Die Autorin
Alexandra Zöbeli wurde 1970 in der Schweiz geboren und ist im Berner Oberland aufgewachsen. Ein Sprachaufenthalt in London infizierte sie mit dem Großbritannien-Virus, der mit Übernahme des eigenen Gartens vollständig ausbrach. Zusammen mit ihrem Mann lebt sie im Zürcher Oberland und arbeitet als Sachbearbeiterin einer Schulverwaltung. Ihre kreative Seite lebt sie auch beim Seifensieden, Gärtnern, Nähen und Basteln aus. Aber ihr liebstes Hobby ist das Schreiben, weil man dabei die erstaunlichsten Abenteuer und Geschichten erleben kann, ohne dass einem Grenzen aufgesetzt sind. Ein Ticket nach Schottland ist ihr zweiter veröffentlichter Roman.
Das Buch
Job weg, Freund weg, Wohnung weg. Jo Müller bleibt nichts anderes übrig, als mit Ende dreißig noch einmal zu ihren Eltern zu ziehen. Ein Inserat für ein Garten-Praktikum in Schottland kommt da gerade recht. Mit einer guten Portion Zuversicht im Gepäck fliegt Jo in die Highlands. Doch statt grüner Idylle findet sie dort vor allem harte Arbeit und einen hitzigen, wenn auch ziemlich gutaussehenden, Chefgärtner namens Duncan vor. Fatalerweise denkt Duncan, Jo hätte eine Gärtnerinnen-Ausbildung und treibt sie mit seinen Ansprüchen zur Weißglut. Jo, die eigentlich gelernte Köchin ist, versucht mit allen Mitteln, ihr Manko zu verheimlichen – was natürlich im Chaos endet. Zum Glück ist Duncans kleiner Sohn Nick deutlich verständnisvoller als sein Vater, der erst nach und nach merkt, dass Jo auch in seinem Herzen einiges durcheinandergebracht hat …
Alexandra Zöbeli
Ein Ticket nach Schottland
Roman
Forever by Ullstein
forever.ullstein.de
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Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Mai 2015 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015
Umschlaggestaltung:
ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
ISBN 978-3-95818-042-0
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Der Personalbeauftragte des Altenheims schaute Jo mit aufgesetzter mitleidiger Miene an. Dann wanderte sein Blick wieder zurück auf den Briefumschlag, der vor ihm auf dem Pult lag.
»Es tut uns sehr, sehr leid, Frau Müller. Aber Sie wissen ja wie das ist, die Wirtschaftslage ist bescheiden und die Direktion hat uns beauftragt, Einsparungen vorzunehmen. Da Sie die Letzte waren, die neu ins Team gekommen ist, ist es auch nur fair, wenn die Wahl auf Sie fällt.«
Wahl? Was für eine Wahl, wunderte sich Jo. Doch der Personalbeauftragte fuhr bereits fort: »Natürlich halten wir die Kündigungsfrist von drei Monaten ein.«
Nun war auch bei ihr der Groschen gefallen. Es ging hier nicht um die Wahl der Mitarbeiterin des Jahres, sondern um ihre Entlassung.
»Sie werfen mich raus?«, fragte sie völlig entgeistert. Verwirrt blickte sie zu ihrem Vorgesetzten, der ebenfalls in dem kleinen Personalbüro saß. Sie hatte sich mit ihm nicht immer gut verstanden, da er andere Ansichten von gutem Essen für ältere Menschen hatte als sie. Trotzdem erwartete sie, dass er für sie Partei ergriff und sich einsetzte, immerhin war er ihr Chef. Doch er blieb so stumm, wie der Fisch, den sie vor wenigen Minuten noch angebraten hatte.
Der Personalbeauftragte hielt ihr das Kuvert entgegen.
»Wir sehen leider keine andere Möglichkeit. Die Wirtschaftslage … und beim Essen für die Bewohner können wir ja nicht sparen, nicht wahr?«
Jo blieb schier die Luft weg. Sie würde arbeitslos werden. Und das gerade jetzt, wo auch Markus bereits seit längerer Zeit erfolglos auf Jobsuche war.
»Aber es gäbe doch bestimmt noch Möglichkeiten …«, begann sie, doch ihr direkter Vorgesetzter fiel ihr gleich ins Wort.
»Frau Müller, nun reden wir doch das Ganze nicht schön! Wie Sie mit den Lebensmitteln und unserem Budget umgegangen sind, das können wir uns hier einfach nicht mehr leisten. Meine Anweisungen haben Sie größtenteils ignoriert. Das einzige, was Sie eingehalten haben, war der Dienstplan.«
Der Personalbeauftragte stöhnte und fuhr sich mit der Hand durch das geleckte Haar. Bisher war alles so gut gelaufen und nun ging wegen diesem selbstgefälligen Küchenchef alles den Bach hinunter. Jos Gesicht verfärbte sich dunkelrot. Langsam erhob sie sich von ihrem Stuhl und griff nach dem Umschlag, den der Personalbeauftragte ihr entgegenhielt. Vor den Augen der beiden Wichtigtuer zerriss sie ihn in zwei Hälften. »Na gut! Wenn Sie das so sehen, meine Herren, dann denke ich, werden Sie mich auch während der drei erwähnten Monate nicht benötigen. Nicht wahr?«
»Frau Müller, ich muss Sie daran erinnern, dass Sie einen Arbeitsvertrag unterzeichnet haben. Auch Sie haben die Kündigungsfrist einzuhalten!«
»Dann verklagen Sie mich doch!«, antwortete Jo schnippisch und fuchtelte mit ihrem Zeigefinger vor dem Gesicht des Personalbeauftragten herum. »Aber machen Sie sich dann auf etwas gefasst!«, drohte sie, und ihre grünen Augen funkelten dabei vor Wut. »Ich werde kein Blatt vor den Mund nehmen und jedem, der es wissen will, erzählen, wie hier mit den Bewohnern umgegangen wird. Wie hier eine Zwei-Klassen-Betreuung betrieben wird. Wie hier den reichen Bewohnern das zarte Fleisch aufgetischt wird, während alle anderen auf einem zähen Stück Leder herumkauen können, das sie beim besten Willen nicht die Kehle runterbringen. Auch würde es die Leute bestimmt interessieren, wie das Heim mit abgelaufenen Lebensmitteln Geld spart. Glauben Sie mir, ich hätte einiges zu erzählen.«
»Man wird Ihnen kein Wort glauben«, zischte der Chefkoch.
»Wollen Sie es darauf ankommen lassen?«
»Es bringt doch nichts, wenn wir uns jetzt gegenseitig hochschaukeln. Atmen wir doch alle einmal tief durch und werden vernünftig. Frau Müller, wenn Sie es nicht mehr mit Ihrem Gewissen vereinbaren können, hier die nächsten drei Monate zu arbeiten, wird Sie Herr Huber nun zu Ihrem Spind begleiten, wo Sie Ihre Sachen holen können. Und dann bitte ich Sie, dieses Haus für immer und ohne Aufstand zu verlassen.«
Der Chefkoch schnaubte empört und warf die Hände in die Luft. »Und wer steht heute am Serviceband?«
»Das, meine Herren, hätten Sie sich früher überlegen müssen.« Sophie drehte sich um und verließ das Büro. Huber eilte ihr aufgebracht hinterher. Auf dem Weg zur Garderobe begegneten sie Heidi, die sie entgeistert ansah.
