Marilynne Robinson
LILA
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Uda Strätling
FISCHER E-Books
Marilynne Robinson, geboren 1943, ist eine preisgekrönte amerikanische Autorin und Essayistin. Ihr Roman ›Housekeeping‹ (1980) wurde mit dem PEN Award ausgezeichnet, ›Gilead‹ (2004) mit dem Pulitzer Prize (Fiction) und dem National Book Critics Circle Award. ›Home‹ (2008) erhielt den Orange Prize for Fiction. Ihr Roman ›Lila‹ (2014) bildet den Abschluss der Trilogie, war »New York Times«-Besteller und wurde mit dem National Book Critics Circle Award 2015 ausgezeichnet. Marilynne Robinson lebt in Iowa und lehrt am Writers' Workshop der University of Iowa.
Weitere Informationen finden sie auf www.fischerverlage.de
Im Amerika der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts, der Zeit der Wirtschaftskrise und Dürrekatastrophen, wächst Lila als Waise auf. Bis Doll sie einfach mitnimmt. Mit störrischem Durchhaltewillen nährt und wärmt sie das Kind, dabei hat sie selber nichts. Als Wanderarbeiterin muss sie sich ihr karges Leben aus den Resten anderer zusammenkratzen. Alles, was die beiden haben, ist ihre geschwisterliche Liebe und eine schartige Klinge, um sich zu schützen.
Jahre später muss sich Lila alleine durchschlagen, bis sie in der Kleinstadt Gilead im Mittleren Westen Unterschlupf und Dach findet: Sie begegnet John, einem älteren Mann, der sich, von seiner Sorge selbst überrascht, um die Streunerin kümmert, bis sich zwischen den beiden eine zarte Liebe bildet - das kostbarste Geschenk, das sich zwei Menschen machen können.
Hellsichtig für die Zerbrechlichkeit der Menschen und unerschrocken von der Armut der Welt erzählt Marilynne Robinson von der Solidarität der Müden und Heimatlosen, von der Einsamkeit, die blind macht, und von der Würde derer, die Leben retten, ohne ein Wort darüber zu verlieren.
Marilynne Robinson gilt als eine der größten Schriftstellerinnen Amerikas, deren Helden unvergesslich sind und deren Empathie eine Tiefe erreicht, die wie aus der Welt gefallen scheint.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel
›Lila‹ bei Farrar, Straus and Giroux, New York
Copyright © 2014 by Marilynne Robinson
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2015 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
Coverabbildung: © 2011 Kenneth West
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403521-5
Für Iowa
Das Kind war einfach da im Dunkeln auf der Veranda, zusammengekauert gegen die Kälte, leergeheult und halbwach nur. Es konnte nicht mehr rufen, und es hörte sowieso keiner, oder wenn, dann würde alles nur schlimmer werden. Irgendwer hatte gebrüllt, Stopf ihrs Maul, sonst komm ich selber!, und da hatte eine Frau sie am Arm unter dem Tisch vorgezerrt und sie raus auf die Veranda geschoben und die Tür zugemacht, und die Katzen huschten unters Haus. Die ließen sie nicht mehr an sich ran, weil sie die manchmal am Schwanz hochzog. Ihre Arme waren über und über voll Kratzer, und die Kratzer brannten. Sie war den Katzen unters Haus nachgekrochen, aber selbst wenn sie eine in die Hände kriegte, zappelte die fester, je fester sie hielt, und biss, also ließ sie los. Was haust du so gegens Fliegengitter? Dich will hier keiner, wenn du dich so aufführst. Und dann ging die Tür wieder zu, und nach einer Zeit wurde Nacht. Die Leute drinnen zankten sich müde, und es war lange Nacht. Sie hatte Angst unterm Haus und Angst auf der Veranda, aber wenn sie an der Tür blieb, ging die vielleicht wieder auf. Ein Mond glotzte ihr ins Gesicht, und im Wald waren Geräusche, und doch schlief sie halb, als Doll den Trampelpfad hochkam und sie da fand, elend wie nur je, und sie in die Arme hochnahm und in ihren Schal wickelte und sagte, »Tja, wenn ich wüsste, wohin. Wo sollen wir hin?«
Wenn es auf der Welt eine gab, die das Kind mehr hasste als alle anderen, dann Doll. Die schrubbte mit einem nassen Lappen an ihrem Gesicht oder wollte ihr mit ihrem zerknacksten Kamm an die Haare und die Knoten rausbringen. Doll schlief nachts meist drinnen im Haus, und vielleicht verdiente sie sich ihren Platz mit dem Fegen. Sie war die Einzige, die fegte, und sie schimpfte dabei, Bringt verdammt gar nichts, worauf jemand sagte, Dann lass es, verdammt. Es schliefen oft Leute gleich da auf dem Fußboden auf ihren zerwühlten Steppdecken und alten Säcken. Das war von Mal zu Mal anders.
Wenn das Kind unter dem Tisch blieb, vergaßen die anderen es meist. Der Tisch war hinten in eine Ecke geschoben, und es machte sich keiner die Mühe, drunterzugreifen und sie da rauszuzerren, solange sie still genug hielt. Wenn Doll abends kam, kniete sie sich hin und deckte sie mit ihrem Schal zu, aber morgens ging sie so früh, dass das Kind den fehlenden Schal spürte, und die Kälte in der verlorenen Wärme umso mehr, und unruhig wurde und ein bisschen schimpfte. Aber dafür wartete was auf sie, wenn sie wach wurde, Hartbrot, ein Apfel, irgendwas, und immer ein Becher Wasser. Einmal war da ein Spielzeug. Das war bloß eine Kastanie mit etwas Stoff drum und mit Faden verschnürt, zwei Knoten zu beiden Seiten und zwei unten, wie Hände und Füße. Das Kind flüsterte mit ihm und schob es sich nachts unters Hemd.
