Cover

Über dieses Buch

»Seine Anfänge beim Studentenkabarett reichen zurück in die Zeit vor der Währungsreform: So lange, so zäh und mit so wunderbar eigensinnigem Sendungsbewusstsein wie Hüsch ist kein anderer satirischer ›Kleinkünstler‹ durch die Bundesrepublik getingelt; in einer Unzahl von Tourneen hat er als Alleinunterhalter mehreren Publikumsgenerationen mit dem Witz der Vernunft heimgeleuchtet. Der Begriff ›Kabarettist‹ traf seine feingedrechselte Kunst der Pointe nur bedingt. Nicht der politischen Aktualität jagte er nach, seine Domäne als Bänkelsänger und Entertainer mit der Orgel war das tragikomische Elend des Tagtäglichen: Er haderte mit der Dummheit der Menschen, weil er sie liebte, deshalb nannte er sich einen ›philosophischen Clown‹. Sein altersmildes letztes Soloprogramm, vor fünf Jahren, hieß voller Zuversicht ›Wir sehen uns wieder‹.« (Der Spiegel vom 12. Dezember 2005)

Der Autor

Hanns Dieter Hüsch (1925–2005) war Schriftsteller, Kabarettist, Liedermacher, Schauspieler, Synchronsprecher und Rundfunkmoderator. Mit über 53 Jahren auf deutschsprachigen Kabarettbühnen und 70 eigenen Programmen gilt er als einer der produktivsten und erfolgreichsten Vertreter des literarischen Kabaretts im Deutschland des 20. Jahrhunderts.

Hanns Dieter Hüsch: Das literarische Werk

Herausgegeben anlässlich seines 90. Geburtstags am 6. Mai 2015 von Helmut Lotz

Ich sing für die Verrückten
Die poetischen Texte

Denn in jeder Leiche ist ein Kind versteckt
Die kabarettistischen Texte

… so dass sich die Landpfleger sehr verwundern
Die politischen Texte

Ich habe nichts mehr nachzutragen
Die christlichen Texte

Das Gemüt is ausschlaggebend. Alles andere is dumme Quatsch
Die Niederrhein-Texte

… dass die Erziehung seiner Kinder eine völlig verfahrene war
Die Hagenbuch-Texte

Gemacht aus Bauern- und Beamtenschwäche
Die autobiografischen Texte

… am allerliebsten ist mir eine gewisse Herzensbildung
Die Interviews

Hanns Dieter Hüsch

Gemacht aus Bauern- und Beamtenschwäche

Die autobiografischen Texte
Das literarische Werk, Band 7

Mit einem Vorwort
von Franz Hohler

Edition diá

Inhalt

Vorwort

Du kommst auch drin vor

Biografisches

Mainz

Köln

Zeitgenossen

Zum Kabarett

Editorische Notiz

Textverzeichnis

Impressum

 

Frontispiz

Reisender Meister

Einmal, nachdem ich in Zürich eine Vorstellung von Hanns Dieter Hüsch im Bernhard-Theater besucht hatte und wir nachher zusammen etwas essen gegangen waren, verabschiedete er sich mit den Worten: »Ich gehe noch ein Seitchen schreiben.«

Ich schaute auf die Uhr, Mitternacht war vorbei. Aber er musste noch ein Manuskript abliefern in den nächsten Tagen, für den Südwestrundfunk oder den Saarländischen oder für wen auch immer, und er ging davon aus, dass er jeden Tag eine Seite weiterkommen sollte, und heute war die Anreise und die Premiere gewesen, da war er nicht dazu gekommen, also blieb ihm nur noch die Nachtarbeit. Ich glaube, es war meine Frau, die ihn dann fragte, was denn wäre, wenn ihm nichts in den Sinn käme. Seine Antwort war ebenso schnell wie klar: »Das kann ich mir gar nicht leisten.«

Und so habe ich ihn immer gekannt: als einen, der imstande war, immer und überall an seinen Texten zu arbeiten, als einen auch, der so viele Aufträge annahm, dass er sie gar nicht anders bewältigen konnte, als überall und immer an der Arbeit zu sein. Ein Handwerker, ein fahrender Geselle, ein reisender Meister.

Wo und wann immer Hanns Dieter Hüsch unterwegs war, er war an der Arbeit. 1996 sind wir mit einem gemeinsamen Programm aufgetreten und mit unserem Tourneeleiter Peter Neumann im Auto kreuz und quer durch Deutschland getourt, von Hamburg nach Freiburg, von Garching nach Wuppertal, und Hüsch brachte etwas fertig, was ich von keinem anderen Künstler kenne: Er konnte auch im Auto schreiben. Während Peter Neumann mit 160 Stundenkilometern Kolonnen von Sattelschleppern, Gemüse- und Möbeltransportern überholte, saß Hanns Dieter unberührt und in sich selbst versunken auf dem Beifahrersitz, als wäre er zu Hause hinter dem Schreibtisch, ein Buch auf seinen Knien, und schrieb an einem Text, denn auch auf dieser Tournee war es wie immer bei ihm, er hatte wieder jemandem einen Beitrag versprochen und brachte ihn nur zustande, wenn er jeden Tag ein Seitchen schreiben konnte.

Wenn ich mir all die Seitchen in diesem elektronischen Buchband anschaue und sehe, wie viele davon seinen zwei Wohnorten Mainz und Köln gewidmet sind, erkenne ich darin ein kleines Stück Heimweh des unablässig Reisenden, der immer auch auf der Suche nach seiner Herkunft und seiner Heimat war, und es ruft mir einen seiner Lieblingssätze aus der Literatur in Erinnerung, den er mir mehr als einmal zitiert hat. Als Peer Gynt nach Jahren der Wanderschaft und des Weltabenteurertums zurück nach Hause kommt, fragt er Solvejg, die ein Leben lang auf ihn gewartet hat: »Wo war ich?« Und Solvejg antwortet ihm: »In meinem Glauben, in meinem Hoffen, in meinem Lieben.«

»Tja«, sagte der reisende Meister dann und seufzte ein bisschen.

Franz Hohler, 2015

Franz Hohler (* 1943) ist Schriftsteller, Kabarettist und Liedermacher. Neben zahlreichen Auszeichnungen erhielt er 2014 den Johann-Peter-Hebel-Preis. Zuletzt erschien »Der Autostopper. Die kurzen Erzählungen« (München: Luchterhand 2014).

