rowohlts monographien
begründet von Kurt Kusenberg
herausgegeben von Uwe Naumann
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Dezember 2015
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ISBN Printausgabe 978-3-50125-8 (21. Auflage 2007)
ISBN E-Book 978-3-644-55361-3
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-55361-3
Er lernt sich fürchten und sich verstellen. Das kann immer zu etwas nützen, wie man anderseits nichts dabei verliert, wenn man Demütigungen erträgt, Haß empfindet und die fortgesetzt mißhandelte Liebe sterben sieht. Mit Begabung vertieft man das alles, bis man wohlerworbene Moralansichten daraus gemacht hat. (Übersetzung ins Deutsche von Helmut Bartuschek.)
Die Gegenspieler der Fischerstochter Marie Lehning, das halbseidene Zwillingspaar Vicky und Kurt Meier, scheinen in manchen Zügen nach Erika und Klaus Mann entworfen zu sein, die gleichzeitig als «Mann twins» in Berlin und anderswo ihr überlautes Wesen trieben; siehe hierzu etwa Kurt Tucholsky, «Die lieben Kinder», Weltbühne 1929.
Es war Golo Mann, der zweite Sohn Thomas Manns, ein ernster junger Mann mit wenig weltlichem Eifer, vielmehr geistigem Ehrgeiz, – weshalb ich den Irrtum beging, als könnte er sich mir anschließen. Ein unerlaubter Irrtum, wie Heinrich Mann alsbald erkannte. Tatsächlich hat Golo Mann denn auch nach Heinrich Manns Tod nicht gezögert, sich unter dessen Gegner zu reihen. Er hat, mit Beweisgründen, die Thomas Manns abgelebten «Betrachtungen eines Unpolitischen» merkwürdig nahestehen, in der simplifizierenden Formel vom «französierenden Romancier, der die Deutschen belehrte, ohne sie leiden zu können», eine Erklärung der Erscheinung Heinrich Manns zu finden geglaubt und sich zuletzt über den weltanschaulichen Widerstreit der Brüder in dem Diktum beruhigt: «Thomas Mann war ein tieferer Denker als sein Bruder Heinrich.» So weit war bisher kein Urteil vorgeschnellt. Thomas Mann selbst, der Zeit gefunden hatte, sein Denken über die irrationalen «Betrachtungen» hinaus zu klären, hat solchen Bemühungen im Alter entgegengehalten: «Die dummen Deutschen mußten uns immer gegeneinander ausspielen und streiten, wer der ‹Eigentliche› sei. Der ‹Eigentliche› wäre wohl der Mann gewesen, den die Natur aus uns beiden hätte formen sollen.»
Auf fremdem Boden, nach der Niederschlagung Frankreichs, war mit der Proklamierung eines «Deutschen Kaisers» am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles die Gründung des Deutschen Kaiserreichs vollzogen. Bürgerliche Abgesandte hatten dem Akt nicht beigewohnt. Lediglich eine Deputation des Reichstags des Norddeutschen Bundes durfte vor dem König von Preußen die Bitte um Annahme der neuen Würde äußern. Das neue Deutsche Reich erhob sich aus dem Angebot der fürstlich-feudalen Gewalten, den Vorrang der preußischen Militärmonarchie vor den übrigen Ländern des Reichs endgültig anzuerkennen – für einen so spät errichteten, durch seinen jüngsten Sieg mächtigen Nationalstaat ein bedenklicher Grund. Übrigens hatte sich Frankreich, nach dem Sturz seiner Monarchie, wenige Wochen vor der deutschen Reichsgründung zur Dritten Republik erklärt.
Der scharfsichtigste und klügste Darsteller und Kritiker des deutschen Kaiserreichs und seiner Nachfolgerinnen, ihrer Gesellschaft, ihrer Politik und Geschichte, kam nur wenige Wochen nach der Reichsgründung zur Welt: Luis Heinrich Mann wurde am 27. März 1871 in Lübeck geboren, als der erste Sohn eines der Notabeln der Freien und Hansestadt. Sein Vater Thomas Johann Heinrich Mann war Kaufmann, Inhaber der 1790 gegründeten Firma «Johann Siegmund Mann, Getreidehandlung, Kommissions- und Speditionsgeschäfte», Königlich Niederländischer Konsul seit 1864. 1877 wurde er in den Senat der Freien Reichsstadt gewählt, wurde zum «Compräses» der Baudeputation und des Departements für indirekte Steuern, zum Mitglied der Zentral-Armendeputation und der Kommission für Handel und Schiffahrt ernannt und 1885 zum Präsidenten der Steuerbehörde erhoben. In seiner Amtstracht, Schnallenschuhen, Kniehosen, dem schwarzen, pelzverbrämten Mantelcape, der weißen, gefältelten Halskrause und auf dem Kopf den hohen spanischen Hut, repräsentierte Thomas Johann Heinrich Mann nicht nur eine der Spitzen des kleinen Freistaates, sondern ebensowohl einen Teil der Souveränität des Deutschen Reichs, die von zweiundzwanzig Monarchen und von den Senaten dreier Freier Städte getragen wurde. Heinrich Mann lernte, als Kind, die Gesellschaft von oben herab kennen, wenn der Senator seinen Ältesten durch Stadt und Land mitnahm, um ihn auf seinen Beruf vorzubereiten, derzeit das Erbe der Firma zu verwalten, das Ansehen des Hauses hochzuhalten. Mit ihm durch die Straßen zu gehen, war eine meiner schärfsten Übungen hinsichtlich der Grüße, die ich, je nach Würdigkeit der Person, zu erwidern oder vorwegzunehmen hatte. Mit ihm im gemieteten Zweispänner über Land zu fahren, war ein Fest. Die großen Bauern erschienen auf ihren Türschwellen, wir wurden bewirtet, und alles Getreide ging dabei in seine Speicher über. Er war Senator, was damals noch nicht Parteifrage war und von keinen öffentlichen Wahlen abhing. Es kam einfach auf die Familie an. Man war es oder man war es nicht – und behielt, einmal in den Senat gelangt, lebenslang die Befugnisse eines absolutistischen Ministers. Mein Vater verwaltete im Freistaat die Steuern, seine Macht war die allen fühlbarste.