Von dieser Zeit würde Lila nie jemand erzählen. Sie wusste, es würde sich schlimm anhören, obwohl es das gar nicht war. Doll hatte sie in ihre Arme hochgenommen und in ihren Schal gewickelt. »Still jetzt, pscht«, sagte sie. »Weck bloß niemand auf.« Sie setzte sich das Kind auf die Hüfte und trug sie ins dunkle Haus, trat so leise und vorsichtig auf, wie sie konnte, und kramte das Bündel hervor, das sie in ihrer Ecke verwahrte, und dann gingen sie wieder hinaus ins kalte Dunkel und die Stufen hinab. Das Haus war ranzig vor Schlaf, und die Nacht windig, voll Baumgeräusche. Der Mond war weg, und es regnete, aber so fein erst mal nur, dass es bloß prickelte auf der Haut. Das Kind war vier oder fünf, spindelbeinig, und Doll konnte es nicht ganz bedeckt halten, aber sie rieb ihm mit der einen großen, groben Hand die Waden und strich ihm das Nass von Wangen und Haar. Sie flüsterte, »Weiß selber nicht, was mir da einfällt. Hatt ich nicht vor. Oder vielleicht doch. Weiß nicht. Scheints doch. Nicht grad die beste Nacht dafür.« Sie schlug ihre Schürze um die Beine des Kinds hoch und trug es quer über die Lichtung und weiter. Kann sein, dass die Tür aufging, kann sein, dass eine Frau ihnen hinterherrief, Wo willst du hin mit dem Balg?, und dann, gleich darauf, die Tür wieder zuzog, als hätte sie damit ihre Schuldigkeit getan. »Tja«, flüsterte Doll, »mal sehen.«
Der Weg war kaum mehr als ein Pfad, aber Doll war ihn so oft schon im Dunkeln gegangen, dass sie sicher über Wurzeln und um Löcher herumstieg und dabei keinmal anhielt oder stolperte. Sie konnte auch dann noch schnell gehen, wenn es gar kein Licht gab. Und sie war so stark, dass selbst eine sperrige Last wie ein spindelbeiniges Kind dabei in ihren Armen fast schlafen konnte. Lila wusste, dass es kaum so gewesen sein konnte wie in ihrer Erinnerung, als würde sie im Wind fortgetragen und als hielten sie Arme umschlungen, wie um zu sagen, sie wäre in Sicherheit, und als gäbe es ein Flüstern an ihrem Ohr, wie um zu sagen, sie müsse nicht einsam sein. Das Flüstern sagte, »Ich muss ein Plätzchen finden, wo ich dich absetzen kann. Ich muss ein trockenes Plätzchen finden.« Und dann saßen sie auf der Erde auf Kiefernnadeln, Doll an einen Baumstamm gelehnt und das Kind in ihren Schoß geschmiegt, an ihre Brust, ihrem Herzschlag lauschend, ihn spürend. Der Regen fiel jetzt schwer herab. Ab und an bespritzten sie dicke Tropfen. Doll sagte, »Hätt ich wissen müssen, dass Regen aufzieht. Und jetzt hast du Fieber.« Aber das Kind lag an ihrer Brust, hoffte, da bleiben zu können, hoffte, der Regen würde nie aufhören. Doll war wie die einsamste Frau auf der Welt, und sie war das einsamste Kind, und da saßen sie nun, sie beide, und hielten einander im Regen warm.
Als der Regen aufhörte, rappelte Doll sich hoch, mühsam, wegen dem Kind am Hals, und packte so gut es ging den Schal um sie rum. Sie sagte, »Ich weiß da was, ich weiß ein Plätzchen.« Dem Kind sackte der Kopf immer wieder nach hinten weg, dann ruckte Doll ihn wieder hoch und versuchte, sie zugedeckt zu halten. »Gleich sind wir da.«
Es war eine weitere Blockhütte mit Veranda und festgestampftem Lehm davor. Ein alter schwarzer Hund stemmte sich auf die Vorderbeine hoch, dann hinten, und bellte, und eine alte Frau kam an die Tür. Sie sagte, »Hab keine Arbeit für dich, Doll. Auch nichts herzugeben.«
Doll setzte sich auf die Verandakante. »Wollt mich bloß mal ein bisschen ausruhen.«
»Was hast du da? Wo hast du das Kind her?«
»Frag nicht.«
»Besser, du bringst es zurück.«
»Schon möglich. Werd ich aber wohl nicht.«
»Besser, du gibst ihr wenigstens zu essen.«
Doll sagte nichts.
Die alte Frau verschwand im Haus und brachte einen Bissen Maisbrot heraus. Sie sagte, »Ich wollt gerade zum Melken. Besser, du tust sie herein, ihr wird kalt.«
Doll stellte sich mit ihr an den Ofen, wo bloß ein letzter Rest zusammengeschobene Glut wärmte. Sie flüsterte, »Pscht. Ich hab was für dich. Du musst essen.« Aber das Kind wollte nicht zu sich kommen, konnte den Kopf nicht aus eigener Kraft halten. Also kniete sich Doll, damit sie die Hände frei hätte, mit ihr auf den Boden und kniff kleine Kugeln Maisbrot ab und schob sie dem Kind in den Mund, Mal um Mal. »Du musst schlucken.«
Die alte Frau kehrte mit einem Eimer Milch zurück. »Kuhwarm«, sagte sie. »Was Bessres gibt’s nicht für Kinder.« Ein starker Grasgeruch, rohe Milch in einem Blechbecher. Doll flößte sie ihr in Schlückchen ein, hielt ihren Kopf in der Armbeuge.
»Na, da hat sie wenigstens was im Bauch, wenn sie’s bei sich behält. Ich leg mal Holz nach, dann können wir sie ein bisschen saubermachen.«
Als es in der Hütte wärmer war und auch das Wasser im Kessel warm, stellte die alte Frau sie neben dem Ofen auf dem Boden in eine weiße Schüssel, und Doll wusch sie mit einem Lappen und einem Stückchen Seife, rubbelte ein bisschen, wo die Katzen sie gekratzt hatten, und an den Sandflohbissen und Mückenstichen, die sie selber aufgekratzt hatte, und da, wo Spreißel in ihren Knien waren, und da, wo sie die Angewohnheit hatte, sich in die Hand zu beißen. Das Wasser in der Schüssel wurde so grau, dass sie es vor die Tür kippten und von vorne anfingen. Ihr ganzer Körper bibberte vor Kälte und Brennen. »Läuse«, sagte die alte Frau. »Das Haar muss ab.« Sie holte ein Rasiermesser und begann, das verfilzte Haar so dicht am Kinderschädel abzuscheren, wie sie es wagte – »Ich hab eine Klinge. Dass sie ja stillhält.« Dann seiften sie ihr den Kopf ein und schrubbten, und ihr liefen Wasser und Seifenlauge in die Augen, und sie wehrte sich und brüllte aus Leibeskräften und schrie, sie sollen alle beide in der Hölle schmoren. Die alte Frau meinte, »Das musst du ihr aber noch abgewöhnen.«
Doll tupfte die Seife und die Tränen mit dem Saum ihrer Schürze vom Kindergesicht. »Habs nie übers Herz gebracht, sie zu schelten. Was andres hab ich sie nie reden hören.« Sie machten ihr ein paar Kittel aus Mehlsäcken, in die sie Löcher schnitten für den Kopf und die Arme. Die waren erst steif und rochen wie lange in einer Truhe oder im Schrank gelegen, und sie hatten überall kleine Blumen drauf wie Dolls Schürze.
Ihr kam es vor wie eine einzige lange Nacht, aber es müssen ein, zwei Wochen gewesen sein, sie immerzu auf Dolls Schoß gewiegt, während die alte Frau um sie herumstrich.