»Was ist denn hier los?«
Doch Jo schüttelte nur den Kopf und machte ihr ein Zeichen, dass sie sie später anrufen werde. Sie hatte Heidi hier bei der Arbeit kennengelernt. Heidi war zehn Jahre jünger als die in diesem Jahr neununddreißig gewordene Jo. Trotz des Altersunterschieds hatten sich die beiden rasch angefreundet. Heidi würde wohl aus Sicht eines Mannes als Knaller beschrieben, denn sie entsprach dem gängigen Schönheitsbild mit ihren langen blonden Haaren, den blauen Augen und einer Figur, von der Jo nur träumen konnte. Wie machte Heidi das bloß? Naschen war eine der Schwächen ihrer Freundin und trotzdem hatte sie eine Figur wie ein Topmodel. Jo hingegen musste eine Schokoladenmousse nur ansehen, und schon landete sie bei ihr auf der Hüfte. Nicht, dass sie dick wäre, nein, aber sie musste stets darauf achten, nicht aus dem Leim zu gehen und verkniff sich daher den einen oder anderen Leckerbissen, was als Köchin nicht gerade einfach war. Aber nun war sie ja den Job los und hätte somit ein Kalorienproblem weniger, dachte sie lakonisch.
Doch eine tolle Figur war nicht alles, rief sich Jo in Erinnerung, denn auch Heidi hatte ihre Sorgen. Immer wieder geriet sie an die falschen Kerle, die sie anscheinend wie die Fliegen anzog. Heidi war einfach viel zu vertrauensselig, fand Jo. Sie hingegen lebte mit Markus bereits seit zehn Jahren in einer festen Beziehung. Von Heirat war bisher nie die Rede gewesen, aber das hatte ja auch noch Zeit.
Schweigend ging sie dicht gefolgt von Huber in die Garderobe.
»Wollen Sie mir etwa beim Umziehen zusehen?«, fauchte sie ihn an.
»Ich will nur sichergehen, dass Sie nichts mitgehen lassen«, rechtfertigte sich Huber.
»Sie können nachher gerne meine Taschen durchsehen, wenn es Sie beruhigt." Mühsam beherrscht verließ Huber den Raum und Jo wechselte aus der Küchenuniform in ihre Straßenkleidung. Schnell packte sie danach ihre Sachen aus dem Spind zusammen. Als sie die Garderobe verließ, hielt sie Huber die geöffnete Tasche unter die Nase, um ihm den Inhalt zu zeigen, dann stapfte sie grimmig Richtung Ausgang. Vor der Schiebetür drehte sie sich noch mal zu ihm um: »Wissen Sie, Herr Huber, ich wünsche Ihnen wirklich nichts Schlechtes im Leben, aber ich hoffe, dass, wenn Sie mal so alt sind wie die Bewohner hier, Ihnen ebenfalls jemand Essen vorsetzt, das Sie mit Ihren übriggebliebenen Zähnen nicht mehr beißen können und bleischwer in Ihrem Magen liegt.« Damit drehte sie sich um und verließ das Gebäude.
»Blöde Kuh!«, brüllte Huber ihr noch hinterher, aber das kümmerte Jo wenig. Sie ging zu ihrem Fahrrad und hob die Tasche mit ihren Sachen auf den Gepäckträger. Leider war diese dann doch zu groß und unförmig, um sie richtig festschnallen zu können, und so musste sie das Rad durch die ganze Stadt nach Hause schieben. Da es erst Mitte März war, lag auf dem Gehweg noch Schneematsch und sie kam nur mühsam voran. Unterwegs hielt sie bei einem Kiosk an, um sich eine Zeitung mit Stellenanzeigen zu besorgen. Daheim angekommen, stellte sie das Rad in den Keller und fuhr mit dem Lift in die vierte Etage des Hochhauses, in dem ihre Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung lag, die sie sich mit Markus teilte. Bestimmt war er zu Hause und würde sie tröstend in die Arme nehmen. Sie kramte den Schlüssel in den Untiefen ihrer Handtasche hervor und ließ sich in die Wohnung.
»Markus? Bist du da?« Sie stellte die Tasche mit ihren Arbeitskleidern auf den Küchentisch und ging dann weiter ins Wohnzimmer. Da drangen plötzlich seltsame Geräusche an ihr Ohr. Sie folgte den Geräuschen Richtung Schlafzimmer und ahnte bereits, was sie zu sehen bekäme, noch bevor sie die Tür erreicht hatte. Doch was sich dann tatsächlich vor ihren Augen abspielte, übertraf ihre kühnsten Vorstellungen. Auf dem Bett lag Markus nackt auf dem Bauch und mit dem Kopf nach unten ins Kissen gedrückt. Auf ihm saß eine etwas zu mollig geratene Domina mit einer Reitgerte, die sie ihm immer wieder auf den blanken Hintern knallen ließ, während er lustvoll stöhnte. Wäre es nicht so tragisch gewesen, hätte Jo lachen müssen, aber es war ihr Freund und … war das nicht …?
»Susi?!«, fragte sie ungläubig. Die maskierte Domina zuckte erschrocken zusammen. Mit einem Sprung ließ sie von ihrem vermeintlichen Opfer ab und verschwand im Bad. Markus hatte sich zu Jo umgedreht und schaute sie ebenfalls leicht verdattert an.
»Es ist nicht so, wie es aussieht!«, meinte er kleinlaut und wusste im gleichen Moment, dass das wohl die falschen Worte gewesen waren.
Jo lachte gereizt auf. »An Dreistigkeit mangelt es dir wirklich nicht!«
»Was machst du überhaupt schon hier?«
Jo ging zum Schrank und stellte sich auf die Zehenspitzen, um den Koffer erreichen zu können, der darauf lag. Eine große Staubwolke nebelte sie ein, als sie ihn nach unten beförderte. Sie öffnete den Kleiderschrank und warf ihre Sachen hastig in den Koffer hinein.
»Was wird das jetzt?«, fragte Markus. »Du wirst doch jetzt nicht hysterisch werden und überreagieren? Wir hatten nur etwas Spaß, Susi und ich.«
Vor Zorn bebend drehte sich Jo zu Markus um: »Den darfst du auch gerne weiterhin haben, aber ohne mich! Geht das schon lange so mit euch beiden?«
Markus schaute sie leicht schuldbewusst an.
