Tilman Allert
Latte Macchiato
Soziologie der kleinen Dinge
FISCHER E-Books
Tilman Allert, geb. 1947, studierte Soziologie an den Universitäten Freiburg, Tübingen und Frankfurt am Main. Nach seiner Promotion 1981 wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Tübingen und habilitierte sich 1994. Seit 2000 ist er Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und lehrt als Gastdozent an den Universitäten von Tiflis und Eriwan sowie an der International Psychoanalytical Universitiy in Berlin. Einer größeren Leserschaft ist er mit seinem Buch »Der deutsche Gruß. Geschichte einer unheilvollen Geste« (2005) bekannt geworden, sowie als regelmäßiger Beiträger u.a. für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, »Brand Eins« oder die »Neue Zürcher Zeitung«.
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Was die kleinen Dinge über die Gesellschaft als Ganzes sagen
Trinken Sie Latte Macchiato? Verwenden Sie Floskeln wie »abgefahren« oder »gut aufgestellt«? Merken Sie auch, dass der Pudel aus dem Straßenbild verschwindet? Es sind die scheinbar unbedeutenden Phänomene des Alltags – Redewendungen, Mode-Getränke, Weihnachts- und Abiturfeiern –, deren gesellschaftliche Bedeutung Tilman Allert erschließt und in brillanten, leichten und luftigen Feuilletons notiert. Abseits der großen Systementwürfe gibt es hier eine neue und frische Soziologie zu entdecken, die vom kleinen Detail aufs Ganze der Gesellschaft schließt. Ein großes Lesevergnügen, das ganz nebenbei die Augen für den angeblich profanen Alltag öffnet.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg / Sonja Steven
Coverabbildung: F.W. Bernstein
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403216-0
Im Westen der Stadt Frankfurt, nicht weit vom Messegelände, einem ihrer heiligen Böden, auf einem Areal, das derzeit flach und leergeräumt auf den Ansturm der Bagger wartet, stand einmal ein Turm, in dem gelehrt und geforscht wurde. Der Turm, Unterstand des Autors, war aus Elfenbein, im Jahr 2014 wurde er gesprengt und zu Staub.
s. Fußnote 1
s. Fußnote 1
Nicht nur wer zahlen wird, sondern sogar wie man im Europa der Zukunft zahlen wird, das bestimmt die gegenwärtige Debatte. Unberührt davon ist der Gruß, das Erste und Elementarste, was unter den Menschen getauscht wird. Die Franzosen zeichneten sich schon immer durch eine Besonderheit aus, eine im Alltag vernehmbare Wirksamkeit des Höfischen, wie das ans »Bonjour« obligatorisch angehängte »Monsieur«, »Madame« oder im Plural »Messieurs-Dames« – in einer zivilisationsenthusiastischen Gesellschaft (Ernst Robert Curtius) wie der französischen seit Jahrzehnten eine Preziosität, virtuos gehandhabt beim Kauf der Zeitung oder der Croissants, gelegentlich zum spannenden Schauspiel gesteigert, wenn entweder nur Damen oder nur Herren im Laden anwesend waren und der auf der Zunge liegenden Routine eine knappe und qualitative Anwesenheitsprüfung vorauszuschicken war, um also gegebenenfalls auf »Mesdames« oder »Messieurs« zu korrigieren. Nirgendwo ließ sich die Popularisierung des höfischen Umgangs anschaulicher verfolgen als in der Boulangerie oder der Charcuterie, in den kleinen Geschäften auf dem Land, uneinnehmbare Bastionen popularisierter Vornehmheit. Jahrzehnte liegt zurück, dass man sich noch mit einer weiteren Editionsoption, »Mademoiselle«, in all den Fällen herumzuschlagen hatte, bei denen in Sekundenschnelle aus Alter und Habitus zwischen »Mademoiselle« und »Madame« zu entscheiden war, aber des aristokratischen Aperçus konnte man sich sicher sein.
Der französische Gruß enthält Konvention aus vorbürgerlicher Zeit, aus der Zeit der Schlösser und Könige: Er artikuliert die Reverenz vor dem Status des Angesprochenen. »Pardon, Monsieur«, entschuldigte sich Marie Antoinette, die wenige Sekunden vor ihrer Hinrichtung auf dem Weg zum Schafott ihrem Scharfrichter versehentlich auf den Fuß getreten war. Die Statusorientierung, die taktvolle Geste des Entgegenkommens verweist auf ein Strukturmerkmal der sozialen Ordnung, als Ornament des Austauschs begründet sie die Aufmerksamkeit der französischen Kultur auf die Form. Im Gruß ist eine milieu- und generationenübergreifende Tradition handlungswirksam, die schon Max Weber als Grund für das Prestige Frankreichs bewundert hatte – dieses beruhe in der ganzen Welt »auf dem Schatz, den es aus seiner aristokratischen Vergangenheit herübergerettet und in der ästhetischen Durchgeformtheit des französischen Menschentypus weitergepflegt hat«.
