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Israel Finkelstein
Neil Asher Silberman

Keine Posaunen
vor Jericho

Die
archäologische
Wahrheit
über die Bibel

Aus dem Englischen
von
Miriam Magall

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

Zum Buch

Der Auszug aus Ägypten, die Einnahme Kanaans, das Großreich unter König David und der Tempelbau in Jerusalem unter König Salomon galten lange auch bei den kritischsten Wissenschaftlern als gesichert. Neueste Ausgrabungen zeigen ein ganz anderes Bild von der Geschichte Israels und zwingen zum Umdenken: Den Auszug aus Ägypten gab es ebensowenig wie eine “Landnahme”. Jerusalem unter David und Salomon war ein größeres Dorf – sicher ohne zentralen Tempel und großen Palast. Der Monotheismus hat sich viel später entwickelt als bisher angenommen.

Das klar und anschaulich geschriebene Buch ist in zwölf Kapitel gegliedert: Auf die Nacherzählung der biblischen Geschichte folgt jeweils die archäologische Spurensuche. Im nächsten Schritt rekonstruieren die Autoren den tatsächlichen historischen Ablauf, um abschließend zu fragen, wann und warum die Geschichte aufgeschrieben wurde.

“Ein provozierendes Buch mit allen Merkmalen einer Detektivgeschichte.” Phyllis Trible, The New York Times

“Die herausragendste und erfrischendste Synthese zur biblischen Archäologie in den letzten fünfzig Jahren.” Baruch Halpern

“Lesbar und revolutionär. Finkelstein und Silberman haben auf einem der gegenwärtig meistumstrittenen Feldern der biblischen und der archäologischen Forschung einige Eckpfosten eingerammt. Klar und provokant greifen sie einen großen Teil der bisherigen Weisheiten und gutgläubigen Annahmen vieler ihrer Fachkollegen an. … Allen, die morgens gerne kalt duschen, sei dieses Buch wärmstens empfohlen.” David Noel Freedman

Über die Autoren

Israel Finkelstein, geb. 1949, ist Professor für Archäologie an der Universität Tel Aviv und Leiter eines Grabungsteams in Megiddo. Er wurde 2005 mit dem hochdotierten Dan-David-Preis ausgezeichnet und gilt als “einer der wichtigsten Innovatoren” (FAZ). Durch zahlreiche Veröffentlichungen und Gastprofessuren in Chicago, Harvard und an der Sorbonne ist er international renommiert. Bei C.H.Beck erschien von ihm außerdem “David und Salomo. Archäologen entschlüsseln einen Mythos” (mit Neil A. Silberman, 2006).

Neil Asher Silberman, geb. 1950, ist Direktor des “Ename Center for Public Archaeology and Heritage Presentation” in Belgien und Mitarbeiter zahlreicher internationaler Forschungsprojekte. Zu seinen bekanntesten Büchern, die in viele Sprachen übersetzt wurden, gehören „Heavenly Powers“ (1998), „The Message and the Kingdom“ (1997) und „Digging for God and Country“ (1982). In Deutschland erschienen „Die Messias-Macher“ (1995) sowie bei C.H.Beck “David und Salomo” (mit Israel Finkelstein, 2006).

Inhalt

Vorbemerkung

Prolog: In den Tagen des Königs Josia

 

Einleitung: Archäologie und die Bibel

Was ist die Bibel?

Von Eden bis Zion

Wer schrieb den Pentateuch und wann?

Zwei Versionen von Israels späterer Geschichte

Geschichte oder Fiktion?

Von einer Illustration der Bibel zur Anthropologie des alten Israel

Eine neue Sicht der biblischen Geschichte

ERSTER TEIL
Die Bibel als historischer Bericht?

  1. Die Suche nach den Erzvätern

Eine Saga von vier Generationen

Die vergebliche Suche nach dem historischen Abraham

Einige beredte Anachronismen

Eine lebendige Karte des alten Vorderen Orients

Die Völker der Wüste und die Reiche im Osten

Judas Schicksal

Genesis – eine Einleitung?

  2. Hat sich der Auszug aus Ägypten wirklich zugetragen?

Israel in Ägypten: die biblische Geschichte

Die Lockungen Ägyptens

Aufstieg und Niedergang der Hyksos

Widersprüchliche Daten und Könige

Wäre ein Massenauszug zur Zeit Ramses’ II. überhaupt möglich gewesen?

Geisterwanderer?

Zurück in die Zukunft: die Anhaltspunkte für das 7. Jahrhundert v. Chr.

Herausforderung an einen neuen Pharao

  3. Die Eroberung Kanaans

Josuas Schlachtplan

Ein anderes Kanaan

In den Fußstapfen Josuas?

Schmetterten die Posaunen von Jericho wirklich?

Die mediterrane Welt im 13. Jahrhundert v. Chr.

Der große Umsturz

Erinnerungen an einen epochalen historischen Wandel

Wieder zurück in die Zukunft?

Eine neue Einnahme des verheißenen Landes?

  4. Wer waren die Israeliten?

Das verheißene Land erben

Zuwanderer aus der Wüste?

Entwurzelte Bauern?

Ein plötzlicher archäologischer Durchbruch

Das Leben im Bergland

Neue Anhaltspunkte für die Herkunft der Israeliten

Die verborgenen Zyklen von Kanaan

In welchem Sinn war das alte Israel einzigartig?

Das Buch der Richter und Juda im 7. Jahrhundert

  5. Erinnerungen an ein Goldenes Zeitalter?

Eine Königsdynastie für Israel

Hat es David und Salomo je gegeben?

Ein neuer Blick auf Davids Königreich

Die Suche nach Jerusalem

Wie gewaltig waren Davids Eroberungen?

König Salomos Ställe, Städte und Tore?

Zu schön, um wahr zu sein?

Fragen der Datierung

Das davidische Erbe: vom Stammesoberhaupt in der Eisenzeit zur mythologischen Dynastie

ZWEITER TEIL
Aufstieg und Niedergang des alten Israel

  6. Ein Staat, eine Nation, ein Volk? (ca. 930–720 v. Chr.)

Die Geschichte von zwölf Stämmen und zwei Königreichen

Ein mißverstandenes Entwicklungsschema?

Norden gegen Süden über die Jahrtausende hinweg

Zwei Welten im Bergland

Staatenbildung in der Welt der Bibel

Das Zeitalter Israels beginnt

Vier sich selbst erfüllende Prophezeiungen

Eine Geschichte mit einer Moral

  7. Israels vergessenes erstes Königreich (884–842 v. Chr.)

Aufstieg und Fall des Hauses Omri

Ferne Grenzen und Militärmacht

Paläste, Ställe und Vorratsstädte

Ein vergessener Wendepunkt in der israelitischen Geschichte

Ein vergessenes Monument der Omriden-Herrschaft?

Die Macht der Vielfalt

Die schlimmsten Bösewichter?