»Nein, antworte besser nicht! Vermutlich will ich es gar nicht wissen. Aber warum Susi? Musste es gerade unsere Nachbarin sein? Du hättest doch irgendeine Hure anrufen können, wenn du es so dringend nötig hast!«
»Und mir dann noch eine Krankheit einfangen? Du hättest dich schön bedankt.«
Jo warf weiter ihre Sachen in den Koffer hinein, der sich schnell füllte. »Was bin ich doch für eine dämliche Kuh! Ich dachte immer, du wärst auf Jobsuche, aber stattdessen vögelst du hier rum und lässt dich von mir aushalten!«
»Das stimmt doch so nicht!«, verteidigte sich Markus. »Ich kann nicht acht Stunden am Tag nach einem Job suchen. Gönn mir doch auch ein kleines bisschen Spaß … falls du dich überhaupt daran erinnern kannst, was das ist.«
»Mir mit einer Reitgerte den Hintern versohlen zu lassen, soll Spaß sein? Danke, aber darauf kann ich gerne verzichten!«
»Eben! Siehste, da musste ich ja praktisch nach jemand anderen suchen, der auf meine Wünsche und Bedürfnisse eingeht.«
»Und betrügst mich und den Ehemann von Susi dabei?! Ich kann euch beide echt nicht verstehen!«
Susi kam wie aufs Stichwort völlig angezogen aus dem Bad heraus. »Es tut mir so leid, Jo. Du wirst doch Hans nichts sagen, oder?«
Jo sah Susi voller Abscheu an. Noch vor einer Woche hatten sie einen gemütlichen Raclette-Abend zu viert verbracht. Ihr wurde übel bei dem Gedanken, dass die beiden es bestimmt auch an diesem Nachmittag zusammen getrieben hatten.
»Ihr beide seid einfach nur widerlich!« Sie schloss den Koffer und schleppte ihn zur Tür.
»Lass uns doch erst mal reden«, rief Markus, der mittlerweile aus dem Bett aufgestanden war und ihr nun nackig hinterhereilte.
»Reden?!« Wütend drehte sie sich zu ihrem künftigen Exfreund um. »Jetzt willst du reden?! Ich denke, das hätten wir früher tun sollen. Von mir aus kannst du dir von Susi diese Reitgerte in den Hintern stecken lassen, bis sie oben wieder rauskommt! Mit euch beiden bin ich ein für alle Mal fertig.«
»Wo willst du denn überhaupt hin?«
»Das geht dich zwar nichts an, aber ich bin erst mal bei meinen Eltern.«
»Ah ja, zurück ins warme Nest. Bist ja erst neununddreißig Jährchen jung, da kann man gut wieder zurück zu Mami und Papi.«
Jos Augen sprühten Funken, als sie ihren Koffer noch mal hinstellte. »Wage es nicht, mich als Versagerin hinzustellen. Im Gegensatz zu dir habe ich wenigstens Eltern, denen ich wichtig bin. In unserer Familie kümmert man sich noch umeinander.«
»So kann man es auch nennen, wenn man noch am Rockzipfel hängt«, höhnte Markus. »Weißt du, eigentlich bin ich froh, dass du abhaust. Du bist so bieder und langweilig!«
Susi schlüpfte zwischen den beiden hindurch und machte sich aus dem Staub.
»Ach ja, aber du bist Spannung pur oder wie?«
»Ich wage wenigstens mal was. Aber du, du tust immer schön das, was man von dir erwartet. Gehst pünktlich zur Arbeit, putzt die Wohnung sauber, kochst, und zur Krönung der Woche darf ich dich dann am Sonntagmorgen in Missionarsstellung vögeln. Du hängst mir echt zum Hals raus.«
Jo kämpfte trotzig gegen die aufsteigenden Tränen an. »Du bist das Widerwärtigste, was mir je untergekommen ist, Markus. Und ich weiß nicht, was ich jemals in dir gesehen habe.«
Dann drehte sie sich um und verließ ihr altes Zuhause endgültig.
Draußen auf dem Gehweg rief sie sich ein Taxi, denn mit dem Koffer mochte sie sich nicht noch einmal durch die halbe Stadt kämpfen. Sie war stolz auf sich, vor Markus nicht zusammengebrochen zu sein, und auch jetzt im Taxi heulte sie nicht. Doch als ihre Mutter sie dann mit ausgebreiteten Armen auffing, brach sie schließlich in Tränen aus.
»Dieser Mistkerl!«, brummelte ihr Vater hinter den beiden. »Am liebsten würde ich vorbeigehen und ihm die Zähne einschlagen.« Ihr Vater war mittlerweile siebzig Jahre jung, aber sie hätte es ihm durchaus zugetraut Markus eine reinzuhauen.
»Der Idiot bin wohl eher ich. Wie konnte ich nur so blind sein?«, schniefte sie.
Tröstend legte Maria ihrer Tochter den Arm um die Schulter und führte sie in die Küche. »Ich mache uns jetzt einen Tee und du erzählst mir genau was passiert ist. Danach sehen wir weiter. Du weißt, bei uns ist immer ein Zimmer für dich frei.«
»Danke!«, schniefte Jo.
Nachdem sie ihren Eltern von ihrem bescheidenen Tag erzählt hatte, stützte sie ihre Arme auf der Tischplatte auf und hielt ihren Kopf, der sich tonnenschwer anfühlte. »Vielleicht bin ich ja wirklich so eine Langweilerin? In meinem Alter rennt man doch nicht mehr heulend nach Hause, Markus hat schon recht.«
»Wohin hättest du denn sonst gehen sollen? Für so was sind doch Familien da. Wir halten zusammen, egal was kommt oder passiert.« Ihre Mutter tätschelte ihre Hand. »Bis du einen neuen Job und eine neue Wohnung gefunden hast, bleibst du hier bei uns.«
»Hast du noch Sachen bei Markus in der Wohnung, die du haben möchtest? Ich könnte die mit meinen Kumpels abholen.« Am Gesichtsausdruck ihres Vaters war deutlich abzulesen, dass er bei der Gelegenheit ihrem Ex gleich noch eine Ansage machen würde, die sich gewaschen hatte.
Doch Jo schüttelte nur den Kopf. »Ich will nichts, was mich an diesen Mistkerl erinnert. Was ich vorerst brauche, habe ich in den Koffer gepackt.« Widerwillig musste sie doch etwas schmunzeln. »Irgendwie war es ja schon zum Lachen, das Bild, das die beiden abgegeben haben.« Jo schüttelte nach wie vor ungläubig den Kopf. »Mir tut nur Susis Mann leid.«
»Wirst du ihm etwas sagen?«, erkundigte sich ihre Mutter.
Jo nahm einen Schluck des Tees, den ihre Mutter in einer Tasse vor sie hingestellt hatte. »Nein, das müssen die beiden schon selbst untereinander ausmachen.«
In den darauffolgenden Tagen wurde sie von ihren Eltern so richtig verwöhnt. An einem Abend hatte sie sich auch mit Heidi in einer Bar verabredet. Heidi hatte ihr berichtet, wie Huber das Team nur knapp darüber informiert hätte, dass Jo aufgrund von Einsparungen gekündigt worden wäre.