Die Manns stammten, soweit sich die Familie zurückverfolgen läßt, aus fränkischen Bauerngeschlechtern und Nürnberger Handwerkerfamilien. Im 17. Jahrhundert wurde ein Zweig in Mecklenburg seßhaft, und schon der Ururgroßvater Heinrichs, Joachim Siegmund Mann, ließ sich als Kaufmann in der Hansestadt Rostock nieder. Sein Sohn, Johann Siegmund, diente als Seemann und betrieb zugleich Handelsgeschäfte. Er war es, der den Lübecker Bürgerbrief erwarb und die Getreidehandlung gründete, die dann gute einhundert Jahre am Ort bestanden hat. Einen letzten großen Zuwachs an Ansehen und Vermögen erfuhr das Haus durch die Heirat des Großvaters, Johann Siegmund Mann jun., mit Elisabeth Marty; deren Schweizer Urgroßvater Johann Heinrich Marty, ebenfalls durch Heirat, in den Besitz eines der schönsten alten Stadthäuser gelangt war: des Hauses Mengstraße 4, des heute sogenannten «Buddenbrookhauses» – Schauplatz eines der berühmtesten Familienromane der Weltliteratur, der «Buddenbrooks» von Thomas Mann, dem jüngeren Bruder Heinrichs. – Der «blitzblanke» Reichtum der Martys war in den Napoleonischen Kriegen erworben worden durch Getreidelieferungen an die preußischen Truppen. Heinrich Mann hat diesen Vorgang aus der Geschäftsgeschichte seiner Familie in höheren Jahren als ein Sinnbild der deutsch-französischen Entzweiung betrachtet, hat an seinem Beispiel die Korrumpierung des bürgerlichen Erwerbssinnes in verräterische Profitgier dargestellt und endlich sogar, die Situation zum Gleichnis erweiternd, in der Rivalität seines Ahnen mit einem andern Getreidehändler den Ursprung jenes tiefen weltanschaulich-persönlichen Zwiespalts erblickt, der ihn in seiner reifen Zeit von dem jüngeren Bruder Thomas trennte. Die Geschäfte Johann Heinrich Martys boten Heinrich Mann den Stoff der historisch-novellistischen Einleitung Neunzig Jahre vorher zu dem Roman Der Kopf, dem dritten und umfangreichsten Werk, das, nach dem Untertan, den Armen, die Romane der deutschen Gesellschaft im Zeitalter Wilhelms II. abschloß.
Sah Heinrich Mann aus höheren Jahren auf seine Lübecker Kindheit zurück, so erschien ihm jede Einzelheit des geselligen Lebens im Vaterhaus wie eine nachträgliche Ausstrahlung des kaiserlichen Hofes Napoleons III. und der schönen Eugenie. Der Saal des Hauses in zartem, hellem Geschmack, verspätetem Rokoko, die Maskenspiele, die Tänze, die Quadrillen, der Galopp … Die Kultur der Salons war nie wichtiger als damals, Höflichkeit nie wieder so bekannt. Man spielte Scharaden, gab Rätsel auf, die Damen bemalten die Fächer ihrer Freundinnen mit Aquarellen, Herren, die sie verehrten, schrieben ihre Namen darauf. Jene Welt unterhielt sich mit Schreibspielen, sonderbaren Erfindungen, ich habe sie erst verstanden, als ich las, daß in dem engsten Kreis Napoleons zuweilen jemand einen Aufsatz diktierte. Das Spiel war, zu entdecken, wer am wenigsten orthographische Fehler machte. Bürgerliche Spiele, sie paßten auch nach Lübeck. Der Siebenjährige, hinter der Tür des Ballsaales, sah ihnen zu, ratlos ergriffen von dem Glück, dem alle nachtanzten.