»Als hättst du nicht schon genug Ärger. Dich mit einem Kind davonzumachen, das dir ohnehin stirbt.«
»Ich lass sie nicht sterben.«
»Ach ja? Wann hast du schon mal was zu sagen gehabt?«
»Hätt ich sie dagelassen, wär sie schon tot.«
»Das sehen ihre Leute aber vielleicht anders. Wissen die, dass du sie hast? Was sagst du denen, wenn sie sie suchen kommen? Hast sie im Wald verscharrt? Hinten bei den Kartoffeln? Als hätt ich nicht schon genug Ärger.«
Doll sagte, »Wird keiner kommen.«
»Da könntest du recht haben. So ein spilleriges Ding hab ich mein Lebtag noch nicht gesehen.«
Aber so viel sie auch redete, sie rührte doch ständig in einem Topf Grütze mit Restmelasse. Von der gab Doll dem Kind ein, zwei Löffel, wiegte sie ein bisschen, und dann noch einen Löffel. Sie wiegte und fütterte sie die ganze Nacht und döste mit ihrer Wange an der heißen Kinderstirn.
Die alte Frau stand ab und an auf und legte im Ofen Holz nach. »Behält sie was bei sich?«
»Das meiste.«
»Trinkt sie ihr Wasser?«
»Etwas.«
Wenn die alte Frau sich wieder entfernte, flüsterte Doll ihr zu, »Wehe, du stirbst mir. Und ich hätt mich umsonst geplagt. Stirb mir ja nicht.« Und dann, so, dass das Kind es kaum hören konnte, »Na ja, wenn’s sein muss, stirbst du. Ich weiß schon. Aber ich hab dich doch immerhin aus dem Regen geholt, oder nicht? Wir haben es doch warm hier, oder nicht?«
Dann irgendwann wieder die alte Frau. »Leg sie ruhig zu mir ins Bett. Ich schätze, ich werd heut Nacht nicht viel schlafen.«
»Ich muss aufpassen, dass sie richtig atmet.«
»Ich lös dich ab.«
»Sie klammert so.«
»Tja.« Die alte Frau schleppte von ihrem Bett die Steppdecke an und breitete sie über sie beide aus.
Das Kind konnte Dolls Herz schlagen hören, und sie fühlte das Auf und Ab ihres Atems. Ihr war zu warm, und sie wehrte sich gegen die Steppdecke und gegen Dolls Arme, während sie zugleich klammerte und an ihrem Hals hing.
Sie blieben Wochen, rund einen Monat, bei der alten Frau. Inzwischen war es morgens schon schwül, wenn Doll sie nach draußen brachte, an der Hand, weil ihre Beine noch schwach waren. Sie ging mit ihr im Hof umher, der unter den nackten Sohlen kühl und glatt war wie Lehm. Der Hund lag in der Sonne, Maul zwischen den Pfoten, und scherte sich nicht. Sie berührte das raue, heiße Fell an seinem Rücken, und ihre Hand roch sauer davon. Auf dem Hof ruckten Hühner, scharrten und pickten. Doll hatte geholfen, im Gemüsegarten einen Anfang zu machen, und wie das?, wo das Kind doch glaubte, es habe sie immerzu wer gehalten? Aber die Mohrrüben kamen schon langsam. Doll zog eine heraus, die kaum dicker war als ein Strohhalm. »Weich wie eine Feder«, sagte sie und berührte die Wange des Kindes mit dem zarten Strauß Grün. Sie strich mit den Fingern die Erde von der Wurzel. »Da. Kannst du essen.«
Dem Kind brannte es so weh im Hals, weil sie sagen wollte, Ich glaub, ich hab mein Stoffkind da im Haus gelassen. Glaub schon. Sie wusste ganz genau, wo, unter dem Tisch in der hintersten Ecke, ans Tischbein gelehnt, als würde es da sitzen. Sie könnte doch schnell zur Tür reinflitzen, es sich schnappen, und hast du was kannst du was wieder weg. Es brauchte sie ja niemand zu sehen. Aber dann wäre Doll vielleicht nicht mehr hier, bis sie zurückkam, und sie wusste sowieso nicht, wo das andere Haus war. Sie dachte an den Wald. Es war bloß ein olles Stoffkind, ganz verschmuddelt vom vielen Anfassen, weil sie es doch meist mit sich herumtrug. Aber sie hatten sie auf die Veranda geschubst, ehe sie es holen konnte, und die Katzen ließen sie nicht an sich ran, und dann kam Doll, und sie hatte doch gar nicht gewusst, dass sie weggehen würden, hatte das gar nicht kapiert. Also hatte sie es einfach dagelassen. Das hatte sie nie gewollt.
Doll zog dem Kind die Hand vom Mund. »Du sollst dich nicht immerzu beißen. Hab ich schon hundertmal gesagt.« Einmal strichen sie ihr Senf auf die Hand, einmal Essig, und beides leckte sie ab, weil es so brannte. Sie banden ihr einen Stoffstreifen um die Hand, und wenn sie daran lutschte, kam Blut durch und machte ihn rosa. »Du kannst mir jäten helfen. Dann hat die Hand was zu tun.« Und dann waren sie da einfach still in der Sonne und in dem Erdgeruch, knieten Seite an Seite, rupften die ganzen kleinen Keimlinge raus, die keine Mohrrüben waren, klitzekleine fette Blätter und weiße Wurzeln.
Die alte Frau kam raus, um ihnen dabei zuzusehen. »Hat ja kein bisschen Farbe. Pass auf, dass sie dir nicht verbrennt. Dann kratzt sie sich wieder.« Sie streckte dem Kind die Hand hin. »Was hältst du von ›Lila‹? Ich hatte eine Schwester Lila. Gib ihr einen hübschen Namen, und sie wird vielleicht hübsch.«
»Vielleicht«, sagte Doll. »Ist hin wie her.«
Aber der Sohn der alten Frau kehrte mit einer Frau heim, und es gab dort wirklich nicht so viel zu tun, dass Doll noch länger hätte bleiben können. Die alte Frau packte so viel Zeug zusammen, wie Doll tragen und noch das Kind tragen konnte, das noch nicht stark genug war, allein weit zu gehen, und der Sohn zeigte ihnen den Weg zur Hauptstraße, oder was sie drunter verstanden. Da trafen sie nach ein paar Tagen auf Doane und Marcelle. Als hätte Doll sie gesucht. Doane stand bei allen in gutem Ruf, redlich war er, und wer ihn als Tagner heuere, kriege ein anständiges Tagwerk. Aber es war natürlich nicht bloß Doane. Es gab Arthur mit seinen zwei Jungs, und Em und ihre Tochter Mellie, und es gab Marcelle. Die war Doanes Frau. Sie waren ein verheiratetes Paar.
Lange Zeit wusste Lila nichts davon, dass Wörter Buchstaben hatten und dass es andere Namen für Jahreszeiten gab als Säen und Heuen. Zieh vor dem Wetterwechsel nach Süden, zieh rechtzeitig zur Ernte nach Norden. Sie lebten in den Vereinigten Staaten von Amerika. Das hatte sie aus der Schule mitgebracht. Doll sagte, »Tja, irgendwas mussten sie dazu ja sagen.«
Einmal fragte Lila den Reverend, wie man Doane buchstabiert. Nur, was hatte er wirklich verstanden? Dan? Dumm? Vielleicht verdammt, weil sie oft was verschluckte? Er war sich nie sicher, was sie wusste und was nicht, und er litt so mit ihr, wenn er falschlag.