»Weißt du, ohne dich macht es da einfach keinen Spaß mehr. Ich denke, ich werde auch bald meine Kündigung einreichen. Ich möchte aber zuvor eine andere Stelle haben, da ich meine Miete ja irgendwie bezahlen muss.«
»Ja, das wäre mir auch lieber gewesen. Aber nachdem ich die Kündigung erhalten habe, hätte ich es unter Hubers selbstgefälligem Blick nicht mehr ausgehalten.«
»Und, hast du schon was neues gefunden?«
Jo schüttelte den Kopf. »Ich habe zwar ein paar Bewerbungen abgeschickt, aber noch nichts gehört. Ich möchte auch keinen Job, wo ich bis spät in die Nacht arbeiten muss, was in unserer Branche ja üblich ist. Schließlich werde ich auch nicht jünger.«
»Ach komm schon, Jo, macht dich nicht älter als du bist.«
»Weißt du, Markus hatte irgendwie schon recht. Ich bin langweilig geworden.«
Heidi sah sie entgeistert an. »Spinnst du jetzt?! Du bist überhaupt nicht langweilig!«
»Doch, irgendwie schon. Wann habe ich das letzte Mal irgendwas Außergewöhnliches getan? Mal etwas gewagt? Ich gehe morgens um halb sieben aus dem Haus und komme am Abend gegen halb sieben wieder zurück. Am Wochenende wird eingekauft und die Wohnung auf Hochglanz gebracht …«
Heidi hob die Hand. »Stopp, meine Liebe! Nur weil du das normale Leben einer berufstätigen Frau führst, heißt das noch lange nicht, dass du langweilig bist. Irgendwer muss schließlich die Kohle nach Hause bringen. Lebensmittel fallen bekanntlich nicht einfach so vom Himmel und die Vermieter sind in der Regel auch keine uneigennützigen Wohltäter. Da hat dir Markus einen ganz schönen Floh ins Ohr gesetzt. Dieser Mistkerl!«
Am nächsten Morgen war Jo alleine zu Hause. Sie hatte sich eine Tasse Kaffee gemacht und blätterte lustlos in einem Gartenmagazin ihrer Mutter. Erst ein Artikel über Schottlands Gärten erweckte ihre Aufmerksamkeit. Die Gärten waren wirklich eine einzige Pracht und nach dem langen dunklen Winter war dieses blühende Feuerwerk eine richtiggehende Wohltat. Der Bericht war witzig und schwärmerisch geschrieben. Man konnte aus jedem Wort lesen, dass der Schreiber oder die Schreiberin hin und weg war von dem Land. Jo war zwar schon öfters in England gewesen und sprach fließend Englisch, aber nach Schottland war sie bisher noch nie gereist. Auf einem Bild sah sie einen traumhaft schönen Garten und im Hintergrund leuchtete das Meer dunkelblau. Sie seufzte wehmütig. Es war schon ewig her, seit sie zuletzt Meeresluft geschnuppert hatte. Das Surren ihres Handys unterbrach ihre schwärmerischen Gedanken. Sie wollte danach greifen, als sie aus Versehen den Henkel ihrer Tasse streifte. Die Tasse kippte augenblicklich um und der Kaffee schwappte über den Tisch.
»Mist!« Sie griff mit der einen Hand nach dem Gartenmagazin, das ebenfalls etwas von der dunklen Brühe abbekommen hatte, und mit der anderen noch mal nach ihrem Handy.
»Müller«, meldete sie sich gereizt und ging zur Spüle hinüber, um mit dem Abwaschlappen den Kaffee von dem Artikel zu wischen.
»Ich bin’s, Markus. Leg bitte nicht gleich wieder auf! Es geht um die Wohnung.«
Er hatte Glück, sie wollte wirklich gleich das Gespräch wegdrücken, aber da es um die Wohnung ging, überlegte sie es sich anders. »Was ist damit?«
»Es geht um die Miete bis ich was Neues gefunden habe.«
Über so viel Unverfrorenheit blieb ihr einfach die Luft weg.
»Du hast den Mietvertrag mitunterschrieben«, fügte Markus an.
»Markus, du bist das Hinterletzte!« Damit drückte sie ihn weg. Anschließend rief sie die Hausverwaltung an und erklärte dem Sachbearbeiter ihre Situation. Sie würde die Kündigung der Wohnung noch heute abschicken und bis zum Ende des Mietverhältnisses pünktlich die Hälfte des Mietbetrages überweisen, aber der Rest wäre Sache des Zweitmieters. Der Mann erklärte ihr zwar freundlich, aber dennoch bestimmt, dass sie, da sie den Mietvertrag mitunterzeichnet hätte, solidarisch für den ganzen Betrag hafte. Wenn Markus die andere Hälfte also nicht pünktlich bezahlte, würde man auf sie zurückgreifen. Super!
Nach dem deprimierenden Gespräch mit der Hausverwaltung fiel ihr Blick wieder auf die Zeitschrift und den Artikel. Ein kleiner Absatz weckte da ihre Neugier: »… Zwischenjahr einlegen? Wir nehmen Sie gerne für ein Praktikum bei uns auf. Sie lernen, wie man eine professionelle Gartenanlage pflegt und helfen bei den täglichen Arbeiten mit. Bei Interesse melden Sie sich bei Lochcarron Garden Estate.« Der Absatz endete mit einer E-Mail-Adresse und einer Telefonnummer. Unglücklicherweise konnte sie den Anfang des Textes nicht mehr lesen, da der Kaffee seine Spuren darauf hinterlassen und sie mit dem Abwaschlappen die Sache nur noch verschlimmert hatte. Jo blickte nachdenklich zum Fenster hinaus. Das wäre schon was: für eine Weile mal an der frischen Luft zu arbeiten, das Meer zu riechen und endlich mal aus der Küche herauszukommen. Gärtnern würde ihr bestimmt Spaß machen, auch wenn sie noch keine Erfahrungen damit hatte. Früher hatte sie im kleinen Garten ihrer Eltern geholfen, aber seit sie ausgezogen war, hatte sie nie selbst einen Garten besessen. Aber im Artikel stand ja, man würde in dem Zwischenjahr ausgebildet werden. Dass man Erfahrung mitbringen musste, davon war nicht die Rede. Und wie schwer konnte ein bisschen Gärtnern schon sein? Sollte sie wirklich so einen Schritt wagen? Schottland lag nicht gerade nebenan und ob sie den als schwierig geltenden Dialekt verstehen würde? Andererseits, wann würde sich in ihrem Leben je wieder so eine Gelegenheit für eine Auszeit bieten? Sie hatte keine Verpflichtungen mehr, keine eigene Wohnung und keinen Job. Markus kam ihr wieder in den Sinn, wie er mit höhnisch grinsendem Gesicht gespottet hatte, dass sie nie etwas wage und eine Langweilerin sei. Noch bevor sie ihr Mut wieder verlassen konnte, ging sie zum Computer ihrer Eltern und schaute sich dieses Lochcarron Garden Estate genauer an. Es war eine große Gartenanlage mit einem piekfeinen Fünfsternehotel. Die Fotos aus dem Garten zeigten Teppiche von blauen Frühlingsblumen, Rosen und anderen Pflanzen, die sie nicht kannte, aber wunderhübsch aussahen. Dazu gehörte auch ein Gemüse- und Kräutergarten. Im Waldgarten führte ein hölzerner Steg zum Meer hinunter. Das ganze Anwesen war ein Traum. Das Hotel besaß nur fünfzehn Gästezimmer, führte aber ein Gourmet-Restaurant und einen hübschen Tea-Room, in dem man den Nachmittagstee genießen konnte. Auch Pflanzen und kleine Geschenke wurden vertrieben. Jo sah sich bereits im Garten werkeln und am Abend am Meer sitzen. Sie öffnete das Mail-Programm und schrieb an die Verwalterin, dass sie sehr interessiert wäre, für ein Zwischenjahr bei ihnen im Garten zu arbeiten, und praktisch sofort anreisen könnte.
