immer wegschmeißen will, weil sie inzwischen ganz abgeschabt ist, das Futter ist total zerfetzt, aber er will sie behalten, weil sie ihn an früher erinnert. Die tollen Zeiten damals, sagt er immer. Wenn er in der Garage ist, hat er sie immer an, dann sieht er ganz anders aus, irgendwie noch größer als sonst. Er verändert sich überhaupt ziemlich oft, finde ich, aber vielleicht ist das bei Männern so.
Auf dem Foto guckt er ein bißchen verdreht zu Ela zurück, in ihr Gesicht, er sieht wahnsinnig glücklich aus, sie waren erst ein paar Wochen verheiratet damals. Er hat mir mal erzählt, daß es ganz viele Männer gab, die Ela zur Frau haben wollten, und daß er es erst gar nicht glauben wollte, daß sie sich ausgerechnet ihn ausgesucht hat.
Ela hat so ein Lächeln im Gesicht, wie sie es hat, wenn sie in den Spiegel guckt, aber sie sieht nicht Carl an, sie guckt zu dem, der sie fotografiert. Sie sieht total jung aus und irgendwie stark, obwohl sie so dünn ist.
»Du hättest Fotomodell werden können, bei deinem Aussehen. Könntest du heute noch«, sagt Carl manchmal, meistens dann, wenn sie uns ihre ersten LEVI’S-Jeans vorführt.
»Red keinen Quatsch«, sagt sie dann, aber sie freut sich, das merkt man.
Früher war auf dem Foto auch noch mein Großvater zu sehen. Er hat neben dem Motorrad gestanden und ein Gesicht gemacht, als wenn er es unmöglich findet, daß sie beide keinen Helm aufhaben. Es ist schon ziemlich lange [13] her, da hab ich Ela mal gefragt, warum er so böse aussieht, obwohl sie gar nicht gefahren sind, als das Foto gemacht wurde, der Motor war überhaupt nicht an.
»Ach, der Alte«, hat sie gesagt, und daß er sie nie hat leiden können. Und daß er das ganze Foto verdirbt mit seiner miesepetrigen Miene. Sie hat die Schere genommen und ihn weggeschnitten.
Er hieß Hermann, er ist gestorben, als ich erst zwei war. Ich kann mich überhaupt nicht an ihn erinnern, ich hätt ihn gern auf dem Foto behalten, weil wir sonst überhaupt keine Bilder von ihm haben. Aber am Haus in Korden-Ehrbach hing ein großes Schild, auf dem stand Hermann Jessen und Sohn, Malereibetrieb, das konnt ich schon mit vier Jahren lesen, auf dem Foto sieht man es nur nicht, weil die Rotdornbäume davor sind. Ela wollte immer, daß Carl ein neues Schild machen läßt, auf dem nur sein Name stehen soll, aber er war dagegen. Ich glaub, er hat seinen Vater ziemlich gern gehabt, wenn Ela schlecht über ihn gesprochen hat, hat er nichts gesagt, aber er ist immer gleich aus dem Zimmer gegangen. Er hat dann auch irgendwie kleiner ausgesehen als sonst, als wär er plötzlich ein bißchen geschrumpft. Dabei ist er viel größer als Ela, mehr als einen Kopf, sie muß sich auf die Zehenspitzen stellen, wenn sie ihn küßt. Manchmal hebt er sie auch hoch dabei, das hab ich gern.
Ich war oft neidisch auf andere Kinder, weil sie noch ihre Großeltern haben, viele sogar noch alle vier. Manchmal hab ich mir vorgestellt, wie es wär, wenn sie nicht gestorben wären, und wenn auch die Eltern von ihnen nicht gestorben wären, all meine Urgroßeltern. Alle zusammen, [14] mit uns und Janina, wären wir dann sechzehn, eine richtig große Familie. Oder siebzehn, wenn man sie mitzählt.
Als ich geboren wurde, war nur noch Carls Vater da. Carls Mutter ist an Krebs gestorben, da war Carl elf, ein Jahr jünger, als ich jetzt bin. Elas Mutter ist auch an Krebs gestorben, ich weiß nicht genau, wann, bald danach ist ihr Vater im Dunkeln mit dem Fahrrad unterwegs gewesen, an einem Fluß ist er die Böschung runtergestürzt und ins Wasser gefallen und ertrunken.
