Atul Gawande
Sterblich sein
Was am Ende wirklich zählt.
Über Würde, Autonomie und eine angemessene medizinische Versorgung
Aus dem Englischen von Susanne Röckel
FISCHER E-Books
Atul Gawande ist Facharzt für Chirurgie an einer Klinik in Boston. Vor seiner medizinischen Ausbildung an der Harvard Medical School studierte der Sohn zweier Ärzte Philosophie und Ethik. Er veröffentlicht regelmäßig Beiträge im »New Yorker« und hat mehrere Bücher zum Thema Medizin und Gesellschaft geschrieben, die große Bestseller waren. ›Sterblich sein‹ stand viele Wochen auf der »New York Times«-Bestsellerliste. Gawande lebt mit seiner Familie in Newton, Massachusetts.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Die Medizin scheint über Krankheit und Tod zu triumphieren, doch sterben wir so trostlos wie nie zuvor. Der Bestsellerautor und renommierte Arzt Atul Gawande schreibt in seinem beeindruckenden Buch über das, was am Ende unseres Lebens wirklich zählt. Ungewöhnlich offen spricht er darüber, was es bedeutet, alt zu werden, wie man mit Gebrechen und Krankheiten umgehen kann und was wir an unserem System ändern müssen, um unser Leben würdevoll zu Ende zu bringen. Ein mutiges und weises Buch eines großartigen Autors, voller Geschichten und eigener Erfahrungen, das uns hilft, die Geschichte unseres Lebens gut zu Ende zu erzählen.
Covergestaltung: buxdesign, München
Coverabbildung: Maria Mraz / Elixir Design
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die amerikanische Originalausgabe
erschien 2014 unter dem Titel »Being Mortal. Medicine and What Matters in the End«
im Verlag Metropolitan Books, New York
© 2014 by Atul Gawande
Für die deutsche Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403584-0
Für Sara Bershtel
»Ich sehe es jetzt – diese Welt vergeht schnell.«
Der Krieger Karna im Mahabharata
»Hellgrau glänzend, das Wappen aufmontiert,
bleiben einmal sie vor jeder Haustür stehen:
Alle Straßen werden heimgesucht zu ihrer Zeit.«
Philip Larkin, »Krankenwagen«
Als ich Medizin studierte, lernte ich eine Menge, aber nichts über Sterblichkeit. Im ersten Semester hatte ich einen dürren, ledrigen Leichnam zu sezieren, doch diese Übung diente nur dazu, mich mit der menschlichen Anatomie vertraut zu machen. In unseren Lehrbüchern war fast nichts über Alter, Gebrechlichkeit und Sterben zu finden. Wie dieser Prozess verläuft, wie Menschen das Ende ihres Lebens erfahren und welche Bedeutung das für ihre Umgebung hat, schien ganz unerheblich zu sein. Wir sollten lernen, Leben zu erhalten, und uns nicht um den Tod kümmern, das war – nach unserer Meinung und nach Meinung unserer Professoren – der Zweck unserer Ausbildung.
Ich erinnere mich an ein einziges Gespräch über Sterblichkeit, als wir uns mit Tolstois klassischer Novelle Der Tod des Iwan Iljitsch beschäftigten. Es fand in einem Seminar über das Arzt-Patienten-Verhältnis statt, das angeboten wurde, weil der Fakultät daran gelegen war, uns zu vielseitigen und menschlichen Ärzten auszubilden. Ein paar Wochen lang übten wir korrektes Benehmen bei der körperlichen Untersuchung; dann lernten wir etwas über die Auswirkungen sozioökonomischer und ethnischer Faktoren auf die menschliche Gesundheit. Und an einem Nachmittag machten wir uns Gedanken über Iwan Iljitsch und sein Leiden an einer namenlosen unheilbaren Krankheit.
In der Erzählung ist Iwan Iljitsch fünfundvierzig Jahre alt, ein mittlerer Beamter in Sankt Petersburg, dessen Leben angefüllt ist mit belanglosen Sorgen um seinen sozialen Status. Eines Tages fällt er von einer Leiter und zieht sich eine geringfügige Verletzung an der Hüfte zu. Der Schmerz klingt zunächst ab, wird dann aber wieder stärker, sodass er schließlich nicht mehr arbeiten kann. Aus einem glänzenden, lebhaften und liebenswürdigen Mann wird ein niedergeschlagener und entkräfteter Kranker. Freunde und Kollegen meiden ihn. Seine Frau ruft eine Reihe teurer Spezialisten zu Hilfe. Sie können sich über die Diagnose nicht einigen, und die Arzneien, die sie ihm geben, richten nichts aus. Für Iwan Iljitsch ist das alles eine Tortur, und seine Lage macht ihn immer wütender.
»Die Hauptqual für Iwan Iljitsch war die Lüge«, schreibt Tolstoi, »jene aus irgendeinem Grunde von allen anerkannte Lüge, dass er nur krank sei, nicht aber sterbe, dass er nur ruhig sein und sich behandeln lassen müsse, damit alles wieder gut werde.« Immer wieder blitzt die Hoffnung in ihm auf, dass sich die Dinge doch noch ändern würden, doch als er ständig schwächer und abgezehrter wird, wird ihm klar, was vorgeht. Seine Angst vor dem Tod wird immer größer. Doch der Tod ist ein Thema, das seine Ärzte, Freunde und Angehörigen nicht dulden können. Das ist die Ursache seines tiefsten Kummers.
Niemand bemitleidete ihn so, wie er es sich wünschte. »In manchen Augenblicken«, schreibt Tolstoi, »nach langen, heftigen Schmerzen, wünschte Iwan Iljitsch – obgleich er sich geschämt hätte, es einzugestehen – nichts so sehr, als dass jemand ihn so bedauert hätte, wie man ein krankes Kind bedauert. Er wollte, dass man ihn liebkose, küsse, über ihn weine, wie man Kinder liebkost und tröstet. Er wusste, dass er ein hoher Beamter war, dass sein Bart schon grau wurde und dass dies infolgedessen unmöglich war; er wünschte es aber doch.«
Wie wir Medizinstudenten es sahen, war die Unfähigkeit von Iwan Iljitschs Nächsten, ihn zu trösten und anzuerkennen, was mit ihm geschieht, auf ihren Charakter und ihre Kultur zurückzuführen. Das Russland des späten 19. Jahrhunderts der Erzählung kam uns brutal und fast primitiv vor. So wie wir glaubten, dass die moderne Medizin Iwan Iljitschs Krankheit, was immer ihr zugrundelag, wahrscheinlich hätte heilen können, hielten wir es auch für selbstverständlich, dass Ehrlichkeit und Güte zu den Grundtugenden eines verantwortungsbewussten modernen Arztes gehörten. Wir waren davon überzeugt, dass wir selbst in einer solchen Situation mitfühlender handeln würden.