Als ihre Eltern vom Einkaufen nach Hause kamen, entschuldigte sie sich zuerst bei ihrer Mutter, die Zeitschrift ruiniert zu haben und erzählte dann, dass sie sich auf die Anzeige unter dem Artikel gemeldet habe.
»Aber Liebes, ist das nicht ein bisschen weit weg?«, meinte ihre Mutter besorgt.
»Und du weißt schon, dass die Schotten mit so einem lustigen Akzent sprechen, den man kaum versteht?«, grinste ihr Vater.
Die ohnehin schon leicht angespannte Jo hatte sich in der letzten Stunde genau dieselben Gedanken gemacht. »Na ja, sollte es nicht gehen, kann ich ja wieder heimfliegen. Die Welt ist nicht mehr ganz so groß wie früher.« Ihr Lächeln wirkte etwas zaghaft. »Und noch habe ich ja keinen Bescheid von dem Hotel erhalten. Vielleicht haben sie ja gar keine Praktikumsstelle mehr frei, vielleicht ist das Team schon komplett.«
Doch schon am Abend, als sie ihre E-Mails abrief, sah sie das Antwortschreiben. Sofern sie eine abgeschlossene Berufsausbildung hätte, würde man sie gerne aufnehmen. Es stehe sogar im Moment noch ein Zimmer in der Personalunterkunft für sie bereit. Jo atmete tief ein und aus. Sollte sie es wagen? Sie hörte in ihrem Hinterkopf wieder Markus’ hämische Aussage, wie langweilig sie doch sei.
»Du kannst mich mal!«, zischte sie und schrieb der Verwalterin, dass sie gerne das Angebot annähme und einen der nächsten Flüge nach Glasgow buchen würde.
Und so kam es, dass Jo eine Woche, nachdem sie mit der Verwalterin Mailkontakt hatte, mit einem nervösen Gefühl im Magen im Flugzeug saß. Nach der Landung ging sie mit ihren beiden Koffern zur Bahnstation und kaufte sich ein Ticket nach Oban. Von dort ging es weiter mit dem Überlandbus. Die Bushaltestelle war glücklicherweise in der Nähe des Hotelgeländes. Die großen eisernen Tore waren weit geöffnet und so marschierte sie, ziemlich beeindruckt von der herrschaftlichen Aufmachung des Hoteleinganges, mit ihren schweren Koffern weiter. Doch wenn sie glaubte, das Hotel wäre gleich um die Ecke, so hatte sie sich getäuscht. Sie musste mit ihrem Gepäck weitere fünfzehn Minuten gehen, bis sie das Haupthaus erreichte. Trotz der kühlen Märzluft kam sie ziemlich ins Schwitzen. Erschöpft, aber froh, endlich angekommen zu sein, meldete Jo sich am Hotelempfang.
»Sie müssen Josephine Müller sein.« Eine junge, sehr gepflegt aussehende Frau kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu. »Oh, haben Sie etwa den ganzen Weg mit Ihren schweren Koffern zu Fuß zurückgelegt? Wir hätten Sie doch abholen können.«
Jo lächelte. »Es ging schon. So habe ich bereits einen Teil des Gartens gesehen. Es ist hier ganz zauberhaft.«
»Danke. Ich bin Miss Douglas. Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihre Unterkunft, dann können Sie sich etwas frisch machen. Heute Abend gibt es für Sie ein kleines Willkommensdiner, bei dem Sie die anderen Praktikanten, Gärtner und Gärtnerinnen kennenlernen können. Der Chefgärtner konnte es leider nicht einrichten auch dabei zu sein, aber ihn werden sie dann morgen treffen.«
Miss Douglas führte sie aus dem Hauptgebäude heraus und steuerte auf einen kleinen Golfwagen zu. »Stellen Sie bitte Ihr Gepäck da hinten drauf.«
Jo tat, wie ihr geheißen und setzte sich danach neben die Verwalterin. »Leben Sie schon lange hier?«, erkundigte sie sich.
»Praktisch mein ganzes Leben. Das Hotel gehört meinen Eltern und wird später an mich übergehen.«
»Oh.« Mehr fiel ihr dazu nicht ein. Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten und führte sie durch eine ganz traumhafte Anlage. Schließlich hielt Miss Douglas vor einem größeren Gebäude den Golfwagen an.
»Da sind wir. Hier haben wir die Unterkünfte für unsere Angestellten.«
Jo stieg aus dem Gefährt aus und griff nach ihren Koffern. Miss Douglas machte keine Anstalten ihr zu helfen. Ohne anzuklopfen öffnete sie die Tür und wies Jo an, ihr zu folgen. Im Erdgeschoss gab es eine große Gemeinschaftsküche und ein gemütliches Wohnzimmer mit Fernseher und Kamin. Jeder hätte hier sein eigenes Zimmer, erklärte ihr Miss Douglas. »Und Ihres, meine Liebe, ist das da hinten, gleich neben der Küche.«
Sie öffnete die Tür des erwähnten Zimmers und ließ sie in einen zwar schlichten, aber doch großzügigen Raum eintreten. Es gab ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl und einen kleinen Nachttisch, auf dem eine altmodische Tiffany-Lampe stand. Das Badezimmer wiederum musste sie sich auf dieser Etage mit drei weiteren Leuten teilen.
»Ich lasse Sie jetzt erst mal in Ruhe, damit Sie sich einrichten können. Bringen Sie mir bitte im Verlauf des morgigen Tages ihre Personalien ins Büro, damit ich noch den Papierkram erledigen kann. Die Arbeit beginnt morgens um neun Uhr, die anderen Praktikanten werden Ihnen später zeigen, wo Sie sich einzufinden haben. Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich an den Chefgärtner, den Sie morgen ja kennenlernen werden. Das Abendessen wird heute ausnahmsweise vom Hotel hierher geliefert, da, wie ich ja bereits erwähnt hatte, Sie heute alle gemeinsam essen werden, um Sie im Team willkommenzuheißen. Ich wünsche Ihnen einen spannenden und lehrreichen Aufenthalt hier.«
»Vielen Dank.«
Nachdem Miss Douglas sie allein im Zimmer zurückgelassen hatte, begann Jo, ihre Kleider auszupacken, doch schon bald drangen Geräusche in ihr Zimmer, die wohl die Rückkehr der anderen andeuteten. Mutig öffnete sie die Tür und trat dem Trupp gegenüber.