Das scheinen vergangene Zeiten – Frankreich verabschiedet sich vom zeremoniellen Respekt. Verschiebungen im Zivilisationsprofil einer Gesellschaft kündigen sich im Mikroformat der kleinen Formen an, und wiederum liefert die morgendliche Beobachtung in der Boulangerie klare Evidenz. »Bonjour«, »Au revoir«, so haben sich die verbindlich gewordenen Rhetoriken des Auftritts ins Lapidare routiniert, keine Wahrnehmungskontrolle mehr, das schlichte Entbieten des Grußes mit kaum noch zeitlich präzisierter Rücksicht auf die Tageszeit (Bonsoir) ist an die Stelle höfischer Umständlichkeit getreten, der sich selbst noch der Citoyen bedient hatte.
Den Freunden des europäischen Miteinanders wird diese Art des »Prozesses der Zivilisation« als untrügliches Zeichen zunehmender Elastizität sozialer Beziehungen willkommen sein, und nur der bornierte Nichteuropäer wittert einen allgemeinen Kulturverfall. Schließlich bildet der Formalismus das Substrat des oft beklagten schwerfälligen französischen Korporatismus, er ließ den »Patron«, um den sich auch heute noch alles dreht, zur herausragenden Sozialfigur werden; darüber hinaus begründete er die soziale Mobilitätshemmung des Landes, eine Mentalität, allen gegenteiligen Bekundungen zum Trotz, doch nichts ändern zu wollen. Selbst dem konvulsivischen »je-m’en-foutisme« des plötzlichen Aufruhrs liegt die hohe Statusorientierung zugrunde. Das bündige entschlackte »Bonjour« und »Au revoir« hingegen kündigt einen Wandel der Beziehungen an, ein pragmatisches Miteinander, beinahe eine Steilvorlage für das Bemühen um Mitbestimmung, mit der man sich in den Wirtschaftsbeziehungen immer noch schwertut. Wer weiß, möglicherweise müssen die Unternehmer nicht mehr fürchten, von wütenden Mitarbeitern tagelang in ihren Büros eingeschlossen zu werden, und auch der Tourist, der mit dem Langenscheidt-»Bonjour« seine Croissants einkauft, ist von dem Gefühl befreit, irgendwie fehle da noch was.
Europa lebt vom Eigensinn der Völker, und in Frankreich ist es nicht erst seit de Gaulle das Europa der Vaterländer, das man den Zumutungen der Globalisierung konzediert: Dass unsere Nachbarn, die ihrerseits staunend den grenzüberschreitenden Siegeszug der Wangenküsschen verfolgen, jedoch europabeflissen werden oder gar auf der nächsten Stufe der Zivilisierung auch noch das in Deutschland endemisch gewordene »Hallo« in ihr Grußrepertoire aufnehmen werden – da ist das »H aspiré« vor.
Dass die Menschen den Tieren, mit denen sie sich umgeben, zuweilen ähneln, wird die Populärpsychologie uns weiszumachen nicht müde. Und wer liefert für derlei Thesen triftigere Evidenz als der Hund, unter den Haustieren nach wie vor auf Platz eins, fügsam und doch gesellig, treu und doch eigensinnig, in der Beliebtheit der Rasse abhängig von den wechselnden Trends der Zeit. Das Verschwinden des Pudels aus dem Straßenbild etwa ist ebenso auffällig wie die unübersehbare Präsenz des Mopses. Seit längerer Zeit schon läuft er dem Dackel, dem Klassiker moderaten Eigensinns, oder dessen buntem, artistischem Gegenüber, dem Jack Russel Terrier, ja sogar dem Bürgen des Familienfriedens, dem Retriever, den Rang ab.
Mit dem Rückzug des Pudels aus dem öffentlichen Raum vollzieht sich ein Wandel im Selbstverständnis des modernen Menschen. Der Pudel, seine in aufwendiger Frisur verspielt-virtuose Exzentrizität des Auftretens eignete sich für die Demonstration einer randständigen Lebensform. Ein gestyltes Geheimnis, ein Tier der gepflegten Nonkonformität, seit Goethes Faust der Geist, der stets verneint, wurde zum bevorzugten Begleiter von Menschen in zugeschriebener oder empfundener Marginalität, in deren Lebensentwurf sich die Bizarrerie des artistisch verspielten Pudels als ein stellvertretend nach außen gestelltes »Dennoch« anbot. Ein bis an den Rand der Karikatur demonstrierter trotziger oder lässig distanzierter Anspruch auf Zugehörigkeit – von Rosemarie Nitribitt bis Artur Schopenhauer.
Zum Outfit des modernen Menschen zählt es, von derart aufwendig demonstrativer Exzentrik entlastet zu sein. Einen Kumpanen, dem man den Entwurf von Einzigartigkeit überlässt, braucht es nicht mehr. Die sportiven Pirouetten der Nonkonformität sind internalisiert, »Otto Normalabweichler« (Jürgen Kaube) hat sie auf seinen Leib geschrieben, die Exzentrizität ist verstummt, im Tattoo lauert sie auf ihren Auftritt. Gibt es noch Zeitgenossen ohne das Versprechen irgendeiner geheimnisvollen Ornamentik an Armen, Beinen oder im Nacken? Selbst der ICE-Schaffner trägt einen Ohrring, hat stylish gefärbte Haare.