Was uns eigentlich beschäftigte, war Wissen. Wir wussten, wie man Mitgefühl ausdrückt, aber wir waren uns gar nicht sicher, ob es uns gelingen würde, die richtige Diagnose zu stellen und die richtige Therapie zu verschreiben. Wir leisteten uns eine teure Ausbildung, weil wir lernen wollten, wie der Körper funktioniert und wie die komplexen Mechanismen der körperlichen Erkrankungen beschaffen sind, und wir wollten lernen, uns des reichen Schatzes an Entdeckungen und Technologien zu bedienen, die es ermöglichen, diesen Krankheiten Einhalt zu gebieten. Wir glaubten nicht, dass es nötig sei, sich über andere Dinge groß Gedanken zu machen. Also betrachteten wir Iwan Iljitsch als erledigt.
Doch schon nach einigen Jahren, als ich zum Chirurgen ausgebildet wurde und zu praktizieren begann, begegnete ich Patienten, die gezwungen waren, sich mit der Wirklichkeit von körperlichem Verfall und Sterben auseinanderzusetzen, und es dauerte nicht lange, bis ich erkannte, dass ich kaum dazu befähigt war, ihnen dabei zu helfen.
Als junger Assistenzarzt begann ich zu schreiben, und in einem meiner ersten Essays erzählte ich die Geschichte eines Mannes, den ich Joseph Lazaroff nannte. Er arbeitete in der Stadtverwaltung und hatte einige Jahre zuvor seine Frau verloren. Sie war an Lungenkrebs gestorben. Jetzt war er Mitte sechzig und litt selbst an einem unheilbaren Tumor, einem stark metastasierenden Prostatakrebs. Er hatte schon über zwanzig Kilo abgenommen. Unterleib, Skrotum und Beine hatten sich mit Flüssigkeit gefüllt. Eines Tages konnte er beim Aufwachen sein rechtes Bein nicht mehr bewegen und war nicht mehr in der Lage, seinen Darm zu kontrollieren. Er wurde ins Krankenhaus eingewiesen, wo ich ihn kennenlernte. Ich gehörte damals zum Team der Neurochirurgie. Wir sahen, dass es Metastasen in der Brustwirbelsäule gab, die auf das Rückenmark drückten. Der Krebs war nicht heilbar, aber wir hofften, dass man ihn behandeln könne. Eine sofortige Bestrahlung zeigte allerdings nicht den gewünschten Effekt, und so boten ihm die Neurochirurgen zwei Möglichkeiten an: Palliative Maßnahmen oder eine Operation, die das wachsende Tumorgewebe aus seiner Wirbelsäule entfernte. Lazaroff wählte die OP. Meine Aufgabe als Assistenzarzt der Abteilung Neurochirurgie bestand darin, ihn die Einverständniserklärung unterschreiben zu lassen. Er sollte bestätigen, dass er verstand, welche Risiken mit dem Eingriff verbunden waren, und dass er den Eingriff wünschte.
Ich stand mit feuchten Händen vor seiner Tür, seine Akte unterm Arm und ohne die geringste Ahnung, wie ich mit ihm über das Thema sprechen sollte. Wir hofften, dass die OP die weitere Schädigung seines Rückenmarks verhinderte. Sie würde ihn nicht heilen und auch seine Lähmung nicht rückgängig machen oder ihm sein früheres Leben zurückgeben. Egal, was wir taten, er hatte höchstens noch ein paar Monate Lebenszeit, und der Eingriff war grundsätzlich riskant. Der Brustkorb musste geöffnet werden, eine Rippe musste entfernt und ein Lungenflügel umgeklappt werden, um zur Wirbelsäule zu gelangen. Es würde zu einem hohen Blutverlust kommen. Die Genesung würde sich schwierig gestalten. In seinem geschwächten Zustand würde es danach mit hoher Wahrscheinlichkeit zu weiteren kräftezehrenden Komplikationen kommen. Seine Lage drohte sich durch all das zu verschlimmern, seine Lebenszeit würde verkürzt. Der verantwortliche Arzt hatte diese Risiken bereits angesprochen, und Lazaroff hatte klar gesagt, dass er die Operation wünschte. Ich musste nur noch zu ihm hineingehen und dafür sorgen, dass der Papierkram erledigt wurde.
Lazaroff lag im Bett und sah grau und abgezehrt aus. Ich sagte, ich sei Assistenzarzt und komme wegen der Einverständniserklärung. Ich sagte ihm noch einmal, dass der Tumor entfernt werde, dass es jedoch zu schwerwiegenden Komplikationen kommen könne, etwa zu Lähmungen oder einem Schlaganfall, und dass er die OP im schlimmsten Fall nicht überleben werde. Ich versuchte, das alles so klar wie möglich auszudrücken, ohne zu hart zu klingen, doch meine Worte irritierten ihn. Und es ärgerte ihn auch, dass sein Sohn, der ebenfalls im Zimmer war, fragte, ob man mit alldem nicht ein wenig übers Ziel hinausschieße.
»Sie dürfen mich nicht aufgeben«, sagte er. »Wenn es noch eine Chance für mich gibt, dann müssen Sie es versuchen.« Als er unterschrieben hatte und wir draußen waren, nahm der Sohn mich beiseite. Seine Mutter war auf der Intensivstation gestorben, sie war bis zuletzt beatmet worden, und damals hatte sein Vater gesagt, er wolle nicht, dass er jemals in eine ähnliche Lage komme. Und jetzt beharrte er darauf, dass »alles« für ihn gemacht wurde.
Zu jener Zeit war ich davon überzeugt, dass Mr Lazaroff die falsche Wahl getroffen hatte, und meine Überzeugung hat sich bis heute nicht geändert. Er traf die falsche Wahl, nicht weil die Risiken zu hoch waren, sondern weil die Operation ihm gar nicht geben konnte, was er wirklich wollte: wieder kontinent sein, wieder Kraft haben, wieder das Leben führen, das er einmal kannte. Er jagte also eigentlich einem Trugbild nach, einer Phantasie, und er nahm dafür in Kauf, auf lange und schreckliche Weise sterben zu müssen – genau das, was am Ende passierte.
Die OP war in technischer Hinsicht ein Erfolg. Über achteinhalb Stunden lang hatte das chirurgische Team daran gearbeitet, die Tumormasse in Lazaroffs Rückenmark zu entfernen und den Wirbelkörper mit Akrylzement wiederherzustellen. Der Druck auf sein Rückenmark war nun beseitigt. Doch der Patient erholte sich nicht mehr. Auf der Intensivstation litt er unter Ateminsuffizienz; es kam zu einer systemischen Infektion und wegen seiner Immobilität zu Blutgerinnseln; dann, wegen der daraufhin verabreichten blutverdünnenden Medikamente, zu größeren Blutungen. Jeden Tag fielen wir weiter zurück und schließlich mussten wir uns eingestehen, dass er im Begriff war zu sterben. Am vierzehnten Tag sagte der Sohn, wir sollten nichts mehr tun.