Er zögerte, und dann lachte er. »Vielleicht hilfst du mir mit einem Satz auf die Sprünge.«
»Es gab einen Mann, der nannte sich Doane. Den hab ich vor langer Zeit gekannt.«
»Verstehe«, sagte er. »Ich kannte mal einen Sloane. S-L-O- A-N-E.« So alt er auch war, konnte der Reverend doch gelegentlich noch rot werden. »Ein ähnlicher Name also. Nur mit D.«
»Als ich Kind war. Ich musste neulich an die alten Zeiten denken.« Sie hätte ihm nicht einmal so viel erzählt, nur war das Rot röter geworden, als sie sagte, sie hätte mal einen Mann gekannt.
Er nickte. »Verstehe.« Der Reverend bat sie nie, von den alten Zeiten zu erzählen. Er schien sich lieber gar nicht zu fragen, wo sie gewesen war und wie sie all die Jahre gelebt hatte, bevor sie tropfnass in der Kirche auftauchte. Doane hatte immer gesagt, die Kirchen wären nur hinter deinem Geld her, und sie hielten sich demnach von Kirchen fern, gingen schnurstracks dran vorbei, als wären sie schlauer als andere. Als hätten sie überhaupt Geld gehabt, hinter dem die Kirchen hätten her sein können. Aber der Regen war schlimm, und es war ein Sonntag, da standen sonst nirgends Türen offen. Die Kerzen überraschten sie. Kann sein, dass ihr alles deshalb so schön vorkam, weil sie länger nicht mehr gegessen hatte. Das macht oft alles heller. Heller und weiter weg. Wie wenn du, sobald du die Hand ausstreckst, an Glas fassen würdest. Sie sah ihm zu und vergaß, dass sie im selben Raum mit ihm war und er sehen würde, dass sie zusah. Er taufte an dem Morgen zwei neugeborene Kinder. Er war ein großer silbriger alter Mann und nahm die kleinen Babys alle beide sanft wie nur je was in die Arme. Eins hatte ein weißes Kleid an, das ihm weit über den Arm herabfiel, und als das Kind vom Wasser auf der Stirn greinte, sagte er, »Nun, ich wette, bei deiner ersten Geburt hast du genauso geweint. Das heißt, dass du lebst.« Und ihr kam der Gedanke, dass sie selber damals, in der Nacht, als Doll sie von der Veranda aufnahm, sie in ihren Schal wickelte und durch den Regen davontrug, ein zweites Mal geboren worden war. Die ist aber nicht deine Ma, das seh ich gleich.
Das Mädchen wusste scheints alles. Mellie. Die konnte sich rückwärts durchbiegen, bis sie die Hände flach auf der Erde hatte. Die konnte Rad schlagen. Die sagte, »Ich weiß, dass die da nicht deine Ma ist. Die sagt zu dir Sachen, die hätt dir deine Ma längst gesagt. Lutsch nicht an der Hand? Als wärst du ein Baby? Du bist todsicher Waise.« Sie sagte, »Ich kannte mal eine. Die hatte ganz mickrige Beine. Wie du. Die konnt auch nicht reden. Wahrscheinlich war sie deshalb Waise. Mit der war was verkehrt.«
Mellie war auf sie beide neugierig, im Gegensatz zu den anderen. Sie ließ sich zurückfallen, um neben ihnen herzugehen, und sie schob ihr Gesicht dicht vor das Gesicht des Kindes und glotzte. »Die hat einen wehen Fuß. Das ist schon mal das eine. Du musst Löwenzahnmilch drauf tun. Ich hab hier welche. Ich wette, ich kann sie tragen. Ich wette.« Dazu aß sie vielleicht eine Löwenzahnblüte, den gelben Teil, oder kaute auf Rotklee. Sie war fast durch und durch braun vor lauter Sommersprossen und ihr Haar von der Sonne fast weiß, sogar Augenbrauen und Wimpern. »Ich kann diese ollen Latzhosen nicht ausstehen. Die Jungs haben sie schon fast durchgewetzt, und jetzt muss ich den Rest auftragen. Sind bloß noch Flicken. Doane sagt, die sind aber zum Arbeiten besser. Ich hab ein Kleid. Meine Ma lässt mir den Saum raus.« Und weg war sie, spazierte auf den Händen davon.
Doll sagte, »Ein Plagegeist. Die muss immerzu plagen. Mach dir nichts draus.«
Lila sprach damals nicht. Doll sagte, »Sie kann. Sie will eben nicht.« Das lag teils daran, dass sie bei Doll alles bekam, was sie brauchte. Die weckte sie manchmal noch immer mitten in der Nacht wegen einem Bissen kalten Maisbrei. Und was Schimpfwörter waren, hatte Lila nicht mal gewusst, bis die alte Frau davon anfing. Meist besagten sie einfach: Lass mich zufrieden. Einmal hatte sie zu der alten Frau gesagt, sie wünscht sie zur Hölle und den Rücken kaputt, und da hatte die alte Frau sie hochgerissen und ihr einen Klaps gegeben und gesagt, Lass ja das Schimpfen. Das war, als sie von irgendwoher eine kleine Flasche Medizin für die wunde Stelle am Fuß angeschleppt hatte, die nicht heilen wollte, und was brannte das Zeug, als sie’s draufgab, und trotzdem war sie eingeschnappt, als das Kind gemein wurde. Weil Lila kein Versteck wusste, war sie in eine Ecke gekrochen und hatte sich so klein es ging zusammengerollt und die Augen ganz fest zugedrückt. Da sagte die alte Frau, »Herr im Himmel! Doll, komm mal! Sie hockt wieder in ihrer Ecke. Hat man je so ein Kind gesehen!«
Doll kam und kniete sich, nach Schweiß und nach Sonne riechend, zu ihr hin und hob sie sich auf den Schoß. Sie flüsterte, »Was machst du denn wieder, beißt an der Hand rum wie ein Baby!« Die alte Frau brachte den Schal, und Doll wickelte sie darin ein. Und die alte Frau sagte, »Die hört nur auf dich, Doll. Ich kann da nichts ausrichten.«
Über nichts von alledem sprachen sie jemals, nicht ein Wort in den vielen Jahren. Nicht über das Haus, aus dem Doll sie weggestohlen hatte, nicht über die alte Frau, die sie aufnahm. Den Schal allerdings behielten sie, bis er weich und dünn war wie Spinnweben. Aber ihr Geheimnis durchrieselte sie, wann immer sie Dolls Hand nahm und Doll ihre kurz drückte, wann immer sie sich erschöpft in die Mulde von Dolls Körper schmiegte, mit Dolls Arm als Kissen unter dem Kopf und dem Schal zum Zudecken. Jahre, nachdem aus ihr ein normales Kind geworden war, flüsterte Doll ihr, wenn sie mit fremden Leuten zu tun kriegten, ins Ohr, »Nicht schimpfen!«, und dann lachten sie miteinander und freuten sich an ihrem Geheimnis. Sie erwähnten nicht einmal die Nächte, die sie abseits der Flammen von Doanes Lagerfeuer hingebettet verbrachten, oder die Tage, die sie ein gutes Stück hinter Doanes Leuten herzogen, als gingen sie bloß zufällig in dieselbe Richtung.