Der moderne Angestellte artikuliert sich diesseits seiner Uniform als ein Mensch mit einem Anspruch auf Einzigartigkeit, diskret auffällig, und zwar in dem Maße, in dem die sozialen Beziehungen in Beruf und Arbeit als statusentlastet und schnörkellos verstanden werden und sich auf einen Alltag jenseits anstrengender Zumutungen zeremonieller Kommunikation eingependelt haben. Allerdings scheint die allfällige Lässigkeit auch ihren Preis zu fordern – und das bringt den Mops ins Spiel. Ist der Anspruch darauf, besonders zu sein, internalisiert, dann verliert der öffentliche Raum als eine Bühne für die Demonstration von Exzentrik an Bedeutung. Wenn niemand mehr schaut und jeder an jedem Ort omnipräsent ist, wenn gleichgültig wird, wo man sich tatsächlich momentan befindet, dann erübrigt sich der Blick, man verschließt die Augen wie die Ohren, die an eine gewünschte Eigenwelt gestöpselt sind und gegenüber der Geräuschkulisse des aktuellen Raums verschlossen bleiben. Im leer gewordenen öffentlichen Raum, dem großen Arrangement mit der Normalität der Abweichung, markiert der Auftritt des Mopses eine ewige Sehnsucht nach Zuwendung.
Der Mops übernimmt mit seinen großen Augen die Erinnerung an die Zeit der Kinder. Er spiegelt eine Lebensform, die durch die Ethik der Sorge um den anderen bestimmt war, eine Ethik der voraussetzungslosen Güte. Seine rassischen Qualifikationen, die ihn derzeit als »lustiger Geselle« den europäischen Markt für Haustiere erobern lässt, machen ihn zu einem Begleiter, der zuwendungsbereit ist und dabei zugleich grenzenlos verzeiht. Tollpatschig und liebenswürdig, imponiert er in einer Qualifikation, die ihm schon früh das Privileg eingebracht hat, als eine Art leibhaftige Inverse des affektneutralen, zeremoniellen Umgangs auf den Schößen der europäischen Hocharistokratie Platz nehmen zu dürfen. Sein Blick ist der Blick des unbeholfenen Kindes, nach dem man sich sehnt, ein Kind, dem in einer dauerhaften Fürsorgebeziehung sich zuzuwenden kaum jemand mehr zu wagen scheint. Die Liebe zum Tier ist, nach einer berühmten Formulierung Sigmund Freuds, Liebe ohne Ambivalenz. Die Sehnsucht nach der Sorge, die einen wie aus vergangenen Zeiten anblickt, wird lebendige Idee, sie lässt sich mit dem Mops auf den Schoß nehmen. Und das umso inniger, je deutlicher sie von der mimischen Gestalt des Mops-Gesichts als unerfüllt-unerfüllbar unterstrichen wird, ein Enttäuschungs-Smiley, in die Falten der herunterhängenden Lippen verlegt. In den drolligen Augen begegnet der vielbeschäftigte Zeitgenosse einem Mythos. Er umgibt sich mit einer gefälligen Mahnung, aber einer, die zugleich bestätigt, es gebe doch in der unentrinnbaren Welt der zugemuteten Abstraktionen ein Gemüt, so wie die Melancholie statt der Trauer eine im Grunde egozentrische Geste des Verlassenseins enthält. Der Mops, der Geist, der stets bejaht, hält ganz jenseits der Karikatur, in der Loriot ihm ein Denkmal gesetzt hat, einen Spiegel vor: Er ist das lebendig gewordene Steifftier, der Hund der demographischen Krise, der Hund der kinderlosen Gesellschaft.
Alle Jahre wieder – so lautet die magische Formel des Festes. Weihnachten ist kollektiver Gabentaumel, Weihnachten ist Glaubensfestigkeit durch bekundete Anwesenheit im Gottesdienst, Weihnachten ist Gabenflucht und Reisezeit, und nicht zuletzt ist Weihnachten das Fest der Konsumkritik. Wenn es die Klage nicht mehr gibt, gibt es den Dank nicht mehr. Wenn sich die Hoffnung auf die Wissenschaften richtet, dann hat der Glaube es schwer. Dennoch sind die Kirchen voll, etwa wegen der Kinder? Wegen des Konformitätsdrucks, weil es sonst nichts zu tun gibt und die Heizungen im Büro gedrosselt sind? Jenseits der Frage, ob die vollen Kirchen an Weihnachten die Malaise des christlichen Glaubens unter Beweis stellen oder ob in ihnen nicht gerade eine beeindruckende Evidenz für die Rückkehr zum Glauben zum Ausdruck kommt, bietet die Idee der Ritualität einen möglichen Zugang zum Verständnis. Weihnachten erscheint als dasjenige Fest im christlichen Kalender, das auf einzigartige Weise Ritualzumutung mit Ritualgenuss kombiniert.
Ob Festgegner, Festbefürworter oder Indifferente – im Austausch der Generationen erfahren die Menschen alle Jahre wieder im eigenen Lebensvollzug praktisch gewordene Soziologie: Weihnachten als ein Lehrstück für den Umgang mit elementaren Formen sozialen Lebens, für Ritualität als einer sozialen Tatsache. Georg Simmel hat die Geselligkeit – in ihren Ausdrucksgestalten vom Salon bis zur Party – als das Kunstwerk gedeutet, in dem die moderne Gesellschaft ihre eigene Funktionsweise spiegelt. Ähnlich erscheint das Weihnachtsfest als ein weiteres selbstgestaltetes Kunstwerk, an dem sich pure Sozialität bestaunen lässt.