Mir fiel die Aufgabe zu, Lazaroff von der Beatmungsmaschine zu nehmen, die ihn am Leben hielt. Ich stellte sicher, dass der Morphiumtropf so eingestellt war, dass er nicht unter Luftnot leiden würde. Ich beugte mich über ihn, und für den Fall, dass er mich hören konnte, sagte ich, dass ich nun den Atemschlauch aus seinem Mund nähme. Er hustete ein paarmal, als ich ihn herauszog, öffnete kurz die Augen und schloss sie wieder. Sein Atem wurde unregelmäßig und hörte dann ganz auf. Als ich seine Brust auskultierte, hatte sein Herzschlag schon ausgesetzt.
Heute, über zehn Jahre nachdem ich die Geschichte von Mr Lazaroff zum ersten Mal erzählte, beschäftigt mich nicht in erster Linie die falsche Wahl, die er traf, sondern wie sehr wir alle es vermieden, ehrlich mit ihm über diese Wahl zu sprechen. Wir hatten keine Schwierigkeiten damit, ihm die Risiken der verschiedenen Behandlungsoptionen zu erklären, aber von seiner wirklichen Krankheit sprachen wir eigentlich nie. Onkologen, Strahlentherapeuten, Chirurgen und andere Ärzte hatten ihn über Monate hinweg behandelt, obwohl sie wussten, dass sein Leiden nicht heilbar war. Wir hatten es nie geschafft, über die tiefere Dimension seiner Lage und die Grenzen unserer Möglichkeiten zu sprechen, geschweige denn darüber, was für ihn am Ende seines Lebens vielleicht am meisten von Bedeutung wäre. Die Illusion, der er aufsaß, narrte auch uns. Da war er, ein Mensch im Krankenhaus, teilweise gelähmt durch einen Krebs, der seinen ganzen Körper befallen hatte. Die Chancen, dass er jemals zu einem Leben zurückkehrte, das auch nur annähernd so war wie nur wenige Wochen zuvor, waren gleich null. Doch das anzuerkennen und ihm dabei zu helfen, es zu verkraften, schien unsere Fähigkeiten zu übersteigen. Er bekam von uns weder Anerkennung noch Trost noch Unterstützung auf seinem Weg, nur das Angebot einer weiteren Behandlung, der er sich in der Hoffnung auf zweifelhaften Erfolg unterziehen konnte.
Wir waren nicht viel besser als Iwan Iljitschs primitive Ärzte aus dem 19. Jahrhundert – nein, eigentlich noch schlimmer, wegen der neuen Formen körperlicher Tortur, die wir unserem Patienten angedeihen ließen. Man fragt sich jedenfalls, wer mit größerem Recht primitiv genannt zu werden verdient.
Die Leistungen der modernen Wissenschaften haben das menschliche Leben grundlegend verändert. Die Menschen leben heute länger und besser als zu jeder anderen Zeit in der Geschichte. Doch durch den wissenschaftlichen Fortschritt sind die Vorgänge des Alterns und Sterbens zu Angelegenheiten der Medizin geworden, zu Dingen, die von den Profis des Gesundheitswesens gemanagt werden. Und wir, die wir zum medizinischen Personal gehören, sind erschreckend wenig darauf vorbereitet.
Es handelt sich um eine verborgene Wirklichkeit, denn die letzten Phasen des Lebens sind den Menschen heute wenig vertraut. Um 1945 wurde meist noch zu Hause gestorben. In den achtziger Jahren starben nur noch 17 Prozent der Menschen in ihrer heimischen Umgebung, und das wahrscheinlich nur deshalb, weil ihr Tod zu plötzlich kam, als dass sie es noch ins Krankenhaus geschafft hätten; sie starben an einem Herzinfarkt, einem Schlaganfall oder einer schweren Verletzung und waren zu weit von einem Ort entfernt, wo sie Hilfe bekommen hätten. Nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern in der gesamten industrialisierten Welt erfahren Menschen inzwischen das hohe Alter und den Tod vor allem in Krankenhäusern und Pflegeheimen.
Als ich Arzt wurde, trat ich in die Welt ein, die auf der anderen Seite der Krankenhaustüren liegt, und obwohl ich eine Ahnung davon hatte, was mich erwartete, da meine Eltern Ärzte sind, war damals alles neu für mich. Vor allem hatte ich noch nie jemanden sterben sehen, und das erste Mal war ein Schock für mich. Nicht weil ich an meine eigene Sterblichkeit erinnert wurde. Dieser Begriff fiel mir nicht ein, auch wenn ich Leute meines Alters sterben sah. Ich trug einen weißen Kittel; sie trugen Nachthemden. Anders herum konnte ich es mir nicht vorstellen. Ich konnte mir allerdings Menschen aus meiner Familie an ihrer Stelle denken, denn ich hatte erlebt, dass mehrere Mitglieder meiner Familie – meine Frau, meine Eltern und meine Kinder – ernste, lebensbedrohliche Krankheiten durchmachten. Doch auch unter den schlimmsten Bedingungen hatte die Medizin sie gerettet. Schockierend war für mich daher zu sehen, dass die Medizin es in diesen Fällen nicht schaffte, Menschen zu retten. Theoretisch wusste ich natürlich, dass meine Patienten sterben konnten, aber jedes Mal, wenn es tatsächlich passierte, kam es mir wie eine unzulässige Ausnahme vor, als seien die Regeln gebrochen worden, nach denen – wie ich glaubte – gespielt wurde. Ich weiß nicht, was genau ich mir unter diesem Spiel vorstellte, aber es waren immer wir, die dabei zu gewinnen hatten.
Jeder junge Arzt, jede Krankenschwester ist irgendwann zum ersten Mal mit Sterben und Tod konfrontiert. Einige weinen. Andere ziehen sich in sich selbst zurück. Wieder andere bemerken es kaum. Als ich meine ersten Tode erlebte, wahrte ich Zurückhaltung und weinte nicht. Aber ich träumte von den Toten. Ich hatte immer wieder Albträume, in denen ich die Leiche einer meiner Patienten in meinem Haus sah – in meinem eigenen Bett.
»Wie ist er bloß hierhergekommen?«, fragte ich mich in heller Panik. Ich wusste, ich würde die größten Probleme bekommen und womöglich von der Polizei verfolgt werden, wenn es mir nicht gelänge, den toten Körper unbemerkt zurückzuschaffen ins Krankenhaus. Also versuchte ich, ihn in den Kofferraum meines Autos zu hieven – aber er war zu schwer. Oder es gelang mir, ihn hineinzuwuchten – aber dann sah ich, dass Blut aus ihm floss, und mein Kofferraum wurde wie von schwarzem Öl davon überflutet. Oder es gelang mir, ihn ins Krankenhaus zu bringen, wo ich ihn auf eine Bahre legte und durch lange Gänge schob – aber dann fand ich den Raum nicht, in den er gehörte. Jemand schrie hinter mir her und begann mich zu verfolgen, und schließlich erwachte ich neben meiner Frau, im Dunklen, nassgeschwitzt und mit rasendem Herzschlag. Ich hatte das Gefühl, diese Leute ermordet zu haben. Versagt zu haben.