  8. Im Schatten des Reichs (842–720 v. Chr.)

Gottlosigkeit, Gottes Gnade und Israels endgültiger Sturz

Ein näherer Blick auf Israels spätere Geschichte

Aram in Israel

Assyrien kehrt zurück

Früchte einer neuen Weltordnung

Noch einmal: Das Rätsel um die Megiddo-Ställe

Die ersten Proteststimmen

Israels Todeskampf

Die Assyrianisierung des Nordens

Das Ende des Nordreichs

Deportierte und Überlebende

Die harte Lektion des Königreichs Israel

DRITTER TEIL
Juda und die Entstehung der biblischen Geschichte

  9. Die Transformation des Königreichs Juda (ca. 930–705 v. Chr.)

Gute Könige und schlechte

Das verborgene Gesicht des alten Juda

Der weit entlegene Stadtstaat in den Bergen

Judas traditionelle Religion

Ein plötzliches Erwachsenwerden

Die Geburt einer neuen nationalen Religion

König Hiskias Reformen?

10. Zwischen Krieg und Überleben (705–639 v. Chr.)

Ein großes Wunder und sein Verrat

Vorbereitungen, einem Weltreich zu trotzen

Was geschah wirklich? Sanheribs brutale Rache

Eine andere biblische Perspektive

Einsammeln der Scherben

Arabische Karawanen und Olivenöl

Wechselnde Geschicke

Auf den Höhepunkt zu

11. Eine große Reform (639–586 v. Chr.)

Ein unerwarteter Fund im Tempel

Was war das «Buch des Gesetzes»?

Der Aufstieg eines Pharaos und ein sterbendes Reich

Eine neue Einnahme des verheißenen Landes

Eine Revolution auf dem Land

Archäologie und die Reformen Josias

Wie weit ging Josias Revolution?

Machtprobe in Megiddo

Die letzten davidischen Könige

12. Exil und Rückkehr (586–ca. 440 v. Chr.)

Von der Zerstörung zur Restauration

Von der Katastrophe zum historischen Revisionismus

Die Zurückgebliebenen

Von Königen zu Priestern

Die Neugestaltung der Geschichte Israels

 

Epilog: Die Zukunft des biblischen Israel

ANHANG

Literaturhinweise

Register (Orte, Personen, Völker)

Vorbemerkung

Vor beinahe acht Jahren – während eines friedlichen Wochenendes im Sommer mit unseren Familien an der Küste von Maine – wurde die Idee zu diesem Buch geboren. Wieder einmal entfachte die Diskussion über die historische Zuverlässigkeit der Bibel beträchtliches Interesse außerhalb von Expertenkreisen, und wir kamen zu der Ansicht, daß ein Buch mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen für das allgemeine Publikum dringend benötigt wird. Darin wollten wir die unserer Überzeugung nach zwingenden archäologischen und historischen Beweise für ein ganz neues Verständnis vom Aufstieg des alten Israel und der Entstehung seiner heiligen Texte darlegen.

In den folgenden Jahren wurde die archäologische Schlacht um die Bibel immer heftiger. Sie sank – zu bestimmten Zeiten und an einigen Orten – auf das Niveau persönlicher Angriffe und Beschuldigungen über verborgene politische Motive herab. Hat sich der Auszug aus Ägypten überhaupt zugetragen? Wurde Kanaan tatsächlich erobert? Herrschten David und Salomo wirklich über ein Großreich? Mit solchen und ähnlichen Fragen beschäftigten sich Journalisten und Kommentatoren auf der ganzen Welt. Die öffentliche Diskussion jeder dieser Fragen ging häufig genug weit über die Grenzen von akademischer Archäologie und Exegese hinaus, um auf heiß umstrittene Bereiche wie Theologie und religiöse Überzeugung überzugreifen.

Trotz der hierdurch aufgewühlten Leidenschaften glauben wir, daß eine Neubewertung von Funden aus früheren Ausgrabungen sowie die laufenden Entdeckungen bei neuen Grabungen deutlich zeigen, daß Wissenschaftler das Problem des Ursprungs von Bibel und altisraelitischer Gesellschaft jetzt aus einem völlig neuen Blickwinkel angehen müssen. In den folgenden Kapiteln bringen wir Beweise, die diese Hypothese untermauern und auf deren Grundlage wir eine ganz andere Geschichte des alten Israel rekonstruieren. Es ist am Leser zu beurteilen, ob unsere Rekonstruktion den Belegen entspricht.

Doch zunächst einige Bemerkungen zu den Quellen und zur Transkription: Die wörtlichen Bibelzitate sind in der Regel der Lutherbibel in der revidierten Fassung von 1984 entnommen. Dort wird der Name des Gottes Israel mit «HERR» wiedergegeben, die Gottesbezeichnungen Elohîm und Elohê dagegen mit «Gott». In unserem eigenen Text schreiben wir den Gottesnamen (das sogenannte Tetragramm) als JHWH.

Bei der biblischen Chronologie mit ihren zahlreichen Unsicherheiten und Fallstricken haben wir uns zu einer Kombination mehrerer Datierungssysteme entschlossen, weil sie am besten zu den archäologischen Befunden paßt: Für die Anfänge der israelitischen Königszeit bis auf Ahab halten wir uns an die von Gershon Galil in The Chronology of the Kings of Israel and Judah (1996) festgelegten Daten. Für die Zeit danach mit ihrer Aufeinanderfolge israelitischer und judäischer Könige folgen wir Mordecai Cogans Artikel «Chronology» im Anchor Bible Dictionary (1992). Natürlich bleiben auch dann noch viele Unsicherheiten (etwa bei der genauen Datierung der ältesten Könige und späteren Mitregenten oder bei Widersprüchen im biblischen Text), dennoch meinen wir, daß es eine für diese allgemeine Darstellung verläßliche Chronologie ist.

Bei den wieder aufgenommenen Ausgrabungen von Tell Megiddo, die von der Universität Tel Aviv zusammen mit der Pennsylvania State University durchgeführt wurden, bot sich eine einmalige Gelegenheit, das Thema dieses Buches zu durchdenken und mit Kollegen zu diskutieren. Wir danken ganz besonders den anderen Leitern der Megiddo-Expedition, Professor David Ussishkin und Professor Baruch Halpern, den vielen Helfern und den Teilnehmern der Expedition, die im Laufe der Jahre eine bedeutende Rolle bei den Ausgrabungen und in der biblischen Archäologie allgemein gespielt haben.

Israel Finkelstein begann die Arbeit an diesem Buch während eines Forschungsjahrs in Paris, Neil Asher Silberman in New Haven. Der Kollege und Freund Professor Pierre de Miroschedji ermöglichte eine produktive und angenehme Zeit in Paris. Die Bibliotheken des Institute of Archaeology der Universität Tel Aviv, des Institut Catholique, des Centre d’Archéologie Orientale der Sorbonne, der Abteilung Études Sémitiques des Collège de France in Paris, die Sterling Memorial Library in Yale sowie die Bibliothek der Yale Divinity School stellten ihre ausgezeichneten Forschungseinrichtungen zur Verfügung.