Du kommst auch drin vor

Orthopädie und Entertainment

Mein Leben verdanke ich meinen Füßen. Natürlich hatte niemand damit gerechnet; denn meine Füße standen bei meiner Geburt 180 Grad exakt nach hinten und in der Achse 90 Grad nach innen, so dass, wenn ich gleich zu Beginn hätte tanzen wollen, um zu zeigen, dass ich ein neuer Eulenspiegel, nicht aus Magdeburg oder aus Flandernland, aber vom Niederrhein bin  – dann hätte ich auf den Enkelknochen hin und her springen müssen. Das hätte gewiss recht komisch ausgesehen. Aber keiner hatte das vorausgesehen. Meine Eltern nicht. Meine Großeltern nicht. Und ich auch nicht. Und sofort lagen sich die von Mutters Seite mit denen von Vaters Seite in den Haaren. Wie im Mittelalter. Und die von Mutters Seite sagten sofort, dass die von Vaters Seite in einem kleinen Dorf namens Alpen ja schon seit Jahrtausenden Inzucht getrieben, und dadurch wären jetzt meine vermaledeiten Füße zum Vorschein, ans Tageslicht gekommen. Und die von Vaters Seite sagten sofort, dass die von Mutters Seite schon immer sehr trunksüchtig gewesen seien, und nicht zuletzt sei ja meine Mutter am Zapfhahn großgezogen worden, und so sei es kein Wunder, dass der Junge gleichsam als Strafe Klumpfüße bekommen habe. Und dann sagten die von Mutters Seite wieder, dass die von Vaters Seite ja eigentlich doch Proletarier seien und dass sie froh sein könnten, dass ihre Adele, meine Mutter, überhaupt den Heinrich, meinen Vater, genommen habe, denn ihre Adele hätte, weiß Gott, eine bessere Partie machen können, weiß Gott. Und dann sagten die von Vaters Seite wieder, dass die von Mutters Seite sich nur nichts einbilden sollten, sie wären auch einfache, aber anständige Leute. Und so weiter, und so weiter. Das ging so bis zum Tode meiner Mutter. Und da sagte ein Bruder meines Vaters, dass es ja doch für die Adele wohl ganz gut sei, sie wäre ja jetzt erlöst, und sie hat ja auch unseren Hein viel Geld gekostet. Da wurden die Schwestern meiner Mutter, Elisabeth, Anna, Katharina, Maria und Margarete, wachsbleich und schneeweiß an Haut und Haaren und guckten die von Vaters Seite mit dem Hintern nicht mal mehr an. Das war zu viel, denn ihre Adele, die Jüngste, meine Mutter, war ihre Lieblingsschwester und hatte genug Elend mitgemacht, zuerst die Steißlage bei meiner Geburt und den Kaiserschnitt und dann meine Füße und zuletzt die Rückenmarkskrankheit, genannt multiple Sklerose, das war zu viel. Und es soll ja im Leben schließlich nicht alles für die Katz sein: Wenn man schon sechs Monate in einem Wasserbett liegt, um eine offene Wunde direkt über dem Gesäß zu heilen, meine Mutter hatte sich wegen der Lähmung der Beine und des Unterleibs durchgesessen, und dann doch zuletzt an einer Blutvergiftung stirbt, dann versteht man die Welt nicht mehr. Ich habe damals überhaupt nichts verstanden, nur alles mitgekriegt, wie man sagt, und alles ging immer nur von einer Krankheit zur anderen. Und wenn es mal zwei Jahre gutging, dann wurde man schon misstrauisch und war auf der Hut. Es muss doch bald wieder irgendetwas passieren. Und dann hat man natürlich auch gesagt, dass die ganze Rückenmarksgeschichte, so sagt man am Niederrhein, Rückenmarksgeschichte, sicherlich auch mit meinen vermaledeiten Füßen zusammenhinge, weil das ja wohl ein Schock gewesen sei. Aber was sollte ich machen? Ich war nun mal da und machte der Welt Kummer. Und folgende Frage ging ständig reihum: Was wird aus dem Jungen wohl werden? Ich war ein Sorgenkind. Und so blieb mir eigentlich gar nichts anderes übrig: Ich musste ein Glückskind werden! Und bin es auch geworden, gar keine Frage, und zwar mit Hilfe all derer, die sich um mich Sorgen gemacht haben. Und das sind genau die von Mutters Seite und die von Vaters Seite. Jetzt sind sie natürlich alle schon längst im Himmel und gucken zu, was ich so mache. Und da kann ich hundert Jahre alt werden, dann bin ich für die da oben immer noch »de kleine Jung« von Adele Sonnen, die ja wirklich am Zapfhahn großgezogen worden ist und es so schwer mit mir hatte, weil ich ja ein komplizierter Junge war, obwohl ich heute natürlich meine Geburt ganz anders beschreibe. Und wenn ich gefragt werde, wann ich denn geboren worden sei, sage ich immer, am 6. Mai 1925  – zusammen mit dem damaligen deutschen Kronprinzen, und wenn der Kaiser geworden wäre, hätte ich schulfrei gehabt. Aber so genau wollen es die meisten gar nicht wissen, im Gegenteil, sie wollen es noch genauer wissen, sie wollen von mir immer die genaue Zeit wissen, also morgens, abends oder in der Nacht, und das kann mir jetzt kein Mensch mehr sagen, denn alle meine Verwandten sind ja unter der Erde, und ich hab nur noch eine Cousine, die wohnt aber in Northeim und kann es deshalb auch nicht wissen. Und ich hab noch einen Vetter, dessen Vater lange Zeit Bürgermeister war, aber der ist zu schüchtern, was für ihn spricht. Dann gibt es noch zwei Vettern von Mutters Seite, oder sogar drei, aber die sind verschollen. Und einen Vetter von Vaters Seite, hinter dem sind alle immer her, weil er ein Hochstapler ist. Also, und wenn ich dann den Geburtstagsforschern, Jägern und Sammlern sagen muss, dass ich meine genaue Geburtszeit nicht mehr weiß, dann sagen die immer: Jaaa, dann können wir auch keine Schicksalsbestimmung von Ihnen machen, wenn Sie nicht genau wissen, zu welcher Stunde Sie auf die Welt gekommen sind, und welche Venus in welcher Transparenz zum Stier steht, und was die dann alles erzählen. Aber ich weiß es wirklich nicht mehr. Aber wie, das weiß ich noch genau, denn ich sagte noch: »Langsam, langsam!«, da hatten die mich aber schon am Wickel, die Brüder. Ich war, wie schon geschrieben, eine komplizierte Steißlage, weil, ich hatte schon von Anfang an einen niederrheinischen Dickkopf, und dann natürlich Kaiserschnitt, logisch, und dann hab ich gleich zu den Ärzten gesagt, die alle um mich herumstanden:

Ja, dann mal ran ans Speck, was sein muss, muss sein, guten Morgen!

Obwohl es, glaube ich, Nacht war, aber das weiß ich eben nicht mehr. Und dann haben die mich furchtbar verhauen, damit ich also Luft bekam, und da war wieder die große germanisch-katholische Schwester dabei, mit dieser weißen Tüte auf, die begleitet mich ja mein ganzes Leben, und zu der hab ich damals, das weiß ich noch wie heute, gleich gesagt:

Ich hätte gerne ein Salamibrot, doppelt zugeklappt.