Nein, der Tod ist kein Versagen. Der Tod ist normal. Er mag der Feind sein, aber er gehört zum natürlichen Lauf der Dinge. Ich wusste das alles, auf rein abstrakte Weise. Aber ich hatte es nicht konkret erfahren: dass diese Wahrheit nicht nur allgemein gilt, sondern auch für diesen Menschen direkt vor meiner Nase, für diesen Menschen, für den ich verantwortlich war.
Der jüngst verstorbene Chirurg Sherwin Nuland spricht in seinem Klassiker Wie wir sterben davon, dass die Notwendigkeit des Sieges der Natur am Ende des Lebens von vielen Generationen vor unserer Zeit erwartet und akzeptiert worden war und dass die Ärzte damals viel bereitwilliger die Zeichen ihrer Niederlage erkannten und sie nicht arrogant verleugneten. Doch während das 21. Jahrhundert zum Höhenflug ansetzt, frage ich mich angesichts unseres ehrfurchterregenden Arsenals an Technologien, was es bedeuten würde, weniger arrogant zu sein.
Man wird Arzt, weil man sich eine bestimmte Art befriedigender Arbeit vorstellt. Die Befriedigung liegt in der Kompetenz. Es ist eine tiefe Befriedigung, die auch ein Schreiner empfinden mag, wenn er ein zerbrechliches antikes Möbelstück restauriert hat, oder ein Physiklehrer, der es schafft, einem Zehnjährigen den Aufbau der Atome klarzumachen. Teilweise hat es damit zu tun, dass man anderen hilft. Aber auch damit, dass man technisch versiert ist und schwierige und komplexe Probleme lösen kann. Die Kompetenz, die man besitzt, gibt einem ein sicheres Gefühl von Identität. Für einen Kliniker, der glaubt zu wissen, wer er ist, gibt es daher nichts Bedrohlicheres als einen Patienten mit einem Problem, das er nicht lösen kann.
Niemand entkommt der Tragödie des Lebens, die darin besteht, dass wir alle altern, vom Tag unserer Geburt an. Man kann dieses Faktum sogar begreifen und annehmen. (Meine toten und sterbenden Patienten tauchen inzwischen nicht mehr als drohende Gestalten in meinen Träumen auf.) Doch das bedeutet nicht, dass man schon wüsste, wie man mit Dingen umgeht, die nicht repariert werden können. Ich übe einen Beruf aus, der erfolgreich das Vermögen trainiert, Mängel zu beseitigen und Probleme zu lösen. Wenn Ihr Problem lösbar ist, wissen wir, was zu tun ist. Aber wenn nicht? Es ist beunruhigend, dass wir bis jetzt noch keine angemessenen Antworten auf diese Frage gefunden haben. Denn Herzlosigkeit, Grausamkeit und außerordentliches Leid sind die Folgen.
Erst seit ein paar Jahrzehnten experimentieren wir damit, aus der Sterblichkeit eine medizinische Angelegenheit zu machen. Alles, was dazugehört, ist noch neu und unausgereift. Und ständig sehen wir, dass das Ganze eigentlich nicht funktioniert.
Dies ist ein Buch über die moderne Erfahrung der Sterblichkeit. Es beschäftigt sich damit, wie es ist, ein Geschöpf zu sein, das altert und stirbt, wie die Medizin diesen Vorgang verändert hat und inwiefern unsere Vorstellungen vom Umgang mit unserer Endlichkeit dazu führen, dass wir die Wirklichkeit missverstehen. Nach einem Jahrzehnt chirurgischer Praxis bin ich selbst inzwischen nicht mehr jung, und ich stelle fest, dass weder ich selbst noch meine Patienten mit dem zufrieden sind, wie wir die Dinge heute handhaben. Aber es ist mir auch noch nicht klar, wie die Antworten lauten sollten – ob es überhaupt angemessene Antworten geben kann. Dennoch hege ich als Schriftsteller und als Wissenschaftler die Hoffnung, dass es möglich ist, indem man den Schleier wegzieht und genau hinsieht, auch die verwirrendsten und verstörendsten Verhältnisse zu verstehen.
Man braucht nicht besonders viel Zeit mit alten oder todkranken Menschen zu verbringen, um zu erkennen, wie oft die Medizin die Menschen im Stich lässt, denen sie Hilfe bringen soll. In den letzten Tagen unseres Lebens werden wir, um einer winzigen Hoffnung auf Besserung willen, Behandlungen unterzogen, die unser Gehirn benebeln und unseren Körper auslaugen. Wir verbringen diese Tage in Krankenhäusern und Pflegeheimen und auf Intensivstationen, wo straff reglementierte anonyme Abläufe uns von allem abschneiden, was uns im Leben wichtig ist. Da wir uns der ehrlichen Untersuchung der Erfahrung von Altern und Sterben nicht stellen wollen, fügen wir Menschen noch mehr Leid zu. Wir verweigern ihnen den grundlegenden Beistand, dessen sie am meisten bedürfen. Da wir kein stimmiges Bild davon haben, wie ein gutes Leben bis zum Ende aussehen könnte, haben wir zugelassen, dass unser Schicksal von den Sachzwängen der technischen Medizin und den Anweisungen Fremder bestimmt wird.
Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich zu verstehen hoffte, wie das geschehen konnte. Sterblichkeit kann ein tückisches Thema sein. Einige Leser werden Angst bekommen, weil hier ein Arzt über die Unvermeidlichkeit von Verfall und Tod spricht. Wie vorsichtig auch immer formuliert, kann das Thema das Gespenst einer Gesellschaft heraufbeschwören, die sich ihrer Alten und Kranken entledigen will. Doch geschieht das nicht schon, sind unsere Kranken und Alten nicht längst zu Opfern unserer Weigerung geworden, die Tatsache unserer unerbittlich endenden Lebenszeit zu akzeptieren? Und gibt es nicht vielleicht schon andere, bessere Denkansätze, Entwicklungen und Vorgehensweisen, direkt vor unseren Augen, die wir nur erkennen müssten?
Als Kind erlebte ich weder schwere Krankheiten noch die Schwierigkeiten des Alters mit. Meine Eltern, beide Ärzte, waren fit und gesund. Sie waren aus Indien eingewandert, und das Leben meiner Großeltern spielte sich weit weg, auf einem anderen Kontinent ab, während ich mit meiner Schwester in der kleinen Collegestadt Athens, in Ohio, aufwuchs. Der einzige betagte Mensch, den ich regelmäßig zu Gesicht bekam, war eine Frau in der Nachbarschaft, die mir Klavierstunden gab, als ich im Gymnasium war. Später wurde sie krank und musste umziehen, aber ich fragte mich nie, wohin sie zog und was aus ihr wurde. Die Erfahrung des Altwerdens, wie es heute geschieht, spielte sich völlig außerhalb meiner Wahrnehmung ab.