Es war ein glänzendes Haus, das der Senator Mann führte. Er hatte als Neunundzwanzigjähriger, schon Chef der Firma, die achtzehnjährige Julia da Silva-Bruhns geheiratet, eine Verbindung, die seinem Temperament – jung, heiter, unbeschwert hat noch der alte Heinrich Mann seinen Vater genannt – und seinen eleganten Neigungen zum Besonderen entsprach: Mit der jungen, anmutigen, sinnlich-geistreichen und schönen Frau drang nicht nur ein fremdländisches Element in die gemessenen Verhältnisse des Lübecker Patriziers ein; die halb-romanische Herkunft Julia da Silva-Bruhns’ wurde den Kindern dieser Ehe eine durchaus bestimmende Mitgift. Sie war die Tochter einer portugiesisch-kreolischen Brasilianerin, Maria Luiza da Silvas, und des «extrem nordischen» Johann Ludwig Bruhns, dessen Familie, aus Skandinavien eingewandert, zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Lübeck ansässig geworden war. Johann Ludwig, Ivao Luis, wie er «drüben» hieß, tat sich in Brasilien als Kaffee- und Zuckerplantagenbesitzer, als Exporteur, ja als Ingenieur und Gründer einer Dampfschiffahrtsgesellschaft für den Strom Piracicaba derart hervor, daß er zum Günstling des letzten brasilianischen Braganza, Kaiser Dom Pedros II., aufrückte und von diesem weitgehende Vollmachten für die Urbarmachung der Gebiete den Piracicaba hinauf empfing. In Angra dos Reis, südlich von Rio am Atlantik gelegen, war Julia da Silva-Bruhns aufgewachsen. Die phantastische Farbigkeit ihrer Kinderumwelt, in Erinnerungen «Aus Dodos Kindheit» kurz nach der Jahrhundertwende von der Senatorin aufgezeichnet, diente Heinrich Mann als Anregung für die ersten Kapitel seines Romans Zwischen den Rassen – einer Meditation über die prägenden Kräfte des eigenen Wesens. Briefliche Aufzeichnungen der Mutter, aus dem Jahr 1906, über die außerordentlichen technisch-geschäftlichen Pionierleistungen des Großvaters Bruhns, dem Ältesten als weitere Stoffgrundlagen für Zwischen den Rassen zugedacht, sind von Heinrich Mann nicht verwertet worden.
Das zweite Stadthaus der Manns, 1881 im Prunkstil der Gründerjahre errichtet, lag in der Beckergrube, die, der Mengstraße parallel, vom Scheitel der alten Stadthöhe hinab auf die Trave zulief. Hier, «An der Untertrave», befanden sich Umschlagplätze, Kontore und Speicher der Handelshäuser. Ging man die Uferkais einige hundert Meter traveabwärts, gelangte man zum Hafen der Stadt. Dort lagen in Heinrich Manns Jugendzeit noch die drei- und viermastigen Segler, Schoner und Kutter, und dort legten die Dampfschiffe an, die den regelmäßigen Verkehr der Hansestadt mit Kopenhagen, Stockholm, Göteborg, Helsingfors, Riga, Reval, St. Petersburg und anderen schwedischen, russischen, finnischen und dänischen Häfen aufrechterhielten. Für die anlandenden Mannschaften war gesorgt: zwischen die Heuerbüros und die Niederlassungen eines bürgerlichen Handels schoben sich hier unten Kneipen, Stätten des groben Tingeltangels, und, abseits, im Dunkel der engen «Twieten» und «Gänge», die kleinen Häuser der Dirnen. Diese Niederungen bildeten den Fuß des Hügels, den bergauf das älteste Wohnviertel der Stadt einnahm, das Quartier des Patriziats seit den Zeiten der niedergehenden Hanse. Eine andere Stätte des Vergnügens und der Erbauung hatte immerhin auf der Stadthöhe ihren Platz gefunden: das Stadttheater; es lag dem Mannschen Haus in der Beckergrube schräg gegenüber. – In diesem Viertel, begrenzt von den Patrizierhäusern und dem Theater oben, unten von Kontoren und Bordells, erlebte der Knabe und der Heranwachsende die Welt. Dem Kind war nur die Breite Straße vom Krämer Dreifalt bis zum Hotel Duft erlaubt. Weiter reichte sie nicht, weil sie verboten war und in fremde Bereiche führte …
Es gab Ausflüge aus dem eigenen Bereich, aber sie fanden statt an der Hand eines Kinderfräuleins. Wir waren, wie Dir bekannt, vorgestern bei Tante Stolterfoht, berichtet der Knabe, ernsthaft und genau, seiner Mutter, die in Süddeutschland eine Badekur unternahm. Ich hatte offen gesagt vorher einiges Grauen vor diesem Kaffeebesuch, aber es war doch ein sehr netter Nachmittag. Ich beteiligte mich auch am Topfschlagen – und gewann eine sehr niedliche Mappe mit einigem Briefpapier. (7.7.1887) Wir, das waren die Geschwister: Thomas, am 6. Juni 1875, Julia, 1877, Carla, 1881 geboren (der jüngste Bruder Viktor folgte als Nachzügler 1890), und es war Ida Springer, das Fräulein. Das Fräulein hatte die Kinder nicht nur bei einer Landpartie zu beaufsichtigen – denn Tante Maria Stolterfoht, die Schwester der Senatorin, wohnte auf einem Gut zu Castorf –, sondern ebensowohl die kleinen Spaziergänge durch die Stadt zu leiten; wobei es denn vorkam, daß die Kinder allesamt von Onkel Friedel, dem sehr viel leichtherzigeren Bruder des Senators, zum «Conditor» eingeladen wurden. – Zu Hause umgab den Jungen das schönste Spielzeug; Zinnsoldaten und Schäfchen auf Rädern zeigt eine Fotografie; einer Quartgeige, rotbraun lackiert und mit richtigen vier Darmsaiten, hat Heinrich Mann sich noch später erinnert und auch dessen, daß der jüngere Bruder sie eines Tages zerbrochen hatte; ein Puppentheater war ihm von der Großmutter Elisabeth Mann geschenkt worden: die bedeutendste Figur für die Aktionen auf seiner Szene war Bismarck, in Kürassieruniform, aber stark verkleinert und flach auf Pappe gezogen. Thomas Mann hat erzählt, daß Heinrich, «der gern Maler geworden wäre», die Dekorationen «um viele, sehr schöne selbstgemalte vermehrt» hat und daß die kindlichen Produktionen im Kreis von «Eltern und Tanten zur Aufführung» kamen.