Ich weiß nicht, warum gerade Salami. Und da sagte die zu mir:

Nix, von wegen Salamibrot. Heute gibt es Linsensuppe.

Also gut, hab ich da gesagt.

Ja, und dann hab ich ein bisschen mit den Ärzten zusammengesessen, die haben mir dann gesagt, dass ich jetzt auf der sogenannten Welt wäre, aber das wusste ich ja schon lange, und hab denen noch gesagt, sie sollten jetzt mal nach Hause gehen, ich käm schon allein zurecht, und dann sind die auch nach Hause, also erst haben sie sich noch stundenlang die Hände gewaschen, und dann hat mich einer noch gefragt, ob er mich im Auto mitnehmen könnte, er hätte ungefähr den gleichen Weg, nee, hab ich gesagt, ich geh jetzt erst nochmal zu meiner Mutter, weil, wir müssen noch die Zeitungsannonce besprechen, und das haben wir dann auch gemacht und haben gelogen, was das Zeug hielt: Hiermit zeigen wir die Geburt eines prächtigen, hübschen, gesunden Stammhalters an! Kein Wort stimmte. Prächtig war ich nie, hübsch nee, hüsch schon, und gesund, das war die Notlüge für die Leute, obwohl es doch die ganze Stadt sofort wusste. Aber in einer Kleinstadt muss immer ein bisschen was vertuscht werden, sonst kommt man da auf keinen grünen Zweig. Und mein Vater war ja erst ein kleiner preußischer Verwaltungsobersekretär, obwohl er gut singen konnte. Er hatte meine Mutter in dem Tanzzelt von meinem Großvater väterlicherseits eines Sonntags kennengelernt. Und meine Mutter war eine schöne Frau. Sie sah aus wie eine Zigeunerin. Und mein Vater sah aus wie ein Skandinavier, der sich nach Holland verlaufen hatte und nun an der Ecke stand und nicht mehr weiterwusste. Und da kam meine Mutter des Wegs, mit vollem Namen Adelheid Auguste (wenn du nicht willst, dann musste, sagten die unflätigen Männer immer), und hat sich meinen schwachen Vater unter den Erbarmungsnagel gerissen und dann mit ihm gelebt und gelitten. Meine arme Frau Mutter, die so einen schönen Pelzmuff hatte, in den sie im Winter ihre beiden Hände steckte, um sich zu wärmen. Dann sah sie wirklich aus wie eine Zarentochter, obwohl sie nur die jüngste Tochter eines niederrheinischen Schankwirtes war. In meiner Mutter waren oft alle Menschen versammelt: Spanier, Preußen, Franzosen, Österreicher, Lothringer und Römer. Und ich natürlich, ich hatte ja auch neun Monate in ihr gesteckt. Und ich soll ja auch mit pechschwarzen Haaren auf die Welt gekommen sein. Die fielen aber urplötzlich aus, und auf meinem kleinen Schädel machten sich dann diese irischen Rosshaare breit, Drahthaare, rostrot. Ich war, glaube ich, Vaters Kind und Mutters Kreuz. Ich glaube, sie hätte gerne einen anderen Sohn gehabt. Und mein Vater, der aus Homberg am Rhein, gegenüber von Ruhrort, kam und eigentlich Kapitän oder Tenor werden wollte, brachte mich meist abends zu Bett. Ich versuche immer mal wieder, mich so weit wie irgend möglich zurückzuerinnern. An den Anfang, ganz an den Anfang kommt man nie. Ich weiß auch mein erstes Wort nicht mehr. Aber ich weiß noch, wie ich mit zwei Jahren eine Treppe raufkrabbelte, immer weiter krabbelte, bis ich meine Omma mütterlicherseits sah, und die sagte dann:

Da kömp ja mein Stömmken.

Sie hatte immer ein schwarzes Kopftuch um, war eine geborene Lohbeck und bestand nur aus Gemüt, hatte zwölf Kinder in die Welt gesetzt und kannte Leben und Sterben in- und auswendig. Sie hatte sich diesen Jakob Sonnen zum Mann genommen, der zuerst Fuhrmann war und sich dann die winzige Wirtschaft »Zum kleinen Reichstag« in Moers auf der Uerdinger Straße gekauft hatte. Und das jüngste von diesen zwölf Kindern war eben meine Mutter, die auch später, wenn es Bier zu trinken galt, einen gewaltigen Zug am Leib hatte, und sie sagte dabei immer:

Der erste Schluck ist der beste!