Ganz besonders danken wir Judith Dekel vom Institute of Archaeology der Universität Tel Aviv. Sie fertigte alle Karten, Diagramme und Zeichnungen für dieses Buch an.

Die Professoren Baruch Halpern, Nadav Naaman, Jack Sasson und David Ussishkin stellten uns großzügig ihren Rat und ihr Wissen zur Verfügung. In vielen spätabendlichen Telefonaten beantworteten Nadav Naaman und Baruch Halpern unsere Fragen; mit ihrer Hilfe konnten wir die komplizierten Probleme der Redaktion der Bibel und der biblischen Geschichtsschreibung lösen. Baruch hat außerdem die ersten Entwürfe vieler Kapitel gelesen und mit uns diskutiert. Wir danken diesen und all den anderen Freunden und Kollegen, die wir konsultiert haben, möchten aber ausdrücklich darauf hinweisen, daß ausschließlich wir die Verantwortung für das Endergebnis tragen.

In New York betreute unsere Agentin Carol Mann das Projekt einfühlsam von der ersten Idee bis zur Veröffentlichung. Daniel Freedberg, dem Lektoratsassistenten bei «The Free Press», sei hier für seine große Hilfe bei jedem Arbeitsschritt gedankt. Von Anfang an hat der Cheflektor Bruce Nichols dieses Buch begeistert und unermüdlich begleitet. Unser Manuskript hat sich dank seiner scharfsinnigen Einsichten und seines redaktionellen Geschicks unermeßlich verbessert.

Für die Übertragung ins Deutsche danken wir Miriam Magall. Professor Christoph Levin von der Universität München hat die Übersetzung fachlich durchgesehen. Durch seinen Rat und seine große Hilfsbereitschaft hat der deutsche Text in jeder Hinsicht gewonnen. Privatdozent Uwe Becker von der Universität Jena hat die Literaturhinweise überarbeitet, so daß sie nun auch für deutsche Leser ein verläßlicher und aktueller Wegweiser sind. Beiden gilt unser besonderer Dank. Ulrich Nolte hat die deutsche Ausgabe im Lektorat des Verlags C.H.Beck klug und umsichtig begleitet.

Schließlich haben auch unsere Familien – Joëlle, Adar und Sarai Finkelstein sowie Ellen und Maya Silberman – einen großen Dank für ihre Liebe, Geduld und die Bereitschaft verdient, auf viele Wochenendausflüge und Familienfeiern zu verzichten, während dieses Buch entstand. Wir können nur hoffen, daß das Ergebnis unserer Anstrengungen ihr Vertrauen in uns – und in unsere Idee von einem Buch über Archäologie und die Bibel, die nur wenige Jahre zuvor in ihrer Anwesenheit Gestalt annahm – rechtfertigt.

Israel Finkelstein
Neil Asher Silberman

Prolog:
In den Tagen des Königs Josia

Die Welt, in der die Bibel entstand, war kein mythisches Reich mit glanzvollen Städten und heiligen Helden, sondern ein erdverbundenes, nüchternes Königtum, in dem die Menschen sich angesichts nur allzu menschlicher Ängste vor Krieg, Armut, Ungerechtigkeit, Hungersnot und Dürre für ihre Zukunft plagten. Die Geschichtsdarstellung, die in der Bibel steht – von Abrahams Begegnung mit Gott und seiner Wanderung nach Kanaan über Moses Befreiung der Israeliten aus der Sklaverei bis zum Aufstieg und Niedergang der Königreiche Israel und Juda –, ist keine wunderbare Offenbarung, sondern ein herausragendes Ergebnis der menschlichen Einbildungskraft. Sie wurde – wie die jüngsten archäologischen Funde schließen lassen – in einem Zeitraum von zwei oder drei Generationen vor beinahe 2600 Jahren entworfen. Entstehungsort war das Königreich Juda, eine hauptsächlich von Schafhirten und Bauern dünn besiedelte Gegend, regiert von einer abgelegenen Königsstadt aus, die inmitten des Berglands gefährdet auf einem schmalen Kamm inmitten steiler, felsiger Abgründe thronte.

Während einiger weniger außergewöhnlicher Jahrzehnte geistiger Gärung und politischer Agitation gegen Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr. fand sich eine zufällige Koalition von judäischen Hofbeamten, Schreibern, Priestern, Bauern und Propheten zusammen, um eine neue Bewegung zu schaffen. In ihrem Mittelpunkt stand eine heilige Schrift von beispielloser literarischer und geistiger Genialität. In diesem Epos ist eine erstaunlich reichhaltige Sammlung historischer Schriften, Erinnerungen, Sagen, volkstümlicher Erzählungen, Anekdoten, königlicher Propaganda, Prophezeiungen und uralter Dichtung zusammengefaßt. Dieses literarische Meisterwerk, teils original, teils übernommen von älteren Fassungen und Quellen, wurde anschließend weiter redigiert und umgearbeitet, bis es ein geistiger Anker nicht nur für die Nachkommen der Bewohner Judas wurde, sondern für Gemeinden überall auf der Welt.

Der historische Kern der Bibel entstand im geschäftigen Treiben auf den vollen Straßen Jerusalems, in den Höfen des Königspalasts der davidischen Dynastie und im Tempel des Gottes Israels. Im krassen Gegensatz zu den unzähligen anderen Heiligtümern im alten Vorderen Orient, die stets internationale Beziehungen pflegten, indem sie die Gottheiten und religiösen Symbole ihrer Verbündeten ehrten, stand der Tempel in Jerusalem ausdrücklich allein. Als eine Reaktion auf Tempo und Umfang der Veränderungen, die von außen nach Juda hineingetragen wurden, erklärten führende Männer im 7. Jahrhundert in Jerusalem, allen voran König Josia – ein Nachkomme König Davids in der sechzehnten Generation –, alle Spuren fremder Verehrung zum Greuel, ja, sie sahen darin die Ursache für das damalige Unglück Judas. Sie begannen einen energischen Feldzug mit religiösen Säuberungen auf dem Land, ordneten die Zerstörung aller Kultstätten dort an und erklärten sie zur Quelle alles Bösen. Der Tempel in Jerusalem mit seinem Allerheiligsten im Inneren, dem Altar und den angrenzenden Höfen auf dem höchsten Punkt der Stadt galt fortan als das einzige legitime Heiligtum für das Volk Israel. Mit dieser Erneuerung war der moderne Monotheismus geboren.[*] Zur gleichen Zeit wuchsen die politischen Ambitionen der Führung in Juda. Sie strebte an, den Tempel in Jerusalem und den Königspalast zum Zentrum eines gewaltigen pan-israelitischen Königreichs zu machen und damit das legendäre vereinte Israel Davids und Salomos zu verwirklichen.