»Das war kein Unfall, das schwör ich«, hat Ela oft gesagt. Sie glaubt, daß er sich umbringen wollte, weil er nicht weiterleben konnte ohne seine Frau. Einmal hat sie es auch zu Janina gesagt, die hat die Augen verdreht und gestöhnt. Sie hat gesagt, Ela soll endlich aufhören sich was vorzumachen, ihre Eltern sind ihr Leben lang wie Hund und Katze gewesen, und ihr Vater ist garantiert heilfroh gewesen, als ihre Mutter tot war. Daß er nur wieder mal besoffen war, hat Janina gesagt, sie hat wirklich besoffen gesagt, über ihren eigenen Vater.
Ela ist schrecklich ausgerastet und hat gesagt, Janina lügt und hat schon immer gelogen, sie ist nur neidisch, weil sie selbst keine Kinder hat und nicht mal einen Mann. Janina hat zurückgebrüllt, und Carl hat immer nur »jetzt hört doch bitte auf« gesagt, aber sie haben nicht aufgehört.
Beim Abschied hat Janina gesagt, sie kommt nie wieder, aber sie ist doch immer wieder gekommen, jedenfalls bis Weihnachten. Da war sie zum letzten Mal bei uns, bei der Bescherung haben sie sich sogar einen Kuß gegeben, Ela und sie, aber nach dem Essen haben sie gleich wieder gestritten.
[15] Seitdem hab ich Janina nicht mehr gesehen. Meinen Geburtstag am Freitag hat sie auch vergessen, sie will nichts mehr mit uns zu tun haben. Sie hält es bei uns nicht aus, hat sie gesagt, sie findet es zum Kotzen. Und Ela hat geschrien, auf so eine Schwester kann sie gut verzichten. »Dann geh doch, hau endlich ab!«
Dabei ist Janina meine Patentante, und Paten müssen sich eigentlich immer um ihre Patenkinder kümmern, ein Leben lang. Aber vielleicht weiß Janina das gar nicht mehr, weil sie nicht mehr katholisch ist, sondern gar nichts, schon ziemlich lange. Auch darüber hat sie mit Ela immer gestritten, weil sie aus der Kirche ausgetreten ist und Ela es furchtbar findet, daß Janina ohne Glauben lebt.
[16] 4
Die Polizistin hat mich ein paar Minuten allein gelassen, sie ist mit einer Tüte Gummibärchen zurückgekommen und hat noch mehr nach Rauch gerochen. Sie hat gesagt, sie kann mir vielleicht helfen, wenn ich mit ihr rede, aber ich weiß nicht, wobei sie mir helfen will.
Ich möchte bei Ela und Carl sein. Aber dann müßte alles wieder so sein wie früher. Dann würden wir immer noch in unserm alten Haus in Korden-Ehrbach wohnen mit dem Hermann-Schild, und ich wüßte, daß Janina in ein paar Tagen kommt und mich zum Lachen bringt. Sie wohnt in Koblenz, von Korden-Ehrbach nur eine Stunde mit dem Auto, von hier aus ist es weiter, aber das ist ja nicht der Grund, weshalb sie nicht mehr kommt. Eigentlich ist sie immer nur meinetwegen bei uns gewesen. Das hat sie mir mal gesagt, als ich mit zu ihr durfte, da hat sie mir ganz viel über früher erzählt. Sie ist ein Jahr jünger als Ela, und sie haben sich schon als kleine Mädchen immerzu nur gezankt.
Manchmal hat sie mich am Freitag abgeholt, und ich durfte bis Sonntag bei ihr bleiben. Dann sind wir ins Kino gegangen oder durch die Stadt gelaufen und zum Rhein, da haben wir Eis gegessen im Sommer. Manchmal waren wir auch nur in ihrer Wohnung und haben nichts Besonderes [17] gemacht, uns nur unterhalten, das hat mir eigentlich am besten gefallen. Ich glaub, Janina ist der einzige Mensch, der mich nach mir selber gefragt hat, warum ich manche Sachen gut finde und andere nicht und so was, und sie hat das nicht nur so dahergefragt, damit irgendwas gesagt wird. Sie wollte wirklich wissen, warum ich unbedingt einen Hund haben wollte, und dann mußte ich es ihr erklären. Das war gar nicht so einfach, weil es ihr nicht ausgereicht hat, wenn ich gesagt hab, Hunde sind einfach süß und man kann mit ihnen spielen.