So wie die Menschen über die Geselligkeit als Symbol der »Oberflächlichkeit des gesellschaftlichen Verkehrs«, wie Simmel schreibt, zu Recht und zu Unrecht klagen, so verhält es sich mit dem Weihnachtsfest und der ihm eingebauten Ritualität. Weihnachten ist Zumutung und Entlastung zugleich, darin liegt das Geheimnis seiner Anziehungskraft, seiner Unausweichlichkeit auch und gerade für diejenigen, die sich mit Ekelgefühlen vom Geschenkerausch abwenden und erhaben, dekoriert in Askese, in die letzten Winkel ihrer Einsamkeit oder Zweisamkeit zurückziehen.
Weihnachten als eine soziale Tatsache provoziert drei Handlungsmuster, die den normativen Ansturm von Außer-Alltäglichkeit aufgreifen: Naiv praktizierte, unbewusste Ritualität wäre die erste Variante. Wieso überhaupt Weihnachten gefeiert wird, eine solche Frage verbittet man sich. Traditional orientiert, in Konformität gegenüber dem Althergebrachten, »weil das einfach zum Leben dazugehört«, weil es Brauch und Sitte ist, so fügt sich der naive Weihnachtler den Zeitvorgaben des Adventskalenders, rückt ein in die Choreographie der ewig gleichen Verrichtungen am Vormittag des Heiligen Abends, dem Baumschmuck etwa – »Hing dieser Stern am Fenster, oder war der am Baum?« Töricht wäre es, die naive Praxis der Fügsamkeit als ein Zerrbild des Feierns oder gar als dessen Karikatur abzutun: Man fühlt sich wohl im Horizont eines Arrangements, das einem wie von Zauberhand die nächsten Schritte zu tun erlaubt, reflexionsentzogen, aber im Ergebnis so, dass eine gestaltete Ritualität entsteht.
Von diesem Typus, der empirisch vermutlich am häufigsten vorkommt, der sich dabei der Veranschaulichung des christlichen Festkanons – Gebet und Gesang und Lesung – bedienen, aber ebenso auf sie verzichten kann, unterscheiden wir die Weihnachtsflucht als die Flucht vor der Ritualität. Der Weihnachtsflüchtling folgt dem Muster einer entschlossenen Distanz; deren einfachste Form ist die Reise. Man schüttelt die Last der Regeln am besten auf den Malediven ab, kein Schnee, die Wahrnehmung bleibt frei von Autos mit aufs Dach gebundenen Bäumen. Die Not der Ritualzumutung macht erfinderisch und setzt die menschliche Phantasie für die Ausgestaltung freier sozialer Räume frei, am Heiligen Abend geht es zum Schnorcheln.
Diejenigen, die im Land bleiben, können sich austoben in all dem, was die Sozialität an Vermeidungsszenarien, an pointierter Regelverletzung und Mikro-Rebellion anbietet: Das kann die Party an Heiligabend sein, das besonnene Anschauen eines Tierfilms, sogar das ununterbrochene Quasseln während des Gottesdienstes – eine Nonkonformitätssteigerung; auf jeden Fall gilt: keine Geschenke, keine Gans, Baumverzicht und kein einziges Lied auf den Lippen.
Und schließlich der dritte Typus, die verstandene Ritualität. Handelnde nach diesem Muster folgen ohne Aversion den Gepflogenheiten der christlichen Tradition hierzulande, die in ihrer Eigenrationalität ausgelegt, anerkannt und auf diese Weise neu angeeignet werden können – Weihnachten erscheint hierbei als »heilige Zeit«: entweder dem christlichen Verständnis folgend oder auch im Lebensentwurf der säkularisierten Moderne, als sakralisierte Zeitlichkeit, als deren entweder gewünschte oder dankbar aufgenommene Ausdrucksgestalt sich die Möglichkeit zur Muße einstellt.
In der Feineinstellung der drei Muster des Handelns wäre noch nach Graden der Vehemenz zu unterscheiden: Lieder mit Inbrunst singen oder grimmig entschlossen tauchen, im Dämmerzustand das Vertraute zelebrieren oder in genau einem solchen Zustand auf nie Entdecktes stoßen, dies wären Beispiele. Nicht selten sind die Handlungsmuster unter den Generationen dynamisch konfliktgeladen oder in milder Toleranz verteilt. Was hingegen jenseits des knisternden Geschenkpapiers oder noch auf den fernen Malediven als irritierende Wirkung des Rituellen eintritt, ist der magische Raum des Zyklischen, der Wiederholung, des »Alle Jahre wieder«. Nicht die Progression, das Voranschreiten, das »Weiter so«, vielmehr die Zäsur liegt der normativen Kraft des Rituals zugrunde. Davon ist die salopp ausgesprochene »Auszeit«, die die Leute sich wünschen, die Zeit zwischen den Jahren, Anlass für Liegengebliebenes oder die Steuererklärung, nur ein Abklatsch.