Wie eigenartig, daß Jerusalem nur spät – und noch dazu so plötzlich – in den Mittelpunkt des israelitischen Bewußtseins rückte. Die Geschichte in der Bibel ist so mächtig, daß sie die Welt davon überzeugt hat, Jerusalem habe stets im Mittelpunkt ganz Israels gestanden und Davids Nachkommen seien stets mit besonderer Heiligkeit gesegnet gewesen – statt nur eine weitere adlige Sippe zu sein, die darum kämpft, trotz interner Streitigkeiten und beispielloser Bedrohungen von außen an der Macht zu bleiben.

Wie winzig ihre Königstadt einem heutigen Betrachter vorkommen muß! Im 7. Jahrhundert v. Chr. nahm das bebaute Gebiet Jerusalems rund sechzig Hektar ein, ungefähr die Hälfte seiner heutigen Altstadt. Mit einer Bevölkerung von knapp 15.000 Menschen glich es wohl eher einem kleinen nahöstlichen Marktstädtchen, das hinter Mauern und Toren kauerte, mit Märkten und Häusern westlich und südlich eines bescheidenen Königspalasts und seiner Tempelanlage. Und doch ist Jerusalem nie zuvor so groß gewesen. Im 7. Jahrhundert platzte es mit einer stark angewachsenen Bevölkerung von Hofbeamten, Priestern, Propheten, Flüchtlingen und vertriebenen Bauern aus allen Nähten. Kaum eine andere Stadt in einer historischen Zeit ist sich je so nachdrücklich ihrer Geschichte und Identität, ihres Schicksals und ihrer direkten Beziehung zu Gott bewußt gewesen.

Das neue Bild vom alten Jerusalem und den historischen Umständen, die zur Entstehung der Bibel geführt haben, ist größtenteils den jüngsten archäologischen Entdeckungen zu verdanken. Die Befunde haben die Erforschung des frühen Israel revolutioniert und nachhaltige Zweifel an der Historizität bekannter biblischer Überlieferungen wie der Wanderung der Erzväter, des Auszugs aus Ägypten, der Eroberung Kanaans und des ruhmreichen Großreichs Davids und Salomos geweckt.

Dieses Buch will die Geschichte des alten Israel[*] sowie die Entstehung seiner heiligen Schriften aus einem neuen Blickwinkel erzählen: dem archäologischen. Dabei versuchen wir, Geschichte von Sage zu trennen. Auf Grundlage der jüngsten Entdeckungen konstruieren wir eine neue Geschichte des alten Israel, in der einige der bekanntesten Ereignisse und Personen der Bibel eine unerwartet andere Bedeutung erhalten. Dennoch streben wir nicht nur Zerstörung an. Vielmehr möchten wir den Leser an den jüngsten archäologischen Erkenntnissen – außerhalb von Gelehrtenkreisen noch weitgehend unbekannt – teilhaben lassen und nicht nur erklären, wann, sondern auch warum die Bibel geschrieben wurde und warum sie ihre große Bedeutung bis heute bewahrt hat.

 

 

 

* Mit israelitischem »Monotheismus« beziehen wir uns auf die in der Bibel angeordnete Verehrung des einen Gottes an einem Ort – dem Tempel in Jerusalem –, dem eine besondere Heiligkeit innewohnte. Die moderne wissenschaftliche Literatur hat vielerlei Arten der Verehrung identifiziert, in der ein einziger Gott zwar im Mittelpunkt steht, aber nicht alle anderen ausschließt (zum Beispiel ist er begleitet von Nebengöttern und diversen himmlischen Wesen). Es ist uns bewußt, daß in der späten Königszeit und lange danach die Verehrung des Gottes Israels generell mit der Verehrung göttlicher Helfer und anderer himmlischer Wesen einherging. Aber wir meinen doch, daß zur Zeit Josias mit Hilfe der im Deuteronomium enthaltenen Vorstellungen ein entscheidender Schritt in Richtung auf einen modernen Monotheismus getan wurde.

* Im gesamten Buch verwenden wir den Namen »Israel« in zweierlei Bedeutung: zum einen als den Namen des Nordreichs, zum anderen als Kollektivbezeichnung für alle Israeliten. In den meisten Fällen nennen wir das Nordreich »das Königreich Israel« und die Israeliten insgesamt das »alte Israel« oder »das Volk Israel«.

Einleitung: Archäologie und die Bibel

Wie und warum die Bibel geschrieben wurde – und wie sie sich in die so besondere Geschichte des Volkes Israel einfügt –, hängt eng mit der faszinierenden Geschichte einer modernen Entdeckung zusammen. Die Suche hat sich auf ein winziges, auf zwei Seiten von Wüste und auf einer Seite vom Mittelmeer umfangenes Land konzentriert, das im Laufe der Jahrtausende immer wieder von Dürre und beinahe unablässigem Krieg heimgesucht wurde. Verglichen mit den Nachbarreichen Ägypten und Mesopotamien waren seine Städte und Bevölkerung winzig klein. Auch seine materielle Kultur war bescheiden verglichen mit deren Pracht und Extravaganz. Und dennoch entstand in diesem Land ein literarisches Meisterwerk, das sowohl als heilige Schrift als auch als Geschichtsbuch einen beispiellosen Einfluß auf die Zivilisation der gesamten Welt ausgeübt hat.

Mehr als zweihundert Jahre gründliches Studium der Bibel und die immer umfangreichere archäologische Forschung in allen Ländern zwischen Nil sowie Tigris und Euphrat lassen uns heute verstehen, wann, warum und wie die Bibel entstanden ist. Dank eingehender Analyse der Sprache und der verschiedenen literarischen Gattungen der Bibel konnten Wissenschaftler die mündlichen und schriftlichen Quellen identifizieren, auf denen der heutige Text beruht. Gleichzeitig hat die Archäologie ein erstaunliches, beinahe enzyklopädisches Wissen über die materiellen Bedingungen, die Sprachen, Gesellschaften und die historischen Entwicklungen über die Jahrhunderte hinweg beigesteuert, in denen sich die Traditionen des alten Israel im Verlauf von ungefähr sechshundert Jahren – von ca. 1000 bis 400 v. Chr. – allmählich herauskristallisierten. Aber, und das ist am wichtigsten, die aus den Texten gewonnenen Einsichten und die archäologischen Beweise zusammen haben auch geholfen, zwischen der Macht und Poesie des biblischen Textes und den handfesten Ereignissen und Entwicklungen der Geschichte im alten Vorderen Orient zu unterscheiden.

Seit der Antike war die Welt der Bibel nicht mehr so zugänglich, noch wurde sie je so gründlich erforscht. Dank archäologischer Ausgrabungen wissen wir, welche Feldfrüchte die Israeliten und ihre Nachbarn anbauten, was sie aßen, wie sie ihre Städte anlegten und mit wem sie Handel trieben. Dutzende von in der Bibel erwähnten Städten und anderen Ortschaften wurden freigelegt und identifiziert. Mit modernen Ausgrabungsmethoden und einer Vielfalt von Labortests hat man die Zivilisationen der Israeliten und ihrer Nachbarn, der Philister, Phöniker, Aramäer, Ammoniter, Moabiter und Edomiter, datiert und analysiert. In einigen wenigen Fällen wurden Inschriften und Siegel entdeckt, die man direkt mit in der Bibel erwähnten Personen in Verbindung setzen kann. Das soll aber nicht heißen, daß die Archäologie die Wahrheit des biblischen Textes in allen seinen Einzelheiten bewiesen hat. Weit davon entfernt! Offensichtlich haben sich viele Ereignisse der biblischen Erzählung nicht in der beschriebenen Zeit oder Weise zugetragen. Einige der berühmtesten Ereignisse haben nie stattgefunden.