Doch im College begann ich mich regelmäßig mit einem Mädchen namens Kathleen aus meinem Wohnheim zu treffen, und 1985, anlässlich eines Weihnachtsbesuchs bei ihr zu Hause in Alexandria, Virginia, lernte ich ihre Großmutter Alice Hobson kennen, die damals siebenundsiebzig war. Ich fand sie überraschend temperamentvoll und geistig unabhängig. Sie versuchte nie, ihr Alter zu verschleiern. Ihr ungefärbtes weißes Haar trug sie glatt und seitlich gescheitelt, im Stil von Bette Davis. Ihre Hände waren mit Altersflecken übersät, und ihre Haut war voller Falten. Sie trug schlichte, säuberlich gebügelte Blusen und Kleider, etwas Lippenstift und Absätze in einer Höhe weit jenseits dessen, was andere für ratsam halten mochten.
Wie ich im Lauf der Jahre – denn schließlich wurde Kathleen meine Frau – erfahren sollte, war Alice in einem Landstädtchen in Pennsylvania aufgewachsen, das bekannt war für seine Blumen und seine Pilzfarmen. Ihr Vater war Blumenzüchter gewesen und hatte in seinen großen Treibhäusern Nelken, Ringelblumen und Dahlien gezogen. Alice und ihre Geschwister waren die ersten Mitglieder ihrer Familie, die aufs College gingen. An der Universität von Delaware lernte Alice Richmond Hobson kennen, einen angehenden Ingenieur. Wegen der Weltwirtschaftskrise konnten sie sich erst sechs Jahre nach ihrem Abschluss die Heirat leisten. In den frühen Jahren ihrer Ehe zogen Alice und Rich wegen seiner Arbeit oft um. Sie hatten zwei Kinder, Jim, meinen späteren Schwiegervater, und dann Chuck. Rich war beim Ingenieurcorps der Army beschäftigt, sein Spezialgebiet war der Damm- und Brückenbau. Nach einem Jahrzehnt wurde er befördert und arbeitete für den leitenden Ingenieur der Truppe in der Hauptverwaltung bei Washington, D.C., wo er bis zum Ende seiner Laufbahn auch wohnte. Er und Alice ließen sich in Arlington nieder. Sie kauften ein Auto, machten Ausflüge in die nähere und fernere Umgebung und legten auch etwas Geld zurück. Bald konnten sie sich ein größeres Haus leisten und ihre gescheiten Kinder aufs College schicken, ohne sich in Schulden stürzen zu müssen.
Auf einer Dienstreise nach Seattle bekam Rich plötzlich einen Herzinfarkt. Er hatte seit längerer Zeit immer wieder Angina gehabt und nahm Nitroglycerintabletten gegen die gelegentlich auftretenden Schmerzen in der Brust, doch wir befinden uns im Jahr 1965, und damals konnten die Ärzte noch nicht viel gegen ein Herzleiden ausrichten. Er starb im Krankenhaus, bevor Alice zu ihm kommen konnte. Er war nicht älter als sechzig. Alice war fünfundfünfzig.
Dank der Pension vom Ingenieurscorps war es ihr möglich, das Haus in Arlington zu behalten. Als ich sie kennenlernte, wohnte sie schon zwanzig Jahre dort in der Greencastle Street, allein. Meine angeheirateten Verwandten Jim und Nan waren in der Nähe, doch Alice lebte völlig unabhängig von ihnen. Sie mähte selbst ihren Rasen und konnte ein kaputtes Waschbecken, ein verstopftes Klo reparieren. Mit ihrer Freundin Polly ging sie zur Gymnastik. Sie nähte und strickte gern und stellte für jedes Familienmitglied Kleider, Schals und kunstvolle rot-grüne Weihnachtsstrümpfe mit den dazugehörigen plattnasigen Weihnachtsmännern und aufgenähten Namen her. Sie war der Kopf einer Gruppe, die regelmäßig Theater- und Musikaufführungen in der Stadt besuchte. Sie fuhr einen großen Chevrolet und hatte sich ein Kissen auf den Sitz gelegt, damit sie über das Armaturenbrett sehen konnte. Alle notwendigen Alltagsdinge erledigte sie allein; dazu machte sie gern Besuche und Ausflüge mit Freunden und lieferte Essen für Leute aus, die schwächer waren als sie selbst.
Die Zeit verging, und immer öfter drängte sich Außenstehenden die Frage auf, wie lange sie es wohl noch schaffen würde, so weiterzumachen. Sie war eine kleine Frau, höchstens einen Meter dreiundfünfzig groß, und obwohl sie gereizt reagierte, wenn jemand es feststellte, verlor sie mit jedem Jahr an Körpergröße und Kraft. Als ich ihre Enkelin heiratete, strahlte Alice; sie umarmte mich und sagte mir, wie glücklich diese Hochzeit sie mache, sie könne nur leider wegen ihrer Arthrose nicht mit mir tanzen. In den nächsten Jahren blieb sie in ihrem Haus und versorgte sich weiterhin selbst.
Als mein Vater sie kennenlernte, überraschte es ihn, dass sie allein lebte. Er war Urologe, was bedeutete, dass er viele alte Menschen als Patienten hatte, und es machte ihm immer Sorgen, wenn er erfuhr, dass einer von ihnen allein lebte. Er meinte, wenn sie nicht schon bedürftig seien, würden sie es sicher bald werden, und da er aus Indien kam, sah er es als die Verantwortung der Familie an, die Alten zu sich zu nehmen, ihnen Gesellschaft zu leisten und sich um sie zu kümmern. Seit er 1963 in New York seine Facharztausbildung gemacht hatte, hatte mein Vater sich so gut wie jedem Aspekt der amerikanischen Kultur angepasst. Er aß nicht mehr vegetarisch und ging mit Mädchen aus. Er fand eine Freundin, eine angehende Kinderärztin aus einem Teil von Indien, dessen Sprache er nicht sprach. Als er sie einfach heiratete, statt meinen Großvater die Heirat arrangieren zu lassen, war die Familie entsetzt. Er begeisterte sich für Tennis, wurde Präsident des lokalen Rotary Clubs und erzählte gern gewagte Witze. Einer seiner stolzesten Tage war der 4. Juli 1976, an dem die Vereinigten Staaten ihren zweihundertsten Geburtstag feierten und er vor Hunderten jubelnder Menschen auf der Haupttribüne des Jahrmarkts von Athens zwischen Schweine-Auktion und Demolition Derby seine Einbürgerungsurkunde überreicht bekam. Aber eine Sache, an die er sich nie gewöhnen konnte, war die Weise, wie wir unsere Alten und Gebrechlichen behandeln – dass wir sie allein leben lassen oder sie zu einem isolierten Dasein in diversen anonymen Einrichtungen verdammen, wo sie ihre letzten bewussten Momente mit Pflegerinnen und Ärzten verbringen, die kaum wissen, wie sie heißen. Hier lag der größte Unterschied zu der Welt, in der er aufgewachsen war.