Ela hat es nicht gemocht, wenn ich bei Janina war. »Sie ist nur deine Tante«, hat sie gesagt. »Ich weiß nicht, warum du mit ihr mehr Zeit verbringen mußt als mit mir.«
Dabei stimmt das gar nicht, mit Ela war ich eigentlich immer zusammen, bis auf das Vierteljahr bei Tante Bella. Janina hat nur selten Zeit gehabt, sie ist Dolmetscherin, sie hat sogar schon im Fernsehen übersetzt, sie kann Englisch und Französisch und Spanisch und Portugiesisch. Sie hat eine Dachterrasse, man kann ganz weit über den Rhein gucken, fast bis zur Loreley, da wollte sie immer mal mit mir hinfahren.
Ich wünsch mir so sehr, daß Janina niemals mitbekommt, was passiert ist, aber ich weiß, das geht nicht. Vielleicht kommen wir sogar in die Zeitung. Wenn sie erfährt, was wir getan haben, denkt sie bestimmt genau dasselbe wie alle anderen. Daß wir keine normalen Menschen sind, sondern irgendwelche Ungeheuer. Monster, ohne Herz und Seele. Daß man uns einsperren muß, weil wir gefährlich sind.
»Unmenschen«, hat Frau Hundertmark auf der Straße [18] gekeift und ein Kreuz geschlagen, mir kommt es vor, als wär das hundert Jahre her. Herr Naumann hat sich die Nase geputzt mit einem Stofftaschentuch, das hat einen grünen Rand gehabt, ich hab immer nur auf diesen grünen Rand geguckt, weil ich nicht sehen wollte, wie sie Ela wegbringen.
Vielleicht sperren sie mich nicht ein, weil ich noch ein Kind bin. Aber bestimmt Ela und Carl. Jeder wird sie hassen und Angst vor ihnen haben und glauben, daß sie Teufel sind. Aber das stimmt nicht. Ich kenn sie doch. Wir sind nur irgendwie ins Unglück geraten, alle zusammen. Wir haben nie etwas Böses gewollt, wir wollten nur eine glückliche Familie sein, sonst nichts.
[19] 5
Sie ist in das Zimmer mit dem Sofa gegangen, sie muß kurz telefonieren, hat sie gesagt und die Tür zugemacht. Bestimmt erkundigt sie sich, was sie jetzt mit mir machen soll. Was stellt man an mit Kindern, wie ich eins bin. Wo tut man sie hin, wenn sie niemanden mehr haben.
Sie hat gesagt, sie ist traurig, weil ich nicht mit ihr spreche. Ob ich ihr nicht wenigstens erzählen möchte, was für Freundinnen ich hab und welches mein Lieblingsfach in der Schule ist. Sie lügt. Sie ist nicht traurig, das ist nur ein Trick, damit ich was sag, bestimmt hat sie auf der Polizistenschule gelernt, wie man Verbrecher zum Reden bringt. Ich hab mich gezwungen, den Mund aufzumachen, und hab ihr gesagt, sie soll mich bitte in Ruhe lassen, ganz höflich. Da hat sie gesagt, sie macht sich Sorgen um mich. Sie hat mir noch mal die Tüte mit den Gummibärchen angeboten, aber ich mag keine Gummibärchen. Genau wie Ela und Janina, darin waren sie sich immer einig. Außerdem will Ela nicht, daß ich Süßkram eß, die Zähne gehen davon kaputt, und man kriegt Rinderwahnsinn. Früher hat sie noch viel mehr darauf geachtet, daß ich mich gesund ernähre, nie hat es Fertigsachen für mich gegeben, immer nur frisch Gekochtes. »Man ist, was man ißt«, hat sie gesagt. Sie findet es auch nicht gut, daß Carl sich Schokoriegel [20] kauft, wenn er bei der Arbeit ist und keine Zeit für richtiges Essen hat. Er ist ein schlechtes Vorbild, sagt sie.