Mit Hilfe der Archäologie können wir die Geschichte, die hinter der Bibel steht, sowohl auf der Ebene großer Könige und Königreiche als auch im Alltagsleben rekonstruieren. Und wie in den kommenden Kapiteln noch zu erklären sein wird, weiß man heute, daß die ältesten Bücher der Bibel und ihre berühmten Erzählungen über die frühe israelitische Geschichte an einem einzigen Ort und zu einer bestimmten Zeit kodifiziert (und in entscheidenden Punkten verfaßt) wurden: in Jerusalem im 7. Jahrhundert v. Chr.

Was ist die Bibel?

Vorab einige grundlegende Definitionen. Wenn wir von der Bibel sprechen, bezeichnen wir damit die Sammlung heiliger Schriften des antiken Judentums, die Christen als das Alte Testament bekannt ist. Sie wird neuerdings oft auch als «Hebräische Bibel» bezeichnet. Es handelt sich um eine Sammlung von Sagen, Gesetzen, Dichtung, Prophezeiungen, Philosophie und Geschichte, fast ausschließlich auf Hebräisch verfaßt (mit einigen wenigen Texten in einem abweichenden semitischen Dialekt, dem Aramäischen, das nach 600 v. Chr. die Lingua franca im Vorderen Orient wurde). Sie besteht aus 39, ursprünglich jeweils einem Thema oder Verfasser zugeteilten Büchern – oder richtet sich bei längeren Büchern wie dem 1. und 2. Buch Samuel, dem 1. und 2. Buch der Könige und dem 1. und 2. Buch der Chronik nach der genormten Länge einer Schriftrolle aus Pergament oder Papyrus. Die Hebräische Bibel ist die zentrale Schrift des Judentums, als Altes Testament der erste Teil des christlichen Kanons, ferner in der Wiedergabe des Koran eine reiche Quelle von Anspielungen und ethischen Lehren im Islam. Die jüdische Tradition gliedert die Bibel in drei Hauptteile (Tabelle 1).

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Tabelle 1: Die Bücher der Hebräischen Bibel

Zur Tora – auch bekannt als die fünf Bücher Mose oder der Pentateuch («fünf Bücher» im Griechischen) – gehören Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri und Deuteronomium. Darin wird die Geschichte des Volkes Israel seit der Erschaffung der Welt berichtet: die Sintflut, die Geschichte der Erzväter, der Auszug aus Ägypten, der Zug durch die Wüste und die Gabe des Gesetzes am Sinai. Die Tora endet mit Moses Abschied vom Volk Israel.

Der nächste Teil, die Propheten, besteht aus zwei Gruppen. Die Vorderen Propheten – Josua, Richter, das 1. und 2. Buch Samuel und das 1. und 2. Buch der Könige – erzählen die Geschichte des Volkes Israel, angefangen mit dem Zug durch den Jordan und der Einnahme Kanaans, gefolgt vom Aufstieg und Niedergang der israelitischen Königreiche, ihrer Eroberung durch Assyrer und Babylonier und dem Exil. Die Hinteren Propheten enthalten Orakel, soziale Mahnungen, harte Verurteilungen und messianische Hoffnungen, die über einen Zeitraum von etwa dreihundertfünfzig Jahren, zwischen der Mitte des 8. und dem Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr., von einer in sich sehr unterschiedlichen Gruppe inspirierter Menschen verfaßt wurden.

Die Schriften schließlich enthalten eine Sammlung von Predigten, Gedichten, Gebeten, Sprichwörtern und Psalmen. Sie bilden den eindrücklichen, machtvollen Ausdruck der Hingabe des gewöhnlichen Israeliten in Zeiten der Freude oder der Not, von Verehrung und persönlicher Besinnung. In den meisten Fällen ist es ungemein schwierig, sie bestimmten historischen Ereignissen oder Verfassern zuzuschreiben. Sie sind eher das Ergebnis eines fortdauernden literarischen Prozesses, der sich über Hunderte von Jahren erstreckte. Wenngleich der älteste Stoff in dieser Sammlung (Psalmen und Klagelieder) vermutlich schon in der späten Königszeit oder kurz nach der Zerstörung Jerusalems 586 v. Chr. verfaßt worden sein dürfte, ist der Großteil dieser Schriften wahrscheinlich sehr viel später, vom 5. bis zum 2. Jahrhundert v. Chr., in persischer und hellenistischer Zeit, entstanden.

Das vorliegende Buch untersucht die wichtigsten «historischen» Bücher der Bibel, insbesondere die Tora und die Vorderen Propheten, die vom Volk Israel von seinen Anfängen bis zur Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 586 v. Chr. berichten. Die biblische Darstellung wird mit der Fülle archäologischer Daten verglichen, die im Verlauf der letzten Jahrzehnte gesammelt wurden. Als Ergebnis entdeckt man eine faszinierende, komplexe Beziehung zwischen dem, was sich im Land der Bibel während der biblischen Zeit (soweit das nachvollziehbar ist) tatsächlich zugetragen hat und den wohlbekannten Einzelheiten der sorgfältig ausgearbeiteten Geschichtserzählung, die die Bibel enthält.

Von Eden bis Zion

Kernstück der Hebräischen Bibel ist das Epos über den Aufstieg des Volkes Israel und seine kontinuierliche Beziehung zu Gott. Im Gegensatz zu anderen alten nahöstlichen Mythen wie den ägyptischen Erzählungen von Osiris, Isis und Horus oder dem mesopotamischen Gilgamesch-Epos ist die Bibel in der irdischen Geschichte gegründet: Sie bietet ein göttliches Drama, das vor den Augen der Menschheit aufgeführt wird. Wiederum im Gegensatz zu den Geschichtsdarstellungen und Königschroniken anderer Staaten des alten Vorderen Orients rühmt sie nicht nur die Macht der Tradition und der herrschenden Dynastien. Vielmehr bietet sie einen komplizierten und doch klaren Ausblick, warum sich die Geschichte für das Volk Israel – und gleichzeitig auch für die gesamte Welt – auf eine Weise entfaltet hat, die direkt mit Gottes Forderungen und Verheißungen zusammenhängt. Das Volk Israel spielt in diesem Drama die Hauptrolle. Durch sein Verhalten und das Befolgen von Gottes Geboten bestimmt es die Richtung, in der die Geschichte verläuft. Es hängt vom Volk Israel ab – aber auch von allen, die die Bibel lesen –, die Geschicke der Welt zu bestimmen.