Der Vater meines Vaters führte im Alter ein Leben, das aus der westlichen Perspektive idyllisch erscheint. Sitaram Gawande war Bauer in einem Dorf namens Uti, etwa fünfhundert Kilometer landeinwärts von Mumbai entfernt, wo unsere Vorfahren jahrhundertelang das Land bestellt hatten. Ich erinnere mich daran, wie ich ihn mit meinen Eltern und meiner Schwester besuchte, etwa zu der Zeit, als ich Alice kennenlernte. Er war damals schon über hundert Jahre alt, weitaus der älteste Mensch, den ich je gesehen hatte. Er lief am Stock, krumm wie ein gebeugter Weizenhalm, und er war so taub, dass man ihm durch einen Gummischlauch ins Ohr schreien musste. Weil er so schwach war, brauchte er manchmal Hilfe beim Aufstehen. Doch er war ein würdiger Mann, der einen dicht gewickelten weißen Turban trug, eine gebügelte karierte Strickjacke und eine altmodische Malcolm-X-Brille mit dicken Gläsern. Zu jeder Zeit war er von Familienmitgliedern umgeben, die ihn unterstützten, und man verehrte ihn – nicht trotz, sondern wegen seines Alters. Bei allen wichtigen Angelegenheiten fragte man ihn um Rat – wenn es ums Heiraten ging, bei Streitigkeiten um Land, bei geschäftlichen Dingen –, und in der Familie nahm er stets den Ehrenplatz ein. Wenn wir aßen, wurde ihm zuerst serviert. Wenn junge Leute ins Haus kamen, verbeugten sie sich und berührten demütig seine Füße.
In Amerika wäre er höchstwahrscheinlich in ein Pflegeheim gekommen. Es gibt in der Gesundheits- und Krankenpflege eine modellhafte Klassifikation der Tätigkeiten eines Menschen zur Erfüllung seiner Grundbedürfnisse, bekannt als »Aktivitäten des täglichen Lebens« (ATLs). Wenn man ohne fremde Hilfe nicht mehr zur Toilette gehen, essen, sich anziehen und waschen kann, wenn man nicht mehr allein aus dem Bett kommt, nicht mehr aufstehen und laufen kann, mangelt es an der Fähigkeit der grundlegenden physischen Selbständigkeit. Wenn man nicht mehr allein einkaufen, sich sein Essen zubereiten, seinen Haushalt führen, seine Wäsche waschen, seine Tabletten vorschriftsmäßig einnehmen kann und nicht mehr in der Lage ist, zu telefonieren, ohne Begleitung zu reisen und seine Finanzen zu regeln, hat man die Fähigkeit verloren, sicher allein zu leben.
Mein Großvater konnte nur noch wenige dieser einfachen und sehr wenige der komplexeren Aktivitäten selbständig ausführen. Doch in Indien hatte das keine bösen Folgen. Es wurden wegen ihm keine Krisensitzungen der Familie abgehalten, es gab keine qualvollen Debatten darüber, was mit ihm geschehen solle. Es war klar, dass man dafür sorgen würde, dass er weiterhin so leben konnte, wie er es wünschte. Er lebte bei einem meiner Onkel, und da immer einige der zahlreichen Kinder, Enkel, Nichten und Neffen in seiner Nähe waren, mangelte es ihm nie an Hilfe.
In modernen Gesellschaften können nur wenige ältere Menschen darauf zählen, ein solches Leben führen zu können. Die Familie ermöglichte es meinem Großvater zum Beispiel, dass er weiterhin seine Landwirtschaft führen konnte, die er sich mit eigenen Händen aufgebaut hatte, nachdem sein Vater infolge einer Missernte sein gesamtes Hab und Gut bis auf zwei mit einer Hypothek belasteten Morgen Land und zwei abgezehrte Ochsen an einen Geldverleiher verloren hatte. Als er starb, hatte Sitaram, der älteste Sohn, nur Schulden. Mit erst achtzehn Jahren, frisch verheiratet, musste er als Schuldknecht auf seinem eigenen Land arbeiten. Oft konnte sich das junge Paar nichts anderes zum Essen leisten als Brot und Salz. Sie hungerten. Doch er betete und pflügte weiter, und seine Gebete wurden erhört. Es gab eine überreiche Ernte. Er konnte nun nicht nur Essen kaufen, sondern auch seine Schulden abzahlen. In den folgenden Jahren wurden aus seinen zwei Morgen über zweihundert. Er wurde einer der reichsten Landeigner des Dorfes und verlieh nun selbst Geld. Er hatte drei Frauen, die er alle überlebte, und dreizehn Kinder. Wichtig waren für ihn Bildung, harte Arbeit und Genügsamkeit; er wollte immer, dass sich seine Kinder ihr Brot selbst verdienten, dass sie ihr Wort hielten und streng darauf achteten, dass auch andere es taten. Sein ganzes Leben lang war er vor Sonnenaufgang aufgestanden und nicht eher zu Bett gegangen, bis er zu Pferd alle seine Felder abgeritten und inspiziert hatte. Selbst als Hundertjähriger bestand er darauf, das täglich zu tun. Meine Onkel machten sich Sorgen – er war schwach und unsicher auf den Beinen und die Gefahr zu fallen war groß –, aber sie wussten, dass ihm dieser Ritt wichtig war. Also kauften sie ihm ein kleineres Pferd und stellten sicher, dass ihn immer jemand begleitete. So konnte er diese Ritte bis zu dem Jahr machen, in dem er starb.
Wenn er im Westen gelebt hätte, wäre das allen absurd vorgekommen. Es ist nicht sicher, hätten seine Ärzte gesagt. Wenn er es trotzdem getan hätte, dann vom Pferd gefallen und mit einer gebrochenen Hüfte in die Notaufnahme gebracht worden wäre, hätte man ihn nicht mehr nach Hause gehen lassen. Man hätte darauf bestanden, dass er in ein Pflegeheim kommt. Doch in der vormodernen Welt meines Großvaters überließ man ihm die Wahl, wie er leben wollte, und die Familie hatte dafür zu sorgen, dass sein Wunsch erfüllt wurde.
Am Ende starb mein Großvater im Alter von fast einhundertzehn Jahren. Es war die Folge eines Sturzes beim Verlassen eines Busses. Er war auf dem Weg zum Gericht einer nahegelegenen Stadt, wo er ein Geschäft abschließen wollte – es klingt verrückt, aber das war ihm wichtig. Als er ausstieg, begann der Bus zu schaukeln, und obwohl Verwandte ihn begleiteten, stürzte er und stieß sich den Kopf an. Höchstwahrscheinlich entstand ein subdurales Hämatom, eine Blutung in seinem Schädel. Mein Onkel brachte ihn nach Hause, und in den darauffolgenden Tagen schwand er dahin. Bis zum Ende konnte er so leben, wie er wollte, im Kreis seiner Familie.