So bin ich immer durch die Welt gezogen und hab all diese Sätze aufgeschnappt, in meinem Kopf gespeichert und später wieder ausgespuckt. Ich weiß nicht, wie die Fantasie in meinen Kopf gekommen ist und die Melancholie. Beide gehörten immer zu meinen Waffen, von klein auf. Meine Mutter fuhr mich im Kinderwagen ins Krankenhaus Bethanien. Dort meinte nämlich ein ehrgeiziger Chirurg namens Försterling meine Füße schnell in den Griff zu bekommen, und zwar mit Bandagen, Schienen und Ledergamaschen. Alles dummes Zeug. Manchmal meinen Chirurgen wohl, sie könnten auch mal eben den Orthopäden spielen. Aber meine ratlosen Eltern wussten im ersten Moment einfach nicht, was tun, wohin mit dem Jungen. Und was weiß man schon im ersten Moment. Nichts. Und mein Vater war zwar schon Obersekretär, aber völlig unbeholfen. Noch unbeholfener als ich. Und meine Mutter ging dann, wenn es sein musste, stumm ans Werk und fuhr mich den schweren Weg ins Krankenhaus Bethanien. Und wenn ich das Krankenhaus von weitem sah, fing ich sofort an zu weinen, hat man mir später immer wieder erzählt, und hörte erst nach Stunden damit auf, wenn ich auf dem Rückweg das Krankenhaus aus den Augen verlor. Und all die Ledergamaschen, Schienen und Bandagen halfen gar nichts, sondern taten nur weh. Und Narkose hat es damals auch schon gegeben. Da bekam man so eine Art Teesieb über die Nase gestülpt, dann musste man zählen, dann drehte sich vor den Augen alles, wie bei den Bildern von Severini und Boccioni. Die ganze Welt stank nach Äther, und ich fiel in Ohnmacht, und man konnte jetzt mit mir machen, was man wollte, die Sehnen verlängern und sehr viel später noch einen Knochen, der im Weg stand, heraussäbeln. Das passierte aber erst in Süchteln. Denn mein Onkel Johannes aus Vluyn, der eigentlich gar kein Onkel war, sondern er war der Bruder meiner Omma mütterlicherseits, aber das Altersgefälle war nicht so groß, außerdem wussten wir Kinder nie, wie und wer mit wem alles zusammenhing, und sagten einfach drauflos fast zu jedem Onkel und Tante. Onkel Johannes aus Vluyn war Schiedsmann und Friedenstifter, obwohl er immer eine alte Uniform, ich glaube von 70/71, trug, und meist hatte er so einen Helm mit Spitze, eine Pickelhaube, auf, und er hatte drei Töchter, warum weiß ich nicht, Tante Lene, Tante Hitt, das ist die Koseabkürzung von Grete, und Tante Mariechen. Und Tante Mariechen, das ist die, bei der ich später, als ich schon ein Künstler war, in Basel oft übernachtet habe. Tante Lene war Stationsoberschwester im Krankenhaus Bethanien und sollte später mal, so hörte ich sagen, nachdem meine Mutter schon gestorben war, meinen Vater heiraten. Daraus ist aber nichts geworden, obwohl viele das gern gesehen hätten. Und ob das gut gegangen wäre, weiß ich nicht. Ich kenne doch meinen schwachen, ewig Streit vermeidenden Vater. Obwohl, na ja. Die niederrheinischen Frauen machen ja sowieso aus all ihren Männern immer wieder Kinder. Ich weiß auch nicht, wie das geht. Und die Männer lassen sich das auch gefallen. Die Tante Hitt, die ja eigentlich Grete hieß, war eine »alte Kämpferin« bei den Nazis, Mitgliedsnummer unter 25 000, und ihr Mann, der Willi Höffken, auch, der eigentlich ein ganz einfacher, stiller, bescheidener Beamter war. Aber Tante Hitt hat ihn zum Bürgermeister von Aldekerk gemacht, ist von Hü nach Hott gelaufen, damit ihr Willi Bürgermeister wurde. Ohne ihre Frauen sind die Männer vom Niederrhein meistens nur die Hälfte wert. Meine Omma väterlicherseits auch. Das war eine kleine, flinke Frau, hieß Katharina und war eine geborene Husmann, und kochte die leckersten Armeleutsessen, die ich je gegessen habe. Ein Armeleutsessen hieß: Doppelstein. Das waren Kartoffeln und Speck in Würfel geschnitten, dass es so aussah wie kleine Kartoffel- und Specksteinchen, durcheinandergemengt mit Bohnen, und daran dann einen Schuss Essig, und fertig war der Wohlstandsbraten. Bei diesem Essen war ich nicht zu bremsen. Und mein Großvater väterlicherseits saß mir immer gegenüber und schnitt das Brot. Dabei stand er jedes Mal auf und schnitt das große Brot nicht gerade ab, sondern von jeder Seite schräg, so dass ein Dach entstand. Aber sonst war er das große alte Kind von meiner Omma. Er war Fuhrmann. Die meisten meiner Vorfahren waren Fuhrleute. Was Wunder, dass auch ich immer noch unterwegs bin, on the road, zwar nicht mit Karren und Pferd, aber die Kreuz und die Quer bei Regen und Wind, wie mein Großvater väterlicherseits. Er hatte eine Hindenburg-Frisur, also die Haare ziemlich geschoren, und sagte so gut wie nichts. Er ging immer so, als trüge er die ganze Welt auf seinen Schultern. Er hatte fast keinen Hals, der Kopf saß direkt auf den Schultern, und er ließ, glaube ich, alles einfach über sich ergehen. Er hieß Johann und lächelte immer ganz leise, als wollte er sagen, es hat alles seine Richtigkeit, obwohl alles falsch ist. Er war ein Freiberufler, genau wie ich. Er saß in der Küche und wartete auf Arbeit, genau wie ich. Und meine Omma hielt ihn auf Trab. Und dann zog Johann mit seinem Pferd und seinem schweren zweirädrigen Karren los, um von Homberg nach Rheinkamp oder von Friemersheim nach Hülsdonk Rüben, Kartoffeln und Briketts zu fahren. Er hatte nicht viel zu sagen, aber mich hat das sehr beeindruckt. Er setzte vier Kinder unterschiedlichster Art in die Welt. Sein ältester Sohn, Heinrich, war mein Vater, der ja Tenor oder Kapitän werden wollte, weil, er hatte seine ganze Kindheit in den Rheinwiesen von Homberg verbracht, und das mit dem Tenor, das war wohl der Sprung in eine andere Welt. Aber meine Großeltern wussten natürlich nicht, wie das geht, wie man Tenor wird, keine Ahnung. Und außerdem ist das eine brotlose Kunst. Und Kapitän, da war meine Omma strikt dagegen, weil, so sagte sie, das Wasser hat keine Balken. Und sie schickten meinen Vater in die Verwaltungslehre als Stift, da musste er dann Bleistifte spitzen und Akten umhertragen und Kaffee besorgen und zuhören und zugucken, wie und was die anderen alle machen. Und das hat er dann auch gemacht, mein Vater, wie ich ihn kenne. Stiekum, das ist ein niederrheinisches Wort für klammheimlich, hat mein Vater alles abgeguckt, bis er zuletzt Verwaltungsdirektor war. Bei der Kreisverwaltung in Moers, im Landratsamt, im sogenannten, direkt neben dem Schlosspark, wo mein Freund Norbert Schmidt sein Park-Café hat, Norbert Schmidt, der immer, wenn ich ihn nach früher frage, sagt:

Kannze vergessen.

Manchmal sagt er auch, wenn er mir was Ernstes mitteilen will:

Kannze de Wahrheit vertragen?

Ich merke, dass mir die Pferde durchgehen, denn ich wollte ja doch erzählen, wie Onkel Johannes aus Vluyn, der ja familiengeschichtlich der Onkel meiner Mutter war, und meine Mutter war die Cousine von seinen drei Töchtern, wie Onkel Johannes zu meinen Eltern sagte:

Jetzt ist Schluss mit Bethanien. De Jung muss nach Süchteln, da ist doch die berühmte orthopädische Kinderheilanstalt, und da gehören die Füße hin, zu Dr. Röhren und Dr. Kochs, und nicht nach Bethanien zu Försterling.