Die biblische Geschichte beginnt mit dem Garten Eden und fährt fort mit den Geschichten von Kain und Abel, von der Sintflut und von Noah, um sich schließlich auf das Schicksal einer einzigen Familie – derjenigen Abrahams – zu konzentrieren. Abraham ist der von Gott Erwählte, er soll der Vater einer großen Nation werden, und er befolgt treu Gottes Gebote. Er zieht mit seiner Familie von seiner ursprünglichen Heimat in Mesopotamien nach Kanaan. Dort wandert er während seines langen Lebens als Außenseiter inmitten einer seßhaften Bevölkerung umher. Mit seiner Frau Sara zeugt er einen Sohn, Isaak, der die zunächst Abraham gemachte göttliche Verheißung erben soll. Isaaks Sohn Jakob – der dritte Erzvater – wird der Vater von zwölf verschiedenen Stämmen. Während seines farbenreichen, bunten Wanderlebens, in dem er eine große Familie gründet und überall im Land Altäre errichtet, ringt Jakob mit einem Engel und erhält den Namen Israel (was bedeutet: «der mit Gott gekämpft hat»), den alle seine Nachfahren tragen werden. Die Bibel berichtet, wie Jakobs zwölf Söhne sich streiten, zusammenraufen und schließlich ihre Heimat verlassen, um während einer Hungersnot in Ägypten Zuflucht zu suchen. Der Erzvater Jakob erklärt in seinem letzten Willen und Testament, der Stamm seines Sohnes Juda werde über alle anderen herrschen (Gen. 49,8–10).

Anschließend weitet sich die Schilderung von einem Familiendrama zu einem historischen Schauspiel aus. Der Gott Israels beweist dem Pharao von Ägypten, dem mächtigsten menschlichen Herrscher der Welt, seine ehrfurchtgebietende Macht. Die Israeliten sind eine große Nation geworden, trotzdem sind sie als verachtete Minderheit versklavt und bauen großartige Monumente für die ägyptischen Herrscher. Gottes Wille, sich der Welt gegenüber zu erkennen zu geben, geschieht, indem er Mose als seinen Vermittler wählt, um die Befreiung der Israeliten zu erlangen, damit sie ihr wahres Schicksal antreten können. Und in der vielleicht lebhaftesten Abfolge von Ereignissen in der Literatur der westlichen Welt beschreiben die Bücher Exodus, Leviticus und Numeri, wie der Gott Israels mit seinen Zeichen und Wundern die Israeliten aus Ägypten hinaus und in die Wüste führt. Auf dem Sinai offenbart Gott der Nation seine wahre Identität als JHWH (der heilige Name, gebildet aus vier hebräischen Buchstaben) und gibt ihnen einen Gesetzeskodex, nach dem sie ihr Leben als Gemeinschaft und als Einzelmenschen ausrichten sollen.

Die heiligen Bedingungen für den Bund Israels mit JHWH, die auf Steintafeln geschrieben sind und in der Bundeslade aufbewahrt werden, dienen ihnen als heiliges Schlachtenbanner, als sie ins verheißene Land aufbrechen. In mancher Kultur wäre der Gründungsmythos an diesem Punkt zu Ende – als eine wunderbare Erklärung dafür, wie das Volk entstand. Aber die Bibel erzählt noch über Jahrhunderte hinweg von unzähligen Triumphen, Wundern, unerwarteten Wenden und kollektivem Leid. Auf die großen Triumphe der israelitischen Einnahme Kanaans, König Davids Gründung eines Großreichs und Salomos Bau des Tempels in Jerusalem folgen Spaltung, wiederholte Rückfälle in die Abgötterei und schließlich Verbannung. Denn die Bibel beschreibt, wie die zehn nördlichen Stämme sich kurz nach Salomos Tod nicht länger den davidischen Königen in Jerusalem unterwerfen wollen, sich einseitig von der vereinten Monarchie lösen und so die Entstehung zweier rivalisierender Königreiche erzwingen: des Königreichs Israel im Norden und des Königreichs Juda im Süden.

In den zweihundert Jahren danach lebt das Volk Israel in zwei getrennten Königreichen und fällt immer wieder den Lockungen fremder Götter anheim. Die Herrscher im Nordreich werden in der Bibel alle als verstockte Sünder beschrieben; aber auch einige Könige von Juda weichen gelegentlich vom Pfad der völligen Hingabe an Gott ab. Schließlich schickt Gott Invasoren und Unterdrücker von außen, um das Volk Israel für seine Sünden zu strafen. Als erste überfallen die syrischen Aramäer immer wieder das Königreich Israel. Danach bringt das mächtige Assyrische Reich den Städten des Nordreichs Zerstörung ohnegleichen und im Jahr 720 v. Chr. für einen beträchtlichen Teil der zehn Stämme das bittere Schicksal von Verwüstung und Verbannung. Das Südreich Juda behauptet sich über hundert Jahre länger, aber auch seine Bewohner können das unentrinnbare Gottesurteil nicht abwenden. 586 v. Chr. dezimiert das erstarkende, brutale Babylonische Reich das Land Israel und steckt Jerusalem und seinen Tempel in Brand.

Mit dieser großen Tragödie weicht die biblische Erzählung dramatisch und wiederum in charakteristischer Weise vom üblichen Muster religiöser Epen ab. In vielen derartigen Geschichten bedeutet die Niederlage eines Gottes durch eine andere Armee auch das Ende seines Kultes. In der Bibel wird die Macht des Gottes Israels nach dem Fall Judas und der Verbannung der Israeliten dagegen sogar als noch höher angesetzt. Der Gott Israels ist keineswegs durch die Zerstörung seines Tempels gedemütigt, vielmehr wird er als eine Gottheit mit unübertroffener Macht betrachtet. Schließlich hat er sich der Assyrer und Babylonier als seiner ahnungslosen Helfer bedient, um das Volk Israel für seine Untreue zu strafen.

Nach der Rückkehr eines Teils der Verbannten nach Jerusalem und dem Wiederaufbau des Tempels ist Israel keine Monarchie mehr, sondern eine Religionsgemeinschaft, geleitet vom göttlichen Gesetz und angehalten, die in den heiligen Texten der Gemeinschaft vorgeschriebenen Rituale zu befolgen. Und allein die freie Entscheidung von Männern und Frauen, diese göttlich verfügte Ordnung zu befolgen oder dagegen zu verstoßen – weder das Verhalten seiner Könige noch der Aufstieg und Niedergang großer Reiche –, sollte fortan den Verlauf der Geschichte Israels bestimmen. Die Wirkung der Bibel liegt genau darin, daß sie sich so außerordentlich stark auf die Verantwortung des Menschen konzentriert. Andere alte Epen verblassen im Laufe der Zeit, dagegen ist der Einfluß der biblischen Geschichte auf die westliche Zivilisation ständig gewachsen.

Wer schrieb den Pentateuch und wann?