»Oh, hallo!« Eine junge Frau mit knallroten Haaren hatte sie als erste entdeckt. »Sie müssen die Neue sein.«
Jo lächelte etwas verlegen und streckte ihr die Hand entgegen. »Scheint so. Ich bin Jo. Und ähm, ich entschuldige mich gleich mal vorweg: Mein Englisch ist etwas eingerostet.«
»Ach, du brauchst dich doch deswegen nicht zu entschuldigen. Auch wenn ich schon eine Weile hier bin, hört man mir die Ausländerin noch von Weitem an. Ich bin Marie aus Holland.« Dann zeigte sie nacheinander auf die anderen und stellte sie als Agnes, Giovanni und Olav vor. Die meisten von ihnen waren schon ein paar Monate hier.
»Liz und Greg sind noch draußen, die wirst du später kennenlernen.«
»Wohnen denn alle Angestellten des Hotels hier auf dem Grundstück?«, erkundigte sich Jo.
»Nein, nein. Die meisten wohnen im Dorf. Audrey ist auch nur während der Woche hier. Sie hat gerade erst ihre Ausbildung begonnen und wohnt ansonsten noch bei ihren Eltern. Wo kommst du her, Jo?«
»Aus der Schweiz.«
»Und du willst hier wirklich ein Praktikumsjahr einlegen?«, wunderte sich Agnes. »Bist du dazu nicht schon ein wenig zu alt?«
Jo hätte über diese Frage verletzt sein können, doch sie musste nur laut lachen. »Ja, da hast du vermutlich recht, aber etwas dazulernen kann man schließlich immer und ich brauchte einfach mal eine Auszeit. Da kam mir dieser Job gerade recht.«
Marie hob eine Augenbraue. »Hmm, eine Auszeit? Wenn ich da an unseren Sklaventreiber denke, wirst du wohl eine Auszeit von der Auszeit benötigen.«
»So schlimm?«
»Schlimmer«, meinte nun auch Giovanni. »Aber so sehr es mich freut, dich kennenzulernen, Jo, ich brauche jetzt eine warme Dusche. Wir können uns ja dann später beim Abendessen unterhalten.«
Marie warf ihm einen ihrer Gartenhandschuhe entgegen. »Wenn du glaubst, dass du als Erster das ganze warme Wasser aufbrauchen kannst, täuschst du dich gewaltig, mein Lieber.« Damit rannte sie los ins Badezimmer und schloss die Tür laut krachend hinter sich zu.
Agnes lachte. »Schau nicht so entsetzt, Jo. Das Wasser würde schon für uns alle reichen. Giovanni ist nur ein Genießer und wenn er erst mal unter der Dusche ist, kannst du dir das Badezimmer für eine halbe Stunde abschminken. Komm, bis das Bad wieder frei ist, zeige ich dir schon mal das Haus, oder hat Jane das schon gemacht?«
Jo schüttelte den Kopf und folgte Agnes, die ihr alles genau erklärte, durch die Räume. Die Küche wurde gemeinsam benutzt, aber es gab keine Regelung, wer wann mit dem Putzen an der Reihe war. Das ergäbe sich irgendwie von allein. Auch kaufe jeder seine eigenen Lebensmittel im Dorf ein.
»Wie komme ich dahin, gibt es irgendwo ein Fahrrad?«
»Fährst du kein Auto?«, erkundigte sich Olav, der hinter ihnen aufgetaucht war.
»Ich habe die Fahrprüfung vor Jahren mal gemacht, aber seither habe ich nicht mehr hinter dem Steuer gesessen, es war einfach nicht notwendig. Und hier gleich auf der anderen Straßenseite zu fahren, würde mich wohl etwas überfordern. Nein, ich nehme mir lieber ein Rad, wenn es so was gibt.«
»Ich glaube, im Geräteschuppen habe ich so ein altes Ding herumstehen sehen.«
Die Haustür ging auf und Liz trat Arm in Arm mit Greg ein. Aha, die beiden waren also ein Pärchen. Es stellte sich heraus, dass sie schon seit fünf Jahren hier arbeiteten und sich auch hier kennengelernt hatten. Sie waren Jo auf Anhieb sympathisch.
Später beim Abendessen herrschte eine lockere Stimmung. Jo fühlte sich wohl in der Gruppe, auch wenn sie mit Abstand die Älteste war. Sie wunderte sich nur, wie groß der Garten sein musste, wenn so viele Leute darin beschäftigt werden konnten.
Liz lächelte, als Jo diese Frage laut aussprach. »Er ist riesig. Aber wir sind ja auch noch für die Tiere auf dem Hof verantwortlich, ziehen die meisten Pflanzen selbst groß und haben eine kleine Gärtnerei mit einem Shop. Letzteres ist mein Gebiet.«
Greg schaute seine Freundin stolz an und sagte dann zu Jo: »Du musst dir die Gärtnerei morgen unbedingt ansehen. Liz hat aus diesem ollen Kasten wirklich ein kleines Schmuckstück gemacht.«
»Und der Chefgärtner ist wirklich so schlimm?«, erkundigte sich Jo noch mal und stellte sich vor ihrem inneren Auge einen Typen wie ihren ehemaligen Chef im Altenheim vor.
Greg schaute in die Runde und ein paar Köpfe wurden rot. »Na ja, sagen wir mal so: Er ist ziemlich streng und hat hohe Ansprüche …«
Marie schnaubte auf. »So kann man das auch nennen. Man kann aber auch hohe Ansprüche haben und diese nett und freundlich äußern, ohne einen gleich anzublaffen.«
»Man muss ihn einfach zu nehmen wissen«, meinte Liz versöhnlicher.
»Meiner Meinung nach sollte er anstatt Mr. Scarman eher Mr. Scare Man heißen«, knurrte Marie. »Er kann einem mit seinen Wutausbrüchen echt das Fürchten lehren. Du hättest hören müssen, wie er Audrey heute wieder zusammengestaucht hat. Dabei ist sie doch erst im ersten Lehrjahr. Ich kann mich noch gut erinnern, was für einen Mist ich in dieser Zeit gebaut habe.«
Greg blickte amüsiert zu Audrey. »Du hättest aber auch wirklich nicht das Tor zu den Schweinen offen lassen sollen. War ja klar, dass die es sich gleich im frisch angesäten Gemüsebeet gemütlich machen.«
Giovanni lachte übers ganze Gesicht. »Aber es war herrlich zuzusehen, wie Scare Man hinter den Schweinen herjagte.« Gelächter ging durch die Gruppe und auch Jo kicherte, als sie sich vorstellte, wie die Schweine mit ihren Schnauzen die feinkrümelige Erde durchwühlt hatten und sich von dem tobenden Chefgärtner nicht wirklich stören ließen.