Allein, es scheint, daß der Knabe Heinrich die heftigsten Erlebnisse einsamen Stunden verdankte, den selbstvergessenen Träumereien beim Lesen und, während einiger Jahre, wohl auch beim Malen. Zu Hause in seinem grünen Parterrezimmer, das Efeustöcke an den Fenstern heimisch machen, wartet auf ihn ein Kasten mit Wasserfarben, etwas rauhes Papier, einige Flaschen bunter Tusche; daran denkt er mit einer so lasterhaften Gier, daß ein vorübergehender Bürger sich fragt: «Was macht der Junge für Augen?» – Und Heinrich Mann las. Die Märchen von Perrault, europäischer Volksbesitz für immer, waren das erste Buch, das ich mit fünf Jahren selbst las. Seither las ich tausende, die aus Frankreich kamen, heißt es in dem Erinnerungsbuch des alten Heinrich Mann Ein Zeitalter wird besichtigt. Frühere autobiographische Äußerungen nennen den «Don Quijote» als erste Lektüre; es war die große Folioausgabe in der Übersetzung Ludwig Tiecks, die Heinrich Mann zur Hand hatte. Die phantasiebewegten Bilder Gustave Dorés illustrierten dem Kind die wundervollen Fahrten des Ritters von der Mancha. Von den deutschen Romantikern traten bald Arnim, Fouqué und E.T.A. Hoffmann hinzu. Dem Vierzehn- und Fünfzehnjährigen war Heine das Vorbild erster eigener Schreibübungen. Der Lesehunger des Jungen wurde von Anfang an begünstigt durch den für Lübecker Kaufmannsverhältnisse ungewöhnlichen Bildungsstand der Familie. Nicht nur die Mutter las den Kindern vor – nach Viktor Manns Bericht aus den Werken Reuters, Fontanes, Tolstojs, Dickens’ und, sobald die Heranwachsenden fähig waren zu folgen, aus einem ihrer Lieblingsbücher: Goethe, «Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit» –, auch die Großmutter Elisabeth Mann förderte die Neigungen des Jungen. Sie führte eine Sonntagsschule und hatte den armen Kindern eine erbauliche Bibliothek eigens angelegt. In ihrem weitläufigen alten Haus in der Mengstraße, dessen hintere Flügel zu seiten eines verwildernden Gartens schon verfielen, fand Heinrich Mann die heimlichen Verstecke für seine träumerischen Stunden. In den Erinnerungen an seine Kindheit hat er festgehalten, wie er ein besonders schönes Buch, das ihm die Großmutter geschenkt hatte, bei ihr ließ, um es in dem alten Hause, so oft ich hinkäme, zu lesen. Ich hatte es ungewöhnlich geliebt, ja, hatte es im Hause meiner Großmutter vielleicht aus Liebe zurückgelassen, damit ich es jedesmal wieder vorfände, wie neu geschenkt. Nachdem ich mein Buch verloren hatte, träumte ich von ihm … und weinte um seine Schönheit sogar im Schlaf. Nie aber sprach ich den Wunsch aus, es nochmals zu bekommen … Heinrich Mann war als Kind und Heranwachsender leidenschaftlich erregbar, nach außen zeigte er sich desto verschlossener.