Was den drei so unterschiedlichen Typen der Weihnachtsresonanz als Gemeinsames unterliegt, erschließt sich über die Konfrontation mit der Zäsur – darin liegt die Leistung des Rituals; es inszeniert das Zeitvergessen, genauer: Es tilgt Historizität und zelebriert den Traum ewiger Dauer. Das, was am Ritual die einen mit Genugtuung vollziehen, was andere in Panik versetzt, mit der Leere konfrontiert und wieder andere zur Reflexion veranlasst, ist das voraussetzungslose Gegebensein der Sozialität, der Zauber purer Präsenz, das Aufgetretensein des Gegenübers in der Welt, als deren Teil man sich wahrnimmt.
Im Sinnhorizont der Ritualität öffnet sich nun, mit der Gabe und dem Kind als dem Neuen, der Blick auf zwei Besonderheiten des Weihnachtsfestes, die noch im Rausch des Schenkens erkennbar sind. Dem Leben als etwas Gegebenem begegnen, »ich komme, bringe und schenke dir, was du mir hast gegeben«, darin liegt das magische Potential dieser Tage. Aber nicht nur das. In der Erfahrung des Zyklischen, in der Ritualität der Wiederholung lässt sich die kontrastierende Version menschlicher Eigenzeit nicht gänzlich ausblenden, die Sequentialität, das Eigenrecht der Entwicklung und der in die Zukunft gerichteten unerschöpflichen Möglichkeiten.
Seit den Arbeiten des Anthropologen Claude Lévi-Strauss wissen wir, wie das Zeitbewusstsein das Handeln bestimmt. Gesellschaften, die der Sequentialität gegenüber der Zyklizität den ethischen Vortritt lassen, müssen mit Folgeproblemen rechnen. Denn beide gehören zusammen, gerade in ihrer Kontrastivität verweisen sie aufeinander. Geraten sie aus dem dynamischen Gleichgewicht, entsteht das Risiko einer Zeitvergessenheit im mentalen Haushalt der Generationen. Neben der Gabe als dem zentralen mythischen Band, das sich um die oben unterschiedenen Typen der Festgestaltung legt, steht der symbolische Raum des Kindes, dessen Ankunft die christliche Tradition mit einem grandiosen mythischen Zauber versehen hat: »Ich steh an deiner Krippen hier, o Jesu, du mein Leben«, das Kind als Symbol der Ankunft und des Anspruchs darauf, die Zyklizität der Zeit zu durchbrechen, Entwicklung zu ermöglichen. Als die leibliche Veranschaulichung der Gebürtlichkeit, als die Hannah Arendt eindrucksvoll die menschliche Existenz definiert, steht das Kind als das Neue vor der Tür der angehaltenen Zeit, »Ich steh an deiner Krippen hier«. Ist es abwegig, an den Rückgang der Geburten zu denken? Konfrontiert mit der Ritualität und der angehaltenen Zeit, schreibt sich im kollektiven Unbewussten moderner Gesellschaften der Verzicht auf Kinder als ein Schatten gewonnener Optionen ein. Er erscheint als ein Verzicht auf Zeitlichkeit. Der Geburtenschwund, so jedenfalls die drückende Evidenz aus den Familienministerien, scheint durch unzureichende Transferzahlungen nicht erklärt – näher liegt die Deutung, dass ihm ein geheimer Neid auf die Zukunft zugrunde liegt. Statt sie den Kindern zu öffnen, scheint die Multioptionsgesellschaft der Moderne in der anhaltenden Selbstsuggestion, alles und jedes sei vereinbar und ohne Verzicht, auch die Zukunft noch für den eigenen Lebensentwurf reservieren zu wollen. Im Blick auf die europäischen Nachbarn beruhigt man sich dann damit, dass es andernorts nicht anders geht. In Kindern jedoch, als den Trägern des Neuen, kündigt sich Abschied an, ihre Geburt symbolisiert in der Ankunft den Wechsel der Generationen, für die Eltern wird der Schmerz des Vergehens, der eigenen Endlichkeit spürbar. Das Rituelle der heiligen Zeit konfrontiert mit dem Vorgängigen der Sozialität, die Gabe erscheint als Antwort auf ein Gegebensein und zugleich als Vorgriff auf die Gegengabe, auf die Ankunft des Neuen. Darin liegt ein Geschenk der Ritualität, dessen Annahme niemand verweigern kann und über das nachzudenken Anlass genug wäre.
Ähnlich den Graffiti imponieren die Turmsprüche mit suggestiver Aufdringlichkeit. Sie springen ins Auge, weil sie in der Fülle alltäglich wahrnehmbarer Texte und Zeichen ihren Leser herausfordern, kantig, drastisch, verspielt und unbekümmert vulgär: »Scheiß Uni, scheiß Mensa, scheiß Staat, nur ich bin cool.« Selten gelingt ihnen der Weg zur breiten Resonanz oder gar Zitierfähigkeit. Nur wenige der knappen Texte, und dann wohl eher solche, deren Originalität derart verblüfft, dass sie als Botschaften weitertransportiert werden und auf diesem Weg ihren Entstehungsort, die Entstehungssituation vergessen lassen, wirken als Zeitgeistmarker, als Signatur einer Generation oder Lebensform. Beim ersten Eindruck entsteht Faszination, der Leser erschauert, ist angewidert, gelegentlich erheitert und beginnt allenfalls eine spontane, flüchtige gedankliche Auseinandersetzung, ein stummes Gespräch. Schnell bietet sich eine lakonische Reaktion an, die kopfschüttelnde und zivilisationsgewisse Resonanz.