Als ich mal bei Janina war, hat sie gesagt, es gibt Menschen, die sich besser gar nicht erst kennenlernen sollten. Und sich schon gar nicht ineinander verlieben, weil sie nur unglücklich miteinander werden können. Ich hab gleich gewußt, daß sie Ela und Carl meint, weil es damals bei uns zu Haus besonders oft um das Baby ging, das Ela sich so gewünscht hat und das sie nicht bekommen konnte.
Eigentlich hat sie immer ein zweites Kind haben wollen, solang ich denken kann, aber damals hat sie besonders oft gesagt, daß es höchste Eisenbahn ist und Carl in die Puschen kommen soll, sie hat ziemlichen Streß gemacht, wenn er nicht am frühen Abend pünktlich zu Haus war.
In der fünften Klasse haben wir im Biologie-Unterricht gelernt, wie das funktioniert mit der Zeugung beim Menschen. Wie kompliziert das ist. Und was für ein Wunder, daß es überhaupt so oft passiert. Es kann so viel schiefgehen dabei. Wir haben einen Film gesehen, in dem man wahnsinnig viele Samenfäden beobachten konnte, auf dem Weg zur Eizelle, erst sind es fünfhundert Millionen oder so, und dann nur noch ein paar hundert, weil sie schneller und irgendwie beweglicher sind als die anderen. Und von denen kann dann nur ein einziger gewinnen, der darf ins Ei. Aber das funktioniert auch nicht immer.
Ela hat alles versucht damals, sie hat für immer mit dem Rauchen aufgehört, sie hat nur noch ganz wenig Fleisch gegessen und jeden Tag Gymnastik gemacht, weil es bei sportlichen Frauen leichter klappt. Sie hat sich auch irgendeinen ganz besonderen Tee aus dem Reformhaus geholt, [21] weil sie in einem Buch gelesen hat, daß es wirksame Kräuter gibt. Und jeden Monat hat sie darauf gewartet, daß es soweit ist. Ich hab gesehen, wie sie immer wieder in ihren Taschenkalender geguckt und gerechnet hat.
Einmal hat sie ganz fest geglaubt, es hat funktioniert. Sie kann es fühlen, hat sie gesagt. Sie war nur noch guter Laune, von morgens bis abends, sie hat dauernd gelacht und sich jeden Tag die Haare hochgesteckt. An einem Nachmittag ist sie mit mir zur Apotheke gegangen und hat eine kleine Flasche abgegeben, zum Testen. Danach hat sie mir neue Schuhe gekauft, und dann durfte ich mir noch etwas wünschen. Ich hab mir eine Hose ausgesucht, die eigentlich viel zu teuer war, aber Ela hat sie trotzdem genommen. »Für zwei lohnt es sich schon wieder«, hat sie gesagt und mich mitten im Laden abgeküßt.
Als ich am nächsten Tag aus der Schule gekommen bin, lag sie im Bett und hatte ein verheultes Gesicht und hat mich gleich wieder aus dem Zimmer geschickt. Ich mußte gar nicht erst fragen, was los ist. Sie hat kein Mittagessen gemacht und ist den ganzen Tag im Schlafzimmer geblieben. Ich hab überlegt, ob ich trotzdem zu ihr reingehen soll, um sie zu trösten, aber ich hab Angst gehabt, sie fängt erst recht an zu weinen, wenn sie mich sieht.