Die Darstellung seiner Jugendzeit ist begünstigt durch ein ganz außergewöhnlich frühes autobiographisches Dokument, das sich durch alle Ungunst der letzten Jahrzehnte erhalten hat: das Tagebuch des Dreizehnjährigen von einer Reise nach St. Petersburg, geschrieben Sonnabend, den 5.VII.84 bis Montag d. 28. Juli 1884. Neben den allgemeinen Handelsbeziehungen zwischen Lübeck und dem Hafen für die bedeutenden russischen Getreideexporte, die Deutschland aufnahm, hatten die Manns durch die Heirat der jüngeren Schwester des Senators, Olga, mit dem Petersburger Kaufmann Gustaf Sievers besondere Verbindungen zur Residenzstadt der Zaren. Die erste «Bildungsreise» des jungen Heinrich Mann war zwischen den Familien arrangiert und erhielt ihm den täglichen Rahmen großbürgerlichen Wohlstands: man fuhr in einer großen Kalesche aus, um Besuche zu machen und Sehenswürdigkeiten zu besichtigen; Landpartien kutschierte Onkel Gustaf selbst in einem Iswoschtik, wie hier die kleinen, leichten Einspänner genannt werden; man lebte im Sommer auf einer Datscha in einem nördlichen Villenvorort Petersburgs und nahm das zweite Frühstück in der Stadt, worauf der Gang zur Börse – gegenüber dem Winterpalais, neben der Akademie der Wissenschaften, auf Wassilewskij Ostrow gelegen – folgte. Wir fuhren dann zuerst in Onkel Gustafs Geschäft, wo ich mich, solange dieser zu thun hatte, mit Briefe schreiben und Lesen beschäftigte. Ein Besuch im Panorama schloß sich an, dann ging es den Newskiprospekt hinab zur Casanschen Kirche. Hier stutzte der kleine Protestant. So lange hatte er alles gelassen hingenommen, die Riten einer orthodoxen Religion muteten ihn lediglich sonderbar an: In der Kirche sieht man überall Heiligen- und Muttergottesbilder; und vor jedem werfen sich die Leute nieder, bekreuzigen und besegnen sich. Als wir dort waren, wurde gerade geräuchert. Dies geschah in silbernen Gefäßen, welche von den Popen geschwenkt wurden. Dazu sangen die Priester einen schrecklich monotonen Gesang, bei dem man ganz gruselig werden konnte. (14.7.1884) – Beim dritten Besuch der Residenz wurde der Knabe durch die Eremitage und das Winterpalais geführt. Hier waren es die Reliquien Peters des Großen, die ihn besonders begeisterten, der Zar selbst in Wachs auf einem Throne mit blauseidenem Baldachin, seine aufbewahrten Spazierstöcke, sein ausgestopftes Pferd Pultawa ihm gegenüber; und dann aus den Schätzen Katharinas II. der goldene Pfau, welchen sie von dem Fürsten Potemkin geschenkt bekam. Dieser Pfau spreizte, sowie die Uhr voll schlug, alle seine kleinen goldenen Schuppen auf und schlug mit dem Schwanz ein Rad. (24.7.1884) Das glitzernde Spielzeug erschien dem Kind bei weitem als das Schönste dessen, was es hier sah, und – rührende Dankbarkeit für Erlebnisse – noch der über Siebzigjährige hat, als er, zwei Menschenalter später, unter wie verwandelten Aspekten, auf die Anfänge seines Zeitalters zurückblickte, eben dieses goldenen, radschlagenden Pfaus der St. Petersburger Ferien gedacht.
Es gab Tage, an denen er nichts besonderes erlebte. Dann spielte er mit Jungen aus der Nachbarschaft, deren Familien den Sievers angenehm und empfohlen waren – er machte Bekanntschaft mit ihnen, wie die gravitätisch-gemessene Formel in seinem Tagebuch lautet. Vor allem aber: nach den täglichen Schularbeiten bis zum zweiten Frühstück las er. Er las, wenn er im Büro auf den Onkel zu warten hatte, er unterbrach Thurnübungen und Spiele: Es war an dem Tage sehr heiß und ich setzte mich daher ruhig u. las. Nebenher hatte er Briefe zu schreiben, das Tagebuch war zu führen – ein beträchtliches selbstgesetztes Pensum für einen Dreizehnjährigen. Es bestätigt die ungemein früh entwickelte Neigung Heinrich Manns zu eingezogenen Beschäftigungen, die ihm mehr bedeuteten als ein tüchtiges Umhertollen draußen. «Träumerisches Sichgehenlassen» hat der Senator, wenige Jahre später, dem Heranwachsenden attestiert …
Von der Größe der russischen Residenz, ihrer mächtigen Schönheit, den Prospekten, deren klassizistische Fassaden über die Fluchten von Palastreihen hin in ihren Wirkungen berechnet waren, von den geplanten Durchblicken von der Admiralität in die Magistralen, vom Newskiprospekt beim Gostiny Dwor zum Michails-Palast, von der Saltykov-Schtschedrin-Staatsbibliothek zum Kaiserlichen Großen (Puschkin-)Theater, oder gar von der Uliza Rossi, einem offenen Saal von so unvergleichlichem Ebenmaß, daß man hat sagen können, er übertreffe alle Architekturen der Welt – von all diesen Herrlichkeiten hat der Knabe keine erwähnt. Das mochte mit seinem Führer, Onkel Gustaf, zusammenhängen, der den Baudenkmalen des 18. Jahrhunderts weniger abgewann als einem enormen Prunkmonument, im sogenannten «Kaiserstil» errichtet und erst 1858 vollendet: der Isaaks-Kathedrale. An ihr ist alles «echt», auch das Gold ihrer Kuppeln, und mit dem Sinn seiner Epoche für materialen Wert hat der Knabe ihre Baustoffe genau katalogisiert. Indessen war es dieser Pomptempel, durch den sich Heinrich Mann in hohen Jahren den Gesamteindruck, den er von Petersburg empfangen hatte, vergegenwärtigte: Leningrad, die erste Kapitale, die das junge Kind einer alten deutschen Kleinstadt voreinst besucht hat, bleibt ihm nach langen Zeiten die überlebensgroße Erinnerung. «Umarme die Säule!» sagte mein Onkel auf den Stufen der Isaakskirche. Als ich meine Arme an sie gelegt hatte, faßte ich von ihrem Umfang so gut wie nichts …
Ein Telegramm des Vaters rief den Jungen ab; die Rückreise dauerte, wie die Hinreise, fünf Tage; Sonntag, den 3. August 1884, Morgens 6 Uhr kamen wir in Lübeck an. Papa war verreist, Mama überraschte ich noch im Bette. – – – So waren diese schönen und genußreichen Ferien nun beendet; mit dem nächsten Tage, Montag, begann das neue Schul-Vierteljahr. Es ist ein Zusatz, der das Oktavheft beschließt: Nachgetragen am 14. Mai 1886. Der Knabe hatte sein Tagebuch nach zwei Jahren abermals hervorgeholt und – Schriftzüge und eine zweite Tintenfarbe zeigen es deutlich – die erste Niederschrift nicht nur zu Ende geführt, sondern Satzbau und Ausdruck als Lehrer seiner selbst korrigiert. Heinrich Mann hat als Vierzehnjähriger mit der Schriftstellerei begonnen.