Sie konnten deshalb für sich bleiben, weil sie eigenes Maismehl hatten und einen kleinen Topf für den Brei. Jeden Abend machte Doll Feuer. Im Gehen hielt sie Ausschau nach Essbarem. Sie fing einen Hasen in der Schürze und erschlug ihn mit einem Stein und schmorte ihn am Abend zu einem Gänsefußgericht. Sie fand ein Nest Vogeleier. Sie fand Zichorie und röstete die Wurzeln, die wären Medizin, sagte sie, gut gegen Bauchweh. Eines Morgens nahm sie das Kind schließlich auf den Arm und folgte Doanes Leuten in ein junges Maisfeld und begann dort in den Reihen zu jäten, wo die mit ihren Hacken nicht hinkamen, und keiner sagte dazu was. Das Kind blieb dicht bei ihr, hielt sich an ihrem Rockzipfel fest. Als Marcelle den anderen einen Eimer Brunnenwasser brachte, brachte sie den auch zu ihnen. Doll dankte ihr und hielt dem Kind den Schöpfbecher an die Lippen, dann wischte sie eine Hand an ihrem Kleid ab, tauchte die Finger in den Becher, um sie zu benetzen und dem Kind den Dreck aus dem Gesicht zu wischen. Dem liefen die kalten Tropfen über das Kinn und den Hals und ins feuchte Kleid, und es lachte. Überrascht sagte Doll, »Da hör sich das einer an!«
Marcelle stand daneben, sah zu, wartete auf den Becher. »Hat eine Zeitlang gemickert, wie?«
Doll nickte. »Ja, gemickert.«
»Sie könnte auf dem Wagen mitfahren. Du hast viel zu tragen.«
»Ich hab sie gern in meiner Nähe.«
»Dann pack dein Zeug da mit rauf.«
Doll war keine, die sich vordrängte, doch am nächsten Morgen, als sie ihr Zeug verschnürt hatte, kam Doane, nahm ihr das Bündel ab und packte es hinten aufs Fuhrwerk. Er sagte, »Wir haben Potacken in der Glut, Ma’am. Wenn ihr mitessen wollt.«
Ab da waren auch sie und Doll Doanes Leute, meist jedenfalls, solange die Zeiten noch anständig waren. Das mussten so acht Jahre gewesen sein, zurückgerechnet vom Crash und ohne das eine Jahr, das Doll sie auf die Schule schickte. Für Doanes Leute brachen die schlechten Zeiten an, als das Maultier verreckte, ungefähr zwei Jahre, bevor auch alle anderen ärmer wurden und der Wind dreckig. Die ganze Welt schien sich genau zu der Zeit zu ändern, erst war das Maultier weg, und das Fuhrwerk nutzlos. Sie konnten es nicht einmal losschlagen, und sie mussten den Großteil ihrer Sachen zurücklassen. Das Maultier starb auf einem einsamen Wegstück, wo sie überhaupt nie gewesen wären, hätte das Tier nur durch das leiseste Anzeichen verraten, was mit ihm gleich passieren würde. Es sank, als Arthur es einspannen wollte, einfach auf die Knie und fiel um.
Von dem Crash hörte Lila erst Jahre, nachdem er passiert war, obwohl sie auch, als sie den Namen dafür kannte, keine Ahnung hatte, was das eigentlich war. Aber der Name passte schon, irgendwie. Er war wie einer dieser Stürme, die du glatt verschlafen konntest und wo dann am Morgen, wenn du aufwachtest, alles verwüstet war oder weg. Die meisten Farmer, die lange mit Doane und Marcelle zu tun gehabt hatten, verkauften und zogen weiter oder zogen gleich ohne weiter, und die, die blieben, hatten keine Arbeit zu vergeben oder kein Geld, sie zu entlohnen. Aber davor gab es die paar Jahre, wo sie scheints wussten, wer sie waren und wo sie zu sein und was sie zu tun hatten. Gab es die paar Jahre, wo das Kind langsam kräftiger wurde und wuchs, wo Doll noch sie selbst war, wo Mellie immerzu plagen und ihre Streiche spielen musste, wie ein halbwüchsiger Teufel, der sich zu benehmen versuchte. Da konnte es sein, dass Doane sich abends eine Weile vom Lager entfernte, um irgendwo was zu geringem beiderseitigen Nutzen gegen was einzutauschen oder sich mit jemand über einen Taglohn handelseinig zu werden. Wenn er dann zurückkam, hielt er gleich Ausschau nach Marcelle, und er sagte kein Wort, aber sobald er sie entdeckte, ging er hin und stellte sich zu ihr, und dann sah man, was immer sonst ihm durch den Kopf gehen mochte, dass er mit der Welt ganz zufrieden war.
Es war eine feine Sache, fanden sie, zu leben wie sie, draußen unter freiem Himmel, jedenfalls bei halbwegs gutem Wetter. Und da war ja was dran, solange die Zeiten noch gut waren. Wenn sie müde und dreckig waren, dann von der Arbeit, und das war Dreck, der einem gar nicht vorkam wie Dreck. Arbeit hieß, reichlich zu essen, hieß ein paar Cents für Süßigkeiten oder Haarbänder oder auch mal zehn für eine Minstrelshow, wenn sie durch einen größeren Ort kamen. Nie schlugen sie ihr Lager an einem Fluss auf, ohne zu baden und Wäsche zu waschen, wenn das Wetter hielt und sie bleiben konnten, bis die Sachen wieder trocken waren. Das war vor der Zeit, als es kein Entrinnen mehr gab vor dem Staub, der sie husten und husten machte und den der Wind ihnen durch die Kleider bis auf die Haut trieb. Das war die Zeit, wo sie noch stolze Leute waren. Wenn es ging, flickten und stopften und säumten sie, was gerade nottat. Sie achteten auf ihre Sachen. Das sah jeder.
Lila arbeitete zu gern im Garten vom Reverend. Er setzte kaum je einen Fuß hinein. Früher war ab und an wer aus der Gemeinde gekommen, damit das Unkraut nicht überhandnahm. Anfangs, als sie hinging, um die Rosen zu pflegen und Ordnung zu schaffen, hatte sie in einer Ecke einen kleinen Gemüsegarten angelegt und ein paar Kartoffeln gepflanzt, nur für sich. Ein paar Bohnen. Sie sah keinen Grund, ein so sonniges Plätzchen ungenutzt zu lassen, und es war guter Boden. Das hatte sie lange nicht mehr gehabt. Sie liebte den Geruch der Erde, das Gefühl. Sie musste sich zwingen, sich den Dreck von den Händen zu waschen.