Die Turmsprüche, chaotisch gestapelte Zwischenrufe aus dem Alltag einer Bildungsinstitution, haben Erzeuger. Autoren folgen Motiven und Ideen, und mit ihrer Publikation auf den kahlen Flächen von Wänden und Fluren eröffnen sie kommunikative Konstellationen. Inhaltlich betrachtet, zeichnet die Turmsprüche zumeist eine scharfe Polarität aus. Sie suchen die Zuspitzung; artikulieren, insbesondere bei Botschaften, die politische Stellungnahmen zum Gegenstand haben, Perspektiven jenseits der öffentlich gepflegten Kultur des Respekts, von Kompromiss und Kooperation. In den Turmsprüchen herrscht die Sprache der radikalen Sozialromantik vor. Jenseits von Diplomatie, Takt und Besonnenheit werden die Tabuzonen durchbrochen: »Nie wieder Deutschland!« Der Schrei, die Klage, Hass, unverhohlene Rache und Aktionsbereitschaft liefern die Vorlagen für die Selbstermutigung.
Nicht nur politisch bedenkenlos, sondern auch indifferent gegenüber der Würde der Person entstehen im Schutze der Anonymität des Hingekritzelten Bekenntnisse sexueller Radikalität, kommunizierte Perversionen, die dank der Sanktionsfreiheit, unter der die Texte entstehen, Äußerstes wagen. Dabei gilt: Turmsprüche erzeugen Turmsprüche, eine Vielstimmigkeit angeblich authentischen Durchblicks, die sich eines Echos, der scharfen Gegenwehr, gelegentlich sogar einer Spannungsabfuhr gewiss sein kann: »Kein Turm ist auch keine Lösung« oder »Weg mit dem Turm« – »Wohin denn?«.
Nicht durch Respekt gemäßigt, sind die Sprüche aufeinander bezogen. Nicht nur findet die rhetorische Radikalität des Fanatismus eine gleichsam garantierte Community, sie provoziert gerade Bekundungen des Abscheus oder des Widerstands, nicht selten in Gestalt absurder Übersteigerungen oder demonstrativer Ironie. Mäßigende oder humorvolle Brechungen zählen zu den seltenen bunten Blumen, die sich über die Drastik der Texte legen und zu Milde, Besinnung und Reflexion auf die zivilisatorischen Werte mahnen: »Treppensteigen macht einen schönen Po«.
Neben politischen Konflikten wie der Spannung zwischen Israel und der arabischen Welt, neben den Initialerinnerungen des Kollektivgedächtnisses wie etwa der moralisch verpflichtenden Erfahrung der beiden deutschen Diktaturen, neben den Versatzstücken der Lebensphilosophie, neben dem spielerischen Zitat kultureller Selbstverständnisse der Elterngeneration bilden Bezugnahmen auf laufende Universitätsereignisse die dritte Kategorie – »Subjekt sein, nicht forschen«. Diese sind meist Ausdruck von Unzufriedenheit, die in den universitären Gremien nicht – oder aus Sicht der Spruch-Autoren – nicht hinreichend artikuliert werden konnte.
Alles Geschriebene, so der Soziologe Georg Simmel, besitzt eine »objektive Existenz, die auf die Garantie des Geheimbleibens verzichtet«. Insofern sind gerade Turmsprüche verbreitungsoffen, in vielen Fällen sind sie sogar ausdrücklich mit einer Verbreitungsabsicht aufgeschrieben. Typisch ist allerdings die klandestine Verpackung, wodurch sie sich paradoxerweise als geheime Texte in eine Öffentlichkeit begeben.
Öffentlich und doch vermummt, strategisch indiskret und dabei in der Rahmung diskret, diffus von der Erzeugerseite und adressiert an ein diffuses Publikum. Dem entspricht, dass sie, typographisch betrachtet, formatfrei sind, in Groß- oder Kleinbuchstaben, akribisch gekritzelt oder in schwungvoller Ästhetik aufgetragen.
Somit enthält die Kommunikation hier eine Sammlung von Anfängen. Sie wird auch typographisch bestimmt durch die Gleichzeitigkeit von Geheimnis und Proklamation, von risikobereiter Schamlosigkeit des Ausdrucks sowie der in Anspruch genommenen Werte, getarnt durch das Versteck, aus dem heraus man sich risikolos zu Wort melden kann. Die psychische Entsprechung einer derartigen Kommunikation, die es mit dem Appell, dem Aufschrei oder dem gelegentlich witzigen Einfall genug sein lässt, wäre eine Form der Verklemmung, der kommunikativen Verarmung, die im Schutz der Anonymität der Kabine oder an der stummen Wandtafel die Chance wahrnimmt, sich Gehör zu verschaffen, eine Art abschließender Kommentar, ein usurpiertes »ceterum censeo«.