Das wurde alles immer in Vluyn besprochen. In dem schönen alten Lohbeck’schen Haus, wo wir sonntags immer so gerne hinfuhren, weil, das Haus hatte eine große Diele, dort spielten wir Verstecken bis zum Umfallen. Und in der Küche gab es noch eine große Wasserpumpe. Und an dieser Pumpe stand immer, wenn wir durch den Hausflur um die Ecke kamen, stand immer die Bella und pumpte den ganzen Niederrhein blank. Sie hatte richtiges strohblondes Haar und eine ganz tiefe raue Stimme. Und direkt neben dem Haus war die Feuerwehr. Und in dem Haus wohnte auch Tante Hitt mit ihrem Willi, als er noch kein Bürgermeister von Aldekerk war, und sie hatten da, glaube ich, schon vier Kinder. Eines davon war mongoloid und hieß Lorchen. Aber dort konnte immer alles unter einem Dach sein. In einem anderen Haus, aber ganz in der Nähe, wohnte Tante Mariechen, die Schwester von Tante Hitt, mit ihrem Ernst Gertsch, der ein Schweizer war und ein bisschen ein Kommunist und vieles voraussah. Beide sind dann später mit ihren Kindern Johannes und Annelene in die Schweiz gezogen und haben in Basel in der Wanderstraße 165 gewohnt, fast am Stadtrand, gegenüber von einem kleinen Fußballplatz. Als Onkel Ernst so krank wurde und nicht mehr aufstehen konnte, und wenn ich dann dort wohnte, wenn ich im »Théâtre Fauteuil« am Spalenberg gastierte, dann saß ich immer am Fenster und musste ihm wie ein Reporter das Fußballspiel auf dem Platz vor dem Haus schildern. Er ist dann wie sein Sohn Johannes an Lungenkrebs gestorben, hat aber vorher seiner Tochter Annelene, die jetzt noch in Riehen bei Basel lebt, gesagt:

Kind, es lohnt sich nicht.

Tante Mariechen war eine außergewöhnliche Frau. Sie hielt ihre Familie über Wasser, indem sie überall putzte, wo es dringend nötig war. Aber Tante Mariechen war nicht nur eine Putzfrau, sie war auch eine Ratgeberin. Und wenn sie bei feinen Familien die noch feineren Häuser putzte, dauerte es nicht lange, und sie saß auf Geheiß der Dame des Hauses mit am Tisch und durfte vieles mitüberlegen und empfehlen. Meistens trug sie schwarze hochgeschlossene, leicht protestantische Kleider, oben mit einem kleinen weißen Krägelchen, mit einer Brosche verziert. Sie kannte das Leben und ließ sich nichts vormachen. Wenn ich in Basel war und dort wohnte, hat sie für mich gesorgt wie für ihr eigenes Kind, denn schließlich war ich auch der Sohn ihrer Lieblingscousine Adele, die so früh mit 41 Jahren an multipler Sklerose hatte sterben müssen. Und wenn ich von der Vorstellung spät nach Hause kam, oft erst gegen Morgen, war sie noch wach und sagte immer nur:

Na, wie war et denn?

Gut, sagte ich dann, ausverkauft.

Hauptsache, sagte sie dann, nu geh ma schön nach Bett und schlaf dich aus.

Und wenn ich dann am anderen Morgen, meist erst so gegen zehn Uhr, aufstand, hatte sie schon das Frühstück parat, und das war dann ihre große Stunde, dann wollte sie erzählen und alles nochmal von vorne wissen. Und dann musste ich Rede und Antwort stehen. Und dann erzählte sie von meiner Mutter, wie wunderschön die Frau gewesen sei, und ob ich denn nicht wüsste, wer die schöne goldene Brosche von meiner Mutter hätte. Und ich sollte nur gut aufpassen und mich immer schön warm anziehen und auch das Essen nicht ganz vergessen. Und kaum hatte ich gefrühstückt, stand schon das Mittagessen auf dem Tisch, und ich musste, um sie nicht zu beleidigen, alles aufessen. Und während ich aß, erzählte sie von früher, und während sie erzählte, aß ich. Ich habe immer bedauert, dass ich nicht insgeheim ein Tonbandgerät aufstellen konnte, ich hätte heute die schönsten Lebensgeschichten vom Niederrhein, wo ich ja meine Kindheit erlebt und gelebt habe. Und es ist für mich ganz hell und klar, meine Heimat ist meine Kindheit, nicht ein Landstrich, keine Adresse, sondern es sind diese Jahre der Wärme, der Krankheit, der Sorgen und der Liebe. Und Tante Mariechen, zuerst Vluyn, später Basel, gehört dazu. Sie war ja die Tochter von Onkel Johannes, eine Cousine meiner Mutter und meine Extratante, die ebenfalls noch in Vluyn schon gesagt hatte:

De Jung muss nach Süchteln.

Süchteln, direkt neben Viersen, nicht weit von Krefeld gelegen, Süchteln, das ist heute noch ein Wort für mich wie ein Brandzeichen. Süchteln, ein kleines katholisches Städtchen am Niederrhein. Süchteln, das war damals für mich ein Schreckenswort. Dort lag für mich die große orthopädische Kinderheilanstalt, und nebenan lag die Anstalt für geistig Behinderte. Damals sagte man: Geisteskranke. Und ich habe sie schon früh gesehen, meine Brüder, in gestreiften Drillichanzügen liefen sie manchmal durch den Anstaltswald und schleppten riesige Milchkannen von einem Haus zum anderen, oder sie standen am Weg und winkten mir zu, wenn wir mit dem Auto etwas den Berg hinauffuhren, bis zur Hauptpforte der Kinderheilanstalt. Übrigens erscheinen die Milchkannenträger von Süchteln in einer Hagenbuch-Geschichte, nämlich in der Geschichte »Hagenbuch in Bless-Hohenstein« als Prager und Kretzschmer. Ja, wir fuhren immer den Berg hinauf, und die Milchkannenträger winkten.

Im Leihwagen des Landrats

neun Jahre alt

saß ich

aussichtslos

die dunkle Allee entlang nach St. Tönis

fuhren wir ohne Umweg

weiter nach Süchteln

um meine niederrheinischen Füße

zu reparieren.