Am Abend, als Carl gekommen ist und ich es ihm gesagt hab, ist er sofort zu ihr gegangen. Ich hab mich hinter der Tür versteckt und beobachtet, wie er sie in die Arme genommen hat. Daß er sie liebt, mehr als alles andere auf der Welt, hat er gesagt, und das ist doch das Wichtigste. Sie hat seine Arme weggeschoben und die Bettdecke um sich gewickelt wie eine Wurst, drei Ärzte haben ihr erklärt, daß [22] es nicht an ihr liegt, hat sie gesagt, bei ihr ist alles in Ordnung. Daß es nur seine Schuld ist, und daß sie ihn schon tausendmal angebettelt hat, er soll sich untersuchen lassen. Aber daß er es absichtlich nicht tut, weil er ihr nichts gönnt. »Du erfüllst mir ja nicht mal meinen einzigen Wunsch«, hat sie geschrien. »Das nennst du Liebe?«
Ich bin in mein Zimmer gelaufen, aber ich hab noch gehört, wie er gebrüllt hat: »An mir liegt es auch nicht. Schließlich haben wir Lilly, oder etwa nicht!«
Ich hab oft gedacht, wie komisch das ist: Daß ich auf die Welt gekommen bin, obwohl Ela damals noch gar kein Kind haben wollte, weil sie noch so jung war, erst neunzehn, sie hat nicht im Traum an ein Baby und eine Familie gedacht, hat sie mir mal erzählt. Sie hat mich ganz lange angeguckt dabei, als hätte sie mich vorher noch nie so richtig gesehen, dann hat sie mich auf ihren Schoß gezogen und gesagt: »Aber es ist gut, wie alles gekommen ist. Ich weiß gar nicht, was ich ohne dich täte. Ich hab dich so lieb.«
Aber ich war ihr nicht genug. Warum wollte sie sonst unbedingt noch ein Kind haben.
Nur Janina hab ich mal danach fragen können. Sie mußte erst ein bißchen nachdenken, dann hat sie gesagt: »So darfst du das nicht sehen, Lilly. Es ist genau andersrum. Sie will noch eins, weil du so wunderbar geraten bist. Wenn du ein Scheusal wärst, hätte sie bestimmt schon die Nase voll vom Kinderkriegen.«
Ich fand es nett, wie Janina es mir erklärt hat, aber geglaubt hab ich es nicht. Und Ela hat nicht aufgehört, in ihren Kalender zu gucken und sich Hoffnungen zu [23] machen, bis Carl schließlich doch zu dieser Untersuchung gegangen ist. Die Zeit danach war nicht so schön, wie ein schwarzer Tunnel ohne Licht am Ende. Ela hat fast nur noch im Bett gelegen und geweint, viele Tage lang, und Carl hat mir erklärt, daß er keine Kinder mehr zeugen kann, weil er irgendeine Krankheit gehabt hat, zwei oder drei Jahre nach meiner Geburt. Er hat mir leid getan, weil er doch gar nichts dafür kann, jeder kann krank werden, immerzu. Und Ela hat fast gar nicht mehr gesprochen, nur noch das Nötigste, daß ich mich warm anziehen soll oder daß die Waschmaschine nicht mehr schleudert und daß Carl sie reparieren muß.
Er hat immerzu Überstunden gemacht, und wenn er zu Haus war, ist er ganz leise durch die Zimmer gegangen. Am schlimmsten waren die Mahlzeiten ohne Ela, ich hab Angst gehabt, ihm ins Gesicht zu sehen, ich hab nicht gewußt, was ich reden soll. Einmal hab ich ihn vor der Schlafzimmertür gesehen, da hatte sie ihn gerufen, und er hat da gestanden und auf die Tür geguckt, ganz lange, als würde er auf irgendwas warten, und erst als sie noch mal gerufen hat, ist er reingegangen.
Irgendwann ist Ela wieder aufgestanden und auch wieder zur Arbeit in den Kindergarten gegangen, aber sie war überhaupt nicht mehr so wie vorher. Sie hat sich so langsam bewegt, als wenn ihre Füße am Fußboden festkleben. Und abends, beim Essen, hat sie in die Luft geguckt, auf die Stelle zwischen Carl und mir, wo gar keiner saß. Wenn wir den Brotkorb zu ihr hingeschoben haben oder den Aufschnitt, hat sie nicht mal danke gesagt.
Einmal haben wir alle vor dem Fernseher gesessen, das [24] war kurz nach meinem zehnten Geburtstag, ich hatte ein Geduldspiel bekommen, zwei Haken aus Metall, die man nur ganz schwer auseinanderfummeln kann. Ich hatte sie endlich auseinander, aber noch nicht wieder zusammen, und sie haben sich einen Film angeguckt, in dem eine Frau ein Baby bekommen hat, und Ela hat wieder angefangen zu weinen, sie hat sich ein Kissen vor die Brust gedrückt und ihr Gesicht darauf gelegt. Carl ist aufgestanden. Er hat gesagt, er hält es nicht mehr aus, Ela soll sich einen anderen Mann suchen, der ihr ein Kind macht, wenn ihr Glück davon abhängt. Ich hab ihn fast nicht verstanden, so leise hat er gesprochen, und dann ist er rausgegangen. Ela hat weitergeweint, immer ins Kissen, das war hinterher richtig nass, und ich hab Angst bekommen, sie tut es wirklich. Was wird dann aus mir, hab ich gedacht. Krieg ich einen neuen Vater und darf Carl nicht mehr sehen? Weil wir dann doch bestimmt ausziehen müssen, weil das Haus Carl gehört, er hat es von seinem Vater geerbt, Hermann oben auf dem Schild.