Jetzt, wo sie die Frau vom Reverend war, hatte sie den Gemüsegarten viel größer gemacht. Sie bekam so viel Samen und Saat, wie sie wollte. Sie aß noch immer gern Mohrrüben gleich aus dem Beet, aber sie wusste, dass man sowas nicht tat, also passte sie auf. Sie dachte manchmal daran, den Jungen kosten zu lassen, damit er lernte, wie das schmeckt. (Zwei-, dreimal hatte sie sogar gedacht, sie würde ihn stehlen, ihn in die Wälder davontragen oder die Landstraße hinab, damit sie ihn für sich hätte und ihm das andere Leben zeigen könnte. Aber dann stellte sie sich den alten Mann vor, den Reverend, und wie er ihnen nachrief, »Wo willst du hin mit dem Kind?« Der Kummer in seiner Stimme wäre schrecklich. Er selbst würde darüber staunen. Du würdst nicht meinen, dass der Körper so einen Klang überhaupt in sich hat. Aber ihr wäre er vertraut. Das bildete sie sich nicht bloß ein, sie kannte diesen Kummer von irgendwoher, und ihr war, als würde sie was verstehen, wenn sie ihn noch einmal hören könnte. Das war es, was sie beinahe wollte.)
Nein, das war nur ein Traum, den sie ein paarmal gehabt hatte, zwei-, dreimal, eine Art Tagtraum. Und es war nur der Traum, der in ihrem Kopf sich festsetzte, nicht wirklich der Gedanke daran, das Kind seinem Vater wegzunehmen. Wenn er wüsste, was sie dachte, würde er wahrscheinlich sagen, Du wirst ihn bald genug ganz für dich haben. Manchmal wünschte sie, er würde ihre Gedanken kennen, weil sie glaubte, er könnte sie ihr vergeben. Weil der Herrgott sie nämlich vergeben würde, ziemlich sicher, dachte sie. Wenn die alten Männer was von ihrem Herrgott verstanden. Wenn es einen Herrgott gab. Doll hatte Ihn nie erwähnt.
Lilas Gedanken waren manchmal seltsam. Waren sie immer gewesen. Sie hatte gehofft, sich taufen zu lassen würde dagegen helfen, aber dem war nicht so. Eines Tages würde sie ihn danach fragen. Tja, Doll sagte immer, Tu einfach, was sie dir sagen, und halt still, mehr wird nie wer von dir wollen. Lila hatte gelernt, dass es aber doch um mehr ging. Trotzdem, sie hielt viel still. Wobei er auch nicht viel von ihr verlangte. Gar nichts, eigentlich. In den ersten Wochen konnte sie ihm ansehen, dass er bloß froh war, sie im Haus zu haben, wenn er heimkam, oder in der Küche, wenn er aus seinem Arbeitszimmer herunterkam. Sogar ein bisschen erleichtert. Vielleicht kannte er sie besser, als sie dachte. Aber dann wäre er andererseits kaum so froh, sie dort zu finden. Manchmal wünschte sie, er würde ihr sagen, was sie tun soll, aber er war mit ihr immer so vorsichtig. Also beobachtete sie die anderen Ehefrauen und tat, was die taten, so gut sie es sich zusammenreimen konnte.
Es gab so viel falsch zu machen. Sie war zu der ersten Versammlung in der Kirche gekommen, weil er sie eingeladen hatte, aber als sie den Raum betrat, bis auf ihn lauter Damen, da war er aufgestanden. Sie dachte, er wäre ihr böse und würde sie jetzt auffordern zu gehen, weil sie doch hätte kapieren müssen, dass er sie nur im Scherz dazugebeten hatte. Also hatte sie auf dem Absatz kehrtgemacht und war wieder gegangen. Daraufhin waren zwei von den Damen ihr bis auf die Straße nachgelaufen, um ihr zu sagen, wie sehr sie sich freuen, dass sie gekommen ist und dass sie hoffen, sie kann doch bleiben. So viel guter Wille hätte sie normal vielleicht wütend genug gemacht, schnurstracks weiterzugehen, wäre da nicht ihre Idee mit der Taufe gewesen. Und als sie alle wieder reinkamen, war er noch mal aufgestanden, weil ein Gentleman wie er das eben tut, wenn Damen einen Raum betreten. Der kann gar nicht anders. Woher sollte denn sie das wissen? Die müssen die Türen aufmachen und aufhalten und warten, bis du vor ihnen durchgehst. Bis heute lupfte der Reverend den Hut, wenn er ihr zufällig auf der Straße begegnete, selbst im Regen. Immer half er ihr mit ihrem Stuhl, und das hieß, dass er den ein bisschen vom Tisch zurückziehen und dann, wenn sie sich gesetzt hatte, wieder vorschieben musste. Wer in aller Welt brauchte schon Hilfe beim Hinsetzen?
Na, jeder nach seiner Art, dachte sie bei sich. Und er war wunderschön, für einen alten Mann. Sie mochte seinen Anblick zu gern. Er sah aus wie einer, der selber seinen Teil Einsamkeit getragen hatte, und das war in Ordnung. Es war was an ihm, was sie verstand. Sie mochte seine Stimme. Sie mochte, wie er neben ihr stand, als hätte er daran seine Freude.
Einmal hatte er ihre Hand genommen, um ihr die Stufen zu Broughtons Haus hinaufzuhelfen, und Broughton sagte mit einem Zwinkern, »Drei sind mir zu wunderbar, und das vierte verstehe ich nicht«, und die beiden lachten ein bisschen. Sie sagte sich, Nicht schimpfen. Aber der Reverend merkte, dass es sie störte, wenn sie so redeten, Witze rissen, die sie nicht verstand. Deshalb holte er, als sie wieder daheim waren, die Bibel vom Bücherbord und zeigte ihr die Verse. Des Adlers Weg am Himmel, der Schlange Weg auf einem Felsen, des Schiffes Weg mitten im Meer und eines Mannes Weg an einer Jungfrau. Das war der Witz. Ein Mann mit einer Jungfrau. Sie lachten, weil er ein alter Prediger war und sie Feldarbeiterin war oder wäre, wenn sie nur zu der Zeit zurückfinden könnte. Außerdem war sie selber alt. Für eine Frau bedeutete alt sein einfach nicht jung sein, und ihr hatte man die Jugend schon vor der Zeit dafür abgeschunden. Also war Lila schon sehr lange alt, aber das half auch nicht weiter. Na, sie wusste ja, dass es ein Witz war. Die Leute wunderten sich noch immer über ihn, dass er sie geheiratet hatte.