Jahrhundertelang haben Leser die Heilige Schrift wie selbstverständlich als göttliche Offenbarung und gleichzeitig als exakte Geschichte betrachtet, von Gott einer vielfältigen Zahl israelitischer Weisen, Propheten und Priester direkt übermittelt. Etablierte jüdische wie christliche Autoritäten nahmen natürlich an, die fünf Bücher Mose seien eigenhändig von Mose – kurz vor seinem Tod auf dem Berg Nebo, wie im Buch Deuteronomium geschildert – niedergeschrieben worden. Die Bücher Josua, Richter und Samuel galten als heilige Berichte, vom ehrwürdigen Propheten Samuel in Silo aufbewahrt, so wie die Bücher der Könige als der Feder des Propheten Jeremia entflossen betrachtet wurden. Dementsprechend hielt man König David für den Verfasser der Psalmen und König Salomo für den der Sprüche und des Hohenlieds. Zu Beginn der Moderne, im 17. Jahrhundert, stellten Gelehrte, die die Bibel eingehend aus literarischer und sprachwissenschaftlicher Sicht studierten, jedoch fest, daß es nicht ganz so einfach war. Im Licht von Logik und Vernunft betrachtet, warf der Text der Heiligen Schriften einige sehr beunruhigende Fragen hinsichtlich seiner historischen Zuverlässigkeit auf.

Als erstes stellte sich die Frage, ob Mose tatsächlich der Verfasser der fünf Bücher Mose gewesen sein kann, denn schließlich beschreibt das letzte Buch, Deuteronomium, sehr ausführlich und genau Zeit und Umstände von Moses eigenem Tod. Bald schon zeigten sich weitere Unstimmigkeiten: Die Bibel ist voll von literarischen Exkursen, die die alten Namen bestimmter Orte erklären; dazu heißt es dann häufig, die Beweise für bekannte biblische Ereignisse seien «bis zum heutigen Tag» sichtbar. Aufgrund dieser Faktoren gelangten einige Gelehrte des 17. Jahrhunderts zu der Überzeugung, daß zumindest die ersten fünf Bücher der Bibel im Laufe der Jahrhunderte von späteren, ungenannten Redaktoren und Bearbeitern umgeformt, erweitert und ausgeschmückt worden sein mußten.

Im ausgehenden 18., verstärkt noch im 19. Jahrhundert hegten viele kritische Exegeten Zweifel daran, ob Mose beim Verfassen der Bibel überhaupt seine Hand im Spiel hatte; sie gelangten zu der Überzeugung, daß die Bibel ausschließlich das Werk späterer Verfasser war. Diese Gelehrten verwiesen auf die allem Anschein nach unterschiedlichen Versionen derselben Erzählungen in den Büchern des Pentateuch, die nahelegten, daß der Text von mehreren unterscheidbaren Verfassern stammt. Liest man zum Beispiel sorgfältig das Buch Genesis, zeigen sich zwei widersprüchliche Versionen der Schöpfung (1,1–2,3 und 2,4–25), zwei recht unterschiedliche Stammbäume für Adams Nachfahren (4,17–26 und 5,1–28) und zwei geklitterte und neu angeordnete Berichte von der Sintflut (6,5–9,17). Darüber hinaus existieren Dutzende weiterer Doppel- und manchmal selbst Dreierversionen derselben Ereignisse in den Berichten über die Wanderungen der Erzväter, den Auszug aus Ägypten und die Gesetzgebung.

Trotzdem herrscht in dieser scheinbar chaotischen Wiederholung eine klare Ordnung vor. Wie bereits im 19. Jahrhundert erkannt, handelt es sich bei den Doppelversionen, die hauptsächlich in Genesis, Exodus und Numeri zu finden sind, nicht um willkürliche Varianten oder Verdoppelungen derselben Erzählungen. Sie halten zwar an bestimmten, leicht erkennbaren Merkmalen in Terminologie und geographischem Brennpunkt fest, aber – das fällt auf – gebrauchen in ihrer Schilderung für den Gott Israels verschiedene Namen. So verwendet ein Erzählstrang konsequent das Tetragamm, den vierbuchstabigen Namen JHWH (von dem die meisten Gelehrten annehmen, daß er Jahwe ausgesprochen wurde); hier gilt die Darstellung des historischen Berichts vor allem dem Stamm Juda und seinem Gebiet. Ein zweiter Strang der Schilderung gebraucht die Namen Elohim oder El für Gott, und er befaßt sich hauptsächlich mit den Stämmen und Gebieten im Norden des Landes, vor allem Ephraim, Manasse und Benjamin. Mit der Zeit wurde klar, daß die Doppelversionen aus zwei verschiedenen Quellen stammen, verfaßt zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten. Die jahwistische Quelle kennzeichneten die Gelehrten mit «J» («Jahwist»), die elohistische mit «E» («Elohist»).

Die unterschiedliche Verwendung geographischer Terminologie und religiöser Symbole sowie die Rollen, die die verschiedenen Stämme in den beiden Quellen spielen, überzeugten die Gelehrten davon, daß der J-Text in Jerusalem verfaßt worden war und die Perspektive des vereinten Königreichs bzw. des Südreichs Juda, vermutlich zur Zeit König Salomos (ca. 970–930 v. Chr.) oder kurz darauf, widerspiegelt. Der E-Text dagegen wurde im Norden geschrieben und stellt die Perspektive des Nordreichs Israel dar; er dürfte während des unabhängigen Bestehens eben dieses Königreichs (ca. 930–720 v. Chr.) entstanden sein. Dagegen ist das Buch Deuteronomium mit seiner unverkennbaren Botschaft und ebensolchem Stil anscheinend ein unabhängiges Dokument, «D» genannt. Und jene Teile des Pentateuch, die weder J oder E noch D zugeordnet werden können, enthalten zahlreiche Textstellen, die sich mit Rituellem befassen. Mit der Zeit betrachtete man sie als Teil einer langen, als «P», das heißt «priesterliche Quelle», bezeichneten Abhandlung, denn ihr spezifisches Interesse gilt dem Kultus sowie den Reinheits- und Opfervorschriften. Mit anderen Worten: Die Gelehrten gelangten allmählich zu dem Schluß, daß die ersten fünf Bücher der Bibel, wie wir sie heute kennen, das Ergebnis eines komplizierten Redaktionsvorgangs sind, bei dem die vier wichtigsten Quellen – J, E, P und D – geschickt von Schreibern oder «Redaktoren» zusammengefügt wurden; ihre literarischen Spuren (von einigen Gelehrten als «R» bezeichnet) erkennt man bei Übergangssätzen und redaktionellen Exkursen. Die letzte dieser Überarbeitungen erfolgte in nachexilischer Zeit.