Das neue Schul-Vierteljahr – ziemlich gleichgültig, ob es im Progymnasium eines Dr. Huttenius oder Bussenius, der «Kandidatenschule», oder im alten Katharineum, dem «großen Gymnasium», anlief. Schrecklich wird es jedenfalls gewesen sein. Zwar fiel es Heinrich offenbar leicht, den Anforderungen nachzukommen, und er ist auch nicht zweimal «sitzengeblieben» wie Thomas Mann, sondern gelangte glatt bis zur Versetzung in die Oberprima; aber im ganzen fand er sich doch hart geplagt mit übertriebenen Hausaufgaben und tagtäglich einem anderen Verderben ausgesetzt. Nur die Seelenkraft unserer Jahre half uns über alles fort. Immerhin, die Anschauung des damals geübten positivistischen Drills hat den Jungen mit einem Typ versehen: dem alten Gymnasialprofessor, der bereits in einem der frühesten novellistischen Versuche, Beweise (Juli 1889), als betrogener Ehemann auftritt und den Heinrich Mann dann in reiferen Jahren als Professor Unrat mit so außerordentlicher Konsequenz geschildert hat. Noch im Untertan kehrt die Erscheinung mit den zugespitzten Instinkten eines «Alldeutschen» unter dem Namen Professor Kühnchen wieder.
So bedenklich wie das Erlebnis des Schultyrannen und von noch fruchtbareren Folgen für das spätere Werk waren Eindrücke, die der Junge von den Funktionen des öffentlich kulturellen Lebens der Hansestadt gewinnen mußte: Theater und Konzert dienten der Schaustellung bürgerlichen Reichtums, alle literarischen Bestrebungen hielten sich in den dezenten Grenzen der geltenden «silbernen Klassik» Deutschlands. Das Stadttheater, dessen Erster Kapellmeister Alexander von Fielitz mit der Senatorin musizierte, mochte achtbar sein wie die Börse, die noch vorher kam. Dann aber ging es hinab: das Tivoli, ein Sommertheater an den Ufern der Wakenitz, wartete mit Possen, Vaudevilles, Pantomimen und Balletts auf, indessen im Freien ein Kaffeegarten im Schäfergeschmack einlud, die Darbietung als das abzutun, was sie war: der Vorwand zu eigenen Tändeleien. Den gleichen Rahmen gab der anmutige Garten einer Barockvilla «auf der Lachswehr», in dessen Nischen im Buschwerk, zwischen Boskettwänden, Rendezvous zu den Mittwochnachmittagskonzerten getroffen waren. Gaben die Debütantinnen der Honoratioren einen musikalischen Abend, herrschte nach jedem Gesang, nach jedem Stück auf dem Fortepiano Totenstille – «denn», wie der Graf Adelbert Baudissin notierte, «in Lübeck darf man nur bezahlten Künstlern Beifall klatschen». – Emanuel Geibel, 1868 in seine Heimatstadt zurückgekehrt, arrangierte Vorlesungen im «Schillerverein» und protegierte die Liebhaberaufführungen des «Dramatischen Lesevereins»; die weiblichen Rollen waren Jünglingen zugeteilt. Man spielte zum Besten eines Moltke-Denkmals, das Tivoli lieh die Kostüme. Friedrich Mann, der von der Familie beargwöhnte Bruder des Senators («Christian Buddenbrook»), war Mitglied eines solchen Lesevereins; von seinen Neigungen zu den Schauspielerinnen des Theaters und den Soubretten des Tingeltangels erzählen die «Buddenbrooks»; doch bereits in einer sehr frühen Skizze Heinrichs über die scandalöse Geschichte von der X. (Winter 1888) hören wir von einem Onkel des Erzählers, der als einziger im Familienkreis dem Geklatsche der Patrizier über die Schauspielerin X. entgegentritt. Der junge Heinrich Mann bekennt schon hier, daß er der Menge seiner lieben Verwandten sehr zuwiderlaufende Ansichten über Liebe, Ehe, Religion, Kirche etc. … in seinem revolutionären Kopfe trage. Er hat das Mißtrauen der Bürger gegen Kunst und Künstler frühzeitig erfahren. Er hat es zuzeiten wohl geteilt. Allein, seit dem unfaßbaren Erlebnis seines ersten Theaterabends galt für ihn doch der Glaube an die befreienden, steigernden Wirkungen der Kunst. Er hat, als ein Grundthema in seinem Gesamtwerk, Kunst und Künstler benutzt, um eine Gleichung zum Bürgerlichen herzustellen: die aufzulösende Unbekannte blieb das Spiel menschlicher Affekte und Erkenntnisse.