Sie sah ihm an, dass es ihn selber wunderte, manchmal. Er hatte ihr erzählt, bei Sturm sei mal ein Vogel ins Haus geflogen. So einen hatte er noch nie gesehen. Der Wind musste ihn von weither gebracht haben. Er riss alle Türen und Fenster auf, aber der Vogel wollte so verzweifelt entkommen, dass er eine Zeitlang keinen Ausweg fand. »Er hat dieses Haus gesegnet«, sagte er. »Schon die Wildheit. Wie er den Wind brachte.« Das war gerade um die Zeit, wo sie zu ahnen begann, dass sie ein Kind erwartete, also erschreckte es sie ein bisschen zu begreifen, dass er wusste, dass sie doch noch gehen könnte, dass er vielleicht sogar darauf zählte. Sie konnte sich im Nachherein bloß erinnern, dass der Mond im letzten Viertel stand, als sie das erste Mal zu ihm ins Bett gekrochen war. Diese Dinge hatte ihr die Schwarzhaarige erklärt, die, die sich Susanna nannte. Die hatte drei oder vier Kinder, alle bei ihrer Schwester oder Mutter in Pflege, wie sie sagte, also wusste sie vielleicht doch nicht so gut Bescheid, wie sie glaubte. Jedenfalls hatte jetzt Lila eine Sorge mehr am Hals. Vielleicht hatte der alte Mann damit ja sagen wollen, sie soll gehen, sie gehört da nicht hin in sein Haus. Vielleicht sagten es Gentlemen ja so. Und wenn er wollte, könnte er auch sagen, Das war deine Idee, du hast gesagt, ich soll dich heiraten. Aber vielleicht durfte ein Gentleman das nicht. Konnte aber ja sein, dass er irgendwann doch böse wurde und seine ganzen Manieren vergaß, und das wäre hart. Doll sagte immer, Einfach stillhalten. Was immer ist, wart einfach, bis es vorbeigeht. Alles hat mal ein Ende. Lila dachte, Wenn du aber schon weißt, dass es irgendwann zu Ende ist, dann willst du es manchmal lieber gleich hinter dich bringen. Aber wenn du ein Kind erwartest, ist ein Dach überm Kopf einfach besser. Alles andre ist dümmer als dumm.
Eines Abends besuchten sie den alten Boughton, und die zwei Männer sprachen über Leute, die sie nicht kannte, und Dinge, die sie nicht verstand. Was denn sonst? Aber es machte ihr nichts, zuzuhören. Und schon bald vergaßen sie, dass sie zuhörte. Sie hatten von Missionaren gelesen, die eben aus China zurück waren, und wie die Hunderte bekehrt hätten, ein Tropfen im Eimer bei den vielen Menschen, die noch keinmal vom Evangelium gehört hatten und wohl nie hören würden. Boughton sagte, das wär doch ein schrecklicher Verlust an Seelen, wenn. Nicht, dass er Gottes Gerechtigkeit anzweifle, aber manchmal wundere er sich schon. Das müsse wohl jeder. Das sei nicht dasselbe wie zweifeln. Und der Reverend sagte, Wenn man an die vielen Menschen denkt, die allein von Adam bis Abraham gelebt haben. Boughton schüttelte den Kopf über das unerforschliche Geheimnis. »Wir sind der Tropfen im Eimer!«, sagte er. »Das vergisst man so leicht!«
Der nächste Tag war ein Sonntag, und sie war früh wach und schlüpfte aus dem Haus und ließ den Ort hinter sich und folgte dem Fluss an eine Stelle, wo das Wasser über Felsen floss und in einen Gumpen mit sandigem Grund fiel. Dort würde sie, wenn die Sonne aufging, die Schatten der Welse sehen können. Am Ufer, klamm und kühl, mit dem Geruch vom kaum hörbaren Fluss in der Nase, hockte sie da versteckt im Dunkeln, nicht, weil sie fürchtete, es könnte wer da sein, nur weil sie immer gern das Gefühl hatte, dass sie niemand sah, selbst wenn sie sich allein wusste. Der alte Mann würde in einem leeren Haus aufwachen, und er würde sich anziehen und rasieren, wie er das immer tat, und sich Kaffee und Toast machen und seinen Papierkram einsammeln und sich allein auf den Weg in die Kirche machen, um zu predigen, wie er das immer tat, um die Lieder zu singen und die Gebete zu sprechen und hinterher mit den Damen zu reden, die nicht fragen würden, wie es ihr ging oder wo sie steckte, weil sie wussten, dass ihm seine Ehe Kummer brachte, weiteren Kummer.
Sie wollte ja mit ihm besser sein. Er war zu ihr immer so gut. Aber sie fühlte sich in der Kirche fremd. Und gestern Abend, neben ihm im Dunkeln im Bett, hatte sie ihn was zu China gefragt. Er versuchte zu erklären, und sie versuchte zu verstehen. Er sagte, »Ich glaube an die Gnade Gottes. Für mich ist sie die Antwort auf alle Fragen. Die sich damit erübrigen.« Aber er meinte scheints vielmehr, dass Boughton vielleicht recht hat, dass Seelen für immer verloren sein konnten, wegen der Dinge, die sie nicht wussten oder verstanden oder glaubten. Er sagte es wie ungern, er suchte dafür immer neue Wörter. Daran erkannte sie, dass er es aber doch wohl für möglich hielt. Doll wusste wahrscheinlich nicht, dass sie eine unsterbliche Seele hatte. Sie hatte sowas keinmal erwähnt, sofern sie überhaupt drüber nachdachte. Sie hätte dafür wahrscheinlich keine Worte gehabt. Die ganzen Leute da draußen, jahrelang unterwegs auf den Landstraßen, von denen verschwendete sicher kaum einer auch nur einen Gedanken an den Sabbat. Wer wusste denn schon, was für ein Wochentag war? Wer nahm denn keine Arbeit an, wenn es schon Arbeit gab? Was hatte es für einen Zweck, einem Tag einen eigenen Namen zu geben oder ihn für andres als bloß Wetter zu halten? Die Jahreszeit erkannten sie daran, dass das Timotheegras blühte, dass die Vögel flügge wurden. Den Morgen erkannten sie daran, dass die Sonne aufging. Was musste man denn mehr wissen? Wenn Doll für immer verloren war, dann wollte Lila dort bei ihr sein und an ihrem Rockzipfel hängen.
Sie hatte ihr eigenes Kleid angezogen, nicht eins von den guten vom Dachboden der Boughtons oder eins von den neuen aus dem Sears&Roebuck-Katalog, und ihre eigenen Schuhe. So brauchte sie sich nicht zu sorgen, dass was schmutzig wurde. Als sie aus der Tür trat, spürte sie das gute fröstlige Dunkel des Morgens, mit dem all ihre Tage mal begonnen hatten. Die Bäume regten sich im Dunkeln, und die Vögel gaben die bestürzten Laute von sich, die sie machten, wenn die Sterne weg sind und noch keine Sonne da ist. Der Fluss roch wie jeder Fluss, fischig und moosig und schattig, und der Geruch schien im Dunkeln durch das Plitsch und Platsch von dem ganzen Kleingetier umso stärker. Sie hangelte sich ans Wasser hinunter und tauchte die Hände hinein. Sie schöpfte es mit hohlen Händen, goss es sich über die Stirn, rieb es sich über Gesicht und Scheitel. Dann tat sie das Gleiche noch mal, bis ihr Kleid vorne nass war. Und noch mal. Ihre Hände waren so kalt, dass sie sie am Gesicht fühlte, als wären es gar nicht ihre. Der Fluss war wie ihr früheres Leben, einfach er selbst. Nichts weiter. Sie dachte, Jetzt hat er mir die Taufe abgewaschen. Das wäre also erledigt. Das war’s wohl, was ich wollte. Jetzt wird Doll, wenn sie da draußen verloren herumirrt und ich sie finde, mich wenigstens erkennen. Und wenn es für sie in dem, was nicht Leben ist, keine Freude gibt, wird sie sich wenigstens einen Augenblick lang erinnern, wie sich Freude anfühlt. Darüber dachte Lila eine Zeitlang nach, sah Doll auf einer alten, staubigen Straße inmitten von nichts vor sich hergehen, rief ihren Namen, damit sie sich umdreht, und lief in ihre Arme. Nein, Lila säße dort auf den Stufen, nach Anbruch der Dunkelheit, lange danach, und dann wär da Doll, ganz außer Atem, und würde sagen, »Kind, Kind, ich dachte, ich finde dich nie wieder!« Als die Sonne schon ein Weilchen oben war, beschloss sie, dass sie jetzt wohl zum Haus vom Reverend zurückkehren könnte. Vielleicht würde sie keiner sehen. Es würden doch alle in der Kirche sein.