In den letzten Jahrzehnten hat es viele stark voneinander abweichende Ansichten über Datierungen und Urheber dieser einzelnen Quellen gegeben. Einige Wissenschaftler vertreten die Meinung, die Texte seien zur Zeit des vereinten Königreichs und des Reichs Juda und Israel geschrieben und redigiert worden (ca. 1000–586 v. Chr.), andere bestehen dagegen darauf, es müsse sich um spätere Texte handeln, die von Priestern und Schreibern im babylonischen Exil und nach der Rückkehr (im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr.) oder sogar erst in hellenistischer Zeit (4. bis 2. Jahrhundert v. Chr.) gesammelt und überarbeitet wurden. Aber alle sind sich darin einig, daß der Pentateuch kein nahtloses Werk aus einem Guß ist, sondern sich vielmehr wie ein Mosaik aus verschiedenen Quellen zusammensetzt, jede unter unterschiedlichen historischen Umständen verfaßt, um verschiedene religiöse bzw. politische Ansichten auszudrücken.

Zwei Versionen von Israels späterer Geschichte

Die ersten vier Bücher der Bibel – Genesis, Exodus, Leviticus und Numeri – wirken wie das Ergebnis einer geschickten Verflechtung der Quellen J, E und P. Aber das fünfte, das Buch Deuteronomium, ist ein völlig anderer Fall. Es ist geprägt durch eine ganz eigene Sprache, die sonst in keiner der anderen Quellen anzutreffen ist, und enthält eine kompromißlose Verurteilung der Anbetung anderer Götter, eine neue Sichtweise Gottes als völlig transzendent und das absolute Verbot des Opfergottesdienstes für den Gott Israels an jedem anderen Ort außer im Tempel von Jerusalem. Vor langem schon haben Gelehrte eine mögliche Verbindung dieses Buchs mit dem ansonsten geheimnisvollen «Buch des Gesetzes» erkannt, das der Hohepriester Hilkia während der Renovierungsarbeiten unter der Herrschaft König Josias 622 v. Chr. entdeckt haben soll. Wie in 2. Könige 22,8–23,24 berichtet, inspirierte dieses Dokument eine beispiellos strenge religiöse Reform.

Der Einfluß des Buchs Deuteronomium auf die endgültige Botschaft der Hebräischen Bibel geht weit über ihre strikten Gesetzesvorschriften hinaus. Die durchlaufende Geschichtsdarstellung der Bücher, die auf den Pentateuch folgen – Josua, Richter, 1. und 2. Samuel, 1. und 2. Könige –, hängt sprachlich und theologisch so eng mit dem Deuteronomium zusammen, daß Wissenschaftler sie seit der Mitte der 1940er Jahre als das «Deuteronomistische Geschichtswerk» bezeichnen. Es ist das zweite große literarische Werk über die Geschichte Israels in der Bibel und führt die Schilderung von Israels Schicksal seit der Einnahme des verheißenen Landes bis zum babylonischen Exil fort und drückt die Ideologie einer neuen religiösen Bewegung aus, die im Volk Israel zu einem relativ späten Zeitpunkt entstand. Auch dieses Werk wurde mehr als einmal redigiert. Nach Ansicht einiger Forscher wurde es im Exil als der Versuch geschaffen, Geschichte, Kultur und Identität der geschlagenen Nation nach der Katastrophe der Zerstörung Jerusalems zu bewahren. Andere meinen dagegen, das Deuteronomistische Geschichtswerk sei zur Zeit König Josias verfaßt worden, um dessen religiöse Ideologie und territoriale Ambitionen zu fördern, und sei einige Jahrzehnte später während des Exils beendet worden.

Die Bücher der Chronik – des dritten großen historischen Werks in der Bibel über Israel nach dem Exil – wurden erst im 5. oder 4. Jahrhundert v. Chr. niedergeschrieben, mehrere hundert Jahre nach den Ereignissen, die sie schildern. Ihre historische Perspektive ist stark zugunsten der historischen und politischen Ansprüche der davidischen Dynastie und Jerusalems gefärbt; den Norden übergehen sie beinahe völlig. In vielerlei Hinsicht spiegeln die Bücher der Chronik Ideologie und Bedürfnisse des zweiten Jerusalemer Tempels und gestalten größtenteils eine historische Erzählung neu, die bereits in schriftlicher Form vorlag. Aus diesen Gründen verwenden wir in diesem Buch die Bücher der Chronik ganz selten und konzentrieren uns stattdessen stärker auf den älteren Pentateuch und das Deuteronomistische Geschichtswerk.

Wie in den folgenden Kapiteln noch zu sehen sein wird, hat die Archäologie genug Beweise für eine neue Hypothese geliefert, derzufolge der historische Kern von Pentateuch und Deuteronomistischem Geschichtswerk im wesentlichen im 7. Jahrhundert v. Chr. geformt wurde. Deshalb beleuchten wir ganz besonders Juda im späten 8. und im 7. Jahrhundert, als dieser literarische Prozeß ernsthaft einsetzte, und argumentieren, daß der Pentateuch größtenteils eine Schöpfung der späten Königszeit ist; er verteidigt Ideologie und Bedürfnisse des Südreichs Juda und weist damit eine enge Beziehung zum Deuteronomistischen Geschichtswerk auf. Gleichzeitig schließen wir uns jenen Forschern an, die die Ansicht vertreten, das Deuteronomistische Geschichtswerk sei hauptsächlich zur Zeit König Josias zusammengestellt worden und habe darauf abgezielt, spezifische politische Ambitionen und religiöse Reformen ideologisch zu untermauern.

Geschichte oder Fiktion?

In den Diskussionen über Zusammensetzung und historische Zuverlässigkeit der Bibel hat die Archäologie stets eine entscheidende Rolle gespielt. Zunächst sah es danach aus, als widerlege die Archäologie die Behauptung der radikaleren Kritiker, die Bibel sei recht spät entstanden und größtenteils historisch unzuverlässig. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, als die moderne Forschung in den Ländern der Bibel einsetzte, ließ eine Reihe aufsehenerregender Entdeckungen und Jahrzehnte ununterbrochener archäologischer Ausgrabung und Interpretation für viele darauf schließen, in bezug auf die wichtigsten Umrisse der Geschichte des alten Israel sei den biblischen Berichten grundsätzlich zu trauen, stützten diese sich doch anscheinend auf ein Korpus exakt bewahrter Erinnerungen, selbst wenn der biblische Text lange nach den darin geschilderten Ereignissen niedergeschrieben wurde. Diese Schlußfolgerung beruhte auf mehreren neuartigen archäologischen und historischen Beweisen.

Die geographische Identifizierung. – Zwar streiften westliche Pilger und Forscher seit byzantinischer Zeit durch das Land der Bibel, aber erst seit dem Beginn moderner historischer und geographischer Untersuchungen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert begannen Gelehrte, die sowohl in der Bibel als auch in anderen alten Quellen bewandert waren, die Landschaft des alten Israel auf der Grundlage von Topographie, biblischen Hinweisen und archäologischen Überresten zu rekonstruieren, statt sich an die kirchlichen Traditionen über die verschiedenen heiligen Stätten zu halten. Wegweisend auf diesem Gebiet war der amerikanische Geistliche Edward Robinson. 1838 und 1852 führten ihn zwei lange Forschungsreisen durch das osmanische