In wechselnder Beleuchtung tauchen die Kulissen und der Geist der Lübecker Künstlerwelten im Werk Heinrich Manns wieder und wieder auf: Der Sommergarten, in dem Unrat die Künstlerin Fröhlich beim Barfußtanzen zu erblicken hofft. Das Haus der Harmonie im Untertan, wo die Präsidentin von Wulckow ein eigenes Drama von ausgewählten Mitgliedern der Gesellschaft agieren läßt – im Eingang zu einem geheimen Kabinett Schäferszenen, Malereien des vergangenen Jahrhunderts, Symbol einer Tradition, die sich bis ins «Zweite Rokoko» der siebziger und achtziger Jahre erhalten hat wie das Haus selbst: ein Relikt bürgerlich-republikanischen Geistes, Abbild der in Lübeck 1789 gegründeten «Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit», der «Gemeinnützigen», wie sie hieß; im Roman ruft der alte Buck seinem Gegenspieler, dem Untertan Heßling, die Grundsätze ihrer Gründer ins Gedächtnis: … wir sind einander seit langem verpflichtet zum guten Willen und gemeinsamen Fortschritt, schon durch jene da, die uns die «Harmonie» hinterließen. Endlich Emanuel Geibel selbst: magen- und darmleidend, stets mit einem Plaid über den Schultern, so wie ihn die Mitbürger in seinen hohen Jahren kannten, tritt er in dem Roman Eugénie oder Die Bürgerzeit auf, als Regisseur der Romanhandlung und seines Stückes; Heinrich Mann hat den Dichter der «silbernen Klassik» hier versöhnlich betrachtet, hat ihn als den Sprecher einer Bürgerschicht gezeichnet, der die Ideale von 1848 noch etwas bedeuteten. In der Jugend hat er gegen Geibels geistiges Regiment in seiner Heimatstadt revoltiert.
1889, fünf Jahre nach seinem Tod, wurde Geibels Statue in Lübeck aufgestellt, und zwar «in den Toren» – denkwürdige Ausnahme, denn sogar Kaiser Wilhelm I. und Bismarck stehen bis heute vor den Wällen am Bahnhof. Im Mai jenes Jahres quittierte Heinrich Mann den Vorgang mit der ironischen Bemerkung, die Lübecker besäßen nämlich Schönheitsgefühl in derartig hohem Grade, daß sie auf einem ihrer belebtesten Plätze einem unserer namhaften Lyriker … ein Denkmal errichten. Luis Heinrich, wie er hier noch zeichnete, holte in seinen Fantasien über meine Vaterstadt L. auch gleich weiter aus. Nachdem er den merkantilen Geist der Stadt durch ihre Handelsgerüche, ihren Millionengestank charakterisiert, nachdem er über das bedauerliche Institut des Theaters das Urteil gesprochen hat, daß gewisse Damen vom Theater zuweilen mit wohlaccreditierten L.’er Herren … weit einträglichere und erfolgreichere Geschäfte eingingen als der Direktor, zieht er die Summe seiner Umweltserfahrungen: Jeder L.’er … wird sich ganz besonders hüten, in der Unterhaltung vom Pfade des Modernen abzuweichen und zum Beispiel in einer Gesellschaft ein so abgestandenes und veraltetes Thema zu behandeln, wie die Poesie und Litteratur. Wie kann es denn in unserm durch und durch praktischen Zeitalter noch Leute geben, die sich mit dergleichen unpraktischen Dingen beschäftigen? Und wer soll an diese Fabelwelt, welche die «Dichter» begeistert, noch glauben?
Wenige Monate später verließ Heinrich Mann Lübeck. Er war achtzehn Jahre, und er «glaubte». Als nach über zwei Jahrzehnten die deutsche Presse meldete, Otto Brahm habe ein Drama Heinrich Manns für das Deutsche Theater, Berlin, angenommen, erinnerte Ludwig Ewers den Klassenkameraden von einst an die Streitereien im «Dramatischen Leseverein»: «Damit ziehst Du denn ja nun an die Stätte ein, die vor mehr als zwanzig Jahren, als dort Sudermanns Ehre den großen Erfolg erlebte, unsre Sehnsucht suchte. Welcher Weg und welches Ringen nach Anerkennung und Erfolg liegt dazwischen. Weißt Du noch, wie Du damals (1890) für Sudermann gegen die Lübecker Philisterei der [Alfred] Benda & Co kämpftest?»
Er blieb sich immer schmerzlich bewußt seiner Zugehörigkeit zur allgemeinen Weltgemeinheit, von der er der Schatten eines Atoms. Kein Grund, merkwürdigerweise, sich nicht dennoch als ein Besserer zu fühlen. Denn die Erkenntnis erhebt; so erklärte er’s sich.