Wer der Funktion der Sprüche nachspürt, stößt nicht zufällig, ganz unabhängig von der jeweiligen Absicht, auf das Ensemble von Beteiligungsformen, die Georg Simmel dem »Dritten« zuweist, einer sozialen Figur, in der sich Einschluss wie Ausschluss aus einer gegebenen Austauschbeziehung bündeln: Der Streitstifter, der Streitschlichter und der »lachende Dritte« sind auch bei Turmsprüchen die Kostüme, in denen sich die Texte zu Wort melden. Die Sprüche reagieren auf eine laufende Kommunikation, die andernorts stattfindet oder stattgefunden hat, selten raffiniert selbstironisch wie in der Überschrift vom »Institut für vergleichende Irrelevanz«. Oder auch »Turm, ich will ein Kind von dir«.
In Debatten will der Turmspruch eingreifen, gleichzeitig verweigert er sich deren Regeln. Die Weisheit der Botschaften liegt in der Wahl ihres Kontextes; sie melden sich von außen zu Wort, woraus ihre konversationelle Illegitimität folgt, die allerdings in Kauf genommen wird. Ihre Dummheit oder Beschränktheit liegt darin, dass sie der direkten Ansprache entsagen und auf das Paradox einer anonymen Resonanz setzen, dem Kassiber vergleichbar, also im Vertrauen darauf, dass es unter den flüchtigen Lesern eine Vermittlung schon geben werde.
Vermessen und zugleich gehemmt, indiskret und geheimnistuerisch, lässt das Ensemble der Turmsprüche einen Raum latenter Wahrnehmungen, latenter Spannungen, Wünsche und Weltsichten des Dritten entstehen, eine Gegenfigur der vernünftigen Verständigung. Schon wenige Beispiele der Turmsprüche, Zwischenrufe aus dem Alltag eines Bildungsprozesses, gestatten einen Einblick in den Entwurf einer akademischen Lebensform, deren Teilnehmer sich im universitären Alltag auf Rationalität, Verständigung und methodisch raffinierten Streit verpflichtet haben. Und wie so oft im unerschöpflichen Raum der unbewussten Phantasien, liegen Innovation und Destruktion, Erkenntnis und Verkennung dicht beieinander: »Theorie ist keine Leidenschaft des Kopfes, sie ist der Kopf der Leidenschaft.« Als bizarre, skurrile Dokumente der Jungklugheit werden sie einst einer staunenden archäologischen Neugier vor Augen stehen, gestückelte Tagesreste einer dynamischen Diskurswelt und Lebensform, einem Rätselbild gleich: »Kein Pfennig für das Thieu-Regime«.
Als der Soziologe Ralf Dahrendorf vor langer Zeit das sozialdemokratische Zeitalter vorausgesagt hat, muss er an die CDU gedacht haben. Mittlerweile braucht es keinen soziologischen Scharfsinn, die Spatzen pfeifen es von den Dächern. Die Partei sozialdemokratisiert sich in einem Tempo, dass es ihren mittelständischen Wählerschichten die Sprache verschlägt, während ihre große Konkurrenz sich beeilt, in die Mikrophone zu rufen: »Wir sind das Original.« Der rasante Umbau der politischen Programmatik, der jeden konservativen Protest wie einen Anachronismus erscheinen lässt, ist als Werteverlust ungenau umschrieben. Vielmehr greift er den Strukturwandel der Institutionen, Vereine und politischen Gemeinschaften auf, der nach zwanzig Jahren, in denen im Osten die erste Generation ohne eigene Erfahrungen der Diktatur aufgewachsen ist, erkennbar wird. »Es wächst zusammen, was zusammengehört«, kaum erinnert man sich noch an die pathetische Formel Willy Brandts. In den Institutionen zeigen sich Konturen des neuen Deutschlands, sie bestimmen Lebensform, Wertverständnis und Selbstgefühl, sie enthalten Antworten auf die Frage, »wie« zusammengewachsen ist, was zusammengehört. In der europabeflissenen Nation wird sie ungern gestellt, obwohl sie so nach vorn drängt wie in den sechziger Jahren der alten Bundesrepublik, als das spröde Lebensarrangement des »Wir sind wieder wer« von der Jugend auf seine Vorgeschichte abgeklopft wurde – auch damals schon verbunden mit der Suche nach einem »Narrativ«, das die Vergangenheit der Eltern nicht überspringt, sondern zu verstehen ermöglicht.
Tarnen und Täuschen sind die Überlebensmuster, die Menschen während der Diktatur einzuüben und zu kultivieren gezwungen waren. Wie in allen Diktaturen dieser Welt ließ sich nur so der Konformitätsdruck des Regimes ertragen, und allein im Tarnen und Täuschen war es möglich, im trostlosen Alltag einer demotivierenden Mangelwirtschaft über die Runden zu kommen. Der strategischen Unaufrichtigkeit lag zugrunde die kontinuierliche Bedrohung, schikaniert oder verhaftet zu werden, und erzwang im Sich-Verstellen ein gespenstisches Echo. Dass das eigene Leben erzwungenermaßen zwischen innerer Phantasiewelt und der Fügsamkeit im öffentlichen Leben gespalten wird, davon konnte man sich nach den jüngsten erfolgreichen DDR-Romanen von Tellkamp, Ruge und Schalansky ein Bild machen. Innere seelische Aushöhlung, die lakonisch-mechanische Teilhabe am öffentlichen Leben oder auch das Sich-Einkapseln in das schüttere Selbstbild aufgeschobenen Gutmenschentums, dergleichen zählte zu den Schritten der Realitätsanpassung, die schon die vorausgehende Diktatur des Nationalsozialismus abverlangt hatte.