Ich hab immer vor den falschen Sachen Angst. Ela hat sich keinen neuen Mann gesucht, aber am nächsten Tag ist trotzdem alles anders gewesen, so ähnlich wie jetzt, auf einmal war ich allein.
Carl hat mich aus der letzten Stunde geholt, Erdkunde bei Frau Schulz-Merkel, wir haben eine Karte gezeichnet von unserem Landkreis, die ist nie fertig geworden. Carl hat gesagt, daß Ela ganz plötzlich krank geworden ist und im Krankenhaus liegt und daß er sich um sie kümmern muß. Und mich bringt er nach Simmern, zu Tante Bella.
Wir sind nach Haus gefahren und haben meinen Koffer [25] gepackt, und Carl hat nicht erlaubt, daß ich meine Zahnbürste aus dem Badezimmer hol, er wollte mir eine neue kaufen, unterwegs. Aber dann hat das Telefon geklingelt, und er ist nach unten gegangen, und ich bin ins Bad gerannt, weil ich mein Nachthemd brauchte, im Schrank war kein frisches mehr. Da war alles voller Blut, auf dem Fußboden, im Waschbecken, überall. Auch die Badewanne war ganz verschmiert, ein Rest Wasser war noch drin, rot, und irgendwas Kleines, Glänzendes lag in dieser roten Pfütze. Ich hab einen furchtbaren Schrecken gekriegt, weil ich erst da verstanden hab, daß Ela wirklich sehr krank war, ich hab gedacht, sie muß sterben, so viel Blut war da. Ich bin gleich wieder rausgelaufen aus dem Badezimmer, weil ich all das Blut nicht sehen wollte, und am Abend hat mich Tante Bella gefragt, wieso ich kein Nachthemd dabeihab. Ich hab gesagt, ich hab es vergessen.
Über ein Vierteljahr bin ich bei ihr gewesen, den Rest vom Schuljahr und fast die ganzen Sommerferien. Dreimal ist Carl gekommen, öfter konnte er nicht, weil er sich um Ela kümmern mußte und den Betrieb nicht so lange allein lassen konnte, drei Maler waren bei ihm angestellt, damals noch. Beim ersten Mal hab ich ihn gefragt, was Ela eigentlich hat. Tante Bella hatte ich schon gefragt, aber die hat nur komisch geschnaubt und gesagt: »Flausen im Kopf, nichts weiter.« Ich hab gleich gemerkt, daß sie mit mir nicht darüber reden will und Ela nicht leiden kann.
Wir sind zwischen Tante Bellas Gemüsebeeten spazierengegangen, und Carl hat eine Zuckererbsenschote abgepflückt und aufgeknackt und was von einer Krankheit gesagt mit einem komplizierten Namen, den er sich selber [26] nicht merken kann, auf seinen Fingern hat weiße Farbe geklebt, dabei hat er sich sonst immer die Hände geschrubbt, wenn er von der Arbeit gekommen ist. Ela wird wieder gesund werden, hat er gesagt, ganz bald schon. Wir müssen nur besonders lieb zu ihr sein, wir dürfen sie nicht ärgern und aufregen.
Ich hab ihn gefragt, ob ich nicht lieber zu Janina kann, aber er hat gesagt, das will Ela bestimmt nicht so gern, und dann dauert es viel länger, bis sie wieder gesund wird. Die kleinen Erbsen hat er nicht gegessen, er hat sie in die Hosentasche gesteckt, vielleicht wollte er sie Ela mitbringen, ich weiß es nicht. Die Schote hat er einfach zwischen die Büsche geworfen, ich hab sie später verbuddelt, damit Tante Bella nicht denkt, ich hab genascht.
pfui Tante Bella