Haltlos
Den Vormündern meiner Kinder mache ich die Einwirkung auf eine praktische Erziehung meiner Kinder zur Pflicht. Soweit sie es können, ist den Neigungen meines ältesten Sohnes zu einer sogenannten literarischen Tätigkeit entgegenzutreten. Zu gründlicher, erfolgreicher Tätigkeit in dieser Richtung fehlen ihm m.E. die Vorbedingnisse, genügendes Studium und umfassende Kenntnisse. Der Hintergrund seiner Neigungen ist träumerisches Sichgehenlassen und Rücksichtslosigkeit gegen andere, vielleicht aus Mangel an Nachdenken.» Das Urteil des Senators über seinen Ältesten, niedergelegt in Entwürfen zu seinem Testament am 30. Juni 1891, bildet den Schlüssel zu Auseinandersetzungen, die Heinrich Mann als Heranwachsender zu bestehen hatte und die seine Haltung dieser Jahre, eine Mischung aus Trotz und Resignation, Auflehnung und gesuchter Überlegenheit, sehr wohl zu erklären vermögen: Der bürgerliche Argwohn gegen Kunst und Künstler, den schon der Knabe in seiner Lübecker Umwelt beobachten konnte, verdichtete sich zum väterlichen Verbot der eigenen Neigungen. Man wird hiernach die Berufsentscheidung, die für den Jungen gefällt wurde, als einen Kompromiß zu betrachten haben, den Heinrichs literarischer Ehrgeiz und die «praktischen» Vorstellungen des Vaters notdürftig miteinander eingingen: Nach der Versetzung in die Oberprima begann Heinrich Mann, im Oktober 1889, eine Buchhandelslehre in Dresden bei Zahn & Jaensch – ein Versuch, der schon nach einem knappen Jahr mit einem Eklat abbrach und dann nur noch einmal wiederholt wurde mit dem Eintritt Heinrichs als Volontär in den S. Fischer Verlag, Berlin, August 1890. Eine Lungenblutung im Frühjahr 1892 beendete die Berliner Zeit. Der Rekonvaleszent führte ein Wanderleben in Badeorten. Die Berufsausbildung wurde nicht wieder aufgenommen; der Vater, der sie forderte, war inzwischen verstorben.
Zwei oder drei kleine Erzählungen Heinrichs waren noch zu Lebzeiten des Senators erschienen, und gewiß hatte er Kenntnis von den unermüdlichen Schreibübungen, die der Junge seit seinem vierzehnten Jahr anstellte; Impressionen, Skizzen, Novelletten sind seit 1885, Gedichte seit 1887 überliefert. In ihnen fungiert durchweg ein geistreich-überlegener Causeur, der Welt und Leben als Außenseiter betrachtet, resigniert hat, der Umwelt mißtraut, ja, sie verachtet und in seiner Überhebung so weit gebt, das Leben äffisch zu nennen (in dem Bruchstück einer Groteske Felix schritt den Weg entlang …, Winter 1888/89). Es ist das Leben des eigenen Erfahrungskreises, das Heinrich Mann meint, und er sieht es bestimmt durch die kaltsinnige Heuchelei der L.’er Vollbürger (Fantasien über meine Vaterstadt L.), durch die Geldherrschaft plebejischer Parvenues (Apart, 1885). Vers und Prosa dienen gleichermaßen dem Ausdruck jugendlicher Revolte. In der Nachahmung Heinrich Heines findet der Anfänger seine sprachlichen Mittel:
Vor der Börse seh ich wandeln
Juden beider Confessionen,
Schachern, als ob es sich handeln
Thät um Salomonis Thron.
…
Und wie diese ganze Rott’ schreit,
Widerwärtig gellt’s ins Ohr: –
Ja, Merkur, des Handels Gottheit.
Ja, er stellt den Frieden vor.
(Auf der Puppenbrücke, Dezember 1888)
Wenn auch die formale Beherrschung von Heines Stilmitteln, besonders der Volksliedstrophe und der ironisch umkehrenden Pointierung, beachtlich erscheinen, insgesamt bleiben die kritischen Versuche des jungen Heinrich Mann, sich gegen die Wirklichkeit zu behaupten, in pseudo-ironischen, pseudo-satirischen Anklagen stecken. Die Überlegenheit muß forciert werden, da die «praktischen Ideale» einer erworbenen Weltansicht fehlen. Die Weltverneinung und der «Weltschmerz» eines Siebzehnjährigen mögen empfunden sein, als Schaffensgrundlage ist jugendliche Resignation noch nie tauglich gewesen. Immerhin, Heinrich Mann behält sie bei und kompensiert sie durch ein Selbstgefühl, das durch den Gedanken einsamer Auflehnung des revolutionären Kopfes gegen die Umwelt nur gestärkt wird. Er hat sich im hohen Alter dieser Phase mehrmals erinnert und – wenn er über Einzelheiten durchaus mit Auskünften zurückhielt – den Zustand jugendlicher Unsicherheit aus persönlicher Kenntnis sehr treffend charakterisiert: Das Selbstbewußtsein kommt vor aller Leistung; überspannt ist es gemeinhin, solange es unbewiesen ist; im Laufe der Arbeiten bescheidet es sich, um gründlicher zu werden. (Nietzsche, 1939) – Der Lehrling hatte sich gegen Vorwürfe zu rechtfertigen, die dem Vater von den Dresdner «Prinzipalen» zugegangen waren und in denen Heinrich der «Apathie», «Indolenz» und «Wortkargheit» bezichtigt wurde.