Sie zog das blaue Kleid aus dem Versandhauskatalog an, den er ihr gebracht hatte. Sie holte es zum ersten Mal aus der Schachtel, in der es geschickt worden war. Und sie zog die weißen Sandalen an, und sie kämmte ihr Haar. In St. Louis hatte ihr eins von den Mädchen gesagt, Tu einfach so, als wärst du hübsch, damit die so tun können, als wärst du hübsch. Der alte Mann würde heimkommen oder in seinem Sprechzimmer in der Kirche bleiben. Vielleicht lud ihn jemand zum Essen ein, das es hier sonntags mitten am Tag gab. Und er würde vielleicht lieber zusagen als in sein eigenes Haus zurückkehren, das noch immer leer wäre, oder wo er sie finden würde und überlegen müsste, wie er mit ihr reden soll. Wenn sie was falsch machte, etwas, was ihn bekümmerte, wurde er verlegen, und dann lächelte er und sagte, »Vielleicht kannst du mir ein bisschen auf die Sprünge helfen … du bist so still …« Aber sie würde es nicht erklären können, und wenn sie ihm sagte, wie fremd und allein sie sich fühlte, und fühlen wollte, dann würde er sich fragen, warum sie überhaupt bei ihm blieb. Jetzt, wo vielleicht ein Kind käme, sollte sie lieber versuchen, so zu tun, als gehörte sie her, zumindest eine Zeitlang. Ihre Hände rochen noch immer nach Flusswasser, und ihr Haar auch. Sie fühlte sich ein bisschen mehr so, wie sie war. Das half.
Sie konnte lesen. Dafür hatte Doll gesorgt. Sie könnte sich mit einer Zeitschrift auf die Veranda setzen und dort auf ihn warten. Dann könnte er sie fragen, was sie liest, oder sie könnte ihm sagen, es gäbe da ein Wort, das sie nicht versteht, wie es sicher der Fall sein würde. Also saß sie mit einer Ausgabe der Nation auf dem Schoß da, als sie, Stunden, nachdem die Kirche aus sein musste, den Reverend die Straße hochkommen sah, und mit ihm Boughton, miteinander im Gespräch, wie sie das immer waren, einander lauschend, als könnte nach so viel gelebtem Leben noch was Neues gesagt werden, was man keinesfalls verpassen durfte. Boughton sah sie zuerst und sagte rasch was zum Reverend, der daraufhin hochsah, und dann blieben sie auf der Straße stehen und verabschiedeten sich voneinander, und der alte Mann kam allein weiter. Sein Körper besaß noch immer die Gewohnheiten von Größe und Kraft, als hätte er gelernt, ein bisschen langsamer zu machen, wenn er sich bewegte, aus Rücksicht auf alles ringsum, was er anrempeln oder den Platz nehmen könnte. Trotzdem, er machte noch langsamer als sonst, ließ sich Zeit, näherte sich seiner eigenen Tür mit einem Zögern, das sie sah und bedauerte, denn dieses Mal könnte das eine Mal sein, wo er ihr nicht verzieh, oder zumindest das eine Mal, wo er beschlossen hätte, dass er sie nicht zurückhalten will.
Er nahm seinen Hut ab, als er die Stufen heraufkam. Dann stand er einen Augenblick da, drehte ihn am Rand in den Händen und betrachtete sie einfach. »The Nation«, sagte er, als wäre das mindestens so seltsam wie alles andere, was ihm in letzter Zeit passierte.
Also sagte sie, »Ich muss mehr lesen. Das wollt ich schon länger.«
Nach kurzem Schweigen sagte er, »Ja, nun, das lohnt sich immer, würde ich meinen.« Seine Stimme war mild, fast belustigt. Er verlagerte sein Gewicht, wie er das immer tat, wenn ihn ein bisschen was überraschte.
Also sagte sie, »Sieht aus, als würd ich ein Kind kriegen.« Sie hatte nicht vorgehabt, es ihm gleich schon zu sagen, aber sie konnte ja schlecht damit warten, bis er vielleicht doch böse wurde oder bis er ihr sagte, dass er sein Leben wieder für sich haben wollte, womit sie ohnehin jeden Tag rechnete. Wenn das passierte, würde ihr Stolz sie zwingen, ohne ein weiteres Wort zu gehen, und wer weiß, was dann aus ihr und dem Kind werden würde, wenn es denn ein Kind gab.
Er sagte, »Tatsächlich.« Er setzte sich etwas abgerückt neben sie in die Verandaschaukel. Er sagte, »Was du nicht sagst.« Dann sagte er, »Und ich hatte zu dem heutigen Tag einen ganz anderen Ausgang befürchtet.«
Sie hatte ihm noch nicht ins Gesicht gesehen. Sie sah auf den Wind in den Bäumen. Es war ein sanfter Abendwind, und die Bäume wurden dunkler und füllten sich mit Schatten. Auf den Feldern wäre bald Feierabend, nicht gleich, aber nächstens. Ein solcher Wind hieß früher mal, dass der Tag nicht endlos wäre, dass es irgendwann zu essen gäbe und Gerede und Schlaf. So viele Dinge hatten sie alle gewusst und nie drüber sprechen müssen.
Er sagte, »Dann hast du also beschlossen zu bleiben?«
»Ich hatte nicht vor wegzugehen.« Für eine Ortschaft war es hier gar nicht so übel. Die Bäume waren hoch genug, dass es fast war, als lebte man im Wald. Es sprach nichts dagegen, noch mehr Beete anzulegen. Sie könnte Blumen pflanzen.
Nach längerem Schweigen sagte er, »Wenn du so losziehst, könntest du vielleicht eine Nachricht hinterlassen. Ich weiß nicht immer, was ich denken soll. Du hast deinen Ehering dagelassen.«
»Ich vergess manchmal bloß, ihn anzustecken.«
»Ja. Das hatte ich wohl bemerkt.«
»Das Medaillon, das ich von dir hab, trag ich immer.«
Einen Ring zu tragen kam ihr komisch vor. Es war ein Ring aus Gold. Sie könnte ihn beschädigen. Er könnte ihr vom Finger rutschen und verlorengehen.