»Wir können alle viel von ihm lernen«, meinte Liz dann wieder ernster. »Immerhin hat er schon zwei Goldmedaillen auf der Chelsea gewonnen.«
»Chelsea? Was ist das?«, fragte Jo nun neugierig.
»Wo hast du denn gelebt?«, erkundigte sich Olav erstaunt. »Das ist die Gartenmesse überhaupt. Die ist doch der Traum eines jeden Gärtners.« Er schüttelte verständnislos den Kopf.
»Ah … die meinst du.« Jo tat, als wüsste sie, um was es ging und nahm sich vor, dies im Internet nachzulesen. Sie schien wirklich noch ein absolutes Greenhorn zu sein was das Gärtnern betraf. Aber schließlich war sie ja hier, um etwas zu lernen.
»Sei einfach pünktlich bei der Arbeit und tu, was er sagt, dann wirst du auch mit ihm auskommen«, riet ihr Liz am Ende noch.
In ihrer ersten Nacht schlief Jo alles andere als gut. Sie war aufgeregt wegen dem, was auf sie zukommen würde und fragte sich, ob sie mit ihrem neuen Chef zurechtkommen würde. Mittlerweile hatte er in ihrem Kopf die Gestalt ihres früheren Chefs angenommen – mit einer Prise Hitler und einem Hauch Prinz Charles. Uff, was für eine explosive Mischung! Völlig gerädert stand sie schließlich um acht Uhr auf und gönnte sich als erstes eine Tasse Kaffee. Sie überließ den anderen den Vortritt im Bad, das schien ihr nur gerecht, da sie ja die Neue war. Als sie frisch geduscht in die Küche kam, hatten alle das Frühstück bereits beendet und waren verschwunden. Nur das schmutzige Geschirr stand noch in der Spüle. Aus alter Gewohnheit in ihrem früheren Job ließ Jo Wasser in die Spüle ein und erledigte den Abwasch. Als sie schließlich vor die Tür trat, war immer noch keiner der anderen Praktikanten zu sehen. Doch Agnes hatte ihr ja am Vorabend bereits alles gezeigt und so wusste sie, wo der Sammelplatz war. Gemütlich schlenderte sie in den ersten Sonnenstrahlen des Tages über den Kiesweg. Als sie am Platz eintraf, stand nur ein Mann lässig an einen Baum gelehnt da und biss gerade geräuschvoll in einen Apfel. Er betrachtete sie von oben bis unten und wischte sich mit dem Ärmel den Saft des Apfels von den Mundwinkeln ab. Gott, sah der Kerl gut aus! Jo versuchte, sich von seinen dunklen blauen Augen zu lösen, doch er sah sie so eindringlich an, dass es ihr schier den Atem raubte. Sie musste all ihre Willenskraft aufwenden, um ihren Blick abzuwenden. Gelassen hob er den Apfel an den Mund und biss erneut ab. Er hatte noch kein Wort an sie gerichtet, sondern kaute einfach hingebungsvoll weiter und schien wie sie zu warten.
»Und ich dachte schon, ich sei zu spät«, meinte Jo mit einem verlegenen Grinsen. »Wissen Sie, man hat mir noch eingeschärft, dass dieser Typ, also der Chefgärtner, Zuspätkommen überhaupt nicht abkann.«
Der Mann gab nach wie vor außer Kaugeräuschen nichts von sich, was Jo langsam nervös machte, und wenn sie nervös war, begann sie zu plappern. »Er soll ja ein ziemliches Ekelpaket sein. Kennen Sie ihn schon?«
Der Typ nickte nun wenigstens.
»Und ist er wirklich so schlimm wie man hört?«
Er warf das Gehäuse des Apfels schwungvoll in den Garten und stieß sich vom Baum ab. »Was hört man denn so von ihm?«
Eigentlich hätte diese Aussage Jo eine Warnung sein sollen. Aber sie war mittlerweile so angespannt, dass sie einfach weiterplapperte.
»Na ja, man nennt ihn hinter seinem Rücken Scare Man, das sagt doch alles. Ich bin übrigens Jo, die neue Praktikantin.« Sie streckte ihm die Hand hin, die er geflissentlich ignorierte und stattdessen einfach an ihr vorbeiging.
»Na, dann kommen Sie mal mit, Jo, damit ich Ihnen Ihren ersten Job zeigen kann.«
»Ähm, sollten wir hier nicht besser warten, bis die anderen da sind und der Chef kommt?«, fragte sie verunsichert. »Wer sind Sie überhaupt?«
Er drehte sich nur kurz zu ihr um und in seinem Gesicht war kein Lächeln zu erkennen. »Scare Man. Und Sie sind definitiv zu spät!«
Mist, warum hatte sie bloß ihre große Klappe nicht gehalten? Sie beeilte sich, hinter ihm herzurennen.
»Es tut mir leid!«
»Dass Sie zu spät sind oder dass Sie die Wahrheit gesagt haben?«
»Beides«, kam es hinter seinem Rücken kleinlaut hervor.
Vor einem kleineren Gebäude machte er schließlich halt. »Erstens kenne ich meinen Ruf und zweitens gilt hier: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Sie werden den Schweinestall ausmisten. Das ist immer der Job desjenigen, der zuletzt eintrifft. Ich schätze mal, das haben Ihre netten Kolleginnen und Kollegen Ihnen nicht verraten.«
Daher der rasche Aufbruch, ohne das Geschirr zu spülen.
Er schaute an ihr herunter. »Ist das Ihre Arbeitskleidung?«
Sie trug Jeans, einen dicken warmen Wollpullover mit einer Weste darüber und Halbschuhe.
»Was ist daran auszusetzen?«
»Nichts, wenn Sie die Schuhe danach wegschmeißen wollen.« Er deutete Richtung Haupthaus. »Gehen Sie zu Miss Douglas und richten Sie ihr aus, Sie bräuchten die Greenhorn-Ausstattung. Anschließend kommen Sie zurück und misten den Schweinestall aus. Schubkarre, Schaufel und Mistgabel finden Sie gleich neben dem Stall. Der Misthaufen ist hinter dem Haus, Strohballen können Sie mit der Schubkarre aus dem Gebäude da drüben holen. Viel Spaß!« Damit schien alles gesagt zu sein. Der Chefgärtner drehte sich um und stampfte mit großen Schritten davon.
Jo sah ihm entgeistert hinterher. Der Typ war wirklich so unmöglich, wie er ihr beschrieben worden war. Etwas eingeschnappt machte sie sich auf den Weg zum Haupthaus. Da sie sich auf der Anlage nicht auskannte, verlief sie sich prompt und brauchte eine Ewigkeit, bis sie endlich am Empfang stand und nach Miss Douglas fragen konnte.