Ja, so war es. Mein Vater bekam immer vom Landrat den großen Horch oder den großen Wanderer geliehen, mit Fahrer. Aus Mitleid mit mir, wahrscheinlich. Aber immerhin, ich fuhr, Enkel eines Fuhrmanns und eines Schankwirtes, hochherrschaftlich in die Orthopädie nach Süchteln. Der Fahrer, Herr Nass, immer braungebrannt und regelrecht in Fahreruniform mit einer Schirmmütze auf, war ein sehr netter Mann. Er wusste, wohin es ging und dass ich Angst hatte. Ich saß hinten, in Kissen eingepackt, die wurden hauptsächlich für die Rückfahrt gebraucht, denn nach der Operation, wenn ich halbwegs aus der Narkose kam, das dauerte immer unterschiedlich lange, wurde ich wieder hinten ins Auto gepackt, und ich fuhr dann, noch halb betäubt, aber selig, wieder mit zurück. Im Arm meines Vaters oder im Arm meiner Mutter, und in späteren Jahren im Arm meiner über alles geliebten Tante Liese. Und das ging so Jahr für Jahr. Die Operation war eine unblutige, es war eine sogenannte Redression. Meine Füße wurden aus ihrer absurden Geburtsstellung in die richtige Stellung gedreht, unter Narkose im Teesieb natürlich, immer schön zählen, sagte die große germanisch-katholische Schwester mit der weißen Tüte auf, die ja bei mir immer und überall dabei war, schön zählen, und ich zählte und zählte und hätte doch am liebsten um mich geschlagen. Aber so verliert man jede Art von Aggression und lässt sich von oben bis unten mit Äther beschütten und weiß am Anfang nicht einmal, warum, und da geht dann schon ein ganz schönes Stück Vertrauen in die Binsen. Kurz nach dem Krieg bin ich noch jedem, der sein Feuerzeug mit Äther füllen musste, meilenweit aus dem Wege gegangen. Nun ja, machen wir weiter. Wenn meine Füße in der sogenannten normalen Position waren, wie andere Füße eben auch, dann wurde Gips drumgewickelt, vom Knie abwärts, nur die Zehen guckten raus, und der Gips blieb dann sechs Wochen drum, dann wurde er in Süchteln wieder abgemacht, mit so großen silbernen Gipsschneidezangen machte sich dann ein Pfleger an die Arbeit, und das ging auch manchmal ins rohe Fleisch hinein, denn Füße und Beine waren ja inzwischen so aufgeweicht wie nasses Löschpapier. Und dann kam Gehgips drum, Gott sei Dank ohne Narkose, aber da mussten die Ärzte die Redression mit der Hand machen und kamen dabei sehr ins Schwitzen. Und wenn ich sagte: Ich kann nicht mehr, dann sagten die Ärzte: Wir auch nicht. So entstand dann sehr bald ein Witzeln und Frotzeln. Und oft erzählte ich den Ärzten einfach alles, was ich so wusste, einfach um anzugeben, einfach um die Schmerzen besser aushalten zu können, das ging kreuz und quer durch die Geschichte und von einer Nordpolexpedition zur anderen. Und die Ärzte sagten dann immer: Mach weiter. Und so wurde ich regelrecht zum Conférencier auf dem Operationstisch, und die große katholisch-germanische Schwester mit der weißen Tüte auf fegte derweil die Gipsschalen rundherum zusammen und sagte dabei immer:

Na also, war doch halb so schlimm.