In der längsten Zeit der Geschichte der Menschheit war für jene, die das hohe Alter überhaupt erreichten, Sitaram Gawandes Erfahrung die Norm. Man kümmerte sich um die Alten in Systemen, die viele Generationen umfassten, mit oft drei Generationen unter einem Dach. Selbst als die Kleinfamilie an die Stelle der Großfamilie trat (wie es im nördlichen Europa vor einigen Jahrhunderten geschah), mussten sich die Menschen mit Altersschwäche und Gebrechlichkeit nicht allein herumschlagen. Es war üblich, dass Kinder das Haus verließen, sobald sie alt genug waren, eigene Familien zu gründen. Aber ein Kind blieb gewöhnlich daheim, oft die jüngste Tochter, wenn die Eltern bis ins Greisenalter lebten. Das war das Schicksal der Dichterin Emily Dickinson, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Amherst, Massachusetts lebte. Ihr älterer Bruder verließ das Haus, heiratete und gründete eine Familie, während sie und ihre jüngere Schwester bei den Eltern blieben, bis sie starben. Emilys Vater lebte bis zum Alter von einundsiebzig, als sie schon die vierzig überschritten hatte, und ihre Mutter lebte sogar noch länger. Am Ende verbrachten die beiden Schwestern ihr ganzes Leben im Elternhaus.
So sehr sich das Leben der Eltern Emily Dickinsons in Amerika von dem des Sitaram Gawande in Indien unterscheiden mag, beide waren Teil von Systemen, die den Vorteil hatten, das Problem der Versorgung der Alten auf einfache Weise zu lösen. Man musste kein Geld zurücklegen für einen Platz im Pflegeheim und man musste nicht die Angebote von Essen auf Rädern vergleichen. Es war selbstverständlich, dass Eltern einfach in ihrer gewohnten Umgebung weiterlebten und von einem oder mehreren ihrer Kinder unterstützt wurden. In heutigen Gesellschaften hingegen sind Alter und Gebrechlichkeit keine gemeinschaftlichen generationsübergreifenden Aufgaben mehr, sondern ein mehr oder weniger privater Zustand, etwas, was zumeist allein oder unter der Obhut von Ärzten und Einrichtungen erlebt wird. Wie ist das passiert? Wie kamen wir von einem Leben, wie Sitaram Gawande es führte, zu dem von Alice Hobson?
Eine Antwort lautet, dass das Alter selbst sich gewandelt hat. Früher war es die Ausnahme, dass man das hohe Alter überhaupt erlebte, und diejenigen, die alt wurden, nahmen eine besondere Stellung ein, als Bewahrer und Bewahrerinnen von Wissen, Traditionen und Geschichten. Gewöhnlich standen sie aufgrund ihrer hohen Autorität bis zum Tod an der Spitze ihres Haushalts. In vielen Gesellschaften brachte man den Alten Ehrfurcht entgegen und leistete ihnen Gehorsam, doch sie beaufsichtigten auch heilige Zeremonien und übten politische Macht aus. Der ihnen geschuldete Respekt war so groß, dass Menschen, die man nach ihrem Alter fragte, sich gewöhnlich älter machten, statt jünger. Denn über ihr wahres Alter haben Menschen immer falsche Angaben gemacht. Demographen sprechen von age heaping und haben sich komplizierte Rechnungen ausgedacht, um die bei Volkszählungen üblichen falschen Daten zu korrigieren. Sie haben auch bemerkt, dass sich im 18. Jahrhundert in den USA und in Europa die Art der falschen Angaben veränderte. Während man sich heute bei statistischen Erhebungen eher jünger macht, machte man sich in der Vergangenheit eher älter. Die Würde des Alters war etwas, was jedermann erstrebte.
Doch heute ist hohes Alter keine Seltenheit mehr. 1790 machten in Amerika Menschen von fünfundsechzig oder mehr Jahren weniger als 2 Prozent der Bevölkerung aus; heute sind es 14 Prozent, in Deutschland, Italien und Japan sogar über 20 Prozent. China ist heute das erste Land der Erde mit über hundert Millionen alten Menschen.
Auch die exklusive Stellung, die Alte einst durch die Bewahrung von Weisheit und Wissen in einer Gesellschaft einnahmen, gibt es nicht mehr – dank der neuen Kommunikationstechnologien von der Schrift bis zum Internet. Neue Technologien bringen auch neue Tätigkeiten hervor und verlangen neue Kenntnisse, was den Wert langjähriger Erfahrungen und ausgewogener Urteile untergräbt. Einst haben wir uns vielleicht an einen alten Menschen gewandt, damit er uns die Welt erkläre. Heute wenden wir uns an Google, und wenn wir Probleme mit dem Computer haben, fragen wir einen Teenager.
Das Wichtigste ist vielleicht, dass die allgemeine längere Lebensdauer zu einer Veränderung der Beziehung zwischen Jungen und Alten geführt hat. Einst stellten Eltern, die bis ins hohe Alter überlebt hatten, eine Quelle dringend benötigter Stabilität dar, sie gaben jungen Familien, die nach sicheren Lebensumständen suchten, wertvollen Rat und wirtschaftlichen Schutz. Und weil Landbesitzer ihr Eigentum gewöhnlich bis zum Tod bewahrten, konnte das Kind, das alles opferte, um sich um die Eltern zu kümmern, damit rechnen, den ganzen Hof zu erben, mindestens aber mehr als das Kind, das fortzog. Doch als die Eltern allmählich immer länger lebten, mehrten sich die Spannungen. Das traditionelle Familiensystem war für junge Leute nicht länger ein Hort der Sicherheit; es mehrten sich die Kämpfe um Besitz und Geld und um die Herrschaft darüber, wie man lebte.
Im traditionellen Haushalt meines Großvaters Sitaram gab es natürlich auch Spannungen. Man kann sich vorstellen, wie meine Onkel sich fühlten, als ihr Vater hundert wurde und sie selbst alt wurden und immer noch darauf warten mussten, Land zu erben und wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erlangen. Ich erfuhr von bitteren Kämpfen innerhalb der Familien des Dorfes, zwischen den Alten und den erwachsenen Kindern, um Land und Geld. Im letzten Lebensjahr meines Großvaters brach ein wütender Streit aus zwischen ihm und dem Sohn, bei dem er lebte. Die eigentliche Ursache war unklar: Vielleicht hatte mein Onkel eine Entscheidung getroffen, ohne seinen Vater zu fragen; vielleicht wollte mein Großvater aus dem Haus gehen, und keiner wollte ihn begleiten; vielleicht wollte er beim Schlafen das Fenster schließen, und sie wollten es offen haben. Was der Anlass auch war, die Auseinandersetzung gipfelte (je nachdem, wer die Geschichte erzählt) darin, dass Sitaram mitten in der Nacht aus dem Haus stürmte, beziehungsweise dass er ausgesperrt wurde. Irgendwie schaffte er es, das Haus eines Verwandten ein paar Kilometer weiter zu erreichen, und dann weigerte er sich zwei Monate zurückzukehren.