»Ah, wenn Sie schon mal da sind, meine Liebe, können Sie mir auch gleich noch Ihre Personalien und den Fähigkeitsausweis geben, dann müssen Sie sich nicht noch einmal herbemühen.«
Jo schaute zurück in den Garten, als würde der gefürchtete Chefgärtner gleich hinter der nächsten Ecke lauern. »Ich weiß nicht, ich bin schon etwas spät dran und Mr. Scarman ist eh schon leicht angesäuert, weil ich nicht pünktlich erschienen bin.«
Miss Douglas lächelte von oben herab. »Mr. Scarman ist auch nur ein Angestellter, meine Liebe, auch wenn er sich manchmal benimmt, als gehöre das alles hier ihm. Jetzt folgen Sie mir bitte ins Büro, dann können wir den Papierkram gleich erledigen.«
»Ich habe aber den Fähigkeitsausweis nicht hier. Ich wusste nicht, dass Sie den brauchen würden.« Sie hatte nicht angenommen, dass ihre Kochlehre hier von Bedeutung wäre.
»Dann lassen Sie ihn sich eben herschicken.«
Zwanzig Minuten später war Jo mit Gummistiefeln, einem Paar Arbeitsschuhen, zwei Pullovern, drei Arbeitshosen und zwei T-Shirts auf dem Weg zurück zum Schweinestall.
»Sie haben ja noch nicht einmal angefangen!«, schimpfte Duncan, als er aus dem Stall hinaustrat. Er war zurückgekommen, um zu sehen, wie sie sich anstellte.
»Lassen Sie Ihren Ärger nicht an mir, sondern an Ihrer Chefin aus. Ich musste ihr noch meine Personalien geben.« Langsam gingen Jo die Leute hier echt auf die Nerven. Sie legte die erhaltenen Kleider säuberlich auf den Fenstersims, zog die Schuhe aus und schlüpfte in die Gummistiefel. Dann ging sie, ohne einen weiteren Blick auf Duncan zu werfen, an ihm vorbei in den Stall. Duncan folgte ihr.
»Ähm, Sie …«
Wütend drehte sich Jo zu ihm um und ihre grünen Augen loderten vor Zorn. »Ich hab’ noch nicht mal angefangen, es kann also unmöglich sein, dass ich bereits etwas falsch gemacht habe. Man braucht keinen Hochschulabschluss, um Schweine auszumisten. Haben Sie nichts anderes zu tun als mich hier zu überwachen?«
Überrascht trat Duncan einen Schritt zurück.
Jo verschaffte sich einen Überblick und erkannte fünf Schweine und einen Eber. Dann griff sie nach der Schubkarre und der Mistgabel, öffnete das Gatter und trat ein.
Gespannt verfolgte Duncan das Geschehen. Er kannte nämlich Heribert und hatte Jo lediglich warnen wollen. Doch wer nicht hören will, muss fühlen. Bereits etwas schadenfreudig wartete er ab, und Heribert enttäuschte ihn nicht. Kaum hatte er erkannt, dass jemand in seinem Gehege war, wandte er den Kopf und stürmte laut quietschend auf Jo zu. Diese schrie erschreckt auf und wollte gleich wieder aus dem Gehege rennen, doch als sie Duncans lautes Lachen hörte, blieb sie stehen.
»Besser, Sie beeilen sich mit dem Ausmisten, meine Teure. Er tut übrigens nichts, er will nur spielen.«
Ängstlich schaute sie dem Schwein, das kurz vor ihr stehenblieb, in die Augen. Die anderen Schweine ließen sich Gott sei Dank vom Gehabe ihres Kumpanen nicht anstecken und blieben, wo sie gerade waren.
»Feines Schweinchen.«
»Hmm, ich weiß nicht, ob es klug ist, ihm zu sagen, wie er schmeckt. Er heißt übrigens Heribert.« Die Belustigung aus Duncans Stimme war nicht zu überhören.
Jo streckte Heribert die Hand hin, um ihn schnuppern zu lassen, und strich ihm dann vorsichtig über die borstige Backe. Es war ein großes Tier, das ihr bis zu den Hüften kam. Heribert trottete näher, so dass er seinen Kopf an ihren Beinen reiben konnte. Vorsichtig begann sie, seine Seite zu streicheln, als Heribert sich hinschmiss und sich von ihr auch gleich noch den Bauch kraulen ließ.
»Wenn Sie dann mit der Schmusestunde fertig sind, melden Sie sich bei mir, dann zeige ich Ihnen, was es sonst noch zu tun gibt. Übrigens lässt es sich einfacher arbeiten, wenn man die Schweine zuerst in den Freilaufstall lässt, bevor man mit dem Ausmisten beginnt … und ja, dazu braucht es keinen Hochschulabschluss, sondern lediglich gesunden Menschenverstand, der wohl nicht jedem gegeben ist.« Duncan stampfte etwas enttäuscht aus dem Stall. Eigentlich hatte er gehofft, dass Heribert dieser Jo das Fürchten lehrte und sie schreiend aus dem Gehege rennen würde. Normalerweise klappte das auch ganz ordentlich bei den Neuen, nur anscheinend bei der hier nicht. Vermutlich lag es daran, dass sie bereits etwas älter war und sich nicht mehr so leicht einschüchtern ließ, nicht mal von ihm.
Kurz vor halb zwölf war Jo fertig. Sie wechselte die Schuhe und machte sich dann auf den Weg, die anderen zu suchen. Dabei ging sie durch ein kleines Wäldchen, in dem der Boden über und über mit blauen Blüten bedeckt war. Staunend blieb sie stehen. Als sie Schritte hinter sich hörte, drehte sie sich um. Es war Duncan.
»Das hier, das ist ganz zauberhaft. Was sind das für Blumen?«
Erstaunt sah er sie an. »Sie kennen die nicht?«
»Würde ich sonst fragen?«
»Es sind Bluebells. Eigentlich kennt die hier jedes Kind.«
»Bei uns gibt es die nicht. Ich habe so etwas Schönes noch nie gesehen.«
Er lächelte etwas versöhnlicher. »Ja, sie blühen immer Ende März und vermehren sich praktisch von selbst. Trotzdem braucht es sehr viele Zwiebeln und einige Jahre, bis so ein Teppich entsteht.«
»Ich weiß, dass es von mir jetzt etwas sehr frech ist, zumal ich heute ja auch zu spät gekommen bin, aber dürfte ich vielleicht bereits Mittagspause machen? Ich müsste noch einige Dinge einkaufen gehen. Ich bin ja erst gestern angekommen und konnte noch keine Lebensmittel besorgen.«
»Sie haben das Ausmisten wirklich penibel erledigt, daher drücke ich ein Auge zu. Seien Sie pünktlich um halb zwei wieder am Treffpunkt.«
»Kann ich mir das Fahrrad im Geräteschuppen ausleihen?«
Erstaunt sah er sie an. »Haben Sie keinen Führerschein?«
»Doch schon, aber das letzte Mal bin ich vor zirka zehn Jahren gefahren. Ich habe in der Stadt gelebt und da brauchte ich keinen eigenen Wagen.«
Er nickte. Ein Stadtpüppchen, das hatte ihm hier gerade noch gefehlt. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können, aber seien Sie pünktlich wieder da.«