Sie war es auch, die mich immer aus dem Wartezimmer abholte, wo ich meine Schuhe immer schon ausgezogen hatte und dann auf Strümpfen mit ihr in den Operationssaal ging, wo meine Lieben ja nicht mit hineindurften. Später durften sie durch ein kleines Fenster in die Kinderstation hineingucken, um zu sehen, ob ich schon aus der Narkose aufgewacht war. Meistens musste ich, wenn ich aus der Narkose wach wurde, mich heftig erbrechen. Aber das war mir egal, ich wusste, jetzt ist alles vorbei, jetzt kann nichts mehr passieren, jetzt geht’s nach Hause. Und wenn ich dann den Gehgips drumhatte, dann zog mir meine Mutter ganz große Strümpfe darüber und machte mir ganz große Schuhe aus Filz, und damit bin ich sogar später in die Schule gegangen. In den Pausen konnte ich zwar nicht auf den Schulhof, aber es blieben immer ein paar Freunde mit mir in der Klasse, die von mir irgendwelchen Blödsinn erwarteten. Und der Gehgips kam dann nach acht Wochen wieder ab, und dann gab es Gipsschalen. Das sind der normalen Fußstellung angepasste Schalen, in die ich nachts meine Füße hineinlegen musste und die dann mit einem Verband zugewickelt wurden. Und dann fuhren wir zum orthopädischen Schuster nach Viersen, der hieß Wedderhoff, hatte selbst einen behinderten Sohn aus erster Ehe und lebte jetzt mit einer dunkelhaarigen, kapriziösen Dame zusammen. Und bei ihm wurden also meine Schuhe erst angemessen, dann ausprobiert, dann nochmal angemessen, dann nochmal probiert, und schließlich gekauft und angezogen, und dann hätte ich sie am liebsten weggeschmissen, weil, sie taten überall weh, und wenn ich sie eingelaufen hatte und ich endlich schmerzfrei war, dann sahen sie nach nichts mehr aus. Es war ein Kampf mit den Schuhen. Später habe ich um Halbschuhe gekämpft. Ich wollte auch mal schöne Füße haben, wenigstens schöne Schuhe. Die hab ich dann aber erst nach dem Krieg bekommen, als ich es leid war und den ganzen orthopädischen Kram in die Ecke geschmissen und in Mainz mit meinem Freund Jörg Wehmeier zu Viehoff gegangen bin und mir ganz normale braune Wildlederhalbschuhe mit einer dicken Kreppsohle gekauft habe. Triumph, Triumph! Bis dahin hatten mich meine Füße immerhin schon gebracht. O ja, sie hatten mich weit gebracht. Ich lebte noch. Aber vorher war natürlich noch eine Menge dran gemacht worden. Mit zehn Jahren haben mich zwei Pfleger oben an den Armen und zwei Schwestern unten an den Füßen festhalten müssen, um mir die Narkosekappe aufsetzen zu können. Ich war es leid, musste mich aber dann doch fügen. Mit 14 Jahren kam dann endlich die alles entscheidende, große Schlussoperation. Es musste noch ein Knochen, der der letzten endgültigen Redression im Wege stand, entfernt werden. Und dafür musste ich nun doch längere Zeit in Süchteln bleiben. In den Tagen vor der Operation gab es an einem Tag ein großes Sommerfest, auf dem der Chefarzt Dr. Kochs sich für uns Kinder als Clown und Spaßmacher produzierte, obwohl mich so gut wie nichts ablenken konnte und ich auch keinem traute. Ich hatte sehr große Angst und Heimweh. Mit ein bisschen mehr Mut wäre ich vielleicht sogar weggelaufen. Nachts, durchs Klofenster. Aber ich wollte ja auch endlich schöne Füße. Als mir ein junger Arzt sagte, ich bekäme kein Narkosekäppchen, sondern sie würden mir eine Evipanspritze geben, und er es mir sogar mit Handschlag versprach, glaubte ich kein Wort. Es gab tatsächlich kein Narkosekäppchen, sondern sie spritzten Evipan, und ich merkte in fünf Sekunden, wie Zunge und Mund ineinanderschwammen, wie ich hinübersegelte, ganz schnell, nur noch mit dem Gedanken, Gott sei Dank, und jetzt könnt ihr mit mir machen, was ihr wollt. Die Operation soll acht Stunden gedauert haben, sagte mein Vater. Ich bin in der Nacht einmal kurz aufgewacht, hab versucht, meine Beine zu bewegen, und das ging natürlich nicht, denn ich hatte Gips bis über beide Knie, so ähnlich wie die hohen Stiefel des Reitergenerals von Seydlitz, und dann bin ich wieder weggedämmert: Gott sei Dank. In der Nacht aber soll ich mich noch im Schlaf erbrochen haben. Am nächsten Morgen kamen meine Gipsbeine unter eine Trockenhaube, und als die Betäubung langsam nachließ, fielen die Schmerzen ganz schön über mich her. Sobald ich einen Fuß auch nur einen Millimeter bewegte, wusste ich, da unten am linken Fuß, da hat eine Säbelei stattgefunden. Und die war ja wohl auch nötig, denn im Laufe der jahrelangen Redressionen hatten sich die linken Mittelfußknochen ganz schön übereinander- und zusammengeschoben, und da stand jetzt dieses Höckerchen von sieben bis acht Zentimetern im Weg, und das musste jetzt herausgemeißelt werden, damit ich auch endlich meine Schuhe richtig zuknöpfen konnte. Und wie heißt das alte Wort: Wer schön sein will, muss leiden. Aber nun war es ja auch gut. Und meine Lieben holten mich nach Hause. Und eigentlich war doch nichts gut, denn es brach in diesem Jahr der furchtbare Krieg aus. Und als der erste feindliche Flieger sich über meiner Heimatstadt Moers blickenließ, hatte ich schon Halbschuhe an und konnte schon mit auf den höchsten Balkon laufen, um den feindlichen Flieger zu sehen. Das war in dem Haus, in dem ich eigentlich erst so richtig groß geworden bin, nämlich auf der Uerdinger Straße, Hausnummer 21, das Haus mit dem Erker, die Pappeln im Wind, die Straße nach Schwafheim. Wer weiß, wo die Menschen von damals jetzt sind? Ich verdanke mein Leben wirklich meinen Füßen. Sie haben mich zu Höhenflügen verleitet, mir Schmerzen zugefügt, mich gezwungen zu lesen und zu fantasieren, mich zu überschätzen, von der Gleichheit der Kreaturen zu schwärmen, Respekt vor dem Unvollendeten zu üben, und sie haben mich wehruntauglich gemacht. Das war so: Eigentlich wollte ich ja zu den Fliegern, denn die jungen Fliegeroffiziere, wie bei uns der Fritz Stratmann, die hatten immer so gelbe Schals um und die Schirmmütze so kess im Nacken und waren eigentlich gar keine Soldaten, sondern mehr so Sportler, meinten wir Schüler, und so was wollten wir natürlich auch sein. Ich war ja schon in der Flieger-Hitlerjugend und hatte schon an so Segelflugzeugmodellen rumgebastelt. Vorher war ich schon im Jungvolk gewesen, obwohl ich da nie hinwollte. Aber mein Vater sagte immer, du musst da hingehen, sonst kannst du später nicht studieren. Und die kamen ja auch und holten mich ab, mittwochs und samstags. Meine Tante Liese hat mich dann immer versteckt, und abends haben wir dann meinem Vater was vorgeflunkert, weil, der Mann hatte furchtbare Angst und brachte es nicht mal fertig, mich vom Geländespiel zu befreien. So bin ich dann oft als sogenannter Pimpf mit durch die Gegend gehumpelt, bis man mich dann zur Staatsjugend steckte. Das war so ’n verlorener Haufen ohne Uniform, ohne Lust, ohne Klampfe und gar nicht flink wie Windhunde. Wir mussten immer samstags morgens antreten, und dann wurde exerziert. Aber mit uns klappte nichts, und meistens wurden wir wieder nach Hause geschickt. Aber in die Flieger-HJ bin ich dann doch gegangen wegen des gelben Schals. Und als ich dann 1942 zur Musterung musste, wurde ich w. u. geschrieben, das heißt wehruntauglich. Damit war meine Karriere als Flieger beendet, und ich durfte nach Hause gehen, und das war ein großes Glück. Denn von meinen Freunden, die mit mir im Frühjahr 1943 schnell das Abitur gemacht hatten, lief schon die Hälfte im Herbst mitten in die russischen Maschinengewehre hinein, und keiner kam zurück. Und der ganze Gymnasiumhumanismus war umsonst. Auch mein Vetter Günter aus Homberg blieb in Russland im Schnee liegen. Seine Eltern fragen sicher heut noch im Himmel jeden, ob er ihn gesehen hätte. Da haben mich meine Füße doch ganz schön aus dem Schlamassel rausgehalten. Mit meinem Vetter Günter, der ein Sohn von Tante Gretchen, einer Schwester meines Vaters, war und mit vollem Namen Günter Vonderschen hieß, bin ich immer in Homberg am Rhein über die vielen schwarzen Schlackenberge gestiegen, und ich hatte dann das Gefühl, am Himalaya zu sein oder am Südpol, und ich