Zu Zeiten der DDR, die nicht als Ausnahmediktatur, sondern als Alltagsdiktatur in einem Zeitraum von zwei Generationen einstellungsprägend war, war Diskretion nicht etwa Schutz, sondern galt als gefährlich, Bestandteil des opportunistischen Lebens im »rundum verschlossenen neurotischen Land«, in der »Grauzone morgens« (Durs Grünbein). Entsprechend entfaltete sich das Enttarnen, der Verdacht, die Spionage bis zur Denunziation als eine Praxis, auf die man sich einzustellen hatte. In der täglich rituell inszenierten Gemeinschaft, sei es die des Volkes oder der Klasse, wird die Misanthropie eine ethische Maxime im Alltagsleben, Desinteresse und Solidarverzicht stellen sich als die langfristigen politischen Folgen ein. Sich zu besuchen war riskant, der »Feind« – so hieß es übrigens in beiden Diktaturen – hörte überall mit. Als Ausdruck und Folge der Konformitätserwartung entstand das Misstrauen als ein Kultur gewordener Habitus des Verdachts. Dessen Wirkungen wurden eine Zeitlang, mal heftig im Feuilleton, mal harmlos beschränkt auf die Kracher des Kabaretts, in der verniedlichenden Ossi-Wessi-Hakelei zum Gesprächsthema.
Zurechnungen dieser Art vereinfachen das Drama einer grandiosen Selbsttäuschung, in der das eigene Leben verlief. Nicht die Einführung der Marktgesellschaft, die Treuhand oder die westliche Lebensform löste in den neuen Bundesländern den Schmerz aus, der nach dem Taumel über die Wiedervereinigung übermächtig wurde. Vielmehr war es die Einsicht in die existentielle Bodenlosigkeit der Orientierung, die Einsicht in die Jahrzehnte der Verstellung. An ein Leben im Verdacht hatte man sich gewöhnt, in der Diktatur war es zur zweiten Natur geworden. Das Gefühl, ständig auf der Hut sein zu müssen, begleitete die berufliche Existenz, das Engagement für die öffentliche Ordnung, aber es drang als übergroße Skepsis selbst in die Privatsphäre, in Ehe und Familie ein. Gewohnheiten lassen sich jedoch nicht von heute auf morgen abschütteln; es ist der Verdacht, der jedes commitment in Zweifel zieht und derzeit den Institutionenraum der alten Bundesrepublik um seine Geltung bringt.
Keine Frage, mit wachsendem zeitlichen Abstand zeigt die Solidarität unter den alten und neuen Bundesländern ihre Wirkung. Auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof etwa hört man auf Sächsisch – und nicht nur auf Schwäbisch –, wann der nächste Zug nach Tübingen geht. Die bedrückenden Jahre ungleicher Wohlstandsteilhabe geraten in Vergessenheit. Aber es scheint, als gerieten darüber die zivilisatorischen Minima eines wiedererwachten bürgerlichen Lebens ins Schlingern, die im mühsamen Aufstieg aus den Ruinen des Kriegs auch in den sogenannten »alten« Bundesländern keineswegs leicht zu erringen waren. Überflüssig erscheinen Takt und Diplomatie, überflüssig erscheint das, was Niklas Luhmann einmal den Latenzschutz der Institutionen genannt hat, die Regeln, die für ein erträgliches Miteinander so wichtig sind. Dass Vertrauen gut, aber Kontrolle besser sei, wird zum Mantra derjenigen, die im alten Westen, in der Kindergartenleitung, in den Kollegien der Gymnasien oder den mittleren Etagen der Unternehmen angekommen sind.
Zur Diskretion, so schrieb der Philosoph Helmuth Plessner, einer der wenigen Denker des bürgerlichen Deutschland, in seiner Schrift gegen den sozialen Radikalismus der zwanziger Jahre, gehöre die »Weisheit des Taktes: Schonung des anderen um meiner selbst willen, Schonung meiner selbst um des anderen willen ist der Rechtsgrund – so paradox es klingt – für die grundlosen Zwischenspiele unseres gesellschaftlichen Lebens, für das absolut Überflüssige, mit dem wir das bloß Erträgliche angenehm, spannend und reich gestalten.« Takt und Diskretion, die den sozialen Austausch elastisch halten, sind Errungenschaften eines zivilen Miteinanders und nicht etwa bürgerliches Dekor oder verzichtbarer Schnörkel.
Von der bürgerlichen Lebensform waren die Menschen unter der DDR-Diktatur weit entfernt, aber es scheint, als ermöglichte eine heruntergekommene Wirtschaft es, auf groteske Weise modern zu sein. Wer eine größere Wohnung wünschte, entschloss sich zur Heirat. Kinderkrippen? Unverständlich, warum man sich im Westen so schwer damit tut, die große Errungenschaft der DDR flächendeckend und mit Rechtsanspruch 21