Die Entwicklung der globalen Wirtschaft hat die Lebensmöglichkeiten der Jungen dramatisch verändert. Der Wohlstand ganzer Länder hängt davon ab, dass sie bereit sind, die Fesseln der familiären Erwartungen abzustreifen und ihren eigenen Weg zu verfolgen – dorthin zu gehen, wo sie die besten Jobs finden, zu arbeiten, was sie wollen, zu heiraten, wen sie wollen. So ging es meinem Vater auf seinem Weg von Uti nach Athens, Ohio. Er verließ das Dorf, zuerst, um an der Universität von Nagpur zu studieren, und dann, weil sich ihm in den Vereinigten Staaten bessere berufliche Möglichkeiten boten. Als er sich als Arzt etabliert hatte, begann er immer größere Geldsummen nach Hause zu schicken und half damit, neue Häuser für seinen Vater und seine Geschwister zu bauen, dem Dorf sauberes Wasser und Telefonanschlüsse zu verschaffen und Bewässerungsanlagen zu installieren, die dazu führten, dass die Bauern ernten konnten, auch wenn zu wenig Regen fiel. Er baute sogar ein ländliches College in der Nähe des Dorfes, das er nach seiner Mutter benannte. Aber es war nicht zu leugnen, dass er fortgegangen war und nicht zurückkommen würde.
Meinem Vater mochte es nicht gefallen, wie in Amerika alte Menschen behandelt werden, doch das traditionelle Leben, das mein Großvater bis zum Ende führen konnte, war nur möglich, weil die Geschwister meines Vaters das Dorf nicht verlassen hatten. Wir sehnen uns vielleicht wehmütig nach der Lebensweise meines Großvaters zurück. Aber letzten Endes wollen wir sie nicht mehr. Das historische Muster ist klar: Sobald Menschen Mittel und Gelegenheit dazu haben, die alte Lebensweise aufzugeben, tun sie es.
Interessanterweise scheinen die Alten mit der Zeit nicht mehr besonders betrübt darüber zu sein, dass die Kinder fortgehen. Historiker haben herausgefunden, dass die alten Eltern der industriellen Epoche keine wirtschaftlichen Einbußen erlitten und nicht unglücklich darüber waren, von den Jungen verlassen zu werden. In dem Maß, wie die Wirtschaft wuchs, kam es zu einer Veränderung in den Eigentumsverhältnissen. Die Kinder verließen das Haus, um anderswo Arbeit zu suchen, und die Eltern, die nun länger lebten, entdeckten, dass sie ihr Land verpachten oder sogar verkaufen konnten, statt es weiterzuvererben. Steigende Einkommen und später Rentensysteme ermöglichten es immer mehr Menschen, Geld anzusparen und Eigentum zu erwerben, sodass sie im Alter noch die ökonomische Hoheit über ihr Leben hatten und es nicht nötig hatten, bis zum Tod oder zur Erwerbsunfähigkeit zu arbeiten. Das umwälzende Prinzip des »Ruhestandes« begann, Form anzunehmen.
Die Lebenserwartung, in Amerika im Jahr 1900 unter fünfzig, stieg in Folge von besserer Ernährung, Hygiene und medizinischer Versorgung auf über sechzig in den 1930er Jahren. Die Größe der Familien fiel von durchschnittlich sieben Kindern um die Mitte des 19. Jahrhunderts auf etwas über drei nach 1900. Das durchschnittliche Alter, in dem eine Mutter ihr letztes Kind bekam, fiel ebenfalls – von um die fünfzig auf dreißig oder jünger. Das heißt, dass sehr viel mehr Menschen das Erwachsenenalter ihrer Kinder miterlebten. Anfang des 20. Jahrhunderts war eine Frau fünfzig Jahre alt, wenn ihr letztes Kind einundzwanzig wurde; hundert Jahre früher war sie sechzig. Die Eltern hatten viele Jahre, oft ein Jahrzehnt oder mehr, bevor sie oder ihre Kinder sich um das Alter Gedanken machen mussten.
Was sie also taten, war, fortzugehen, genau wie ihre Kinder. Wenn es die Möglichkeit gab, sahen sowohl Eltern wie Kinder die Trennung voneinander als eine Art von Freiheit. Sobald die Alten über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, wählen sie das, was Soziologen »Vertrautheit auf Entfernung« genannt haben. Während im frühen 20. Jahrhundert in Amerika 60 Prozent der über Fünfundsechzigjährigen mit einem Kind zusammenlebten, waren es um 1960 nur noch 25 Prozent. 1975 waren es unter 15 Prozent. Dieser Trend ist weltweit zu beobachten. Nur 10 Prozent der Europäer über achtzig leben zusammen mit ihren Kindern, und fast die Hälfte lebt allein, ohne Partner. In Asien, wo es – wie an meinem Vater zu sehen – immer noch als schändlich gilt, einen alten Vater oder eine alte Mutter allein leben zu lassen, findet dieselbe radikale Umwälzung statt. Statistiken zeigen, dass in China, Japan und Korea die Zahl der allein lebenden Alten unaufhörlich steigt.
Im Grunde ist das ein Zeichen von enormem Fortschritt. Alte Menschen haben heute viel mehr Möglichkeiten als früher. Del Webb, ein Bauunternehmer aus Arizona, machte 1960 den Ausdruck »Seniorensiedlung« populär, als er Sun City gründete, eine Gemeinde in Phoenix, die zu den ersten gehörte, die nur ältere Menschen aufnahm. Damals war das eine umstrittene Initiative. Die meisten Bauherren glaubten, dass die Alten mehr Kontakt mit anderen Generationen haben wollten. Webb widersprach. Er war der Ansicht, dass Menschen in ihrer letzten Lebensphase nicht das Leben führen wollten, das mein Großvater gehabt hatte. Sun City verkörperte eine ganz andere Idee der letzten »Mußejahre«: Es gab einen Golfplatz, eine Shopping Mall, ein Freizeitcenter mit Restaurants; es gab die Aussicht auf viele interessante Dinge, die aktive und mobile ältere Leute gemeinsam unternehmen konnten. Webbs Vision wurde höchst populär, und in Europa, Nord- und Südamerika und sogar Asien sind Seniorensiedlungen inzwischen keine Seltenheit mehr.
Diejenigen, die sich für solche Orte nicht interessierten – Alice Hobson zum Beispiel –, blieben in ihren eigenen Häusern wohnen. Es wurde zu einer allgemein akzeptierten Möglichkeit, allein und autonom zu leben, so, wie man es wollte. Diese Tatsache sollte gefeiert werden. Vielleicht gibt es in der Geschichte keine bessere Zeit, um alt zu sein, als gerade jetzt. Das Machtgefüge zwischen den Generationen ist neu verhandelt worden, und zwar nicht so, wie man es oft meint. Betagte Männer und Frauen verloren ihren Status und ihre Herrschaft viel weniger, als dass sie sie nun mit anderen zu teilen begannen. Die Moderne entwertete die Alten nicht. Sie entwertete die Familie. Sie ermöglichte Menschen – sowohl jungen wie alten – einen Lebensstil, der mehr Freiheit und mehr Kontrolle umfasste – etwa die Freiheit, die darin besteht, anderen Generationen weniger verpflichtet zu sein. Vielleicht gibt es die Verehrung der Alten nicht mehr; aber an die Stelle ist nicht die Verehrung der Jugend getreten, sondern die Verehrung des unabhängigen Selbst.