wollte eigentlich nie mehr nach Hause zurück. Einmal hab ich mit einem Schulfreund den Plan gehabt, einfach in die Welt zu ziehen und nie mehr zurückzukehren. Immer hatte ich die Sehnsucht, irgendwann verschollen zu sein, und von mir findet man erst nach Jahren zufällig eine Blechbüchse, und in der Blechbüchse entdeckt man zwei, drei winzige, verwelkte Zettel mit Notizen von mir, vielleicht: Gestern letzten Zwieback gegessen. Und auf einem anderen Zettel steht: Gehen seit Tagen im Kreis. Und auf einem weiteren Zettel steht: Hoffen Packeis zu erreichen. Hm. Wir sind dann auch losgezogen, mein Schulfreund und ich, am Morgen, gegen Abend waren wir wieder zurück. Na ja, jedenfalls waren die Schlackenberge in Homberg am Rhein für mich die große Ferne und Fremde. Dort haben wir uns Kartoffeln gebacken und einfach so lang in den Himmel geguckt, bis wir nicht mehr wussten, wo wir waren. Der Vater von meinem Vetter Günter hieß Gerd Vonderschen und war Anstreicher auf der Hütte bei Sachtleben. Zu Hause aber war er Maler und malte immer so kleine Landschaften und Tiere, und modellierte manchmal auch Frauenköpfe und ganze Frauenfiguren, und er wäre lieber ein richtiger Künstler gewesen als nur ein Anstreicher bei Sachtleben. Aber er war ein bescheidener Mann. Das Häuschen seiner Eltern stand direkt am Rhein, und sie waren alle sehr genügsam. Sie waren mit dem zufrieden, was sie hatten. Und sie hatten nicht viel. Und was sie hatten, nahm ihnen manchmal der Rhein noch weg. Mein Vetter Günter, der jetzt irgendwo im Himmel von Russland liegt, nicht weil er bei der Waffen-SS war, sondern er kam einfach nicht wieder, weil er so groß war, wohnte mit seinen Eltern im Haus meiner Großeltern väterlicherseits. Es war ein kleines Häuschen in der Bergstraße 16, mit einem kleinen Garten hintendran. Meine Omma sah da nach den Tomaten und Stachelbeeren. Und durch diesen Garten, erzählte mein Vater immer, kam dann der Rhein, wenn er wieder mal größenwahnsinnig wurde. Dann kam der Rhein von hinten durch den Garten, fiel über die Tomaten und Stachelbeeren her und kam dann ganz langsam ins Haus und stieg dann bis unters Dach, blieb ein, zwei Wochen, alle mussten sehen, wo sie in der Zeit unterkommen konnten, und dann ging der Rhein wieder, der vielbesungene, hochverehrte und hochgelobte Vater Rhein, der sich durch nichts aufhalten ließ, in alle Ecken, Kanten und Ritzen kam, alles schön anknabberte und aufweichte, sich seelenruhig mit seiner maßlosen Oberfläche überall einnistete, die Häuser und Gärten ruinierte und die Menschen obendrein, denn die mussten nun wieder von vorne anfangen, renovieren, tapezieren und alles wieder schön machen, wie man am Niederrhein sagt. Wer in seinem Leben mit viel Wasser zu tun hat, der weiß das ja alles und wird ein gelassener Mensch. Vielleicht hat mein Großvater, der Fuhrmann, deshalb nicht mehr so viel gesagt. Und sie lebten ja wirklich alle auf engstem Raum. Mein Vetter Günter lebte mit seinen Eltern in einer mittelgroßen Wohnküche, und dann hatten sie noch eineinhalb Schlafzimmer unter dem Dach. Das war alles. Und wenn der Rhein zu Besuch kam, war alles im Eimer. Und wenn ich zu Besuch kam, meist in den großen Sommerferien, dann schliefen wir Knaben in einem Bett und überlegten oft die ganze Nacht durch, was wir denn am nächsten Tag auf den schwarzen Schlackenbergen wohl anstellen könnten, und schliefen erst am Morgen so richtig ein. Und am Sonntagnachmittag bin ich oft mit meinem Vetter Günter ins Kino gegangen. Kindervorstellung. 14.30 Uhr. Da habe ich die ersten Wildwestfilme gesehen, wie: Die Schlacht am blauen Berge. Und Pat und Patachon, die ich 35 Jahre später für das ZDF synchronisiert habe. Und nach dem Kino gingen wir zu Onkel Johann, das war der, der mal eine Zeitlang einen Klümpkesladen hatte, ich meine eine Trinkhalle, heute sagt man Kiosk. Onkel Johann, das war einer, der wusste eigentlich nie so recht, was er tun sollte. Heute meine ich fast, er hätte am liebsten nichts getan, denn er hatte ja auch eine tüchtige Frau, die Tante Maria, eine Bäckerstochter aus Hochheide, das liegt, wenn Sie von Moers kommen, direkt vor Homberg, und wenn Sie von Ruhrort kommen, direkt hinter Homberg. Wenn Sie mit der Straßenbahn von Homberg nach Moers fahren, kommen Sie unweigerlich mitten durch Hochheide. Ob das allerdings heute noch so ist, weiß ich nicht, aber damals war das so. Und an der Haltestelle Hochheide-Markt, da liegt, wenn Sie von Homberg kommen, links eine Wirtschaft, und da konnte man von der Straßenbahn aus immer die Girlanden sehen, wenn Kirmes war. Dort fuhr ich immer so gerne vorbei, mit meinem Vater, wenn wir am Sonntagabend von meiner Omma väterlicherseits kamen. Und dann standen wir zwei, mein Vater und ich, vorne neben dem Straßenbahnfahrer und guckten zu, was der alles so machte, und guckten dann immer in Hochheide am Markt in die Wirtschaft hinein, wo die Girlanden an der Decke hingen, weil Kirmes war. Und getanzt wurde da, glaube ich, auch. Wahnsinn. Und dann fuhren wir mit der Straßenbahn weiter nach Hause, nach Moers, wo wir ja zuerst auch unter dem Dach wohnten, Beamtenwohnung, Lessingstraße 1. Aber Onkel Johann in Homberg, zu dem wir immer, mein Vetter Günter und ich, nach der Kindervorstellung im Kino hingingen, der hatte eine richtige große Wohnung, jedenfalls sah es so aus, und dort waren auch am Weihnachtsbaum immer so Wölkchen aus Watte, und bei Onkel Johann und Tante Maria gab es immer viel Kuchen und Plätzchen und Teilchen. Nach dem Klümpkesladen hat Onkel Johann dann auch noch ein richtiges Lebensmittelgeschäft gehabt. Aber es kann gut sein, dass er damit auch eingegangen ist, obwohl er ein herzensguter Mensch war, oder vielleicht gerade deswegen. Ich weiß es nicht. Er soll sich übrigens auch nicht selten in den Hafenkneipen von Ruhrort herumgetrieben haben. Und sie hatten ja auch alle immer so eine dunkelblaue Schiffermütze auf. Onkel Gerd Vonderschen auch. Abgeschabte kleine Aktenmappe unterm Arm, Schiffermütze auf und dann aufs Fahrrad gesprungen, im Laufen gesprungen, und dann zur Schicht. Ich kann mir nicht helfen, manchmal sehne ich mich nach diesen Augenblicken zurück und möchte nach Homberg auf den Fußballplatz gehen, zu Homberg 03. Homberg 03, das war damals der Pokalschreck, die schlugen Eller 04, und mein Onkel Fritz Sonnen, der damals Bürgermeister von Homberg war, musste immer mitfahren und die Daumen halten. Dann spielten sie auf eigenem Platz gegen Holstein Kiel, und die Mannen um Peter Hochwahr gewannen. Mein Vater hat ja auch lange Zeit Fußball gespielt. Verteidiger. Ich habe keinen Fußball gespielt, wegen meiner Füße, aber im Tor habe ich gestanden, denn meine Freunde ließen mich immer mitspielen, weil sie mir nicht weh tun wollten und ich auch immer so viel Blödsinn machte, damit sie lachen konnten. Orthopädie und Entertainment. Ich weiß nicht, wie sie alle dahingegangen sind, Tante Maria ist, glaube ich, an Unterleibskrebs gestorben, und wie es Onkel Johann ergangen ist, kann ich nicht sagen. Später hat man sich aus den Augen verloren, zwar nicht aus dem Sinn, aber man hat nur noch von weitem gelebt und sich zwischen Stielmus und Thrombose mit eigenen Gebrechen herumgeschlagen, man hat auch nicht alles behalten wollen und auch nicht können. Der jüngste Bruder meines Vaters, Onkel Willi, trug zuletzt immer einen hellbraunen Kamelhaarmantel und war Fernfahrer. Seine Frau war genauso schön wie meine Mutter und hieß Käte und ist vor ihm gestorben. Onkel Willi war ein bisschen der typische Niederrheiner, der typische Homberger. Er kannte immer Gott und die Welt, auch wenn er nur zwei kannte. Er hatte ein bisschen einen kleinen Stich nach oben und wollte auch mit allen mal an der Theke gestanden haben. Und wenn er seinen Sohn, meinen Vetter Wilfried, der sich gerne als mein Bruder ausgibt, das hat er von seinem Vater, wenn er seinen Sohn beim Wasserwerk unterbringen wollte, dann sagte Onkel Willi:

Dat krieg ich schon hin, ich kenn doch die Brüder all.